Jessica - Die Liebe endet nie
Band 10
Fast zwei Jahre ist Jessica in England gewesen - um sich an ihrem Vater zu rächen und um ihr Kind wegzugeben. Nun kehrt sie nach Australien, auf ihre geliebte Farm Seven Hills zurück. Sie ist fest entschlossen, ihr Leben wieder selbst in die...
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Produktinformationen zu „Jessica - Die Liebe endet nie “
Fast zwei Jahre ist Jessica in England gewesen - um sich an ihrem Vater zu rächen und um ihr Kind wegzugeben. Nun kehrt sie nach Australien, auf ihre geliebte Farm Seven Hills zurück. Sie ist fest entschlossen, ihr Leben wieder selbst in die Hände zu nehmen und sich nicht mehr von Männern beeinflussen zu lassen. Mehr denn je stürzt sie sich in geschäftliche Unternehmungen, geht ganz in der Arbeit auf der Farm auf.
Doch immer stärker muss sie erkennen, dass ihr ein Mensch fehlt, der sie liebt und mit dem sie ihre täglichen Sorgen teilen kann.
Lese-Probe zu „Jessica - Die Liebe endet nie “
Die Liebe endet nie von Ashley CarringtonAUSTRALIEN
Februar 1811
1
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Kein noch so schwacher Wind kam vom Meer und wehte über die weite Bucht von Sydney zum Friedhof herüber, der auf der anderen Seite der Stadt an der Landstraße nach Parramatta lag. Das Wasser zwischen den Lagerhallen und Schiffsmasten am Hafen war glatt wie Glas, und die Helligkeit des Himmels bereitete den Augen Schmerzen wie ein Blendspiegel.
Ian McIntosh war schon fast zwei Jahrzehnte in diesem sonnendurchglühten Land, und er hatte so manch unerträglich heißen Sommer erlebt, in dem der ausgedörrte Boden aufgeplatzt war wie rissiges Leder und der pulvertrockene Busch sich selbst entzündet und die Kolonie New South Wales mit verheerenden Bränden heimgesucht hatte. Er konnte sich jedoch nicht erinnern, einmal derart geschwitzt und sich so in Atemnot befunden zu haben wie an diesem Tag bei der Beerdigung von Captain Ben Bellow. Ihm klebten die Sachen klatschnass am Körper, und der Schweiß rann ihm nur so über das Gesicht.
Selbst Reverend Turner schien Mühe zu haben, seine Stimme in der flirrenden Luft zu erheben und die hinteren Reihen der Trauergemeinde zu erreichen, die sich um das offene Grab versammelt hatte. Nach jedem Satz legte er eine Atempause ein und fixierte den Sarg vor ihm, als müsste er für den nächsten Satz erst neue Kraft sammeln. »Gott ist Licht ... und keine Finsternis ist in ihm ... Denn Gott der Herr ist Sonne und Schild ... Er schenkt Gnade und Herrlichkeit ...« Und wieder löste sich ein Schweißtropfen von seiner Nasenspitze und fiel auf die Bibel, die er aufgeschlagen in seinen schwitzigen Händen hielt.
Ian McIntosh konnte sich beim besten Willen nicht auf Reverend Turners Grabrede konzentrieren. Er schob einen Finger hinter den Kragen, der ihn zu strangulieren schien, und versuchte, ihn zu dehnen, um sich etwas mehr Luft zu verschaffen. Der verdammte Kragen brachte ihn noch um! Er verfluchte seine Dummheit, dem idiotischen Gebot des Anstands gefolgt und zu dieser Beerdigung in Anzug mit steifem Kragen und Krawatte erschienen zu sein. Bei dieser Hitze wären ein locker sitzendes Hemd und ein Strohhut mit breitem Rand die einzig vernünftige Kleidung gewesen, und der Tote hätte dafür mehr als Verständnis gehabt - nur leider manche von den Lebenden nicht.
Ian schaute zu Captain Patrick Rourke hinüber, der auf der anderen Seite des Grabes stand, ein Kleiderschrank von einem Mann mit kaum gebändigtem, wild gelocktem Haar und einem Vollbart, der wie polierter Kupferdraht schimmerte. Sein Freund, den er zum ersten Mal in einem Anzug sah, schien nicht weniger zu leiden, war er es doch gewohnt, sein Schiff mit ärmelloser Schaffelljacke über der nackten Brust und einer verwegenen Mütze aus Opossumfell auf dem Kopf zu kommandieren und an Land nicht weniger unkonventionell herumzulaufen. Patrick fing seinen Blick auf, machte eine gequälte Miene und öffnete den Mund wie ein Fisch, der an Land geworfen worden ist und spürt, wie ihn die Lebenskraft mehr und mehr verlässt.
Endlich kam Reverend Turner zum Ende. »... und geht den Weg allen Fleisches.« Er bückte sich nach der kleinen Grabschaufel. »Asche zu Asche, Staub zu Staub. Mögest du in Frieden ruhen und Gottes Gnade und Barmherzigkeit teilhaftig werden, Amen.«
»Amen«, antwortete die Trauergemeinde im Chor, während die harten Erdbrocken dumpf auf den Sarg polterten. Ian reihte sich in die Schlange der Leute ein, die Captain Bellow die letzte Ehre erweisen wollten, und wünschte, manche würden etwas weniger lang vor dem Grab verweilen. Als er endlich vorgerückt war, ignorierte er den Friedhofsgehilfen, der ihm eine sandgefüllte Schaufel hinhielt. Er griff in die Jackentasche und warf eine Handvoll Muscheln auf Captain Bellows Sarg. Er war ein aufrechter Mann der See gewesen, und die Muscheln wurden ihm und seinem Leben mehr gerecht als die harte rote Erde.
Patrick Rourke wartete schon vor der Kutsche auf ihn. »Eine Seebestattung, eingewickelt in ein einfaches Stück Segeltuch, wäre dem alten Bellow zehnmal lieber gewesen, als hier in der Erde verscharrt zu werden«, sagte er und zerrte die Krawatte auf. »Zum Teufel mit den Verwandten und ihren guten Absichten! «
»Nicht immer geht es nach unseren Wünschen, Patrick.«
»Das können Sie laut sagen. Diese verdammte Zwangsjacke hätte mich fast umgebracht«, stöhnte der Captain, befreite sich mit einer Hand so heftig vom gestärkten Kragen, dass der Knopf absprang, und riss mit der anderen den Kutschenschlag auf. »Bitte, nach Ihnen.«
Ian zog rasch das Jackett aus und stieg ein. Kaum im Wagen , erlöste auch er sich von der Qual der Krawatte und des steifen Kragens, der ihm den Hals fast wund gerieben hatte.
»Zum Hafen, Kutscher! Brading Pier!«, rief Patrick dem Kutscher zu. »Und wenn Sie uns schnell dort hinbringen, wird es Ihr Schaden nicht sein.«
»Werde tun, was ich kann, Mister«, versprach der Kutscher und ließ die Peitsche über den Köpfen der beiden müden Braunen knallen.
»Kann es einfach nicht erwarten, den Kopf in einen Eimer Wasser zu stecken und diese Klamotten vom Leib zu bekommen «, sagte Patrick und sank Ian gegenüber auf die Sitzbank. »Ich habe dem alten Bellow ja eine Menge zu verdanken, aber dass er ausgerechnet in diesen brütend heißen Tagen auf seine letzte große Fahrt gegangen ist, könnte ich ihm fast übel nehmen. «
Ian lächelte. »Ich denke, da, wo Captain Bellow jetzt ist, kümmert ihn das wenig.« Er kannte Patrick zu gut, um nicht zu wissen, wie sehr ihn der Tod von Captain Bellow in Wirklichkeit berührte.
»Auch sonst hätte der alte Haudegen nichts darum gegeben «, erwiderte Patrick und öffnete das Hemd bis zum Bauchnabel hinunter.
Ian wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Was für ein Tag. Wenn in ein paar Stunden ein schweres Gewitter aufzieht, wird mich das gar nicht wundern.«
»Ein Vorgeschmack auf die Hölle, Ian. Bin ich vielleicht froh, wenn ich wieder die Planken der Southern Cross unter meinen Füßen habe und morgen auf See bin.«
»Und ich am Hawkesbury«, sagte Ian McIntosh, der Verwalter von Seven Hills, der größten und ertragreichsten Farm am Hawkesbury River. An solch extrem heißen Tagen, besonders nach vielen Sommermonaten ohne Regen, erfüllte es ihn mit Unruhe, wenn er nicht auf der Farm war. Er wusste nur zu gut um die Gefahren eines Buschbrandes, der jederzeit aufflammen und innerhalb eines Tages, ja einer Stunde alles vernichten konnte, was man dem Land in vielen Jahren harter Arbeit abgerungen hatte. Wenn ihn nicht wirklich wichtige und unaufschiebbare Geschäfte nach Sydney gezwungen hätten, hätte er die Farm auch nicht verlassen. Aber Mister Scowfield hatte darauf bestanden, die Verhandlungen in Sydney und nirgendwo sonst zu führen.
»Ich kann's Ihnen nachfühlen, Ian. Zu dieser Zeit nicht auf der Farm zu sein, stelle ich mir so vor, als müsste ich bei einem Sturm untätig unter Deck bleiben.«
»Damit treffen Sie den Nagel auf den Kopf, Patrick«, bestätigte Ian, während die Kutsche die High Street in Richtung Hafen hinunterratterte, dabei schwer beladene Ochsenfuhrwerke überholte und auch an mehreren street gangs vorbeikam, wie die Arbeitskommandos von zerlumpten, angeketteten Sträflingen unter bewaffneter Aufsicht genannt wurden. Ein Anblick, an den sich Ian niemals gewöhnen würde. Zu klar und schmerzlich waren die Erinnerungen an jene grausame Zeit vor beinahe zwanzig Jahren, als auch er in Ketten an dieser damals noch wilden Küste von Bord eines Sträflingsschiffes gegangen und der Willkür der Soldaten vom New South Wales Corps ausgesetzt gewesen war. Ein Schicksal, das er mit Patrick Rourke und auch mit Jessica Brading teilte und das sie alle niemals vergessen würden, auch wenn sie ihre Freiheit als Emanzipisten längst wiedergewonnen und diese Kolonie zu ihrer neuen Heimat gemacht hatten.
»Aber wenn ich Sie recht verstanden habe, konnten Sie Ihre Geschäfte ja zu einem erfolgreichen Abschluss bringen«, fuhr Patrick fort und erhaschte an der nächsten Kreuzung, als ihre Kutsche einen Trupp Soldaten vorbeilassen musste, einen flüchtigen Blick auf das eindrucksvolle Backsteingebäude von BRADING'S, dem ersten und exklusivsten Kaufhaus der ganzen Kolonie.
»Ja, das ist richtig«, sagte Ian und fächelte sich mit dem Kragen Luft zu.
»Ausgezeichnet. Dann haben Sie ja gute Nachrichten für Jessica, wenn sie hoffentlich bald zurückkommt.«
»Diese Geschäfte hatten mit Jessica und Seven Hills nichts zu tun. Das war etwas Privates«, sagte Ian, obwohl seine Verhandlungen mit Scowfield indirekt sehr viel mit Jessica zu tun hatten, mehr als ihm eigentlich lieb war. Aber darüber wollte er jetzt nicht schon wieder in finstere Grübelei verfallen.
Patrick zeigte nicht die geringste Spur von Neugier. Er kannte Ian als einen Mann, der Jessica seit vielen Jahren mehr als nur ein erstklassiger Verwalter war, nämlich ein treuer Freund, auf den sie sich in allen Lebenslagen blind verlassen konnte. Und manchmal vermochte er sich des Eindrucks nicht zu erwehren, dass Ian viel mehr als nur freundschaftliche Gefühle für Jessica empfand. Aber das war eine persönliche Vermutung, für die er bisher noch keine sichere Bestätigung gefunden hatte.
»Jessica kann sich wahrhaft glücklich schätzen, einen Mann wie Sie zu haben, der sich während ihrer langen Abwesenheit so gewissenhaft ihrer vielfältigen geschäftlichen Unternehmungen annimmt.«
Ians Gesicht verschloss sich ein wenig. »Jessica war klug genug, die Last auf die Schultern von verschiedenen Männern mit außerordentlichen Fähigkeiten verteilt zu haben, zu denen natürlich auch Sie gehören, Patrick. Immerhin liegt das Kommando der Brading River Line in Ihrer kundigen Hand, während Mister Pickwick sein scharfes Auge auf das Kaufhaus hier in Sydney und die Filiale in Parramatta hält«, wehrte er das Lob ab. Zudem war da ja auch noch Mister Hutchinson, Jessicas Anwalt und Vermögensverwalter.
