Jenseits von Timbuktu
Verwirrende Gefühle, atemlose Spannung, unwiderstehliches Afrika.
Das Schicksal raubt Anita die Menschen, die sie liebt. Um der Trauer zu begegnen, geht sie der Vergangenheit ihrer Eltern in Afrika nach. An der Wahrheit, die sie...
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Produktinformationen zu „Jenseits von Timbuktu “
Verwirrende Gefühle, atemlose Spannung, unwiderstehliches Afrika.
Das Schicksal raubt Anita die Menschen, die sie liebt. Um der Trauer zu begegnen, geht sie der Vergangenheit ihrer Eltern in Afrika nach. An der Wahrheit, die sie dort erfährt, droht sie nun vollends zu zerbrechen. Aber sie lernt auch jemand kennen, der neues Glück verheißt.
"Aufschlagen, verschlingen und am liebsten sofort noch mal lesen!"
B.Z.
Klappentext zu „Jenseits von Timbuktu “
Die junge Anita Carvalho aus Hamburg verliert bei einem tragischen Unfall ihren Verlobten. Bald darauf verübt die Mutter Selbstmord, und Anita bleibt allein und einsam zurück. In den Hinterlassenschaften findet sie Hinweise auf eine Farm, die ihre Eltern früher unter dem mysteriösen Namen »Timbuktu« in Südafrika betrieben haben. Unzweifelhafte Spuren deuten darauf hin, dass Anita dort Familienangehörige hat, von denen sie bislang nichts ahnte. Um den Geheimnissen auf den Grund zu gehen, begibt sie sich auf eine gefahrvolle Reise auf den Schwarzen Kontinent. Südafrika, die schillernde Regenbogennation, befindet sich kurz vor der Fußball-Weltmeisterschaft in einem turbulenten Wandel - ein Land zwischen Zukunftsoptimismus und der Ohnmacht gegenüber Korruption und Kriminalität. Und genau hier, vor hinreißender afrikanischer Kulisse, warten auf Anita böse Entdeckungen - aber vielleicht auch eine neue Liebe?
Lese-Probe zu „Jenseits von Timbuktu “
Jenseits von Timbuktu von Stefanie Gercke1
Die Geschichte begann an Anita Carvalhos Geburtstag, einem ungewöhnlich heißen Julitag im Jahr 2008, auf einem Segelboot vor der südöstlichen Küste Mallorcas.
Eineinhalb Jahre später, mitten im afrikanischen Busch, in einem stinkenden, kakerlakenverseuchten Loch, fragte sich Anita, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wären sie an diesem Morgen nicht zu einer Segeltour aufgebrochen.
Wären sie an Land geblieben und hätten stattdessen einen Bummel durch Palmas Altstadt gemacht und anschließend ihren Geburtstag auf der Terrasse vom Can Carica gefeiert.
Hätte ihre Mutter keine Migräne bekommen.
... mehr
Aber sie waren nicht an Land geblieben, sie waren hinausgesegelt, und ihre Mutter hatte Migräne bekommen.
An jenem Tag saß Anita auf dem Vordeck der Segelyacht und konnte es nicht fassen, dass das Leben so schön sein konnte. Die Welt schimmerte wie eine gläserne Perle. Kein Hauch regte sich. Der Himmel war endlos, das Meer seidenglatt, und Salzschleier drifteten glitzernd in der Luft. In der Ferne glänzten die weißen Häuser der Küstenorte zwischen sattem Piniengrün, die Berge, die das Rückgrat der Insel bildeten, waren hingewischte Pinselstriche in Monet-Blau.
Ein Tag zum Träumen, dachte Anita und sah einer Möwe nach, die auf lautlosen Schwingen in die blaue Unendlichkeit glitt. Ein Tag, an dem die Welt heil ist. Ein perfekter Tag, den man bis in alle Ewigkeit dehnen möchte. Träge lauschte sie dem leisen Plätschern am Rumpf des Bootes, das in der Mittagsflaute dümpelte. Die gleißende Julihitze, die über der Insel lag, dämpfte alle anderen Geräusche. Ihre Gedanken verschwammen.
Zu ihrem Geburtstag hatte ihre Mutter sie und Frank für eine Woche in das kleine Haus in Mallorcas warmen Hügeln eingeladen, das ihre Eltern vor vielen Jahren von einem Künstler - einem Keramiker, der recht bekannt war - gekauft hatten. Es lag im Inneren der Insel und war aus dem typischen goldenen Sandstein der Gegend gebaut worden. Ihre Eltern hatten das Haus mit viel Eigenarbeit umgebaut, alte Wände abgedichtet, neue gezogen, Fenster hineingebrochen und den Boden gefliest. Zwei Schlafzimmer waren so entstanden, ein Badezimmer, die kleine Küche und ein Wohnzimmer, dessen zweiflügelige Glastür auf eine sonnige Terrasse führte und einen wunderbaren Blick über das weite Tal zum Meer bot, das als intensiver blauer Farbklecks den Horizont markierte. Der Ort herrlicher Erinnerungen an lange, müßige Ferientage, der Ort, an dem sie und ihre Eltern auf innigste Weise glücklich gewesen waren.
Einst hatte das Häuschen wohl als Schweinestall für die große Finca gedient, die fünfhundert Meter weiter am Berghang lag, denn an windstillen, heißen Tagen meinte Anita, in der winzigen Küche noch einen Hauch von Schwein riechen zu können. Aber dann wehte der himmlische Duft von Orangenblüten herein und vertrieb die Erinnerung an die ursprüngliche Bestimmung des Häuschens.
