Jessica - Die Irrwege der Liebe
Band 1
Völlig zu Unrecht wird die 16-jährige Jessica zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Sie muss auf ein Sträflingsschiff, das im Sturm kentert. Doch Jessica wird gerettet von Mitchell Hamilton, einem Passagier. Nicht nur Mitchell ist von Jessica hingerissen.
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Produktinformationen zu „Jessica - Die Irrwege der Liebe “
Völlig zu Unrecht wird die 16-jährige Jessica zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Sie muss auf ein Sträflingsschiff, das im Sturm kentert. Doch Jessica wird gerettet von Mitchell Hamilton, einem Passagier. Nicht nur Mitchell ist von Jessica hingerissen.
Lese-Probe zu „Jessica - Die Irrwege der Liebe “
Jessica - Irrwege der Liebe von Ashley CarringtonDer Wärter stieß Jessica Jakes in den Kerker und warf die schwere Gittertür hinter ihr ins Schloss. Lange hallte das metallische Dröhnen in den Gängen des Gefängnisses von Newgate nach, drang von Zellenblock zu Zellenblock und wurde schließlich von den mächtigen steinernen Mauern aufgesogen.
Der Wärter lachte kurz auf. Es war das freudlose Lachen eines Mannes, der seiner Arbeit an diesem Ort seit ungezählten Jahren nachging und von dem Elend und der Verdorbenheit der Zelleninsassen lebte; das Lachen eines Mannes, der schon zu viel gesehen hatte, um noch von der Gewalttätigkeit, dem Elend und der Verzweiflung berührt zu werden.
Er wusste, was diese junge, hübsche Gefangene erwartete. Doch er machte sich nicht die Mühe, ihr einen Rat zu geben. Wenn sie nicht wusste, wie sie sich zu verhalten hatte, würde sie es lernen müssen, wie alle anderen vor ihr auch. Hier, im Londoner Gefängnis von Newgate, das nicht von ungefähr in dem Ruf stand, das Sinnbild der Hölle selbst zu sein, galten eigene Gesetze, die so einfach und von so brutaler Klarheit waren, dass sie keinerlei Erklärung bedurften. Nachdem sich zuerst die Oberaufseher und dann die Wärter an den Neueingelieferten schadlos hielten, waren sie danach der Unbarmherzigkeit ihrer stärkeren Mitgefangenen ausgeliefert.
... mehr
Regungslos stand Jessica Jakes einen knappen Schritt hinter der Zellentür, unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Sie hörte die schlurfenden Schritte des Wärters, die sich auf dem rissigen Steinboden des Ganges entfernten. Sie war nun allein mit den etwa dreißig bis vierzig zerlumpten Gestalten. Als sie von dem Wärter in die Zelle gestoßen worden war, hatten sich die Eingekerkerten träge vom feuchten Stroh erhoben, das den nackten Boden mit einer dünnen Schicht bedeckte.
Angst schnürte Jessica die Kehle zu, und ihr Atem ging kurz und flach, als sie die vielen Augenpaare auf sich gerichtet sah. Die Frauen in der Zelle musterten sie mit feindseligen Blicken. Und nur in den Augen einiger weniger konnte sie eine Spur von Mitleid und schmerzlichem Verstehen entdecken.
»He, Molly«, rief eine hagere Frau. Ihr wildes, zerzaustes Haar starrte vor Dreck, und hellrote Brandflecken verunstalteten ihr ausgezehrtes Gesicht. »Schau mal, was für'n hübsches, junges Täubchen uns da zugeflogen ist!«
Ihre Stimme war rau wie ein Reibeisen. Sie stieß der Frau neben sich, die sie mit Molly angesprochen hatte, den Ellenbogen derb in die Seite. Und mit einem Seitenblick fügte sie hinzu: »Soll ich die Kleine nicht 'n bisschen erleichtern?«
»Überlass das mir, Beth!«, erwiderte Molly barsch.
»Natürlich ... ganz wie du meinst, Molly«, beeilte sich Beth zu sagen. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einem unterwürfigen Lächeln.
»So, du bist also die Neue«, sagte Molly zu Jessica Jakes. Ein drohender Unterton schwang in ihrer dunklen, harten Stimme mit.