»Gut und schön, aber das Herzstück ist und bleibt die Farm Seven Hills«, meinte Patrick. »Und da haben Sie ja eine geradezu goldene Hand bewiesen.«
Ian zuckte mit den Schultern. »Ich liebe nun mal das Land«, erwiderte er schlicht.
»Das haben Sie mit Jessica gemein«, sagte Patrick scheinbar leichthin.
»Wenn man will, kann man es so sehen«, entgegnete Ian mit einem reservierten Unterton.
Patrick runzelte die Stirn. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«
Ian zwang sich zu einem Lächeln. »Nein, ich bin heute nur ein wenig reizbar, Patrick. Das liegt am Wetter und an meiner inneren Unruhe.« Doch das stimmte nicht. In Wirklichkeit lag es an Jessica und was sie ihm angetan hatte. Er fühlte sich von ihr verraten.
2
Der Kutscher bahnte sich mit seiner Droschke einen Weg durch das dichte, lärmend geschäftige Treiben am Hafen und hielt schließlich vor der kurzen Pier der Brading River Line, zu der ein Lagerhaus gehörte. Es bedurfte dringend einiger Ausbesserungen, erfüllte aber noch immer seinen Zweck.
Die beiden Männer griffen zu den Kleidungsstücken, die sie gleich nach der Beisetzung abgelegt hatten, und stiegen aus. Patrick entlohnte den Kutscher und steuerte auf die Gangway zu, die an Bord der Southern Cross führte, eines schmucken, hochseetüchtigen Schoners, der am Kai vertäut lag.
Ian folgte ihm. Die drei Tage, die er in Sydney verbracht hatte, hatte er auf der Southern Cross logiert. Patrick hatte ihn nicht erst groß zu überreden brauchen. Er hatte den Schoner auch dem besten Hotel am Ort vorgezogen, weil er in den heißen Nächten an Deck unter freiem Himmel hatte schlafen können, wie er es auch auf Seven Hills tat, wenn die nächtlichen Temperaturen die stickige Enge eines Zimmers unerträglich werden ließen.
Die Southern Cross war ein schönes Schiff, das Captain Patrick Rourke jeden Tag aufs Neue mit Stolz erfüllte - und mit Dankbarkeit. Sie stellte sogar die Comet in den Schatten, die vor gut zwei Jahren vor der Küste auf Felsen aufgelaufen und gesunken war. Er hatte damals vom Untergang kaum etwas mitbekommen, weil er im Fieberdelirium in seiner Kajüte gelegen hatte, sich aber dennoch für das Unglück verantwortlich gefühlt, denn das Schiff hatte zur Hälfte Jessica gehört. Der Untergang war für ihn, besonders aber für Jessica ein schwerer Verlust gewesen, hatte die Comet doch über zwanzigtausend Pfund Wolle geladen gehabt. Wolle von Seven Hills, deren Verkaufserlös fällige Kredite hatte tilgen sollen. Jessica hatte danach finanziell mit dem Rücken zur Wand gestanden und beinahe ihr gerade eröffnetes Kaufhaus in der Pitt Street verkaufen müssen. Dennoch hatte sie ihn nicht fallen lassen, sondern zu ihm gehalten und schließlich sogar genug Geld zusammengekratzt, um eine kleine Schaluppe zu erstehen, der sie in der Hoffnung auf bessere Zeiten den Namen Shamrock gegeben hatten. Damit hatten er und Lew Kinley wieder auf dem Hawkesbury River die sehr einträgliche Flussschiffahrt aufnehmen können. Viele hatten damals darüber gelächelt, dass Jessica die Brading River Line gegründet hatte.
»Eine Reederei, die nur eine lächerliche Schaluppe vorzuweisen hat? Das ist ja so, als würde der Besitzer eines Esels seinen Stall ein Gestüt nennen!« So und ähnlich hatte man sich lustig gemacht. Aber die spöttischen Stimmen waren sehr schnell verstummt, als der Walfänger Pacific, an dem Jessica eine zwanzigprozentige Beteiligung hielt, von einer erfolgreichen Fangfahrt zurückgekommen war und Jessica in die Lage versetzt hatte, ihn, Captain Rourke, mit dem Kauf eines richtigen Schiffes zu beauftragen. Das Geld, das sie ihm vor ihrer so überstürzten und geheimnisvollen Reise nach England anvertraut hatte, hätte er gar nicht besser investieren können. Sie würde so stolz sein wie er - nicht allein auf die schnittige Southern Cross!
Patrick hatte seinen Fuß noch nicht an Deck gesetzt, da rief er einem jungen Burschen auch schon zu: »Zwei Pütz Wasser, Dick! Aber ein bisschen flott!«
»Aye, aye, Captain!« Die nackten Füße des Schiffsjungen klatschten über die Planken, als er zum Vorschiff rannte, sich zwei Holzeimer schnappte, sie in eine große Wassertonne tauchte und die gefüllten Eimer mittschiffs zur Gangwaypforte schleppte.
»Jetzt haben Sie endlich mal die Gelegenheit, mir einen kalten Guss zu verpassen«, sagte Patrick, beugte sich vor und ließ sich von Ian einen Eimer Wasser über den Kopf gießen. Es kümmerte ihn nicht, dass dabei auch Hemd und Hose ordentlich was abbekamen. Mit einem wohligen Seufzer begrüßte er den Wasserguss. Prustend und mit triefendem Haar richtete er sich auf. »Welch ein Genuss!«
»Kommen Sie, revanchieren Sie sich!«, sagte Ian und erhielt im nächsten Moment die gleiche willkommene Abkühlung. Das Wasser spülte Schweiß und Staub von seinem Gesicht und rann ihm Brust und Rücken hinunter. Er strich sich das nasse Haar aus der Stirn und erwiderte Patricks fröhliches Grinsen. »Das war keine schlechte Idee. Da fühlt man sich gleich besser.«
»Ja, zumindest halbwegs lebendig«, spottete der Captain. »Sagen Sie, wann wollen Sie zurück nach Seven Hills, Ian?«
»Bei Einbruch der Dunkelheit. Es ist zu mörderisch, bei der Hitze durch den Busch zu reiten. Das muss ich weder mir noch meinem Pferd antun.«
»Sehr vernünftig. Dann bleiben uns ja noch ein paar Stunden. Aber wenn Sie nichts dagegen haben, will ich erst einmal diese elenden Klamotten ausziehen und wieder Mensch werden.«
Ian grinste. »Auch ich wüsste nicht, was ich lieber täte, Patrick.«
»Na prächtig! Dann sehen wir uns gleich achtern unter dem Sonnensegel«, sagte der Captain und rief einem kleinwüchsigen Mann am Bug zu: »He, Jared, sieh zu, dass in ein paar Minuten ein Krug mit kühler Zitronenlimonade bereitsteht.«
Jared Lead, der schon auf der Comet Schiffskoch gewesen war, nickte und rief seinen Gehilfen, damit dieser mit ihm das Netz an Deck hievte, das mit einem guten Dutzend verkorkter Flaschen unterschiedlichsten Inhalts zum Kühlen weit unter Kieltiefe im Wasser hing.
Patrick und Ian stiegen indessen den Niedergang hinunter und begaben sich in ihre Kabinen, um die ihnen leidige formelle Kleidung gegen bequeme Sachen zu vertauschen. Sie hielten sich keinen Augenblick länger als unbedingt nötig in den stickigen Räumen auf und kehrten sehr schnell an Deck zurück, wo sie es sich achtern unter dem Sonnensegel bequem machten, Zitronenlimonade mit einem dezenten Schuss Rum genossen und sich über die wirtschaftliche Entwicklung der Kolonie unterhielten.
»Fast wäre es den verfluchten Offizieren vom New South Wales Corps tatsächlich gelungen, die Kolonie mit ihrem verbrecherischen Rum-Monopol und ihrer hemmungslosen Korruption zu strangulieren ...«
»Ja, dieses Pack im Offiziersrock des Königs hat die Kolonie beinahe wirtschaftlich ausbluten lassen«, pflichtete Ian ihm bei. »Man mag zu unserem neuen Gouverneur Lachlan Macquire stehen, wie man will, aber er hat in den vierzehn Monaten, die er jetzt im Amt ist, gehörig aufgeräumt. Und seine Bemühungen, die gesellschaftliche Kluft zwischen uns Emanzipisten und den freien Siedlern zu überbrücken, kann man nur als überaus mutig und fortschrittlich bezeichnen. Natürlich ist auch er nicht ohne Eitelkeit, aber ...«
Ian brach ab, denn Patrick hörte ihm nicht mehr zu. »Entschuldigen Sie, doch wenn mich nicht alles täuscht, kommt da ein Schiff«, sagte er, während er sich erhob und an die Steuerbordreling trat.
Ian stand ebenfalls auf und folgte seinem Blick. Er kniff die Augen zusammen, doch er vermochte jenseits der Sydney Cove nichts als eine flimmernde Wasserfläche auszumachen.
»Wo sehen Sie ein Schiff, Patrick?«
»Da, im Südosten, wo Garden Island liegt. Zwei Masten. Es können auch drei sein.«
Ian strengte sich an, konnte jedoch noch immer keine Masten entdecken, denn wegen der Krümmung der Erde war das ja das Erste, was man von einem Segelschiff zu sehen bekam. »Irren Sie sich auch nicht? Wie soll denn ein Schiff Fahrt machen?«, fragte er skeptisch. »Wir haben doch fast völlige Windstille.«
Patrick verzog das Gesicht. »Mit der reinen Muskelkraft seiner Mannschaft.« Er wandte sich um, erblickte seinen Steuermann und rief: »Lew, bring mir mal das Fernrohr!«
Augenblicke später schaute er durch das ausgezogene Messing rohr und erklärte nicht ohne Genugtuung: »Ein stolzer Dreimaster, hab ich's doch gesagt. Hier, schauen Sie.«
Durch das Fernrohr sah Ian ganz deutlich die hohen Masten und die Segel, die wie schlaffe Tücher von den Rahen hingen, ohne dass sich in ihnen auch nur ein Windhauch fing. Die Nationalität war nicht zu erkennen, dafür hätten die Flaggen im Wind wehen müssen.
Ganz langsam nur wurde der Dreimaster im Fernrohr größer. Die eleganten Linien des Schiffes nahmen Kontur an. Doch von Ruderbooten, die der Captain zum Schleppen des Schiffes ausgesetzt hatte, war noch lange nichts zu sehen. Aber dann waren vier dunkle Punkte ein gutes Stück vor dem Bug zu erkennen.
Patrick schüttelte mit grimmiger Miene den Kopf und reichte Ian wieder das Fernrohr. »Sehen Sie sich das an! Der Captain hat seine Mannschaft tatsächlich in die Boote geschickt und lässt sie das Schiff pullen! Und das bei dieser elenden Hitze. Sie werden noch Stunden brauchen, bis sie den Hafen erreicht haben. Seine Männer werden ihn hassen wie die Pest.«
»Verdammter Menschenschinder!«, sagte Ian und schob das Fernrohr mit einer zornigen Bewegung zusammen, bevor er es zurückgab. »Ich bin wahrlich kein Freund von Auspeitschungen. Davon gibt es in unserer Kolonie auch heute noch viel zu viele, und fast immer trifft es die Falschen. Aber was dieser Captain da macht, also dafür gehört dem Kerl ein Dutzend Schläge mit der Neunschwänzigen verpasst!«
»Nur die wenigsten können der Versuchung der Macht, wie sie ein Captain oder ein Offizier besitzt, widerstehen und sich vor ihrem Missbrauch hüten«, klagte Patrick.
»Und der Zwillingsbruder der Macht ist die Grausamkeit«, fügte Ian mit finsterer Miene hinzu.
Sie begaben sich wieder in den Schatten des Sonnensegels, während Lew Kinley das Fernrohr an sich nahm und in den Ausguck aufenterte.
Ihr Gespräch kreiste eine Weile um gemeinsame Bekannte, die bevorstehende Ernte und den seit Jahren zunehmenden Strom freier Siedler, die England verließen, um im fernen Australien ihr Glück zu machen.