Seit dem Tod ihres Vaters 1985 verbrachte ihre Mutter die meiste Zeit des Jahres hier. Sie war gerade 77 Jahre alt geworden, schlank und von endlosen Stunden auf dem Golfplatz - den einzigen Luxus, den sie sich leistete - und der Arbeit in ihrem kleinen Garten von der mediterranen Sonne lederbraun gebrannt. Anita hatte mit Vergnügen bemerkt, dass der Besitzer der großen Finca, ein distinguierter Mallorquiner, der ebenfalls verwitwet war, immer öfter ihre Gesellschaft suchte, seit beide festgestellt hatten, dass sie die Leidenschaft für Golf und das Gärtnern teilten.
Schritte erklangen, ihre Mutter, in weißen, weiten Hosen und lockerem marineblauem Oberteil, erschien an Deck und machte sich daran, den Tisch im Cockpit aufzuklappen und Leinensets und Besteck zu verteilen. Anita öffnete die Augen und reckte sich ausgiebig. Die Segeltour war Franks Geburtstagsüberraschung, und für den Abend hatte er einen Tisch im Can Carica gebucht, dessen quirliger Inhaber den besten Fisch in Salzkruste zubereitete, der an Mallorcas Ostküste zu finden war. Ihre Mutter, die sich ab und zu ein Essen dort leistete, hatte ihn empfohlen. Anita stand auf, um zu helfen.
»Frank hat mir lediglich erlaubt, die Salatsoße zu machen, und mich an das übrige Menü nicht herangelassen.« Ihre Mutter stellte eine Flasche mit einer honigbraunen Flüssigkeit auf den Tisch. »Es ist sehr clever von dir, einen zu heiraten, der so gut kochen kann«, bemerkte sie mit einem blau funkelnden Seitenblick auf Anita. »Wenn ich mich recht erinnere, gelingen dir allenfalls Spaghetti mit Tomatensoße aus der Dose.«
Anita lachte vergnügt, während sie das im leichten Wind flatternde Sonnensegel über dem Cockpit festzurrte. »Aber nein. Rühreier kann ich auch. Ziemlich leckere sogar. Die klassische Rollenverteilung gilt eben nicht mehr. Heute können Männer kochen und manche Frauen eben nicht.«
»Und wie kommt er mit deinem Temperament zurecht?«
»Na, aber ganz prima, Anna-Dora.« Frank kam mit einem üppig beladenen Tablett den Niedergang hoch und grinste seine zukünftige Schwiegermutter an. »Bei mir schnurrt sie wie ein Kätzchen, und die übrige Zeit ist sie handzahm.« Er wechselte ein verstohlenes Lächeln mit Anita und stellte das Tablett vorsichtig auf den Tisch. Sein ärmelloses schwarzes T-Shirt klebte ihm am Körper, das Haar war verschwitzt. Mit einem Hemdzipfel trocknete er sich das schweißglänzende Gesicht ab. »Heiß wie in der Hölle da unten.«
Sie setzten sich, und Frank legte je zwei Langustenhälften auf die Teller, reichte Knoblauchbrot und den Salat herum und goss Wein ein. Anita naschte vom Salat und spießte mit verzücktem Ausdruck ein Stück Languste auf. »Der Salat ist köstlich, die Langusten sind himmlisch, und das Knoblauchbrot würde jeden Vampir in die Flucht schlagen!« Sie hob ihr Glas und prostete ihm zu.
Auch ihre Mutter hatte mit angestoßen und beschäftigte sich jetzt mit abwesendem Ausdruck mit ihrer Languste. »Denkt ihr auch an Kinder?«, fragte sie dann wie beiläufig.
Zu ihrem eigenen Erstaunen spürte Anita, dass sie rot wurde. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie diese Gefühlswallung das letzte Mal überkommen hatte. Als Schulmädchen vermutlich. Sie legte die Hände an ihr glühendes Gesicht und sandte Frank dabei einen schnellen Blick unter gesenkten Wimpern zu, worauf ein kleines Lächeln seine Mundwinkel kräuselte und er mit einem winzigen Nicken antwortete.
Anna-Dora Carvalho war eine aufmerksame Beobachterin. »Meine Güte, ist es etwa schon so weit?«, rief sie. »Das ist ja wunderbar. Ganz wunderbar. Enkelkinder ... « Ihre Augen glänzten. »Ganz wunderbar. Du glaubst gar nicht, wie ich mich freue! Wissen es deine Eltern schon, Frank?«
Er schüttelte verneinend den Kopf. »Ich habe seit Wochen nichts von ihnen gehört, also geht es ihnen sicher gut. Sie werden irgendwo tief im Dschungel stecken. Seit sie diesen kleinen Indianerstamm am Amazonas entdeckt haben, sind sie völlig aus dem Häuschen und für nichts anderes ansprechbar. Aber ich nehme an, sie werden sich auch freuen.«
Die drei am Tisch schwiegen versonnen. Jeder träumte seinen Traum. Von Wärme. Von Gemeinsamkeit. Von Liebe. Einem einfachen Leben, dachte Anita. Nichts Großes. Nichts, was den Neid der Götter der Finsternis herausforderte.
Frank hob sein Glas. »Alles Liebe zu deinem Geburtstag, mein Schatz.« Er lehnte sich vor und küsste sie ausgiebig. »Noch zwei Wochen, dann hab ich dich ganz«, murmelte er, seine Lippen immer noch auf ihren. Ihr Atem mischte sich. Anitas Puls galoppierte.
»Dreizehn Tage«, flüsterte sie. »Welch ein unbeschreiblich herrlicher Tag ist das heute.« Sie schmiegte ihr Gesicht an seines, war süchtig nach Hautkontakt, nach intimer Zweisamkeit. Der Anfang meines Lebens, dachte sie, der Anfang von meinem Traum, der nie ein Ende haben wird.