Jessica erschauerte und presste das kleine Bündel, das ihre wenigen Habseligkeiten enthielt, vor die Brust. Ohne Zweifel nahm Molly in dieser düsteren, stinkenden Zelle eine besondere Stellung unter den Gefangenen ein. Sie war von stämmiger, korpulenter Gestalt und überragte alle anderen um eine gute Haupteslänge. Während die zerlumpten Fetzen der anderen Frauen die Bezeichnung Kleider schon längst nicht mehr verdienten, war Molly ins Auge stechend gut gekleidet. Sie trug ein Kleid aus blassgelbem Brokat. Es wies zwar an vielen Stellen schon Flecken und aufgeplatzte Nähte auf und entsprach kaum noch der Mode, doch neben den Lumpen der anderen hob es sich so ab wie die Nacht vor dem Tag.
Das schon mehrfach geflickte und vorn geschnürte Oberteil vermochte ihren mächtigen Busen kaum zu halten, der wie ein bleicher Schwamm aus ihrem Mieder quoll. Die Brust ging in einen kurzen, fetten Hals über. Das Gesicht war aufgedunsen und verriet die hemmungslose Trinkerin. Unter wässrigen Augen lagen eine zu kurz geratene, rotgeäderte Nase und ein grell geschminkter, dünnlippiger Mund, der jetzt einen herrischen Ausdruck trug. Ihr strähniges, ehemals wohl rotblondes Haar war nachlässig gepudert.
Jessica konnte das Alter der Frau schlecht schätzen, genauso wie das von Beth und den anderen. Die Hölle von Newgate hatte sie ganz sicherlich weit über ihre wirklichen Jahre hinaus altern lassen.
»Wie heißt du?«, verlangte Molly mit befehlsgewohnter Stimme zu wissen. Sie löste sich aus der Gruppe der Gefangenen, die nun einen Halbkreis um die Neue bildeten.
»Jessica«, kam es schwach über ihre Lippen.
»Habt ihr das gehört?«, krächzte Beth. »Jessica heißt unser unschuldiges Täubchen mit den blonden Engelslocken. Der Teufel soll mich, wenn sie nicht so was wie 'nen Glanz in unsere bescheidene Behausung bringt. Würd' mich nicht für 'nen Penny wundern, wenn uns der alte Mistkerl von Wärter, die Pest soll über ihn kommen, 'ne richtige Missy angeschleppt hat, 'n Fräulein aus 'ner vornehmen Familie. Seht euch nur mal das hübsche Kleid an und die Pelerine. Der Henker soll mich auf der Stelle holen, wenn dieser Umhang nicht genau das ist, was ich gegen das verfluchte Ziehen in meinem Rücken brauche!« Beifallheischend blickte sie in die Runde und entblößte dabei zwei Reihen fauliger Zahnstümpfe.
»Du sollst dein dreckiges Maul halten, Beth!«, fuhr Molly sie an. »Oder du kannst sehen, wo du demnächst deinen Gin herbekommst!«
»War doch nicht so gemeint, Molly«, murmelte Beth schmollend, während ihr die anderen Frauen schadenfrohe Blicke zuwarfen. »Is' ja schon so lange her, dass wir 'ne Neue zum Ausnehmen hatten.«
»Du kriegst schon deinen Anteil, Beth. Wart's nur ab«, erwiderte Molly in etwas versöhnlicherem Ton und fügte noch lächelnd hinzu: »Aber wir wollen die kleine Jessica doch nicht schon in den ersten Minuten zu Tode erschrecken. Wir werden sicherlich noch lange das Vergnügen ihrer Gesellschaft haben, nicht wahr, Jessy-Missy?«
Mollys Worte riefen unter den Gefangenen ein Gelächter hervor, das in Jessicas Ohren wie bösartiger Spott klang. Mit zusammengepressten Lippen hatte sie dem Wortwechsel der beiden Frauen zugehört. Ihr zartgeschnittenes Gesicht mit den seegrünen Augen zeigte eine kranke Blässe. Ihr war, als würde ihr die Kraft aus den Gliedern weichen. Und der entsetzliche Gestank, der sie wie ein vermodertes Leichentuch umhüllte, trieb ihr das Gefühl, sich im nächsten Augenblick übergeben zu müssen, die Kehle hoch.