»Ich begrüße diese Entwicklung im Prinzip sehr. Je mehr freie Siedler, Handwerker und Händler in die Kolonie kommen, desto besser wird es unserer Wirtschaft gehen, denn mit Sträflingen allein kann man eine Kolonie in diesen Breiten nicht in ein blühendes Land verwandeln, auch nicht mit Zehntausenden von ihnen«, sagte Ian, der zu den Pionieren im Siedlungsgebiet am Hawkesbury River zählte. »Doch was ich mir wünsche, sind weniger Träumer und gescheiterte Existenzen, die meinen, dass man sich hier ohne große Anstrengungen im Handumdrehen ein kleines Königreich von ein paar als Arbeiter zugeteilten Sträflingen aufbauen kann. Was wir brauchen, sind ganze Kerle, Farmer mit zähem Arbeitswillen und der unerschütterlichen Entschlossenheit, sich von diesem doch noch immer wilden Land nicht auslaugen und niederringen zu lassen.«
»Sie sagen es«, stimmte Patrick ihm zu. »Von den kurzatmigen Glücksrittern hat New South Wales neuerdings mehr als genug. Aber ein Buschbrand oder eine Überschwemmungskatastrophe, und diese Schwächlinge sind gebrochen wie ein Strohhalm und geben auf.«
Ian dachte unwillkürlich an Scowfield.
»Um in England erfolgreich eine Farm zu bewirtschaften, bedarf es sicherlich auch viel harter Arbeit und einigen Sachverstandes «, fuhr Patrick fort. »Aber man muss wohl schon aus einem ganz besonderen Holz geschnitzt sein, um in New South Wales in den Busch zu ziehen und ihm eine ertragreiche Farm abzuringen.«
»Mit Sicherheit«, sagte Ian ohne falsche Bescheidenheit.
»Wer da draußen bestehen will, Patrick, muss so eisenhart wie Eukalyptus sein und dem Land mehr als nur Blut und Schweiß zu geben bereit sein.«
»Ich gestehe ein, dass mir die Planken eines Schiffes und eine steife Brise ...«, setzte Patrick zu einer Erwiderung an, kam jedoch nicht mehr dazu, sie zu beenden.
Denn in dem Augenblick schallte Lew Kinleys Stimme aus dem Ausguck zu ihnen herunter: »Captain, es ist die Artemisia! «
Ian zuckte zusammen, sprang auf und stürzte förmlich zur Reling. Der Dreimaster war jetzt auch mit bloßem Auge zu sehen, wenn auch nur als vage Silhouette. Sein Herz raste mit einem hämmernden Schlag.
Auch Patrick war augenblicklich auf die Beine gekommen und schrie seinem Steuermann im Großmast zu: »Bist du dir auch sicher, dass es die Artemisia ist?«
»So sicher, dass ich eine Jahresheuer darauf verwetten würde!«, kam es von oben zurück. »Das ist die Artemisia. Und nur einer wie Captain Leggett jagt seine Crew an so einem Tag in die Boote!«
Patrick klatschte vor Freude in die Hände, ging zu Ian hinüber und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Es ist wirklich die Artemisia, und auf ihr reist Jessica!«
Im Januar war mit der Montevideo ein Brief aus Kapstadt von Jessica eingetroffen, in dem sie ihnen mitgeteilt hatte, dass sie und ihre Zofe Anne sich an Bord der Artemisia befänden und hofften, bald in Sydney einzutreffen. Ihr Schiff war vor der Südspitze Afrikas in einen schweren Sturm geraten. Die Schäden, zu denen ein gesplitterter Fockmast gehörte, hatten sie gezwungen, ihre Reise in Kapstadt für die Dauer der Reparaturen zu unterbrechen. Leider waren auf der gerade auslaufenden Montevideo keine Kabinen mehr frei gewesen, sonst hätten sie das Schiff gewechselt.
Ian starrte stumm und mit verschlossenem Gesicht über das Wasser. Jessica! Fast anderthalb Jahre waren vergangen, seit sie an Bord der Sultana nach England gesegelt war. Vierzehn quälende lange Monate.
»Mein Gott, sie ist endlich zurück! In ein paar Stunden haben wir sie wieder!«, rief Patrick mit übersprudelnder Freude. »Ist das nicht eine wunderbare Nachricht?«
»Ja, sehr beruhigend«, antwortete Ian trocken und ohne jede Begeisterung.
Verwundert sah Patrick ihn an. »Beruhigend? Also von Ihnen hätte ich wirklich eine etwas enthusiastischere Reaktion erwartet.«
»Manchmal erwartet man eben zu viel. Deshalb sollte man mit seinen Erwartungen an seine Mitmenschen besser auf dem Boden bleiben«, sagte er und wandte der Reling und damit dem sich schleichend nähernden Schiff den Rücken zu.
Patrick fand die Reaktion seines irischen Freundes äußerst rätselhaft. »Vermutlich setzt mir die Sonne heute zu heftig zu, vielleicht werde ich auch alt, wie auch immer, ich verstehe nicht, was plötzlich in Sie gefahren ist. Ich dachte, Sie könnten Jessicas Rückkehr noch viel weniger erwarten als ich, da Sie sich doch so besonders nahestehen.«
»So, tun wir das?«, fragte Ian mit einem sarkastischen Lächeln. »Nun ja, vermutlich tun wir das wirklich. Aber anderthalb Jahre sind eine lange Zeit, Patrick. Da kann man viel nachdenken.«
»Nachdenken? Worüber?«, fragte Patrick mit wachsender Verwunderung.
»Über das, was man will und was man nicht will - oder besser gesagt: was man nicht mehr will«, antwortete Ian. »Aber lassen wir das. Ich glaube, es wird Zeit, dass ich meine Pferde aus dem Mietstall hole und mich auf den Rückweg nach Seven Hills mache.«
»Sie wollen nicht bleiben und Jessica bei ihrer Ankunft begrüßen? «, fragte Patrick ungläubig.
»So ist es.«
»Also jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Erst haben Sie sich so sehr darüber erregt, dass sie überhaupt diese Reise nach England angetreten hat. Und jetzt, da sie nach so langer Abwesenheit endlich wieder zurück ist, wollen Sie nicht zu ihrer Begrüßung bleiben. Darauf kann ich mir nun gar keinen Reim machen!«
»Ich ziehe es vor, Jessica auf Seven Hills zu begrüßen«, erwiderte Ian mit ausdruckslosem Gesicht. »Und gerade weil sie anderthalb Jahre fort war, kommt es jetzt auf zwei, drei Tage mehr oder weniger wohl auch nicht mehr an.«
Patrick schüttelte verwundert den Kopf. Er spürte, dass da etwas nicht stimmte, doch er wusste, dass er jetzt nichts Dümmeres tun konnte, als von Ian eine Erklärung erzwingen zu wollen.
»Sie müssen es ja wissen, Ian.«
»Das tue ich, glauben Sie mir.« Ian holte sein Gepäck an Deck, bedankte sich für die herzliche Gastfreundschaft während der letzten drei Tage und sagte dann zum Schluss: »Tun Sie mir einen Gefallen, Patrick, und erwähnen Sie bitte nicht, dass ich in der Stadt gewesen bin und nicht auf ihre Ankunft im Hafen gewartet habe.«
Patrick schüttelte erneut verständnislos den Kopf, drückte ihm jedoch in freundschaftlicher Verbundenheit kräftig die Hand und versprach: »Wenn das Ihr Wunsch ist, dann wird darüber auch kein Wort über meine Lippen kommen.«
Ian lächelte, doch es war kein fröhliches Lächeln. »Danke, Patrick. Wie schön zu wissen, dass es immer noch Wünsche gibt, die sich erfüllen.«
Sorgenvoll blickte Patrick ihm nach.
3
Captain Nathan Leggett war von großer, schlanker Gestalt und vermittelte stets den Eindruck eines Mannes, der unter ständiger Anspannung stand. Anne hatte ihn mal sehr treffend mit einem straff gespannten Tau im Rigg verglichen, das bei starkem Wind so hell wie eine Klaviersaite sirrt. Jede seiner Bewegungen hatte etwas ebenso Kraftvolles wie Kontrolliertes an sich. Er verlangte von seiner Mannschaft, die Offiziere eingeschlossen, absoluten Gehorsam und Einsatz bis zur Selbstaufgabe. Das einzige Buch, das er neben seinem Logbuch zur Hand nahm, war die Bibel, von der er aber allein das Alte Testa ment gelten ließ. Von alttestamentarischer Art waren auch seine Strenge und sein Zorn.
In makelloser Uniform, breitbeinig, die Fäuste in die Hüften gestemmt und den Zorn des Gerechten in den Augen, stand er auf dem Achterdeck vor seinem Ersten Offizier und fauchte ihn mit schneidender, weithin hörbarer Stimme an. »Was heißt hier Hitze! Wer hat Sie überhaupt nach Ihrer unmaßgeblichen Meinung gefragt, Mister Griffin?«
»Niemand, Sir!«
»Richtig, niemand, Mister Griffin. Also behalten Sie Ihre unausgegorenen Meinungen für sich und konzentrieren Sie sich gefälligst darauf, Ihre Pflicht zu tun, und die besteht darin, darüber zu wachen, dass meine Befehle so ausgeführt werden, wie ich sie erteilt habe!«
Wie ein kleiner Junge stand der Erste Offizier, ein gut aussehender Mann von zweiunddreißig Jahren, vor dem Captain, mühsam beherrscht und im vollen Wissen seiner totalen Ohnmacht. Die Macht eines Captain auf seinem Schiff überstieg die eines jeden Fürsten, ja Königs. Sein Wort war Gesetz, und jede Auflehnung konnte als Meuterei geahndet werden.
Captain Leggett sagte man nach, schon zweimal aufsässige Matrosen kurzerhand als Meuterer an der Rahe aufgeknüpft zu haben. Er galt als unerbittlich. Doch seltsamerweise hatte er nie Schwierigkeiten, vor jeder neuen Fahrt eine erstklassige Mannschaft zusammenzubekommen, vom Decksjungen bis zum Ersten Offizier. Denn er war auch noch für etwas anderes bekannt, nämlich für sein legendär schnelles Schiff, für dessen jederzeit tadellosen Zustand er keine Kosten und Mühen scheute, für seine seemännische Brillanz und traumwandlerische Sicherheit in gefährlichen Situationen und für seine gute Heuer, die ihresgleichen suchte. Wer auf der Artemisia anheuerte, brauchte sich um eine gute Heuer, anständiges Essen und eine sichere Schiffsführung nicht zu sorgen, und dafür nahmen viele Seeleute alles andere in Kauf. Und wer als Offizier mehrere große Fahrten unter ihm durchstand, der lernte bei ihm mehr als auf der besten Akademie. Jeder Erste Offizier, der zwei Jahre unter Captain Leggett gefahren war, konnte sich danach sein eigenes Kommando unter einer Vielzahl von guten Angeboten auswählen. Nathan Leggett zerbrach seine Offiziere oder formte sie zu Abbildern seiner selbst. Dazwischen gab es nichts. Für Edward Griffin war es die erste Fahrt unter ihm, und noch stand nicht fest, zu welcher Gruppe er am Schluss gehören würde.
»Machen Sie ihnen gefälligst Feuer unter dem Hintern, Mister Griffin!«, fuhr Captain Leggett mit Donnerstimme fort. »Die verdammten Faulpelze sollen sich in die Riemen legen und pullen! Wir veranstalten hier doch keinen gemütlichen Ausflug über einen Dorfteich. Dies ist ein Schiff, falls Sie das noch nicht bemerkt haben, Mister Griffin, und ein Schiff ist dazu da, dass es sich von A nach B bewegt. Bewegt! Sofern es nicht vor Anker liegt. Aber wie man sieht, liegen wir nicht vor Anker. Wenn ich das gewollt hätte, hätte ich die Mannschaft doch wohl auch eher ans Ankerspill als in die Boote geschickt, nicht wahr?«
»Aye, aye, Sir!«
»Gut, dass wir uns darüber einig sind. Aber wenn wir nicht vor Anker liegen, ist doch die logische Folgerung, dass wir uns auf dem Weg von A nach B befinden. Würden Sie mir auch darin zustimmen, Mister Griffin?«, fragte der Captain mit ätzendem Hohn.