Ihre Mutter beobachtete sie und lächelte auf eigenartige Weise. »Oh, da fehlt noch die Hauptüberraschung.« Ohne eine weitere Erklärung stand sie auf und stieg den Niedergang hinunter.
Anita schaute ihr verwirrt nach. »Noch ein Geschenk? Was das wohl ist? Hoffentlich hat sie nicht zu viel Geld ausgegeben. Ihre Pension ist nicht sehr üppig.«
»Vielleicht schenkt sie dir ein Schmuckstück aus ihrem Bestand. Das hat sie doch früher schon getan.«
Aber ihre Mutter schenkte ihr keinen Schmuck. Sie legte einen schlichten weißen Umschlag vor ihr auf den Tisch, zwischen Brotkrümeln, Salzstreuer und dem Keramikgefäß, das die Knoblauchbutter enthielt. Anita nahm ihn verwundert hoch. Er hatte einen Fettfleck abbekommen. Sie rieb ihn mit der Serviette weg, wie um Zeit zu gewinnen, ehe sie ihn mit dem Fingernagel aufschlitzte. Dabei blickte sie ihre Mutter zweifelnd an, fand, dass sie merkwürdig erregt wirkte, denn ihre Augen glänzten fiebrig, und sie konnte ihre Hände offensichtlich kaum stillhalten. Der Umschlag musste etwas ganz Besonderes enthalten.
Und das war es. Etwas ganz Besonderes. Es war eine Einladung für Anita und Frank, zusammen mit ihr nach Südafrika zu fliegen. Anita starrte die Worte an, die fein säuberlich mit blauer Tinte auf weißen Leinenkarton geschrieben standen: Flug von Hamburg nach Frankfurt und weiter nach Durban, Südafrika, Aufenthalt in einem Hotel namens Cabana Beach in Umhlanga Rocks, KwaZulu-Natal. Rückflug zwei Wochen später auf derselben Route.
»Aber Mama«, brach es konsterniert aus Anita heraus.
Ihre Mutter hob lachend eine Hand. »Es ist an der Zeit. Das hätte ich schon vor sehr langer Zeit machen sollen.«
»Zeit ... wozu?« Anita sah sie hilflos an.
Wieder dieses Lachen. Aufgeregt, ein bisschen überdreht. Glücklich. Glücklicher, als sie ihre Mutter seit Langem erlebt hatte. »Du wirst schon sehen.«
Anita fand keine Worte. Was war nur in ihre Mutter gefahren? Woher wollte sie das Geld nehmen? Rasch überschlug sie die Kosten. Unter fünftausend Euro würde ihre Mutter kaum davonkommen, schätzte sie und erschrak.
»Ausgeschlossen«, sagte sie laut. »Mama, das ist zu viel! Viel zu viel.«
»Anita hat recht, Anna-Dora«, mischte sich Frank ein. »Das ist einfach zu viel. Lass uns wenigstens die Flüge selbst bezahlen.« Liebevoll streichelte er seiner Schwiegermutter über den Arm. Ihr Verhältnis war von Anfang an sehr gut gewesen. Er mochte sie sehr.
Anna-Dora hob lachend beide Hände. »Geht nicht. Sind schon bezahlt.«
Anita und Frank sahen sich verblüfft an. Anita zuckte in einer ratlosen Geste die Schultern.
»Ich hab's gespart. Macht euch keine Sorgen.« Anna-Dora hatte den Blickwechsel der beiden offenbar bemerkt.
»Von deiner Rente?«, platzte Anita heraus.
Wieder lachte ihre Mutter. »Keine Angst, ich habe noch ein paar Reserven. Meine Rente brauchte ich nicht anzutasten. Und nun möchte ich nichts mehr über Geld hören. Freust du dich nicht?« Es klang vorwurfsvoll.
Anita riss sich zusammen und drückte ihre Mutter fest an sich. »Doch, Mama, natürlich. Danke. Das ist das überraschendste Geschenk, das ich je bekommen habe - und das üppigste.« Es kam seltsam hölzern heraus, und ein merkwürdig unruhiges Gefühl setzte sich in ihr fest, besonders als sie bemerkte, dass ihrer Mutter die Tränen in den Augen standen. »Es ist an der Zeit ... Willst du mir nicht verraten, was du damit meinst?«
Anna-Dora blickte durch sie hindurch, war ganz offensichtlich in Gedanken weit weg. »Nein, das will ich nicht. Nicht jetzt. Gedulde dich noch ein wenig. Wir fliegen am 20. Januar. Es dürfte doch kein Problem für euch sein, dann Urlaub zu bekommen, nicht wahr? Einen Mietwagen habe ich auch schon bestellt.« Ohne eine Entgegnung abzuwarten, stand sie auf und fing an abzudecken. Sie kippte die Langustenreste in eine Plastiktüte und verknotete sie, damit nicht das ganze Boot danach stank, anschließend trug sie die abgegessenen Teller in die Kombüse.