Molly wandte sich wieder der Neuen zu. Ein Lächeln kräuselte ihre schmalen Lippen. »Du musst nichts darauf geben, was diese liederlichen Weibsbilder von sich geben, Jessy-Missy«, sagte sie und rief damit erneut Gelächter hervor. »Das ist der Londoner Abschaum, mein Kleines, und sicherlich nicht der Umgang, den so ein feines, vornehmes Fräulein wie du gewöhnt bist, nicht wahr?«
»Du hast gut reden, Molly!«, rief eine Stimme aus den hinteren Reihen. »Deine Wiege stand doch unter 'nem Ginfass, und die Kerle, die dein Umgang waren, sind doch fast alle am Galgen geendet!«
Brüllendes Gelächter erhob sich - und brach jäh ab, als Molly herumfuhr und ihre Augen die Frau suchten, die es gewagt hatte, die Wahrheit über sie hinauszuposaunen. Doch sie blickte auf eine Meute erstarrter Gestalten, die sich zwar Mollys Gewaltherrschaft unterwarfen, ihr jedoch keine Sympathien entgegenbrachten. Mit Ausnahme von Beth und zwei, drei anderen, die zu Mollys ›Hofstaat‹ zählten und ihr ergeben waren, dachte niemand daran, die Frau in ihren Reihen zu verraten, die so ätzend über Molly gesprochen hatte. Und Beth stand mit ihren Gesinnungsfreundinnen in der vordersten Reihe, sodass sie alle auf Mollys fragenden Blick nur mit einem Schulterzucken antworten konnten.
»Würd' mich nicht wundern, wenn es diese hinterhältige Pestbeule Lydia gewesen ist!«, stieß Beth ihre Verdächtigung hervor, um wieder wettzumachen, was sie sich wenige Minuten zuvor mit ihrem lästerlichen Mundwerk bei Molly verscherzt hatte. »So 'ne dreckige Verleumdung kann nur von dieser Kindermörderin kommen!«
Niemand erwiderte etwas. Die Stille war beklemmend. Dann ließ Molly die drohend hochgezogenen Schultern sinken. Ihr Busen wogte in dem zu engen Mieder, und grollend forderte sie Beth auf: »Hol mir die Flasche! Solch ein feiges Pack wie euch kann man nur im Suff ertragen!«
Der verdrossene Ausdruck verschwand von Beths Gesicht. Es war eine Belohnung, Molly die Flasche mit Gin zu bringen, denn für diejenige, die sie damit beauftragte, fiel stets ein kräftiger Schluck ab. Und Gin war im Gefängnis das Tor zum Vergessen.
Jessica beobachtete mit weit aufgerissenen Augen, wie Beth in die rechte Ecke des Kerkers hinüberging und einen Weidenkorb aus dem Stroh zog, das an dieser Stelle höher aufgehäuft war. Die hagere Frau wühlte in dem Korb, der mit Puderdosen, Gürtelschnallen, Unterkleidern, Schuhen und anderen Dingen vollgestopft war. Die Flasche lag wohl ganz unten, denn Beth räumte den Weidenkorb halb leer. Dann lief sie mit dem Gin eiligst zu Molly zurück.
»Gib schon her!« Molly riss ihr die Flasche aus der Hand, entkorkte sie und setzte sie an die Lippen. Dutzende Augenpaare verfolgten mit neidvollen, gierigen Blicken, wie der scharfe Gin glucksend aus der Flasche und in ihre Kehle rann. Als sie fünf, sechs kräftige Züge genommen hatte, setzte sie die Flasche ab, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, rülpste unverhohlen und hielt Beth die Ginflasche hin. »Hier! ... Trink! ... Aber lass noch was drin!«
Ekel erfüllte Jessica, als sie sah, mit welcher Gier die Frau mit dem von Brandnarben entstellten Gesicht den Gin in sich hineinschüttete.
»Das reicht!«, sagte Molly scharf, und riss Beth die Flasche vom Mund. »Und nun zu dir, Jessy-Missy. Wir sind hier eine große Familie. Und wie du vielleicht schon mitbekommen hast, hat man mich dazu bestimmt, für Frieden und Ordnung zu sorgen.«
Jemand lachte mit bitterem Hohn auf.
»Ordnung muss sein«, fuhr Molly unbeirrt fort, »ganz besonders dann, wenn man es mit so gottverdorbenen Seelen zu tun hat wie diesen da«, sie deutete mit der Ginflasche vage hinter
sich, »und Unterkunft und Verpflegung einiges zu wünschen übrig lassen. Du bist bestimmt ein helles Missy-Köpfchen und wirst deshalb verstehen, dass es nur zu Streit und Niedertracht führt, wenn der eine mehr besitzt als der andere, nicht wahr?«
»Ich ... ich ... verstehe nicht, was Sie wollen«, brachte Jessica mühsam hervor.
Molly trat einen Schritt näher, noch immer lächelnd. Die Schminke auf ihren Lippen war verwischt und ließ sie noch abstoßender aussehen. Auch die anderen Gefangenen rückten weiter vor, der Halbkreis wurde enger.