Stocksteif, mit blassem Gesicht und angespannten Kiefermuskeln bejahte der Erste Offizier auch diese rhetorische Frage.
»Na wunderbar! Und nun ein wenig Navigationshilfe, Mister Griffin. Unsere jetzige Position ist A, und der Hafen von Sydney ist B«, sagte er und ließ seine Stimme anschwellen wie eine Sturmbö. »Und wenn es der Wind nicht tut, dann wird uns eben die Mannschaft dorthin bringen, und zwar noch vor Sonnenuntergang, Mister Griffin! Sorgen Sie dafür, sonst können Sie sich in Sydney ein neues Schiff suchen!«
»Aye, aye, Sir!«
»Wegtreten!«
Jessica wie auch die anderen Passagiere, die sich an Deck aufhielten und jeden noch so dürftigen Schatten von Takelage, Masten und Rahen suchten, waren von dieser Szene peinlich berührt, gleichzeitig aber auch widerwillig fasziniert, wie der Captain gestandene Männer wie Edward Griffin in seinen Händen zu Wachs werden ließ. »Hat der Mann denn ein Herz aus Stein? Die Artemisia von den Seeleuten in vier Ruderbooten und dann auch noch bei dieser Gluthitze ziehen zu lassen, ist grausam!«, raunte Anne an ihrer Seite empört. Jessica nickte und beschattete mit einer Hand ihr Gesicht. »Ja, das ist es. Und doch ist es nichts im Vergleich zu den Torturen, die viele Deportierte auf den Sträflingsschiffen zu erdulden haben, bevor sie diese Küste erreichen«, erwiderte sie, und Erinnerungen an jenen heißen Sommer vor vielen Jahren, als sie selbst als Sträfling mehr tot als lebendig an diese Küste geworfen worden war, bedrängten sie. Niemals hätte sie damals geglaubt, dass sie eines Tages dieses Land, in das man sie unschuldig verbannt hatte, nicht nur als neue Heimat annehmen, sondern mit ganzem Herzen und ganzer Seele lieben würde. Und hätte man ihr vor einem Jahrzehnt gesagt, dass sie einmal über eine der größten Farmen der Kolonie und mehrere andere geschäftliche Unternehmungen gebieten würde, sie hätte nicht einmal darüber gelacht, so absurd war diese Vorstellung gewesen.
Doch es war so gekommen. Und als Jessica ihren Blick unverwandt auf den Küstenstrich um Sydney gerichtet hielt, kam es ihr wie ein Wunder vor, dass sie als vermögende Frau in einem eleganten Kleid an Deck dieses Schiffes stand, mit ihrer getreuen Zofe an ihrer Seite, und es nicht erwarten konnte, wieder australischen Boden zu betreten, ihre Kinder Edward und Victoria in die Arme zu schließen, stundenlang über die Ländereien von Seven Hills zu reiten und sich ihrer vielfältigen Geschäfte anzunehmen. Sie brannte förmlich darauf, sich in die Arbeit zu stürzen.
»Bald haben wir es geschafft, Anne«, sagte sie mit einem glücklichen Lächeln.
»Ich kann es nicht erwarten, Ma'am. Wenn wir doch bloß schon im Hafen wären!«, wünschte sich die Zofe. »Die zwei Wochen, die wir in Kapstadt gelegen haben, sind mir nicht so lang vorgekommen wie der heutige Tag.«
Ein Lächeln glitt über Jessicas Gesicht. »Mir ergeht es nicht viel anders. Ich glaube, die letzten Stunden einer so langen Reise sind immer die schlimmsten.«
Anne seufzte. »Anderthalb Jahre. Was ist in dieser Zeit nicht alles geschehen. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, kann ich gar nicht glauben, dass mir das alles passiert ist - und dass ich es wirklich gewagt habe, mit Ihnen über das Meer nach England zu segeln, dort so lang zu bleiben und die gleiche weite Strecke wieder an Bord eines Schiffes zurückzulegen.« Sie schüttelte den Kopf und lachte verwundert über sich selbst. »Ich, die ich doch die ersten achtzehn Jahre meines Lebens über die Grenzen der Farm kaum hinausgekommen bin.«
Jessica warf ihr einen warmherzigen Blick zu. »Du hast allen Grund, stolz auf dich zu sein. Ich weiß, wie schwer es für dich war, die Kolonie zu verlassen und mit mir in ein Land zu reisen, das dir genauso fern und fremd war wie einem Londoner Kindermädchen unser Australien. Ich weiß, ich habe dir sehr viel zugemutet, und ich bin stolz, dass du dich so wunderbar gehalten hast und mir eine so große Stütze in meiner schweren Zeit gewesen bist.«
Anne lächelte versonnen. Sie war als unsicheres und von vielen geheimen Ängsten geplagtes Mädchen an Bord der Sultana gegangen und kehrte nun mit der Artemisia als junge Frau von zwanzig Jahren zurück, die Selbstsicherheit und Vertrauen in die eigene Stärke gewonnen hatte.
»Ja, ich hatte damals wirklich Angst«, gab sie offen zu. »Aber jetzt bin ich froh, dass ich mit Ihnen gegangen bin und all das mit meinen eigenen Augen gesehen habe. Plymouth, London und Ihre alte Heimat. Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder eine Reise antreten werde, die länger ist als von Seven Hills nach Sydney. Aber ich weiß doch auch, dass ich die Reise nach England niemals vergessen werde.«
»Das wird wohl keiner von uns beiden«, pflichtete Jessica ihr leise bei, und der heitere Ausdruck wich aus ihren Zügen. Wie ein Schleier legte sich die Bedrückung über ihr Gesicht. Die schwere Schuld, die sie auf sich geladen hatte, würde sie bis an ihr Lebensende quälen. Und wenn sie sich tausendmal vor ihrem eigenen Gewissen rechtfertigte, dass sie gar nicht anders hatte handeln können, so würde sie dennoch ewig darunter leiden, ihr eigen Fleisch und Blut verraten zu haben. Das Kind, das sie heimlich in England zur Welt gebracht und sogleich nach der Geburt weggegeben hatte, war zweifellos das unselige Ergebnis einer entsetzlichen Tat gewesen, bei der sie das wehrlose Opfer gewesen war. Doch das Kind selbst war frei von jeder Schuld gewesen. Es war in ihrem Leib herangewachsen, doch sie, seine Mutter, hatte dieses wunderschöne Baby aus ihrem Leben verstoßen. Es fand nun die Pflege und Liebe bei einem ehrenwerten Ehepaar, dem die Natur eigene Kinder verwehrt hatte, und würde niemals wissen, dass seine leiblichen Eltern im fernen Australien wohnten. Doch sie, Jessica Brading, würde niemals vergessen, dass sie neben Edward und Victoria noch eine Tochter hatte, die in einem kleinen Haus in Davenport bei Plymouth heranwuchs. Und immer wieder würde sie grübeln und sich fragen, wie es ihrem Kind wohl ging, ob es gesund war und auch die Liebe und Fürsorge erhielt, deren es bedurfte.
»Sie haben getan, was Sie konnten, Ma'am. Bessere Eltern hätten Sie für die Kleine kaum finden können. Es hatte so sein müssen«, sagte Anne einfühlsam und berührte ihre Herrin, mit der sie längst eine tiefe Freundschaft verband, sanft am Arm. »Weinen Sie nicht. Es geht ihr gut.«
Jessica bemerkte erst jetzt, dass ihr zwei Tränen über die Wangen gelaufen waren.
»Hier, nehmen Sie mein Taschentuch.«
»Danke, Anne«, sagte Jessica mit belegter Stimme, tupfte sich die Tränen vom Gesicht und schnäuzte sich. »Manchmal überfällt die Erinnerung mich einfach, und dann ist mir, als wäre es erst gestern gewesen. Dann sehe und spüre ich wieder , wie ich mein Baby in den Händen halte und an mich drücke ... seine zarte Haut und seine kleinen Händchen ...« Ihre Stimme versagte, und schnell schloss sie die Augen, um weitere Tränen zurückzuhalten.
»Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen«, redete Anne gedämpft, aber eindringlich auf sie ein. Gottlob standen die anderen Passagiere ein gutes Stück von ihnen entfernt. »Ich weiß, dass Sie es sich nicht leicht gemacht haben. Sie hatten jedoch gar keine andere Wahl. Es muss für Sie sehr schwer sein, doch denken Sie immer daran, dass Sie alles getan haben, was in Ihrer Macht stand. Ja, das haben Sie wirklich. Sie haben für alle das Beste getan.«
»Manchmal ist das Beste immer noch nicht gut genug.«
»Denken Sie daran, was geschehen wäre, wenn Sie das Kind hier zur Welt gebracht hätten«, sagte Anne. »Die Folgen wären katastrophal gewesen, nicht nur für Sie, sondern auch für viele andere, an deren Wohlergehen Ihnen liegt. Und haben Sie mir nicht selbst gesagt, dass Sie Ihr Kind nicht mit dem unauslöschlichen Makel des Bastards der Grausamkeit dieser Welt ausliefern wollten? Waren das nicht Ihre eigenen Worte?«
»Doch, das waren sie«, sagte Jessica.
»Und gelten sie heute vielleicht nicht mehr?«
»Sie werden wohl leider noch viel länger Geltung haben, als wir und unsere Kinder und Kindeskinder leben«, räumte sie niedergeschlagen ein.
»Dann haben Sie das Richtige getan und keinen Grund, sich mit Selbstvorwürfen zu quälen«, stellte Anne nüchtern fest.
Jessica fuhr sich noch einmal mit dem Taschentuch über die Augen. Dann atmete sie tief durch und straffte sich. »So einfach wird mein Gewissen es mir wohl kaum machen, doch damit werde ich leben müssen. Ich danke dir aber für deinen lieben Zuspruch. Er bedeutet mir sehr viel, bist du doch die Einzige, mit der ich darüber sprechen kann.«
»Ich werde immer für Sie da sein, Ma'am«, versicherte Anne treuherzig.
Jessica bezweifelte das, behielt ihre Sorge jedoch für sich, weil es ihrer Zofe gegenüber nicht fair gewesen wäre. Und sie wollte jetzt auch nicht darüber nachdenken. »Das würde mich freuen.«
Anne reckte plötzlich den Kopf, und ein aufgeregtes Strahlen trat in ihre Augen. Sie streckte die Hand aus und wies auf die Hafenstadt, die ganz langsam heranrückte. »Sehen Sie doch, Ma'am! ... Jetzt kann man schon die ersten Häuser erkennen und die Windmühlen auf den Hügeln! ... Ich kann sogar Fort Phillip über der Stadt erkennen. Ob Sydney noch mehr gewachsen ist, während wir weg waren?«
»Ganz bestimmt«, versicherte Jessica. »Wir haben ja seit gut einem Jahr einen neuen Gouverneur, und die Zeit der skrupellosen Ausbeutung durch die Offiziere vom Rum-Corps ist ein für alle Mal vorbei.« Für einen kurzen Moment flackerte der Gedanke an ihren verhassten Halbbruder, Lieutenant Kenneth Forbes auf, und sie fragte sich, ob auch er zur Rechenschaft gezogen worden war. »Das ist gut für die Siedler wie für die Kaufleute, denn jetzt lohnt es sich noch viel mehr, in unsere Kolonie zu investieren. Ich bin überzeugt, wir werden Sydney kaum wiedererkennen.«
»Am meisten freue ich mich auf Seven Hills.«
»Ich auch«, sagte Jessica, und die freudige Erregung kehrte nun wieder zurück, dass die strapaziösen Monate auf See und das Kapitel England endgültig ihr Ende gefunden hatten. Mit aller Kraft verdrängte sie aus ihren Gedanken, was sie in ihrem Innersten quälte, und blickte voraus.
Ja, das war es: Sie musste vorausschauen, statt den Blick immer wieder in die Vergangenheit zu richten. Das Rad der Geschichte ließ sich nicht zurückdrehen. Deshalb musste sie ihre ganze Kraft auf die Bewältigung der Gegenwart und die Sicherung der Zukunft konzentrieren. Sie trug eine große Verantwortung für ihre Kinder, aber auch für ihre Leute auf Seven Hills und für ihre Geschäftspartner, die sie lange genug mit ihren Problemen allein gelassen hatte. Sie konnte es nicht erwarten, sich den Herausforderungen zu stellen und sich in die Arbeit zu stürzen. Bestimmt hatte sich eine Menge Arbeit angesammelt. Es konnte gar nicht genug Arbeit sein. Diese anderthalb Jahre unfreiwilliger Abstinenz von jeder geschäftlichen Tätigkeit hatten nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass sie so häufig in depressive Stimmungen verfallen war. Wenn sie erst ihr gewohntes arbeitsreiches Leben in New South Wales wieder aufgenommen hatte, würde alles ins Lot kommen. Jessica blickte mit einem zuversichtlichen Lächeln nach Sydney hinüber, doch in ihren Augen schimmerten noch immer die Tränen.