Frank sah ihr nach. »Du musst mit deiner Gynäkologin sprechen, ob du im Januar noch eine solche Reise machen kannst.«
»Das mache ich, wenn wir zurück in Deutschland sind. Der siebte Monat wird die Grenze sein. Vielleicht kann Mama den Flug auf einen früheren Termin umbuchen.«
Er lehnte sich zu ihr hinüber und nahm ihre Hand. »Hast du irgendeine Vorstellung, was Anna-Dora meint? Wozu ist es jetzt Zeit? Es muss etwas mit dem Leben deiner Eltern in Zululand zu tun haben, da bin ich mir sicher.«
Sie hob die Schultern. »Ich habe keinen Schimmer. Ich habe schon mein Gedächtnis gründlich durchforstet, aber mir ist nichts eingefallen. Über ihre Zeit in Zululand weiß ich so gut wie gar nichts.«
»Hast du deine Eltern denn nie gefragt? Sie haben doch immerhin rund zwanzig Jahre dort gelebt.«
»Doch, schon«, antwortete sie und spielte dabei mit einer Gabel. »Immer wieder. Jahrelang. Aber ich habe nie wirklich Antworten bekommen. Ich weiß nur, dass sie dort eine Farm hatten, die sie Timbuktu genannt haben. Früher haben sie davon geschwärmt, vom einfachen Leben im Einklang mit der Natur, den freundlichen Menschen, so ganz allgemein. Über ihr tägliches Leben in Zululand haben sie aber nie ein Wort verloren. Dann ist mein Vater gestorben, ganz plötzlich an einer banalen Grippe, und danach hat meine Mutter endgültig jeden Versuch von mir abgeschmettert, dieses Thema anzuschneiden. Und nun das! Ich versteh das alles nicht.«
Das letzte Mal, als sie mit ihrer Mutter darüber sprechen wollte, hatte die nur eine wegwerfende Handbewegung gemacht. »Das ist eine lange Geschichte«, hatte sie gesagt und sehr abweisend und geradezu unfreundlich dabei ausgesehen. »Eine für kalte Wintertage, wenn wir am Kamin sitzen.« Mit leidender Miene hatte sie die Augen zusammengekniffen und sich über die Stirn gestrichen.
Anita kannte diese Geste seit ihrer frühesten Jugend. Ein Migräneanfall war im Anzug. Mindestens zwei Tage lang war sie danach kaum ansprechbar, und ihr blieb nur die bohrende Frage, was in Zululand vorgefallen war, dass die bloße Erwähnung dieses heftige Verhalten auslösen konnte. »Wir haben gar keinen Kamin«, hatte sie leise gesagt, aber ihre Mutter hatte sich verschlossen und in sich zurückgezogen.
»Ich bin immer gegen eine Mauer aus Schweigen und Abwehr angerannt. Irgendwann habe ich aufgehört zu fragen. Ich möchte wirklich wissen, was vorgefallen ist, dass sie jetzt aus heiterem Himmel beabsichtigt, dorthin zurückzukehren, und vor allen Dingen, warum sie uns mitnehmen will.« Sie stand auf und stapelte die leeren Schüsseln ineinander. »Lass uns den Rest hinunter bringen.«
»Langsam bin ich sehr gespannt darauf, was uns dort erwartet.« Frank nahm ihr die Schüsseln und Pfeffer- und Salzmühle ab. »Ich bringe das in die Kombüse.«
Anita legte die Tischsets zusammen und verstaute sie unter der Sitzbank. Ihre Mutter kam gleich darauf den Niedergang hoch, dicht gefolgt von Frank.
Anna-Dora setzte sich ans Ruder, krempelte die Hosenbeine bis zum Knie auf, verknotete das Oberteil in der Taille und strich sich anschließend mit beiden Händen ihr weißes Haar hinter die Ohren. Sie legte eine Hand aufs Steuerrad. »Ich pass auf das Boot auf. Geht ihr ruhig schwimmen.«
Anita zögerte. »Wir sollten den Anker auswerfen, damit nichts passiert ... Ich meine, ein Boot zu steuern ist doch etwas anderes, als ein Auto zu lenken.«
Anna-Dora schmunzelte nachsichtig. »Mach dir keine Sorgen, Liebes. Ich kann ziemlich gut segeln. Ich habe meine Feuertaufe vor der Küste Natals in den Brechern des Indischen Ozeans erhalten. Danach kommt mir das Mittelmeer vor wie eine Badewanne.«
»Ui!«, machte Frank anerkennend. »Der Indische Ozean. Eines der schwierigsten Segelreviere der Welt. Unberechenbares Wetter, meterhohe Wellen und viele hungrige Haie im Wasser.«
Anita starrte ihre Mutter mit offenem Mund an. »Du hast nie davon erzählt, dass ihr gesegelt seid. Du und Papa.«
»Nein«, sagte Anna-Dora und schaute an ihrer Tochter vorbei zum südlichen Horizont. »Davon habe ich dir nie erzählt.«
»Hast du einen Segelschein?«, fragte Frank. »Ich muss das fragen, sonst darf ich dich laut Chartervertrag nicht ans Ruder lassen.«
»Sporthochseeschifferschein«, war die lakonische Antwort. »Alles in einem Wort geschrieben.«
»Alle Achtung!« Frank grinste überrascht. »Okay. Das reicht. Komm, Liebling, das Boot ist in besten Händen. Deine Mutter dürfte auf hoher See einen Tanker steuern. Außerdem herrscht totale Flaute. Es wird keine Schwierigkeiten geben. Da könntest sogar du am Ruder sitzen.«
Er kletterte über die Reling, sprang kopfüber ins Wasser und tauchte in einem Sprudel von Luftblasen wieder auf.
»Komm zu mir«, rief er ihr zu und streckte die Arme aus.
Anita warf ihrer Mutter noch einen zweifelnden Blick zu, schob aber dann ihr ungutes Gefühl energisch beiseite und folgte ihm mit einem Kopfsprung ins türkisblaue Wasser. Warm und seidig weich umspülte es ihren Körper. Sie schwamm Frank in die Arme.
Anna-Dora sah ihnen nach und wischte sich dabei fahrig mit einer Hand über die Stirn, als säße da ein lästiges Insekt. Die Hitze drückte, die Segel hingen schlaff herunter, das Meer lag bleiern unter dem brennenden Himmel. Ihr Kopf fühlte sich geschwollen an, und die Sonnenstrahlen stachen ihr in den Augen.
Anita tauchte neben Frank auf. »Sporthochseeschein ... Was bedeutet das?«, rief sie wassertretend.