»Keine Sorge, Jessy-Missy, ich werde dir schon helfen, zu verstehen«, erklärte Molly. »Dein hübsches Kleid und deine Pelerine sind in dieser Umgebung unpassend, Kleines. Es ist besser, du gibst beides mir, und ich verwahre es dir für den Tag, an dem du deine feinen Sachen wieder tragen kannst. Und wenn du auch noch etwas Wertvolles da in deinem Beutel hast, gibst du mir auch das besser, damit es nicht verloren geht.«
Jessica trat unwillkürlich einen Schritt zurück und spürte im nächsten Moment die schweren Eisenstäbe der langen Gitterwand, die den Kerker vom Gang trennte, in ihrem Rücken. Sie begriff nun, was diese abstoßende Vettel von ihr wollte. Sie sollte ihre Kleidung und das, was sie noch an wenigen Habseligkeiten besaß, hergeben. Ihr Geld, vier Silbermünzen, hatten ihr die Wärter schon abgenommen.
»Nein!«, stieß sie erschrocken hervor. »Niemals! ... Ich habe nichts Wertvolles im Beutel! ... Und meine Kleider gebe ich nicht her!« Hart presste sie das Segeltuchbündel an ihre Brust.
Molly lachte geringschätzig. »Du nimmst besser Vernunft an, Jessy-Missy. Du bist hier nicht in einem Pensionat für vornehme Töchter. Du hast zu bezahlen, wie jede andere vor dir es auch getan hat!«
»Bezahlen? ... Wofür?«
»Für meinen Schutz, Kleines«, erklärte Molly mit bedrohlich sanfter Stimme. »Und mein Schutz ist nicht billig zu haben. Also sei vernünftig und rück die Sachen freiwillig heraus.«
Jessica schüttelte heftig den Kopf. Niemals würde sie das Wenige, das ihr von der Welt außerhalb der Mauern von Newgate geblieben war, hergeben. Zumindest nicht freiwillig, und nicht ohne bis zum Letzten darum gekämpft zu haben. Sie ahnte in diesem Moment, dass sie für immer verloren sein würde, wenn sie jetzt klein beigab. Wenn sie sich jetzt nicht gegen Molly und ihre Hyänen zur Wehr setzte und um ihren kläglichen Besitz kämpfte, würde sie ebenso tief sinken wie diese Frauen vor ihr, die sich schon selbst aufgegeben hatten.
»Ich brauche keinen Schutz!«, stieß sie mit einer Entschlossenheit hervor, die sie selbst erstaunte. »Und keiner hat das Recht, mir auch nur irgendetwas zu nehmen!«
Molly brach in ein Hohngelächter aus, in das Beth und ihre Freundinnen einfielen.
»Du bist wirklich unbeleckt von der Welt, Jessy-Missy«, sagte Molly schließlich. »Ich besitze alles Recht, das ich brauche, um zu bekommen, was ich haben will. Und nun Schluss mit dem Gerede! Gib die Sachen her, oder ich sorge dafür, dass man sie dir vom Körper reißt! Du hast noch einiges zu lernen, wenn du in diesem Dreckloch überleben willst!«
Jessica blieb hart. »Nein!«
»Jetzt ist aber genug!«, geiferte Molly mit hochrotem Gesicht. Es lag schon lange zurück, dass jemand gewagt hatte, ihr Widerstand entgegenzusetzen. Sie machte Anstalten, nach dem weichen, warmen Umhang zu fassen, der in den kommenden Wintermonaten nicht mit Gold aufzuwiegen sein würde.
Jessica war verängstigt, gleichzeitig aber zum Widerstand entschlossen. Sie spürte die metallene Haarnadel, die aus ihrem Bündel ragte und schmerzhaft gegen ihre Brust drückte, und sie handelte, ohne lange zu überlegen. Sie griff nach dem herausragenden Ende der Haarnadel, zog sie blitzschnell aus dem Bündel und stieß sie Molly wie einen Dolch entgegen.
Die Spitze der Nadel zuckte schneller, als ein Auge folgen konnte, über den weichen Busen der fülligen Frau und hinterließ eine dünne blutrote Linie von der Länge eines Fingers.
Molly stieß einen schrillen Schrei aus und sprang erschrocken zurück. Ungläubig starrte sie auf die verletzte Haut.