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Kein noch so schwacher Wind kam vom Meer und wehte über die weite Bucht von Sydney zum Friedhof herüber, der auf der anderen Seite der Stadt an der Landstraße nach Parramatta lag. Das Wasser zwischen den Lagerhallen und Schiffsmasten am Hafen war glatt wie Glas, und die Helligkeit des Himmels bereitete den Augen Schmerzen wie ein Blendspiegel.
Ian McIntosh war schon fast zwei Jahrzehnte in diesem sonnendurchglühten Land, und er hatte so manch unerträglich heißen Sommer erlebt, in dem der ausgedörrte Boden aufgeplatzt war wie rissiges Leder und der pulvertrockene Busch sich selbst entzündet und die Kolonie New South Wales mit verheerenden Bränden heimgesucht hatte. Er konnte sich jedoch nicht erinnern, einmal derart geschwitzt und sich so in Atemnot befunden zu haben wie an diesem Tag bei der Beerdigung von Captain Ben Bellow. Ihm klebten die Sachen klatschnass am Körper, und der Schweiß rann ihm nur so über das Gesicht.
Selbst Reverend Turner schien Mühe zu haben, seine Stimme in der flirrenden Luft zu erheben und die hinteren Reihen der Trauergemeinde zu erreichen, die sich um das offene Grab versammelt hatte. Nach jedem Satz legte er eine Atempause ein und fixierte den Sarg vor ihm, als müsste er für den nächsten Satz erst neue Kraft sammeln. »Gott ist Licht ... und keine Finsternis ist in ihm ... Denn Gott der Herr ist Sonne und Schild ... Er schenkt Gnade und Herrlichkeit ...« Und wieder löste sich ein Schweißtropfen von seiner Nasenspitze und fiel auf die Bibel, die er aufgeschlagen in seinen schwitzigen Händen hielt.
Ian McIntosh konnte sich beim besten Willen nicht auf Reverend Turners Grabrede konzentrieren. Er schob einen Finger hinter den Kragen, der ihn zu strangulieren schien, und versuchte, ihn zu dehnen, um sich etwas mehr Luft zu verschaffen. Der verdammte Kragen brachte ihn noch um! Er verfluchte seine Dummheit, dem idiotischen Gebot des Anstands gefolgt und zu dieser Beerdigung in Anzug mit steifem Kragen und Krawatte erschienen zu sein. Bei dieser Hitze wären ein locker sitzendes Hemd und ein Strohhut mit breitem Rand die einzig vernünftige Kleidung gewesen, und der Tote hätte dafür mehr als Verständnis gehabt - nur leider manche von den Lebenden nicht.
Ian schaute zu Captain Patrick Rourke hinüber, der auf der anderen Seite des Grabes stand, ein Kleiderschrank von einem Mann mit kaum gebändigtem, wild gelocktem Haar und einem Vollbart, der wie polierter Kupferdraht schimmerte. Sein Freund, den er zum ersten Mal in einem Anzug sah, schien nicht weniger zu leiden, war er es doch gewohnt, sein Schiff mit ärmelloser Schaffelljacke über der nackten Brust und einer verwegenen Mütze aus Opossumfell auf dem Kopf zu kommandieren und an Land nicht weniger unkonventionell herumzulaufen. Patrick fing seinen Blick auf, machte eine gequälte Miene und öffnete den Mund wie ein Fisch, der an Land geworfen worden ist und spürt, wie ihn die Lebenskraft mehr und mehr verlässt.
Endlich kam Reverend Turner zum Ende. »... und geht den Weg allen Fleisches.« Er bückte sich nach der kleinen Grabschaufel. »Asche zu Asche, Staub zu Staub. Mögest du in Frieden ruhen und Gottes Gnade und Barmherzigkeit teilhaftig werden, Amen.«
»Amen«, antwortete die Trauergemeinde im Chor, während die harten Erdbrocken dumpf auf den Sarg polterten. Ian reihte sich in die Schlange der Leute ein, die Captain Bellow die letzte Ehre erweisen wollten, und wünschte, manche würden etwas weniger lang vor dem Grab verweilen. Als er endlich vorgerückt war, ignorierte er den Friedhofsgehilfen, der ihm eine sandgefüllte Schaufel hinhielt. Er griff in die Jackentasche und warf eine Handvoll Muscheln auf Captain Bellows Sarg. Er war ein aufrechter Mann der See gewesen, und die Muscheln wurden ihm und seinem Leben mehr gerecht als die harte rote Erde.
Patrick Rourke wartete schon vor der Kutsche auf ihn. »Eine Seebestattung, eingewickelt in ein einfaches Stück Segeltuch, wäre dem alten Bellow zehnmal lieber gewesen, als hier in der Erde verscharrt zu werden«, sagte er und zerrte die Krawatte auf. »Zum Teufel mit den Verwandten und ihren guten Absichten! «
»Nicht immer geht es nach unseren Wünschen, Patrick.«
»Das können Sie laut sagen. Diese verdammte Zwangsjacke hätte mich fast umgebracht«, stöhnte der Captain, befreite sich mit einer Hand so heftig vom gestärkten Kragen, dass der Knopf absprang, und riss mit der anderen den Kutschenschlag auf. »Bitte, nach Ihnen.«
Ian zog rasch das Jackett aus und stieg ein. Kaum im Wagen , erlöste auch er sich von der Qual der Krawatte und des steifen Kragens, der ihm den Hals fast wund gerieben hatte.
»Zum Hafen, Kutscher! Brading Pier!«, rief Patrick dem Kutscher zu. »Und wenn Sie uns schnell dort hinbringen, wird es Ihr Schaden nicht sein.«
»Werde tun, was ich kann, Mister«, versprach der Kutscher und ließ die Peitsche über den Köpfen der beiden müden Braunen knallen.
»Kann es einfach nicht erwarten, den Kopf in einen Eimer Wasser zu stecken und diese Klamotten vom Leib zu bekommen «, sagte Patrick und sank Ian gegenüber auf die Sitzbank. »Ich habe dem alten Bellow ja eine Menge zu verdanken, aber dass er ausgerechnet in diesen brütend heißen Tagen auf seine letzte große Fahrt gegangen ist, könnte ich ihm fast übel nehmen. «
Ian lächelte. »Ich denke, da, wo Captain Bellow jetzt ist, kümmert ihn das wenig.« Er kannte Patrick zu gut, um nicht zu wissen, wie sehr ihn der Tod von Captain Bellow in Wirklichkeit berührte.
»Auch sonst hätte der alte Haudegen nichts darum gegeben «, erwiderte Patrick und öffnete das Hemd bis zum Bauchnabel hinunter.
Ian wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Was für ein Tag. Wenn in ein paar Stunden ein schweres Gewitter aufzieht, wird mich das gar nicht wundern.«
»Ein Vorgeschmack auf die Hölle, Ian. Bin ich vielleicht froh, wenn ich wieder die Planken der Southern Cross unter meinen Füßen habe und morgen auf See bin.«
»Und ich am Hawkesbury«, sagte Ian McIntosh, der Verwalter von Seven Hills, der größten und ertragreichsten Farm am Hawkesbury River. An solch extrem heißen Tagen, besonders nach vielen Sommermonaten ohne Regen, erfüllte es ihn mit Unruhe, wenn er nicht auf der Farm war. Er wusste nur zu gut um die Gefahren eines Buschbrandes, der jederzeit aufflammen und innerhalb eines Tages, ja einer Stunde alles vernichten konnte, was man dem Land in vielen Jahren harter Arbeit abgerungen hatte. Wenn ihn nicht wirklich wichtige und unaufschiebbare Geschäfte nach Sydney gezwungen hätten, hätte er die Farm auch nicht verlassen. Aber Mister Scowfield hatte darauf bestanden, die Verhandlungen in Sydney und nirgendwo sonst zu führen.
»Ich kann's Ihnen nachfühlen, Ian. Zu dieser Zeit nicht auf der Farm zu sein, stelle ich mir so vor, als müsste ich bei einem Sturm untätig unter Deck bleiben.«
»Damit treffen Sie den Nagel auf den Kopf, Patrick«, bestätigte Ian, während die Kutsche die High Street in Richtung Hafen hinunterratterte, dabei schwer beladene Ochsenfuhrwerke überholte und auch an mehreren street gangs vorbeikam, wie die Arbeitskommandos von zerlumpten, angeketteten Sträflingen unter bewaffneter Aufsicht genannt wurden. Ein Anblick, an den sich Ian niemals gewöhnen würde. Zu klar und schmerzlich waren die Erinnerungen an jene grausame Zeit vor beinahe zwanzig Jahren, als auch er in Ketten an dieser damals noch wilden Küste von Bord eines Sträflingsschiffes gegangen und der Willkür der Soldaten vom New South Wales Corps ausgesetzt gewesen war. Ein Schicksal, das er mit Patrick Rourke und auch mit Jessica Brading teilte und das sie alle niemals vergessen würden, auch wenn sie ihre Freiheit als Emanzipisten längst wiedergewonnen und diese Kolonie zu ihrer neuen Heimat gemacht hatten.
»Aber wenn ich Sie recht verstanden habe, konnten Sie Ihre Geschäfte ja zu einem erfolgreichen Abschluss bringen«, fuhr Patrick fort und erhaschte an der nächsten Kreuzung, als ihre Kutsche einen Trupp Soldaten vorbeilassen musste, einen flüchtigen Blick auf das eindrucksvolle Backsteingebäude von BRADING'S, dem ersten und exklusivsten Kaufhaus der ganzen Kolonie.
»Ja, das ist richtig«, sagte Ian und fächelte sich mit dem Kragen Luft zu.
»Ausgezeichnet. Dann haben Sie ja gute Nachrichten für Jessica, wenn sie hoffentlich bald zurückkommt.«
»Diese Geschäfte hatten mit Jessica und Seven Hills nichts zu tun. Das war etwas Privates«, sagte Ian, obwohl seine Verhandlungen mit Scowfield indirekt sehr viel mit Jessica zu tun hatten, mehr als ihm eigentlich lieb war. Aber darüber wollte er jetzt nicht schon wieder in finstere Grübelei verfallen.
Patrick zeigte nicht die geringste Spur von Neugier. Er kannte Ian als einen Mann, der Jessica seit vielen Jahren mehr als nur ein erstklassiger Verwalter war, nämlich ein treuer Freund, auf den sie sich in allen Lebenslagen blind verlassen konnte. Und manchmal vermochte er sich des Eindrucks nicht zu erwehren, dass Ian viel mehr als nur freundschaftliche Gefühle für Jessica empfand. Aber das war eine persönliche Vermutung, für die er bisher noch keine sichere Bestätigung gefunden hatte.
»Jessica kann sich wahrhaft glücklich schätzen, einen Mann wie Sie zu haben, der sich während ihrer langen Abwesenheit so gewissenhaft ihrer vielfältigen geschäftlichen Unternehmungen annimmt.«
Ians Gesicht verschloss sich ein wenig. »Jessica war klug genug, die Last auf die Schultern von verschiedenen Männern mit außerordentlichen Fähigkeiten verteilt zu haben, zu denen natürlich auch Sie gehören, Patrick. Immerhin liegt das Kommando der Brading River Line in Ihrer kundigen Hand, während Mister Pickwick sein scharfes Auge auf das Kaufhaus hier in Sydney und die Filiale in Parramatta hält«, wehrte er das Lob ab. Zudem war da ja auch noch Mister Hutchinson, Jessicas Anwalt und Vermögensverwalter.
»Gut und schön, aber das Herzstück ist und bleibt die Farm Seven Hills«, meinte Patrick. »Und da haben Sie ja eine geradezu goldene Hand bewiesen.«
Ian zuckte mit den Schultern. »Ich liebe nun mal das Land«, erwiderte er schlicht.