»Sporthochseeschifferschein«, korrigierte Frank sie. »Das heißt, sie darf alle Meere befahren, unter Segel und Motor. Ich muss schon sagen, das hätte ich Anna-Dora nicht zugetraut. Ich werde mit jeder Sekunde neugieriger auf das, was in Natal auf uns wartet.«
Neugierig ist die Untertreibung des Jahrhunderts, dachte Anita. Ich platze geradezu. Mit beiden Armen warf sie sich vorwärts und kraulte davon. »Fang mich!«, schrie sie.
Frank holte sie mühelos ein. Nachdem sie mehrere Male das Boot umrundet und sich anschließend eine übermütige Wasserschlacht geliefert hatten, kletterten sie wieder an Bord. Nass wie sie waren, warfen sie sich auf ihre Liegekissen auf dem Vorschiff, hielten sich an den Händen und schauten den Möwen nach, die über den azurblauen Himmel in die Ferne glitten. Es roch salzig nach Meer. Nach Freiheit.
Nach Leben, dachte Anita und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Das ungute Gefühl verzog sich in die hinterste Ecke ihres Bewusstseins.
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Aber sie waren nicht an Land geblieben, sie waren hinausgesegelt, und ihre Mutter hatte Migräne bekommen.
An jenem Tag saß Anita auf dem Vordeck der Segelyacht und konnte es nicht fassen, dass das Leben so schön sein konnte. Die Welt schimmerte wie eine gläserne Perle. Kein Hauch regte sich. Der Himmel war endlos, das Meer seidenglatt, und Salzschleier drifteten glitzernd in der Luft. In der Ferne glänzten die weißen Häuser der Küstenorte zwischen sattem Piniengrün, die Berge, die das Rückgrat der Insel bildeten, waren hingewischte Pinselstriche in Monet-Blau.
Ein Tag zum Träumen, dachte Anita und sah einer Möwe nach, die auf lautlosen Schwingen in die blaue Unendlichkeit glitt. Ein Tag, an dem die Welt heil ist. Ein perfekter Tag, den man bis in alle Ewigkeit dehnen möchte. Träge lauschte sie dem leisen Plätschern am Rumpf des Bootes, das in der Mittagsflaute dümpelte. Die gleißende Julihitze, die über der Insel lag, dämpfte alle anderen Geräusche. Ihre Gedanken verschwammen.
Zu ihrem Geburtstag hatte ihre Mutter sie und Frank für eine Woche in das kleine Haus in Mallorcas warmen Hügeln eingeladen, das ihre Eltern vor vielen Jahren von einem Künstler - einem Keramiker, der recht bekannt war - gekauft hatten. Es lag im Inneren der Insel und war aus dem typischen goldenen Sandstein der Gegend gebaut worden. Ihre Eltern hatten das Haus mit viel Eigenarbeit umgebaut, alte Wände abgedichtet, neue gezogen, Fenster hineingebrochen und den Boden gefliest. Zwei Schlafzimmer waren so entstanden, ein Badezimmer, die kleine Küche und ein Wohnzimmer, dessen zweiflügelige Glastür auf eine sonnige Terrasse führte und einen wunderbaren Blick über das weite Tal zum Meer bot, das als intensiver blauer Farbklecks den Horizont markierte. Der Ort herrlicher Erinnerungen an lange, müßige Ferientage, der Ort, an dem sie und ihre Eltern auf innigste Weise glücklich gewesen waren.
Einst hatte das Häuschen wohl als Schweinestall für die große Finca gedient, die fünfhundert Meter weiter am Berghang lag, denn an windstillen, heißen Tagen meinte Anita, in der winzigen Küche noch einen Hauch von Schwein riechen zu können. Aber dann wehte der himmlische Duft von Orangenblüten herein und vertrieb die Erinnerung an die ursprüngliche Bestimmung des Häuschens.
Seit dem Tod ihres Vaters 1985 verbrachte ihre Mutter die meiste Zeit des Jahres hier. Sie war gerade 77 Jahre alt geworden, schlank und von endlosen Stunden auf dem Golfplatz - den einzigen Luxus, den sie sich leistete - und der Arbeit in ihrem kleinen Garten von der mediterranen Sonne lederbraun gebrannt. Anita hatte mit Vergnügen bemerkt, dass der Besitzer der großen Finca, ein distinguierter Mallorquiner, der ebenfalls verwitwet war, immer öfter ihre Gesellschaft suchte, seit beide festgestellt hatten, dass sie die Leidenschaft für Golf und das Gärtnern teilten.
Schritte erklangen, ihre Mutter, in weißen, weiten Hosen und lockerem marineblauem Oberteil, erschien an Deck und machte sich daran, den Tisch im Cockpit aufzuklappen und Leinensets und Besteck zu verteilen. Anita öffnete die Augen und reckte sich ausgiebig. Die Segeltour war Franks Geburtstagsüberraschung, und für den Abend hatte er einen Tisch im Can Carica gebucht, dessen quirliger Inhaber den besten Fisch in Salzkruste zubereitete, der an Mallorcas Ostküste zu finden war. Ihre Mutter, die sich ab und zu ein Essen dort leistete, hatte ihn empfohlen. Anita stand auf, um zu helfen.