»Ich will keinem was antun!«, warnte Jessica die Frauen mit vor Erregung zitternder Stimme. »Doch ich werde zustechen, wenn mir jemand zu nahe kommt!«
»Die Pest über dich!«, schrie Molly, blieb jedoch, wo sie stand.
»Ich sage euch, das ist 'ne Kindermörderin!«, gellte Beth. »Hinter ihrem Engelsgesicht verbirgt sich 'ne gottlose Mörderin!«
»Ich bin keine Kindermörderin!«, widersprach Jessica heftig, und die Haarnadel zitterte in
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Die Originalausgabe des Romans Die Irrwege der Liebe von Ashley Carrington
erschien 1984 in der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur
Nachf. GmbH & Co. KG, München
Copyright der Originalausgabe © 1984 by Rainer M. Schröder,
vertreten durch AVA international GmbH, Germany.
www.ava-international.de
Umschlaggestaltung: zeichenpool, München
Umschlagmotiv: Mauritius Images, Mittenwald (© Urbanlip);
Shutterstock (© Martin Horsky; © Light & Magic Photography;
© maxstockphoto; © Axusha)
Gesamtherstellung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-429-8
2013 2012 2011 2010
Regungslos stand Jessica Jakes einen knappen Schritt hinter der Zellentür, unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Sie hörte die schlurfenden Schritte des Wärters, die sich auf dem rissigen Steinboden des Ganges entfernten. Sie war nun allein mit den etwa dreißig bis vierzig zerlumpten Gestalten. Als sie von dem Wärter in die Zelle gestoßen worden war, hatten sich die Eingekerkerten träge vom feuchten Stroh erhoben, das den nackten Boden mit einer dünnen Schicht bedeckte.
Angst schnürte Jessica die Kehle zu, und ihr Atem ging kurz und flach, als sie die vielen Augenpaare auf sich gerichtet sah. Die Frauen in der Zelle musterten sie mit feindseligen Blicken. Und nur in den Augen einiger weniger konnte sie eine Spur von Mitleid und schmerzlichem Verstehen entdecken.
»He, Molly«, rief eine hagere Frau. Ihr wildes, zerzaustes Haar starrte vor Dreck, und hellrote Brandflecken verunstalteten ihr ausgezehrtes Gesicht. »Schau mal, was für'n hübsches, junges Täubchen uns da zugeflogen ist!«
Ihre Stimme war rau wie ein Reibeisen. Sie stieß der Frau neben sich, die sie mit Molly angesprochen hatte, den Ellenbogen derb in die Seite. Und mit einem Seitenblick fügte sie hinzu: »Soll ich die Kleine nicht 'n bisschen erleichtern?«
»Überlass das mir, Beth!«, erwiderte Molly barsch.
»Natürlich ... ganz wie du meinst, Molly«, beeilte sich Beth zu sagen. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einem unterwürfigen Lächeln.
»So, du bist also die Neue«, sagte Molly zu Jessica Jakes. Ein drohender Unterton schwang in ihrer dunklen, harten Stimme mit.
Jessica erschauerte und presste das kleine Bündel, das ihre wenigen Habseligkeiten enthielt, vor die Brust. Ohne Zweifel nahm Molly in dieser düsteren, stinkenden Zelle eine besondere Stellung unter den Gefangenen ein. Sie war von stämmiger, korpulenter Gestalt und überragte alle anderen um eine gute Haupteslänge. Während die zerlumpten Fetzen der anderen Frauen die Bezeichnung Kleider schon längst nicht mehr verdienten, war Molly ins Auge stechend gut gekleidet. Sie trug ein Kleid aus blassgelbem Brokat. Es wies zwar an vielen Stellen schon Flecken und aufgeplatzte Nähte auf und entsprach kaum noch der Mode, doch neben den Lumpen der anderen hob es sich so ab wie die Nacht vor dem Tag.
Das schon mehrfach geflickte und vorn geschnürte Oberteil vermochte ihren mächtigen Busen kaum zu halten, der wie ein bleicher Schwamm aus ihrem Mieder quoll. Die Brust ging in einen kurzen, fetten Hals über. Das Gesicht war aufgedunsen und verriet die hemmungslose Trinkerin. Unter wässrigen Augen lagen eine zu kurz geratene, rotgeäderte Nase und ein grell geschminkter, dünnlippiger Mund, der jetzt einen herrischen Ausdruck trug. Ihr strähniges, ehemals wohl rotblondes Haar war nachlässig gepudert.