»Das haben Sie mit Jessica gemein«, sagte Patrick scheinbar leichthin.
»Wenn man will, kann man es so sehen«, entgegnete Ian mit einem reservierten Unterton.
Patrick runzelte die Stirn. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«
Ian zwang sich zu einem Lächeln. »Nein, ich bin heute nur ein wenig reizbar, Patrick. Das liegt am Wetter und an meiner inneren Unruhe.« Doch das stimmte nicht. In Wirklichkeit lag es an Jessica und was sie ihm angetan hatte. Er fühlte sich von ihr verraten.
2
Der Kutscher bahnte sich mit seiner Droschke einen Weg durch das dichte, lärmend geschäftige Treiben am Hafen und hielt schließlich vor der kurzen Pier der Brading River Line, zu der ein Lagerhaus gehörte. Es bedurfte dringend einiger Ausbesserungen, erfüllte aber noch immer seinen Zweck.
Die beiden Männer griffen zu den Kleidungsstücken, die sie gleich nach der Beisetzung abgelegt hatten, und stiegen aus. Patrick entlohnte den Kutscher und steuerte auf die Gangway zu, die an Bord der Southern Cross führte, eines schmucken, hochseetüchtigen Schoners, der am Kai vertäut lag.
Ian folgte ihm. Die drei Tage, die er in Sydney verbracht hatte, hatte er auf der Southern Cross logiert. Patrick hatte ihn nicht erst groß zu überreden brauchen. Er hatte den Schoner auch dem besten Hotel am Ort vorgezogen, weil er in den heißen Nächten an Deck unter freiem Himmel hatte schlafen können, wie er es auch auf Seven Hills tat, wenn die nächtlichen Temperaturen die stickige Enge eines Zimmers unerträglich werden ließen.
Die Southern Cross war ein schönes Schiff, das Captain Patrick Rourke jeden Tag aufs Neue mit Stolz erfüllte - und mit Dankbarkeit. Sie stellte sogar die Comet in den Schatten, die vor gut zwei Jahren vor der Küste auf Felsen aufgelaufen und gesunken war. Er hatte damals vom Untergang kaum etwas mitbekommen, weil er im Fieberdelirium in seiner Kajüte gelegen hatte, sich aber dennoch für das Unglück verantwortlich gefühlt, denn das Schiff hatte zur Hälfte Jessica gehört. Der Untergang war für ihn, besonders aber für Jessica ein schwerer Verlust gewesen, hatte die Comet doch über zwanzigtausend Pfund Wolle geladen gehabt. Wolle von Seven Hills, deren Verkaufserlös fällige Kredite hatte tilgen sollen. Jessica hatte danach finanziell mit dem Rücken zur Wand gestanden und beinahe ihr gerade eröffnetes Kaufhaus in der Pitt Street verkaufen müssen. Dennoch hatte sie ihn nicht fallen lassen, sondern zu ihm gehalten und schließlich sogar genug Geld zusammengekratzt, um eine kleine Schaluppe zu erstehen, der sie in der Hoffnung auf bessere Zeiten den Namen Shamrock gegeben hatten. Damit hatten er und Lew Kinley wieder auf dem Hawkesbury River die sehr einträgliche Flussschiffahrt aufnehmen können. Viele hatten damals darüber gelächelt, dass Jessica die Brading River Line gegründet hatte.
»Eine Reederei, die nur eine lächerliche Schaluppe vorzuweisen hat? Das ist ja so, als würde der Besitzer eines Esels seinen Stall ein Gestüt nennen!« So und ähnlich hatte man sich lustig gemacht. Aber die spöttischen Stimmen waren sehr schnell verstummt, als der Walfänger Pacific, an dem Jessica eine zwanzigprozentige Beteiligung hielt, von einer erfolgreichen Fangfahrt zurückgekommen war und Jessica in die Lage versetzt hatte, ihn, Captain Rourke, mit dem Kauf eines richtigen Schiffes zu beauftragen. Das Geld, das sie ihm vor ihrer so überstürzten und geheimnisvollen Reise nach England anvertraut hatte, hätte er gar nicht besser investieren können. Sie würde so stolz sein wie er - nicht allein auf die schnittige Southern Cross!
Patrick hatte seinen Fuß noch nicht an Deck gesetzt, da rief er einem jungen Burschen auch schon zu: »Zwei Pütz Wasser, Dick! Aber ein bisschen flott!«
»Aye, aye, Captain!« Die nackten Füße des Schiffsjungen klatschten über die Planken, als er zum Vorschiff rannte, sich zwei Holzeimer schnappte, sie in eine große Wassertonne tauchte und die gefüllten Eimer mittschiffs zur Gangwaypforte schleppte.
»Jetzt haben Sie endlich mal die Gelegenheit, mir einen kalten Guss zu verpassen«, sagte Patrick, beugte sich vor und ließ sich von Ian einen Eimer Wasser über den Kopf gießen. Es kümmerte ihn nicht, dass dabei auch Hemd und Hose ordentlich was abbekamen. Mit einem wohligen Seufzer begrüßte er den Wasserguss. Prustend und mit triefendem Haar richtete er sich auf. »Welch ein Genuss!«
»Kommen Sie, revanchieren Sie sich!«, sagte Ian und erhielt im nächsten Moment die gleiche willkommene Abkühlung. Das Wasser spülte Schweiß und Staub von seinem Gesicht und rann ihm Brust und Rücken hinunter. Er strich sich das nasse Haar aus der Stirn und erwiderte Patricks fröhliches Grinsen. »Das war keine schlechte Idee. Da fühlt man sich gleich besser.«
»Ja, zumindest halbwegs lebendig«, spottete der Captain. »Sagen Sie, wann wollen Sie zurück nach Seven Hills, Ian?«
»Bei Einbruch der Dunkelheit. Es ist zu mörderisch, bei der Hitze durch den Busch zu reiten. Das muss ich weder mir noch meinem Pferd antun.«
»Sehr vernünftig. Dann bleiben uns ja noch ein paar Stunden. Aber wenn Sie nichts dagegen haben, will ich erst einmal diese elenden Klamotten ausziehen und wieder Mensch werden.«
Ian grinste. »Auch ich wüsste nicht, was ich lieber täte, Patrick.«
»Na prächtig! Dann sehen wir uns gleich achtern unter dem Sonnensegel«, sagte der Captain und rief einem kleinwüchsigen Mann am Bug zu: »He, Jared, sieh zu, dass in ein paar Minuten ein Krug mit kühler Zitronenlimonade bereitsteht.«
Jared Lead, der schon auf der Comet Schiffskoch gewesen war, nickte und rief seinen Gehilfen, damit dieser mit ihm das Netz an Deck hievte, das mit einem guten Dutzend verkorkter Flaschen unterschiedlichsten Inhalts zum Kühlen weit unter Kieltiefe im Wasser hing.
Patrick und Ian stiegen indessen den Niedergang hinunter und begaben sich in ihre Kabinen, um die ihnen leidige formelle Kleidung gegen bequeme Sachen zu vertauschen. Sie hielten sich keinen Augenblick länger als unbedingt nötig in den stickigen Räumen auf und kehrten sehr schnell an Deck zurück, wo sie es sich achtern unter dem Sonnensegel bequem machten, Zitronenlimonade mit einem dezenten Schuss Rum genossen und sich über die wirtschaftliche Entwicklung der Kolonie unterhielten.
»Fast wäre es den verfluchten Offizieren vom New South Wales Corps tatsächlich gelungen, die Kolonie mit ihrem verbrecherischen Rum-Monopol und ihrer hemmungslosen Korruption zu strangulieren ...«
»Ja, dieses Pack im Offiziersrock des Königs hat die Kolonie beinahe wirtschaftlich ausbluten lassen«, pflichtete Ian ihm bei. »Man mag zu unserem neuen Gouverneur Lachlan Macquire stehen, wie man will, aber er hat in den vierzehn Monaten, die er jetzt im Amt ist, gehörig aufgeräumt. Und seine Bemühungen, die gesellschaftliche Kluft zwischen uns Emanzipisten und den freien Siedlern zu überbrücken, kann man nur als überaus mutig und fortschrittlich bezeichnen. Natürlich ist auch er nicht ohne Eitelkeit, aber ...«
Ian brach ab, denn Patrick hörte ihm nicht mehr zu. »Entschuldigen Sie, doch wenn mich nicht alles täuscht, kommt da ein Schiff«, sagte er, während er sich erhob und an die Steuerbordreling trat.
Ian stand ebenfalls auf und folgte seinem Blick. Er kniff die Augen zusammen, doch er vermochte jenseits der Sydney Cove nichts als eine flimmernde Wasserfläche auszumachen.
»Wo sehen Sie ein Schiff, Patrick?«
»Da, im Südosten, wo Garden Island liegt. Zwei Masten. Es können auch drei sein.«
Ian strengte sich an, konnte jedoch noch immer keine Masten entdecken, denn wegen der Krümmung der Erde war das ja das Erste, was man von einem Segelschiff zu sehen bekam. »Irren Sie sich auch nicht? Wie soll denn ein Schiff Fahrt machen?«, fragte er skeptisch. »Wir haben doch fast völlige Windstille.«
Patrick verzog das Gesicht. »Mit der reinen Muskelkraft seiner Mannschaft.« Er wandte sich um, erblickte seinen Steuermann und rief: »Lew, bring mir mal das Fernrohr!«
Augenblicke später schaute er durch das ausgezogene Messing rohr und erklärte nicht ohne Genugtuung: »Ein stolzer Dreimaster, hab ich's doch gesagt. Hier, schauen Sie.«
Durch das Fernrohr sah Ian ganz deutlich die hohen Masten und die Segel, die wie schlaffe Tücher von den Rahen hingen, ohne dass sich in ihnen auch nur ein Windhauch fing. Die Nationalität war nicht zu erkennen, dafür hätten die Flaggen im Wind wehen müssen.
Ganz langsam nur wurde der Dreimaster im Fernrohr größer. Die eleganten Linien des Schiffes nahmen Kontur an. Doch von Ruderbooten, die der Captain zum Schleppen des Schiffes ausgesetzt hatte, war noch lange nichts zu sehen. Aber dann waren vier dunkle Punkte ein gutes Stück vor dem Bug zu erkennen.
Patrick schüttelte mit grimmiger Miene den Kopf und reichte Ian wieder das Fernrohr. »Sehen Sie sich das an! Der Captain hat seine Mannschaft tatsächlich in die Boote geschickt und lässt sie das Schiff pullen! Und das bei dieser elenden Hitze. Sie werden noch Stunden brauchen, bis sie den Hafen erreicht haben. Seine Männer werden ihn hassen wie die Pest.«
»Verdammter Menschenschinder!«, sagte Ian und schob das Fernrohr mit einer zornigen Bewegung zusammen, bevor er es zurückgab. »Ich bin wahrlich kein Freund von Auspeitschungen. Davon gibt es in unserer Kolonie auch heute noch viel zu viele, und fast immer trifft es die Falschen. Aber was dieser Captain da macht, also dafür gehört dem Kerl ein Dutzend Schläge mit der Neunschwänzigen verpasst!«
»Nur die wenigsten können der Versuchung der Macht, wie sie ein Captain oder ein Offizier besitzt, widerstehen und sich vor ihrem Missbrauch hüten«, klagte Patrick.
»Und der Zwillingsbruder der Macht ist die Grausamkeit«, fügte Ian mit finsterer Miene hinzu.
Sie begaben sich wieder in den Schatten des Sonnensegels, während Lew Kinley das Fernrohr an sich nahm und in den Ausguck aufenterte.
Ihr Gespräch kreiste eine Weile um gemeinsame Bekannte, die bevorstehende Ernte und den seit Jahren zunehmenden Strom freier Siedler, die England verließen, um im fernen Australien ihr Glück zu machen.