»Frank hat mir lediglich erlaubt, die Salatsoße zu machen, und mich an das übrige Menü nicht herangelassen.« Ihre Mutter stellte eine Flasche mit einer honigbraunen Flüssigkeit auf den Tisch. »Es ist sehr clever von dir, einen zu heiraten, der so gut kochen kann«, bemerkte sie mit einem blau funkelnden Seitenblick auf Anita. »Wenn ich mich recht erinnere, gelingen dir allenfalls Spaghetti mit Tomatensoße aus der Dose.«
Anita lachte vergnügt, während sie das im leichten Wind flatternde Sonnensegel über dem Cockpit festzurrte. »Aber nein. Rühreier kann ich auch. Ziemlich leckere sogar. Die klassische Rollenverteilung gilt eben nicht mehr. Heute können Männer kochen und manche Frauen eben nicht.«
»Und wie kommt er mit deinem Temperament zurecht?«
»Na, aber ganz prima, Anna-Dora.« Frank kam mit einem üppig beladenen Tablett den Niedergang hoch und grinste seine zukünftige Schwiegermutter an. »Bei mir schnurrt sie wie ein Kätzchen, und die übrige Zeit ist sie handzahm.« Er wechselte ein verstohlenes Lächeln mit Anita und stellte das Tablett vorsichtig auf den Tisch. Sein ärmelloses schwarzes T-Shirt klebte ihm am Körper, das Haar war verschwitzt. Mit einem Hemdzipfel trocknete er sich das schweißglänzende Gesicht ab. »Heiß wie in der Hölle da unten.«
Sie setzten sich, und Frank legte je zwei Langustenhälften auf die Teller, reichte Knoblauchbrot und den Salat herum und goss Wein ein. Anita naschte vom Salat und spießte mit verzücktem Ausdruck ein Stück Languste auf. »Der Salat ist köstlich, die Langusten sind himmlisch, und das Knoblauchbrot würde jeden Vampir in die Flucht schlagen!« Sie hob ihr Glas und prostete ihm zu.
Auch ihre Mutter hatte mit angestoßen und beschäftigte sich jetzt mit abwesendem Ausdruck mit ihrer Languste. »Denkt ihr auch an Kinder?«, fragte sie dann wie beiläufig.
Zu ihrem eigenen Erstaunen spürte Anita, dass sie rot wurde. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie diese Gefühlswallung das letzte Mal überkommen hatte. Als Schulmädchen vermutlich. Sie legte die Hände an ihr glühendes Gesicht und sandte Frank dabei einen schnellen Blick unter gesenkten Wimpern zu, worauf ein kleines Lächeln seine Mundwinkel kräuselte und er mit einem winzigen Nicken antwortete.
Anna-Dora Carvalho war eine aufmerksame Beobachterin. »Meine Güte, ist es etwa schon so weit?«, rief sie. »Das ist ja wunderbar. Ganz wunderbar. Enkelkinder ... « Ihre Augen glänzten. »Ganz wunderbar. Du glaubst gar nicht, wie ich mich freue! Wissen es deine Eltern schon, Frank?«
Er schüttelte verneinend den Kopf. »Ich habe seit Wochen nichts von ihnen gehört, also geht es ihnen sicher gut. Sie werden irgendwo tief im Dschungel stecken. Seit sie diesen kleinen Indianerstamm am Amazonas entdeckt haben, sind sie völlig aus dem Häuschen und für nichts anderes ansprechbar. Aber ich nehme an, sie werden sich auch freuen.«
Die drei am Tisch schwiegen versonnen. Jeder träumte seinen Traum. Von Wärme. Von Gemeinsamkeit. Von Liebe. Einem einfachen Leben, dachte Anita. Nichts Großes. Nichts, was den Neid der Götter der Finsternis herausforderte.
Frank hob sein Glas. »Alles Liebe zu deinem Geburtstag, mein Schatz.« Er lehnte sich vor und küsste sie ausgiebig. »Noch zwei Wochen, dann hab ich dich ganz«, murmelte er, seine Lippen immer noch auf ihren. Ihr Atem mischte sich. Anitas Puls galoppierte.
»Dreizehn Tage«, flüsterte sie. »Welch ein unbeschreiblich herrlicher Tag ist das heute.« Sie schmiegte ihr Gesicht an seines, war süchtig nach Hautkontakt, nach intimer Zweisamkeit. Der Anfang meines Lebens, dachte sie, der Anfang von meinem Traum, der nie ein Ende haben wird.
Ihre Mutter beobachtete sie und lächelte auf eigenartige Weise. »Oh, da fehlt noch die Hauptüberraschung.« Ohne eine weitere Erklärung stand sie auf und stieg den Niedergang hinunter.
Anita schaute ihr verwirrt nach. »Noch ein Geschenk? Was das wohl ist? Hoffentlich hat sie nicht zu viel Geld ausgegeben. Ihre Pension ist nicht sehr üppig.«
»Vielleicht schenkt sie dir ein Schmuckstück aus ihrem Bestand. Das hat sie doch früher schon getan.«
Aber ihre Mutter schenkte ihr keinen Schmuck. Sie legte einen schlichten weißen Umschlag vor ihr auf den Tisch, zwischen Brotkrümeln, Salzstreuer und dem Keramikgefäß, das die Knoblauchbutter enthielt. Anita nahm ihn verwundert hoch. Er hatte einen Fettfleck abbekommen. Sie rieb ihn mit der Serviette weg, wie um Zeit zu gewinnen, ehe sie ihn mit dem Fingernagel aufschlitzte. Dabei blickte sie ihre Mutter zweifelnd an, fand, dass sie merkwürdig erregt wirkte, denn ihre Augen glänzten fiebrig, und sie konnte ihre Hände offensichtlich kaum stillhalten. Der Umschlag musste etwas ganz Besonderes enthalten.
Und das war es. Etwas ganz Besonderes. Es war eine Einladung für Anita und Frank, zusammen mit ihr nach Südafrika zu fliegen. Anita starrte die Worte an, die fein säuberlich mit blauer Tinte auf weißen Leinenkarton geschrieben standen: Flug von Hamburg nach Frankfurt und weiter nach Durban, Südafrika, Aufenthalt in einem Hotel namens Cabana Beach in Umhlanga Rocks, KwaZulu-Natal. Rückflug zwei Wochen später auf derselben Route.