Jessica konnte das Alter der Frau schlecht schätzen, genauso wie das von Beth und den anderen. Die Hölle von Newgate hatte sie ganz sicherlich weit über ihre wirklichen Jahre hinaus altern lassen.
»Wie heißt du?«, verlangte Molly mit befehlsgewohnter Stimme zu wissen. Sie löste sich aus der Gruppe der Gefangenen, die nun einen Halbkreis um die Neue bildeten.
»Jessica«, kam es schwach über ihre Lippen.
»Habt ihr das gehört?«, krächzte Beth. »Jessica heißt unser unschuldiges Täubchen mit den blonden Engelslocken. Der Teufel soll mich, wenn sie nicht so was wie 'nen Glanz in unsere bescheidene Behausung bringt. Würd' mich nicht für 'nen Penny wundern, wenn uns der alte Mistkerl von Wärter, die Pest soll über ihn kommen, 'ne richtige Missy angeschleppt hat, 'n Fräulein aus 'ner vornehmen Familie. Seht euch nur mal das hübsche Kleid an und die Pelerine. Der Henker soll mich auf der Stelle holen, wenn dieser Umhang nicht genau das ist, was ich gegen das verfluchte Ziehen in meinem Rücken brauche!« Beifallheischend blickte sie in die Runde und entblößte dabei zwei Reihen fauliger Zahnstümpfe.
»Du sollst dein dreckiges Maul halten, Beth!«, fuhr Molly sie an. »Oder du kannst sehen, wo du demnächst deinen Gin herbekommst!«
»War doch nicht so gemeint, Molly«, murmelte Beth schmollend, während ihr die anderen Frauen schadenfrohe Blicke zuwarfen. »Is' ja schon so lange her, dass wir 'ne Neue zum Ausnehmen hatten.«
»Du kriegst schon deinen Anteil, Beth. Wart's nur ab«, erwiderte Molly in etwas versöhnlicherem Ton und fügte noch lächelnd hinzu: »Aber wir wollen die kleine Jessica doch nicht schon in den ersten Minuten zu Tode erschrecken. Wir werden sicherlich noch lange das Vergnügen ihrer Gesellschaft haben, nicht wahr, Jessy-Missy?«
Mollys Worte riefen unter den Gefangenen ein Gelächter hervor, das in Jessicas Ohren wie bösartiger Spott klang. Mit zusammengepressten Lippen hatte sie dem Wortwechsel der beiden Frauen zugehört. Ihr zartgeschnittenes Gesicht mit den seegrünen Augen zeigte eine kranke Blässe. Ihr war, als würde ihr die Kraft aus den Gliedern weichen. Und der entsetzliche Gestank, der sie wie ein vermodertes Leichentuch umhüllte, trieb ihr das Gefühl, sich im nächsten Augenblick übergeben zu müssen, die Kehle hoch.
Molly wandte sich wieder der Neuen zu. Ein Lächeln kräuselte ihre schmalen Lippen. »Du musst nichts darauf geben, was diese liederlichen Weibsbilder von sich geben, Jessy-Missy«, sagte sie und rief damit erneut Gelächter hervor. »Das ist der Londoner Abschaum, mein Kleines, und sicherlich nicht der Umgang, den so ein feines, vornehmes Fräulein wie du gewöhnt bist, nicht wahr?«
»Du hast gut reden, Molly!«, rief eine Stimme aus den hinteren Reihen. »Deine Wiege stand doch unter 'nem Ginfass, und die Kerle, die dein Umgang waren, sind doch fast alle am Galgen geendet!«
Brüllendes Gelächter erhob sich - und brach jäh ab, als Molly herumfuhr und ihre Augen die Frau suchten, die es gewagt hatte, die Wahrheit über sie hinauszuposaunen. Doch sie blickte auf eine Meute erstarrter Gestalten, die sich zwar Mollys Gewaltherrschaft unterwarfen, ihr jedoch keine Sympathien entgegenbrachten. Mit Ausnahme von Beth und zwei, drei anderen, die zu Mollys ›Hofstaat‹ zählten und ihr ergeben waren, dachte niemand daran, die Frau in ihren Reihen zu verraten, die so ätzend über Molly gesprochen hatte. Und Beth stand mit ihren Gesinnungsfreundinnen in der vordersten Reihe, sodass sie alle auf Mollys fragenden Blick nur mit einem Schulterzucken antworten konnten.