»Ich begrüße diese Entwicklung im Prinzip sehr. Je mehr freie Siedler, Handwerker und Händler in die Kolonie kommen, desto besser wird es unserer Wirtschaft gehen, denn mit Sträflingen allein kann man eine Kolonie in diesen Breiten nicht in ein blühendes Land verwandeln, auch nicht mit Zehntausenden von ihnen«, sagte Ian, der zu den Pionieren im Siedlungsgebiet am Hawkesbury River zählte. »Doch was ich mir wünsche, sind weniger Träumer und gescheiterte Existenzen, die meinen, dass man sich hier ohne große Anstrengungen im Handumdrehen ein kleines Königreich von ein paar als Arbeiter zugeteilten Sträflingen aufbauen kann. Was wir brauchen, sind ganze Kerle, Farmer mit zähem Arbeitswillen und der unerschütterlichen Entschlossenheit, sich von diesem doch noch immer wilden Land nicht auslaugen und niederringen zu lassen.«
»Sie sagen es«, stimmte Patrick ihm zu. »Von den kurzatmigen Glücksrittern hat New South Wales neuerdings mehr als genug. Aber ein Buschbrand oder eine Überschwemmungskatastrophe, und diese Schwächlinge sind gebrochen wie ein Strohhalm und geben auf.«
Ian dachte unwillkürlich an Scowfield.
»Um in England erfolgreich eine Farm zu bewirtschaften, bedarf es sicherlich auch viel harter Arbeit und einigen Sachverstandes «, fuhr Patrick fort. »Aber man muss wohl schon aus einem ganz besonderen Holz geschnitzt sein, um in New South Wales in den Busch zu ziehen und ihm eine ertragreiche Farm abzuringen.«
»Mit Sicherheit«, sagte Ian ohne falsche Bescheidenheit.
»Wer da draußen bestehen will, Patrick, muss so eisenhart wie Eukalyptus sein und dem Land mehr als nur Blut und Schweiß zu geben bereit sein.«
»Ich gestehe ein, dass mir die Planken eines Schiffes und eine steife Brise ...«, setzte Patrick zu einer Erwiderung an, kam jedoch nicht mehr dazu, sie zu beenden.
Denn in dem Augenblick schallte Lew Kinleys Stimme aus dem Ausguck zu ihnen herunter: »Captain, es ist die Artemisia! «
Ian zuckte zusammen, sprang auf und stürzte förmlich zur Reling. Der Dreimaster war jetzt auch mit bloßem Auge zu sehen, wenn auch nur als vage Silhouette. Sein Herz raste mit einem hämmernden Schlag.
Auch Patrick war augenblicklich auf die Beine gekommen und schrie seinem Steuermann im Großmast zu: »Bist du dir auch sicher, dass es die Artemisia ist?«
»So sicher, dass ich eine Jahresheuer darauf verwetten würde!«, kam es von oben zurück. »Das ist die Artemisia. Und nur einer wie Captain Leggett jagt seine Crew an so einem Tag in die Boote!«
Patrick klatschte vor Freude in die Hände, ging zu Ian hinüber und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Es ist wirklich die Artemisia, und auf ihr reist Jessica!«
Im Januar war mit der Montevideo ein Brief aus Kapstadt von Jessica eingetroffen, in dem sie ihnen mitgeteilt hatte, dass sie und ihre Zofe Anne sich an Bord der Artemisia befänden und hofften, bald in Sydney einzutreffen. Ihr Schiff war vor der Südspitze Afrikas in einen schweren Sturm geraten. Die Schäden, zu denen ein gesplitterter Fockmast gehörte, hatten sie gezwungen, ihre Reise in Kapstadt für die Dauer der Reparaturen zu unterbrechen. Leider waren auf der gerade auslaufenden Montevideo keine Kabinen mehr frei gewesen, sonst hätten sie das Schiff gewechselt.
Ian starrte stumm und mit verschlossenem Gesicht über das Wasser. Jessica! Fast anderthalb Jahre waren vergangen, seit sie an Bord der Sultana nach England gesegelt war. Vierzehn quälende lange Monate.
»Mein Gott, sie ist endlich zurück! In ein paar Stunden haben wir sie wieder!«, rief Patrick mit übersprudelnder Freude. »Ist das nicht eine wunderbare Nachricht?«
»Ja, sehr beruhigend«, antwortete Ian trocken und ohne jede Begeisterung.
Verwundert sah Patrick ihn an. »Beruhigend? Also von Ihnen hätte ich wirklich eine etwas enthusiastischere Reaktion erwartet.«
»Manchmal erwartet man eben zu viel. Deshalb sollte man mit seinen Erwartungen an seine Mitmenschen besser auf dem Boden bleiben«, sagte er und wandte der Reling und damit dem sich schleichend nähernden Schiff den Rücken zu.
Patrick fand die Reaktion seines irischen Freundes äußerst rätselhaft. »Vermutlich setzt mir die Sonne heute zu heftig zu, vielleicht werde ich auch alt, wie auch immer, ich verstehe nicht, was plötzlich in Sie gefahren ist. Ich dachte, Sie könnten Jessicas Rückkehr noch viel weniger erwarten als ich, da Sie sich doch so besonders nahestehen.«
»So, tun wir das?«, fragte Ian mit einem sarkastischen Lächeln. »Nun ja, vermutlich tun wir das wirklich. Aber anderthalb Jahre sind eine lange Zeit, Patrick. Da kann man viel nachdenken.«
»Nachdenken? Worüber?«, fragte Patrick mit wachsender Verwunderung.
»Über das, was man will und was man nicht will - oder besser gesagt: was man nicht mehr will«, antwortete Ian. »Aber lassen wir das. Ich glaube, es wird Zeit, dass ich meine Pferde aus dem Mietstall hole und mich auf den Rückweg nach Seven Hills mache.«
»Sie wollen nicht bleiben und Jessica bei ihrer Ankunft begrüßen? «, fragte Patrick ungläubig.
»So ist es.«
»Also jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Erst haben Sie sich so sehr darüber erregt, dass sie überhaupt diese Reise nach England angetreten hat. Und jetzt, da sie nach so langer Abwesenheit endlich wieder zurück ist, wollen Sie nicht zu ihrer Begrüßung bleiben. Darauf kann ich mir nun gar keinen Reim machen!«
»Ich ziehe es vor, Jessica auf Seven Hills zu begrüßen«, erwiderte Ian mit ausdruckslosem Gesicht. »Und gerade weil sie anderthalb Jahre fort war, kommt es jetzt auf zwei, drei Tage mehr oder weniger wohl auch nicht mehr an.«
Patrick schüttelte verwundert den Kopf. Er spürte, dass da etwas nicht stimmte, doch er wusste, dass er jetzt nichts Dümmeres tun konnte, als von Ian eine Erklärung erzwingen zu wollen.
»Sie müssen es ja wissen, Ian.«
»Das tue ich, glauben Sie mir.« Ian holte sein Gepäck an Deck, bedankte sich für die herzliche Gastfreundschaft während der letzten drei Tage und sagte dann zum Schluss: »Tun Sie mir einen Gefallen, Patrick, und erwähnen Sie bitte nicht, dass ich in der Stadt gewesen bin und nicht auf ihre Ankunft im Hafen gewartet habe.«
Patrick schüttelte erneut verständnislos den Kopf, drückte ihm jedoch in freundschaftlicher Verbundenheit kräftig die Hand und versprach: »Wenn das Ihr Wunsch ist, dann wird darüber auch kein Wort über meine Lippen kommen.«
Ian lächelte, doch es war kein fröhliches Lächeln. »Danke, Patrick. Wie schön zu wissen, dass es immer noch Wünsche gibt, die sich erfüllen.«
Sorgenvoll blickte Patrick ihm nach.
3
Captain Nathan Leggett war von großer, schlanker Gestalt und vermittelte stets den Eindruck eines Mannes, der unter ständiger Anspannung stand. Anne hatte ihn mal sehr treffend mit einem straff gespannten Tau im Rigg verglichen, das bei starkem Wind so hell wie eine Klaviersaite sirrt. Jede seiner Bewegungen hatte etwas ebenso Kraftvolles wie Kontrolliertes an sich. Er verlangte von seiner Mannschaft, die Offiziere eingeschlossen, absoluten Gehorsam und Einsatz bis zur Selbstaufgabe. Das einzige Buch, das er neben seinem Logbuch zur Hand nahm, war die Bibel, von der er aber allein das Alte Testa ment gelten ließ. Von alttestamentarischer Art waren auch seine Strenge und sein Zorn.
In makelloser Uniform, breitbeinig, die Fäuste in die Hüften gestemmt und den Zorn des Gerechten in den Augen, stand er auf dem Achterdeck vor seinem Ersten Offizier und fauchte ihn mit schneidender, weithin hörbarer Stimme an. »Was heißt hier Hitze! Wer hat Sie überhaupt nach Ihrer unmaßgeblichen Meinung gefragt, Mister Griffin?«
»Niemand, Sir!«
»Richtig, niemand, Mister Griffin. Also behalten Sie Ihre unausgegorenen Meinungen für sich und konzentrieren Sie sich gefälligst darauf, Ihre Pflicht zu tun, und die besteht darin, darüber zu wachen, dass meine Befehle so ausgeführt werden, wie ich sie erteilt habe!«
Wie ein kleiner Junge stand der Erste Offizier, ein gut aussehender Mann von zweiunddreißig Jahren, vor dem Captain, mühsam beherrscht und im vollen Wissen seiner totalen Ohnmacht. Die Macht eines Captain auf seinem Schiff überstieg die eines jeden Fürsten, ja Königs. Sein Wort war Gesetz, und jede Auflehnung konnte als Meuterei geahndet werden.
Captain Leggett sagte man nach, schon zweimal aufsässige Matrosen kurzerhand als Meuterer an der Rahe aufgeknüpft zu haben. Er galt als unerbittlich. Doch seltsamerweise hatte er nie Schwierigkeiten, vor jeder neuen Fahrt eine erstklassige Mannschaft zusammenzubekommen, vom Decksjungen bis zum Ersten Offizier. Denn er war auch noch für etwas anderes bekannt, nämlich für sein legendär schnelles Schiff, für dessen jederzeit tadellosen Zustand er keine Kosten und Mühen scheute, für seine seemännische Brillanz und traumwandlerische Sicherheit in gefährlichen Situationen und für seine gute Heuer, die ihresgleichen suchte. Wer auf der Artemisia anheuerte, brauchte sich um eine gute Heuer, anständiges Essen und eine sichere Schiffsführung nicht zu sorgen, und dafür nahmen viele Seeleute alles andere in Kauf. Und wer als Offizier mehrere große Fahrten unter ihm durchstand, der lernte bei ihm mehr als auf der besten Akademie. Jeder Erste Offizier, der zwei Jahre unter Captain Leggett gefahren war, konnte sich danach sein eigenes Kommando unter einer Vielzahl von guten Angeboten auswählen. Nathan Leggett zerbrach seine Offiziere oder formte sie zu Abbildern seiner selbst. Dazwischen gab es nichts. Für Edward Griffin war es die erste Fahrt unter ihm, und noch stand nicht fest, zu welcher Gruppe er am Schluss gehören würde.
»Machen Sie ihnen gefälligst Feuer unter dem Hintern, Mister Griffin!«, fuhr Captain Leggett mit Donnerstimme fort. »Die verdammten Faulpelze sollen sich in die Riemen legen und pullen! Wir veranstalten hier doch keinen gemütlichen Ausflug über einen Dorfteich. Dies ist ein Schiff, falls Sie das noch nicht bemerkt haben, Mister Griffin, und ein Schiff ist dazu da, dass es sich von A nach B bewegt. Bewegt! Sofern es nicht vor Anker liegt. Aber wie man sieht, liegen wir nicht vor Anker. Wenn ich das gewollt hätte, hätte ich die Mannschaft doch wohl auch eher ans Ankerspill als in die Boote geschickt, nicht wahr?«
»Aye, aye, Sir!«
»Gut, dass wir uns darüber einig sind. Aber wenn wir nicht vor Anker liegen, ist doch die logische Folgerung, dass wir uns auf dem Weg von A nach B befinden. Würden Sie mir auch darin zustimmen, Mister Griffin?«, fragte der Captain mit ätzendem Hohn.
Stocksteif, mit blassem Gesicht und angespannten Kiefermuskeln bejahte der Erste Offizier auch diese rhetorische Frage.