»Aber Mama«, brach es konsterniert aus Anita heraus.
Ihre Mutter hob lachend eine Hand. »Es ist an der Zeit. Das hätte ich schon vor sehr langer Zeit machen sollen.«
»Zeit ... wozu?« Anita sah sie hilflos an.
Wieder dieses Lachen. Aufgeregt, ein bisschen überdreht. Glücklich. Glücklicher, als sie ihre Mutter seit Langem erlebt hatte. »Du wirst schon sehen.«
Anita fand keine Worte. Was war nur in ihre Mutter gefahren? Woher wollte sie das Geld nehmen? Rasch überschlug sie die Kosten. Unter fünftausend Euro würde ihre Mutter kaum davonkommen, schätzte sie und erschrak.
»Ausgeschlossen«, sagte sie laut. »Mama, das ist zu viel! Viel zu viel.«
»Anita hat recht, Anna-Dora«, mischte sich Frank ein. »Das ist einfach zu viel. Lass uns wenigstens die Flüge selbst bezahlen.« Liebevoll streichelte er seiner Schwiegermutter über den Arm. Ihr Verhältnis war von Anfang an sehr gut gewesen. Er mochte sie sehr.
Anna-Dora hob lachend beide Hände. »Geht nicht. Sind schon bezahlt.«
Anita und Frank sahen sich verblüfft an. Anita zuckte in einer ratlosen Geste die Schultern.
»Ich hab's gespart. Macht euch keine Sorgen.« Anna-Dora hatte den Blickwechsel der beiden offenbar bemerkt.
»Von deiner Rente?«, platzte Anita heraus.
Wieder lachte ihre Mutter. »Keine Angst, ich habe noch ein paar Reserven. Meine Rente brauchte ich nicht anzutasten. Und nun möchte ich nichts mehr über Geld hören. Freust du dich nicht?« Es klang vorwurfsvoll.
Anita riss sich zusammen und drückte ihre Mutter fest an sich. »Doch, Mama, natürlich. Danke. Das ist das überraschendste Geschenk, das ich je bekommen habe - und das üppigste.« Es kam seltsam hölzern heraus, und ein merkwürdig unruhiges Gefühl setzte sich in ihr fest, besonders als sie bemerkte, dass ihrer Mutter die Tränen in den Augen standen. »Es ist an der Zeit ... Willst du mir nicht verraten, was du damit meinst?«
Anna-Dora blickte durch sie hindurch, war ganz offensichtlich in Gedanken weit weg. »Nein, das will ich nicht. Nicht jetzt. Gedulde dich noch ein wenig. Wir fliegen am 20. Januar. Es dürfte doch kein Problem für euch sein, dann Urlaub zu bekommen, nicht wahr? Einen Mietwagen habe ich auch schon bestellt.« Ohne eine Entgegnung abzuwarten, stand sie auf und fing an abzudecken. Sie kippte die Langustenreste in eine Plastiktüte und verknotete sie, damit nicht das ganze Boot danach stank, anschließend trug sie die abgegessenen Teller in die Kombüse.
Frank sah ihr nach. »Du musst mit deiner Gynäkologin sprechen, ob du im Januar noch eine solche Reise machen kannst.«
»Das mache ich, wenn wir zurück in Deutschland sind. Der siebte Monat wird die Grenze sein. Vielleicht kann Mama den Flug auf einen früheren Termin umbuchen.«
Er lehnte sich zu ihr hinüber und nahm ihre Hand. »Hast du irgendeine Vorstellung, was Anna-Dora meint? Wozu ist es jetzt Zeit? Es muss etwas mit dem Leben deiner Eltern in Zululand zu tun haben, da bin ich mir sicher.«
Sie hob die Schultern. »Ich habe keinen Schimmer. Ich habe schon mein Gedächtnis gründlich durchforstet, aber mir ist nichts eingefallen. Über ihre Zeit in Zululand weiß ich so gut wie gar nichts.«
»Hast du deine Eltern denn nie gefragt? Sie haben doch immerhin rund zwanzig Jahre dort gelebt.«
»Doch, schon«, antwortete sie und spielte dabei mit einer Gabel. »Immer wieder. Jahrelang. Aber ich habe nie wirklich Antworten bekommen. Ich weiß nur, dass sie dort eine Farm hatten, die sie Timbuktu genannt haben. Früher haben sie davon geschwärmt, vom einfachen Leben im Einklang mit der Natur, den freundlichen Menschen, so ganz allgemein. Über ihr tägliches Leben in Zululand haben sie aber nie ein Wort verloren. Dann ist mein Vater gestorben, ganz plötzlich an einer banalen Grippe, und danach hat meine Mutter endgültig jeden Versuch von mir abgeschmettert, dieses Thema anzuschneiden. Und nun das! Ich versteh das alles nicht.«
Das letzte Mal, als sie mit ihrer Mutter darüber sprechen wollte, hatte die nur eine wegwerfende Handbewegung gemacht. »Das ist eine lange Geschichte«, hatte sie gesagt und sehr abweisend und geradezu unfreundlich dabei ausgesehen. »Eine für kalte Wintertage, wenn wir am Kamin sitzen.« Mit leidender Miene hatte sie die Augen zusammengekniffen und sich über die Stirn gestrichen.
Anita kannte diese Geste seit ihrer frühesten Jugend. Ein Migräneanfall war im Anzug. Mindestens zwei Tage lang war sie danach kaum ansprechbar, und ihr blieb nur die bohrende Frage, was in Zululand vorgefallen war, dass die bloße Erwähnung dieses heftige Verhalten auslösen konnte. »Wir haben gar keinen Kamin«, hatte sie leise gesagt, aber ihre Mutter hatte sich verschlossen und in sich zurückgezogen.