»Würd' mich nicht wundern, wenn es diese hinterhältige Pestbeule Lydia gewesen ist!«, stieß Beth ihre Verdächtigung hervor, um wieder wettzumachen, was sie sich wenige Minuten zuvor mit ihrem lästerlichen Mundwerk bei Molly verscherzt hatte. »So 'ne dreckige Verleumdung kann nur von dieser Kindermörderin kommen!«
Niemand erwiderte etwas. Die Stille war beklemmend. Dann ließ Molly die drohend hochgezogenen Schultern sinken. Ihr Busen wogte in dem zu engen Mieder, und grollend forderte sie Beth auf: »Hol mir die Flasche! Solch ein feiges Pack wie euch kann man nur im Suff ertragen!«
Der verdrossene Ausdruck verschwand von Beths Gesicht. Es war eine Belohnung, Molly die Flasche mit Gin zu bringen, denn für diejenige, die sie damit beauftragte, fiel stets ein kräftiger Schluck ab. Und Gin war im Gefängnis das Tor zum Vergessen.
Jessica beobachtete mit weit aufgerissenen Augen, wie Beth in die rechte Ecke des Kerkers hinüberging und einen Weidenkorb aus dem Stroh zog, das an dieser Stelle höher aufgehäuft war. Die hagere Frau wühlte in dem Korb, der mit Puderdosen, Gürtelschnallen, Unterkleidern, Schuhen und anderen Dingen vollgestopft war. Die Flasche lag wohl ganz unten, denn Beth räumte den Weidenkorb halb leer. Dann lief sie mit dem Gin eiligst zu Molly zurück.
»Gib schon her!« Molly riss ihr die Flasche aus der Hand, entkorkte sie und setzte sie an die Lippen. Dutzende Augenpaare verfolgten mit neidvollen, gierigen Blicken, wie der scharfe Gin glucksend aus der Flasche und in ihre Kehle rann. Als sie fünf, sechs kräftige Züge genommen hatte, setzte sie die Flasche ab, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, rülpste unverhohlen und hielt Beth die Ginflasche hin. »Hier! ... Trink! ... Aber lass noch was drin!«
Ekel erfüllte Jessica, als sie sah, mit welcher Gier die Frau mit dem von Brandnarben entstellten Gesicht den Gin in sich hineinschüttete.
»Das reicht!«, sagte Molly scharf, und riss Beth die Flasche vom Mund. »Und nun zu dir, Jessy-Missy. Wir sind hier eine große Familie. Und wie du vielleicht schon mitbekommen hast, hat man mich dazu bestimmt, für Frieden und Ordnung zu sorgen.«
Jemand lachte mit bitterem Hohn auf.
»Ordnung muss sein«, fuhr Molly unbeirrt fort, »ganz besonders dann, wenn man es mit so gottverdorbenen Seelen zu tun hat wie diesen da«, sie deutete mit der Ginflasche vage hinter
sich, »und Unterkunft und Verpflegung einiges zu wünschen übrig lassen. Du bist bestimmt ein helles Missy-Köpfchen und wirst deshalb verstehen, dass es nur zu Streit und Niedertracht führt, wenn der eine mehr besitzt als der andere, nicht wahr?«
»Ich ... ich ... verstehe nicht, was Sie wollen«, brachte Jessica mühsam hervor.
Molly trat einen Schritt näher, noch immer lächelnd. Die Schminke auf ihren Lippen war verwischt und ließ sie noch abstoßender aussehen. Auch die anderen Gefangenen rückten weiter vor, der Halbkreis wurde enger.
»Keine Sorge, Jessy-Missy, ich werde dir schon helfen, zu verstehen«, erklärte Molly. »Dein hübsches Kleid und deine Pelerine sind in dieser Umgebung unpassend, Kleines. Es ist besser, du gibst beides mir, und ich verwahre es dir für den Tag, an dem du deine feinen Sachen wieder tragen kannst. Und wenn du auch noch etwas Wertvolles da in deinem Beutel hast, gibst du mir auch das besser, damit es nicht verloren geht.«
Jessica trat unwillkürlich einen Schritt zurück und spürte im nächsten Moment die schweren Eisenstäbe der langen Gitterwand, die den Kerker vom Gang trennte, in ihrem Rücken. Sie begriff nun, was diese abstoßende Vettel von ihr wollte. Sie sollte ihre Kleidung und das, was sie noch an wenigen Habseligkeiten besaß, hergeben. Ihr Geld, vier Silbermünzen, hatten ihr die Wärter schon abgenommen.
»Nein!«, stieß sie erschrocken hervor. »Niemals! ... Ich habe nichts Wertvolles im Beutel! ... Und meine Kleider gebe ich nicht her!« Hart presste sie das Segeltuchbündel an ihre Brust.