»Na wunderbar! Und nun ein wenig Navigationshilfe, Mister Griffin. Unsere jetzige Position ist A, und der Hafen von Sydney ist B«, sagte er und ließ seine Stimme anschwellen wie eine Sturmbö. »Und wenn es der Wind nicht tut, dann wird uns eben die Mannschaft dorthin bringen, und zwar noch vor Sonnenuntergang, Mister Griffin! Sorgen Sie dafür, sonst können Sie sich in Sydney ein neues Schiff suchen!«
»Aye, aye, Sir!«
»Wegtreten!«
Jessica wie auch die anderen Passagiere, die sich an Deck aufhielten und jeden noch so dürftigen Schatten von Takelage, Masten und Rahen suchten, waren von dieser Szene peinlich berührt, gleichzeitig aber auch widerwillig fasziniert, wie der Captain gestandene Männer wie Edward Griffin in seinen Händen zu Wachs werden ließ. »Hat der Mann denn ein Herz aus Stein? Die Artemisia von den Seeleuten in vier Ruderbooten und dann auch noch bei dieser Gluthitze ziehen zu lassen, ist grausam!«, raunte Anne an ihrer Seite empört. Jessica nickte und beschattete mit einer Hand ihr Gesicht. »Ja, das ist es. Und doch ist es nichts im Vergleich zu den Torturen, die viele Deportierte auf den Sträflingsschiffen zu erdulden haben, bevor sie diese Küste erreichen«, erwiderte sie, und Erinnerungen an jenen heißen Sommer vor vielen Jahren, als sie selbst als Sträfling mehr tot als lebendig an diese Küste geworfen worden war, bedrängten sie. Niemals hätte sie damals geglaubt, dass sie eines Tages dieses Land, in das man sie unschuldig verbannt hatte, nicht nur als neue Heimat annehmen, sondern mit ganzem Herzen und ganzer Seele lieben würde. Und hätte man ihr vor einem Jahrzehnt gesagt, dass sie einmal über eine der größten Farmen der Kolonie und mehrere andere geschäftliche Unternehmungen gebieten würde, sie hätte nicht einmal darüber gelacht, so absurd war diese Vorstellung gewesen.
Doch es war so gekommen. Und als Jessica ihren Blick unverwandt auf den Küstenstrich um Sydney gerichtet hielt, kam es ihr wie ein Wunder vor, dass sie als vermögende Frau in einem eleganten Kleid an Deck dieses Schiffes stand, mit ihrer getreuen Zofe an ihrer Seite, und es nicht erwarten konnte, wieder australischen Boden zu betreten, ihre Kinder Edward und Victoria in die Arme zu schließen, stundenlang über die Ländereien von Seven Hills zu reiten und sich ihrer vielfältigen Geschäfte anzunehmen. Sie brannte förmlich darauf, sich in die Arbeit zu stürzen.
»Bald haben wir es geschafft, Anne«, sagte sie mit einem glücklichen Lächeln.
»Ich kann es nicht erwarten, Ma'am. Wenn wir doch bloß schon im Hafen wären!«, wünschte sich die Zofe. »Die zwei Wochen, die wir in Kapstadt gelegen haben, sind mir nicht so lang vorgekommen wie der heutige Tag.«
Ein Lächeln glitt über Jessicas Gesicht. »Mir ergeht es nicht viel anders. Ich glaube, die letzten Stunden einer so langen Reise sind immer die schlimmsten.«
Anne seufzte. »Anderthalb Jahre. Was ist in dieser Zeit nicht alles geschehen. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, kann ich gar nicht glauben, dass mir das alles passiert ist - und dass ich es wirklich gewagt habe, mit Ihnen über das Meer nach England zu segeln, dort so lang zu bleiben und die gleiche weite Strecke wieder an Bord eines Schiffes zurückzulegen.« Sie schüttelte den Kopf und lachte verwundert über sich selbst. »Ich, die ich doch die ersten achtzehn Jahre meines Lebens über die Grenzen der Farm kaum hinausgekommen bin.«
Jessica warf ihr einen warmherzigen Blick zu. »Du hast allen Grund, stolz auf dich zu sein. Ich weiß, wie schwer es für dich war, die Kolonie zu verlassen und mit mir in ein Land zu reisen, das dir genauso fern und fremd war wie einem Londoner Kindermädchen unser Australien. Ich weiß, ich habe dir sehr viel zugemutet, und ich bin stolz, dass du dich so wunderbar gehalten hast und mir eine so große Stütze in meiner schweren Zeit gewesen bist.«
Anne lächelte versonnen. Sie war als unsicheres und von vielen geheimen Ängsten geplagtes Mädchen an Bord der Sultana gegangen und kehrte nun mit der Artemisia als junge Frau von zwanzig Jahren zurück, die Selbstsicherheit und Vertrauen in die eigene Stärke gewonnen hatte.
»Ja, ich hatte damals wirklich Angst«, gab sie offen zu. »Aber jetzt bin ich froh, dass ich mit Ihnen gegangen bin und all das mit meinen eigenen Augen gesehen habe. Plymouth, London und Ihre alte Heimat. Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder eine Reise antreten werde, die länger ist als von Seven Hills nach Sydney. Aber ich weiß doch auch, dass ich die Reise nach England niemals vergessen werde.«
»Das wird wohl keiner von uns beiden«, pflichtete Jessica ihr leise bei, und der heitere Ausdruck wich aus ihren Zügen. Wie ein Schleier legte sich die Bedrückung über ihr Gesicht. Die schwere Schuld, die sie auf sich geladen hatte, würde sie bis an ihr Lebensende quälen. Und wenn sie sich tausendmal vor ihrem eigenen Gewissen rechtfertigte, dass sie gar nicht anders hatte handeln können, so würde sie dennoch ewig darunter leiden, ihr eigen Fleisch und Blut verraten zu haben. Das Kind, das sie heimlich in England zur Welt gebracht und sogleich nach der Geburt weggegeben hatte, war zweifellos das unselige Ergebnis einer entsetzlichen Tat gewesen, bei der sie das wehrlose Opfer gewesen war. Doch das Kind selbst war frei von jeder Schuld gewesen. Es war in ihrem Leib herangewachsen, doch sie, seine Mutter, hatte dieses wunderschöne Baby aus ihrem Leben verstoßen. Es fand nun die Pflege und Liebe bei einem ehrenwerten Ehepaar, dem die Natur eigene Kinder verwehrt hatte, und würde niemals wissen, dass seine leiblichen Eltern im fernen Australien wohnten. Doch sie, Jessica Brading, würde niemals vergessen, dass sie neben Edward und Victoria noch eine Tochter hatte, die in einem kleinen Haus in Davenport bei Plymouth heranwuchs. Und immer wieder würde sie grübeln und sich fragen, wie es ihrem Kind wohl ging, ob es gesund war und auch die Liebe und Fürsorge erhielt, deren es bedurfte.
»Sie haben getan, was Sie konnten, Ma'am. Bessere Eltern hätten Sie für die Kleine kaum finden können. Es hatte so sein müssen«, sagte Anne einfühlsam und berührte ihre Herrin, mit der sie längst eine tiefe Freundschaft verband, sanft am Arm. »Weinen Sie nicht. Es geht ihr gut.«
Jessica bemerkte erst jetzt, dass ihr zwei Tränen über die Wangen gelaufen waren.
»Hier, nehmen Sie mein Taschentuch.«
»Danke, Anne«, sagte Jessica mit belegter Stimme, tupfte sich die Tränen vom Gesicht und schnäuzte sich. »Manchmal überfällt die Erinnerung mich einfach, und dann ist mir, als wäre es erst gestern gewesen. Dann sehe und spüre ich wieder , wie ich mein Baby in den Händen halte und an mich drücke ... seine zarte Haut und seine kleinen Händchen ...« Ihre Stimme versagte, und schnell schloss sie die Augen, um weitere Tränen zurückzuhalten.
»Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen«, redete Anne gedämpft, aber eindringlich auf sie ein. Gottlob standen die anderen Passagiere ein gutes Stück von ihnen entfernt. »Ich weiß, dass Sie es sich nicht leicht gemacht haben. Sie hatten jedoch gar keine andere Wahl. Es muss für Sie sehr schwer sein, doch denken Sie immer daran, dass Sie alles getan haben, was in Ihrer Macht stand. Ja, das haben Sie wirklich. Sie haben für alle das Beste getan.«
»Manchmal ist das Beste immer noch nicht gut genug.«
»Denken Sie daran, was geschehen wäre, wenn Sie das Kind hier zur Welt gebracht hätten«, sagte Anne. »Die Folgen wären katastrophal gewesen, nicht nur für Sie, sondern auch für viele andere, an deren Wohlergehen Ihnen liegt. Und haben Sie mir nicht selbst gesagt, dass Sie Ihr Kind nicht mit dem unauslöschlichen Makel des Bastards der Grausamkeit dieser Welt ausliefern wollten? Waren das nicht Ihre eigenen Worte?«
»Doch, das waren sie«, sagte Jessica.
»Und gelten sie heute vielleicht nicht mehr?«
»Sie werden wohl leider noch viel länger Geltung haben, als wir und unsere Kinder und Kindeskinder leben«, räumte sie niedergeschlagen ein.
»Dann haben Sie das Richtige getan und keinen Grund, sich mit Selbstvorwürfen zu quälen«, stellte Anne nüchtern fest.
Jessica fuhr sich noch einmal mit dem Taschentuch über die Augen. Dann atmete sie tief durch und straffte sich. »So einfach wird mein Gewissen es mir wohl kaum machen, doch damit werde ich leben müssen. Ich danke dir aber für deinen lieben Zuspruch. Er bedeutet mir sehr viel, bist du doch die Einzige, mit der ich darüber sprechen kann.«
»Ich werde immer für Sie da sein, Ma'am«, versicherte Anne treuherzig.
Jessica bezweifelte das, behielt ihre Sorge jedoch für sich, weil es ihrer Zofe gegenüber nicht fair gewesen wäre. Und sie wollte jetzt auch nicht darüber nachdenken. »Das würde mich freuen.«
Anne reckte plötzlich den Kopf, und ein aufgeregtes Strahlen trat in ihre Augen. Sie streckte die Hand aus und wies auf die Hafenstadt, die ganz langsam heranrückte. »Sehen Sie doch, Ma'am! ... Jetzt kann man schon die ersten Häuser erkennen und die Windmühlen auf den Hügeln! ... Ich kann sogar Fort Phillip über der Stadt erkennen. Ob Sydney noch mehr gewachsen ist, während wir weg waren?«
»Ganz bestimmt«, versicherte Jessica. »Wir haben ja seit gut einem Jahr einen neuen Gouverneur, und die Zeit der skrupellosen Ausbeutung durch die Offiziere vom Rum-Corps ist ein für alle Mal vorbei.« Für einen kurzen Moment flackerte der Gedanke an ihren verhassten Halbbruder, Lieutenant Kenneth Forbes auf, und sie fragte sich, ob auch er zur Rechenschaft gezogen worden war. »Das ist gut für die Siedler wie für die Kaufleute, denn jetzt lohnt es sich noch viel mehr, in unsere Kolonie zu investieren. Ich bin überzeugt, wir werden Sydney kaum wiedererkennen.«
»Am meisten freue ich mich auf Seven Hills.«
»Ich auch«, sagte Jessica, und die freudige Erregung kehrte nun wieder zurück, dass die strapaziösen Monate auf See und das Kapitel England endgültig ihr Ende gefunden hatten. Mit aller Kraft verdrängte sie aus ihren Gedanken, was sie in ihrem Innersten quälte, und blickte voraus.
Ja, das war es: Sie musste vorausschauen, statt den Blick immer wieder in die Vergangenheit zu richten. Das Rad der Geschichte ließ sich nicht zurückdrehen. Deshalb musste sie ihre ganze Kraft auf die Bewältigung der Gegenwart und die Sicherung der Zukunft konzentrieren. Sie trug eine große Verantwortung für ihre Kinder, aber auch für ihre Leute auf Seven Hills und für ihre Geschäftspartner, die sie lange genug mit ihren Problemen allein gelassen hatte. Sie konnte es nicht erwarten, sich den Herausforderungen zu stellen und sich in die Arbeit zu stürzen. Bestimmt hatte sich eine Menge Arbeit angesammelt. Es konnte gar nicht genug Arbeit sein. Diese anderthalb Jahre unfreiwilliger Abstinenz von jeder geschäftlichen Tätigkeit hatten nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass sie so häufig in depressive Stimmungen verfallen war. Wenn sie erst ihr gewohntes arbeitsreiches Leben in New South Wales wieder aufgenommen hatte, würde alles ins Lot kommen. Jessica blickte mit einem zuversichtlichen Lächeln nach Sydney hinüber, doch in ihren Augen schimmerten noch immer die Tränen.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Ashley Carrington
- 2013, 1, 288 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863650263
- ISBN-13: 9783863650261
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