»Ich bin immer gegen eine Mauer aus Schweigen und Abwehr angerannt. Irgendwann habe ich aufgehört zu fragen. Ich möchte wirklich wissen, was vorgefallen ist, dass sie jetzt aus heiterem Himmel beabsichtigt, dorthin zurückzukehren, und vor allen Dingen, warum sie uns mitnehmen will.« Sie stand auf und stapelte die leeren Schüsseln ineinander. »Lass uns den Rest hinunter bringen.«
»Langsam bin ich sehr gespannt darauf, was uns dort erwartet.« Frank nahm ihr die Schüsseln und Pfeffer- und Salzmühle ab. »Ich bringe das in die Kombüse.«
Anita legte die Tischsets zusammen und verstaute sie unter der Sitzbank. Ihre Mutter kam gleich darauf den Niedergang hoch, dicht gefolgt von Frank.
Anna-Dora setzte sich ans Ruder, krempelte die Hosenbeine bis zum Knie auf, verknotete das Oberteil in der Taille und strich sich anschließend mit beiden Händen ihr weißes Haar hinter die Ohren. Sie legte eine Hand aufs Steuerrad. »Ich pass auf das Boot auf. Geht ihr ruhig schwimmen.«
Anita zögerte. »Wir sollten den Anker auswerfen, damit nichts passiert ... Ich meine, ein Boot zu steuern ist doch etwas anderes, als ein Auto zu lenken.«
Anna-Dora schmunzelte nachsichtig. »Mach dir keine Sorgen, Liebes. Ich kann ziemlich gut segeln. Ich habe meine Feuertaufe vor der Küste Natals in den Brechern des Indischen Ozeans erhalten. Danach kommt mir das Mittelmeer vor wie eine Badewanne.«
»Ui!«, machte Frank anerkennend. »Der Indische Ozean. Eines der schwierigsten Segelreviere der Welt. Unberechenbares Wetter, meterhohe Wellen und viele hungrige Haie im Wasser.«
Anita starrte ihre Mutter mit offenem Mund an. »Du hast nie davon erzählt, dass ihr gesegelt seid. Du und Papa.«
»Nein«, sagte Anna-Dora und schaute an ihrer Tochter vorbei zum südlichen Horizont. »Davon habe ich dir nie erzählt.«
»Hast du einen Segelschein?«, fragte Frank. »Ich muss das fragen, sonst darf ich dich laut Chartervertrag nicht ans Ruder lassen.«
»Sporthochseeschifferschein«, war die lakonische Antwort. »Alles in einem Wort geschrieben.«
»Alle Achtung!« Frank grinste überrascht. »Okay. Das reicht. Komm, Liebling, das Boot ist in besten Händen. Deine Mutter dürfte auf hoher See einen Tanker steuern. Außerdem herrscht totale Flaute. Es wird keine Schwierigkeiten geben. Da könntest sogar du am Ruder sitzen.«
Er kletterte über die Reling, sprang kopfüber ins Wasser und tauchte in einem Sprudel von Luftblasen wieder auf.
»Komm zu mir«, rief er ihr zu und streckte die Arme aus.
Anita warf ihrer Mutter noch einen zweifelnden Blick zu, schob aber dann ihr ungutes Gefühl energisch beiseite und folgte ihm mit einem Kopfsprung ins türkisblaue Wasser. Warm und seidig weich umspülte es ihren Körper. Sie schwamm Frank in die Arme.
Anna-Dora sah ihnen nach und wischte sich dabei fahrig mit einer Hand über die Stirn, als säße da ein lästiges Insekt. Die Hitze drückte, die Segel hingen schlaff herunter, das Meer lag bleiern unter dem brennenden Himmel. Ihr Kopf fühlte sich geschwollen an, und die Sonnenstrahlen stachen ihr in den Augen.
Anita tauchte neben Frank auf. »Sporthochseeschein ... Was bedeutet das?«, rief sie wassertretend.
»Sporthochseeschifferschein«, korrigierte Frank sie. »Das heißt, sie darf alle Meere befahren, unter Segel und Motor. Ich muss schon sagen, das hätte ich Anna-Dora nicht zugetraut. Ich werde mit jeder Sekunde neugieriger auf das, was in Natal auf uns wartet.«
Neugierig ist die Untertreibung des Jahrhunderts, dachte Anita. Ich platze geradezu. Mit beiden Armen warf sie sich vorwärts und kraulte davon. »Fang mich!«, schrie sie.
Frank holte sie mühelos ein. Nachdem sie mehrere Male das Boot umrundet und sich anschließend eine übermütige Wasserschlacht geliefert hatten, kletterten sie wieder an Bord. Nass wie sie waren, warfen sie sich auf ihre Liegekissen auf dem Vorschiff, hielten sich an den Händen und schauten den Möwen nach, die über den azurblauen Himmel in die Ferne glitten. Es roch salzig nach Meer. Nach Freiheit.
Nach Leben, dachte Anita und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Das ungute Gefühl verzog sich in die hinterste Ecke ihres Bewusstseins.
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Autoren-Porträt von Stefanie Gercke
Stefanie Gercke wurde auf einer Insel des Bissagos-Archipels vor Guinea-Bissau / Westafrika als erste Weiße geboren und wanderte mit 20 Jahren nach Südafrika aus. Politische Gründe zwangen sie Ende der Siebzigerjahre zur Ausreise, und erst unter der neuen Regierung Nelson Mandelas konnte sie zurückkehren. Sie liebt ihre regelmäßigen kleinen Fluchten in die südafrikanische Provinz Natal und lebt sonst mit ihrer großen Familie bei Hamburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stefanie Gercke
- 768 Seiten, Maße: 13,6 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 386365207X
- ISBN-13: 9783863652074
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