Molly lachte geringschätzig. »Du nimmst besser Vernunft an, Jessy-Missy. Du bist hier nicht in einem Pensionat für vornehme Töchter. Du hast zu bezahlen, wie jede andere vor dir es auch getan hat!«
»Bezahlen? ... Wofür?«
»Für meinen Schutz, Kleines«, erklärte Molly mit bedrohlich sanfter Stimme. »Und mein Schutz ist nicht billig zu haben. Also sei vernünftig und rück die Sachen freiwillig heraus.«
Jessica schüttelte heftig den Kopf. Niemals würde sie das Wenige, das ihr von der Welt außerhalb der Mauern von Newgate geblieben war, hergeben. Zumindest nicht freiwillig, und nicht ohne bis zum Letzten darum gekämpft zu haben. Sie ahnte in diesem Moment, dass sie für immer verloren sein würde, wenn sie jetzt klein beigab. Wenn sie sich jetzt nicht gegen Molly und ihre Hyänen zur Wehr setzte und um ihren kläglichen Besitz kämpfte, würde sie ebenso tief sinken wie diese Frauen vor ihr, die sich schon selbst aufgegeben hatten.
»Ich brauche keinen Schutz!«, stieß sie mit einer Entschlossenheit hervor, die sie selbst erstaunte. »Und keiner hat das Recht, mir auch nur irgendetwas zu nehmen!«
Molly brach in ein Hohngelächter aus, in das Beth und ihre Freundinnen einfielen.
»Du bist wirklich unbeleckt von der Welt, Jessy-Missy«, sagte Molly schließlich. »Ich besitze alles Recht, das ich brauche, um zu bekommen, was ich haben will. Und nun Schluss mit dem Gerede! Gib die Sachen her, oder ich sorge dafür, dass man sie dir vom Körper reißt! Du hast noch einiges zu lernen, wenn du in diesem Dreckloch überleben willst!«
Jessica blieb hart. »Nein!«
»Jetzt ist aber genug!«, geiferte Molly mit hochrotem Gesicht. Es lag schon lange zurück, dass jemand gewagt hatte, ihr Widerstand entgegenzusetzen. Sie machte Anstalten, nach dem weichen, warmen Umhang zu fassen, der in den kommenden Wintermonaten nicht mit Gold aufzuwiegen sein würde.
Jessica war verängstigt, gleichzeitig aber zum Widerstand entschlossen. Sie spürte die metallene Haarnadel, die aus ihrem Bündel ragte und schmerzhaft gegen ihre Brust drückte, und sie handelte, ohne lange zu überlegen. Sie griff nach dem herausragenden Ende der Haarnadel, zog sie blitzschnell aus dem Bündel und stieß sie Molly wie einen Dolch entgegen.
Die Spitze der Nadel zuckte schneller, als ein Auge folgen konnte, über den weichen Busen der fülligen Frau und hinterließ eine dünne blutrote Linie von der Länge eines Fingers.
Molly stieß einen schrillen Schrei aus und sprang erschrocken zurück. Ungläubig starrte sie auf die verletzte Haut.
»Ich will keinem was antun!«, warnte Jessica die Frauen mit vor Erregung zitternder Stimme. »Doch ich werde zustechen, wenn mir jemand zu nahe kommt!«
»Die Pest über dich!«, schrie Molly, blieb jedoch, wo sie stand.
»Ich sage euch, das ist 'ne Kindermörderin!«, gellte Beth. »Hinter ihrem Engelsgesicht verbirgt sich 'ne gottlose Mörderin!«
»Ich bin keine Kindermörderin!«, widersprach Jessica heftig, und die Haarnadel zitterte in
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Die Originalausgabe des Romans Die Irrwege der Liebe von Ashley Carrington
erschien 1984 in der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur
Nachf. GmbH & Co. KG, München
Copyright der Originalausgabe © 1984 by Rainer M. Schröder,
vertreten durch AVA international GmbH, Germany.
www.ava-international.de
Umschlaggestaltung: zeichenpool, München
Umschlagmotiv: Mauritius Images, Mittenwald (© Urbanlip);
Shutterstock (© Martin Horsky; © Light & Magic Photography;
© maxstockphoto; © Axusha)
Gesamtherstellung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-429-8
2013 2012 2011 2010
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Bibliographische Angaben
- Autor: Ashley Carrington
- 2010, 1, 544 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868004297
- ISBN-13: 9783868004298
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