Jessica - Im Sturmwind der Leidenschaft
Band 8
Nachdem Jessica ihre Farm Seven Hills wieder aufgebaut hat, erwartet sie ein Schock: Sie bekommt ein Kind - von ihrem Halbbruder Kenneth, für den sie immer nur Hass empfunden hat. Um vor der Schande zu fliehen, kehrt sie in ihre Heimat...
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Produktinformationen zu „Jessica - Im Sturmwind der Leidenschaft “
Nachdem Jessica ihre Farm Seven Hills wieder aufgebaut hat, erwartet sie ein Schock: Sie bekommt ein Kind - von ihrem Halbbruder Kenneth, für den sie immer nur Hass empfunden hat. Um vor der Schande zu fliehen, kehrt sie in ihre Heimat England zurück. Dort wird sie endlich die Gelegenheit haben, mit ihrer Familie abzurechnen.
Lese-Probe zu „Jessica - Im Sturmwind der Leidenschaft “
Im Sturmwind der Leidenschaft von Ashley CarringtonAUSTRALIEN
Dezember 1808
1
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»Sogar die guten Nachrichten, die ich für Jessica Brading habe, sind noch schlechte Nachrichten«, murmelte William Hutchinsonvor sich hin, während er am Fenster seines Bürozimmers stand und ihr Kommen erwartete. »Es ist ungerecht, dass sich das Schicksal so sehr gegen einen Menschen verschwört. Zum Teufel noch mal, sie hat es am wenigsten von uns allen verdient.«
Mit kummervoller Miene blickte der Anwalt, der wie seine Klientin vor fast einem Jahrzehnt als Sträfling nach Australien gekommen war und hier einen neuen Anfang gemacht hatte, auf die weite tiefblaue Bucht von Sydney hinaus, die im Licht des schwindenden Sommertags lag. Das Wissen, dass ein anderer die Früchte ihrer langjährigen Plackerei ernten würde, schmerzte ihn. Reichte es denn noch nicht, dass sie schon die Comet, ihren Schoner mit zwanzig Tonnen Wolle und mehrere tausend Schafe verloren hatte sowie bei dem verbrecherischen Brandanschlag auf ihre Farm Seven Hills beinahe ums Leben gekommen wäre? Musste sie jetzt auch noch ihre Beteiligung an der Pacific und ihr neu gebautes Geschäftshaus in Sydney verkaufen, um nicht ihre Farm in Gefahr zu bringen?
Ein stolzer Dreimaster näherte sich unter gerefften Segeln vom Meer her. Der Hafen der Sträflingskolonie galt als einer der schönsten und sichersten Ankerplätze der Welt. Der Bug des schlanken Schiffs schnitt durch die in der Abendsonne glitzern den Fluten, während die Matrosen die Takelage aufenterten und über die Rahen turnten, um das Segeltuch einzuholen. Aus ihrer schwindelerregenden Höhe bot sich ihnen ein ausgezeichneter Ausblick auf die größte Stadt der vor zwanzig Jahren gegründeten Kolonie New South Wales.
Längst gehörte die Zeit der Vergangenheit an, da Sydney nichts weiter als eine planlose und wenig einladende Ansammlung von einfachen Zelten, Lehmhütten und einigen wenigen Holzbaracken gewesen war. Die primitive Pionierzeit der ersten Jahre war vorbei, zumindest hier an der Küste. Wenn die Straßen auch noch ungepflastert und daher im Sommer staubig und im Winter schlammig und Sträflingskolonnen überall gegenwärtig waren, so hatte diese Siedlung mittlerweile doch den Eindruck einer provisorischen Niederlassung mit zweifelhafter Zukunft verloren. Es hatte Jahre gegeben, da hatten Naturkatastrophen Hungersnöte hervorgerufen und die junge Kolonie an den Rand der physischen Vernichtung geführt. Im Kolonialamt in London hatte es lange Zeit so ausgesehen, als würden die Pessimisten recht behalten, die New South Wales keine Überlebenschance gaben und einen baldigen Zusammenbruch der »Sträflingskolonie am Ende der Welt« prophezeiten. Doch diese Skeptiker waren schon vor Jahren verstummt.
Sydney hatte sich rund um die keilförmige, hügelige Bucht zu einer stetig wachsenden, geschäftigen Pionierstadt mit all ihren guten wie schlechten Seiten entwickelt. Der Zustrom der freien Siedler und Kaufleute, die in Australien ihr Glück suchten und es häufig auch fanden, hatte in den letzten Jahren enorm zugenommen. Und es kamen längst nicht mehr nur die Mittellosen und in der alten Heimat Gescheiterten. Dies schlug sich auch in den zahlreichen Werkstätten, Kontoren, Lagerhäusern, Geschäften und Wohnhäusern nieder, die nun nicht mehr wie früher aus geflochtenen Zweigen und Lehm innerhalb von wenigen Tagen errichtet wurden, sondern als solide dauerhafte Gebäude aus Holz oder aus Sandstein und Ziegel. Die vielen stattlichen Privathäuser auf dem sanft ansteigenden Ostufer, dem besten Wohnviertel der Stadt, wo sich ebenfalls die Residenz des vor fast einem Jahr gestürzten Gouverneurs Bligh befand, gaben ein deutliches Zeugnis vom wirtschaftlichen Aufschwung ab - wie auch die zahlreichen Lagerschuppen, Kornspeicher, Kontore und Werften entlang der Hafenanlagen.
Doch Sydney hatte auch sein hässliches Gesicht, und das fand man in den Sträflingsunterkünften sowie auf dem felsigen Westufer. Hier erstreckten sich die berüchtigten Rocks, ein labyrinthisches Lasterviertel, das sich allen nur erdenklichen Ausschweifungen verschrieben hatte. Dass die Festung der Bewachungs- und Schutztruppe der Kolonie, das verhasste New South Wales Corps, direkt über diesem Viertel thronte und die Soldatenbaracken in unmittelbarer Nähe lagen, hatte zynischen Symbolcharakter. Denn die korrupten Soldaten beherrschten nicht nur die Kolonie, sondern sie förderten jede Art von Laster, die in irgendeinem Zusammenhang mit Rum stand.
Die Offiziere des Corps und einige mit ihnen befreundete Händler hatten sich das Rum-Monopol gesichert. Sie kontrollierten den Import von Alkohol und verkauften ihn mit bis zu tausend Prozent Gewinn an die Schankwirte weiter. Rum war zu einer inoffiziellen Währung geworden, denn jeder Sträfling hatte Anspruch auf seine tägliche Rumration, sodass auch die Farmer, die fast ohne Ausnahme Sträflinge beschäftigten, Rum kaufen mussten.
Gouverneur Bligh, der ehemalige Captain des Meutererschiffs Bounty, hatte die Macht des sogenannten Rum-Corps brechen und in der Kolonie Recht und Ordnung durchsetzen wollen. Doch wie seine Vorgänger war auch er an der Macht der Offiziere gescheitert. Unter einem fadenscheinigen Vorwand hatte die korrupte Offiziersclique im Januar, am zwanzigsten Jahrestag der Kolonie, die Residenz des Gouverneurs besetzt, Bligh gestürzt, unter Arrest gestellt und damit auch ganz offiziell die Herrschaft über New South Wales an sich gerissen.
William Hutchinson seufzte und verdrängte die Gedanken an die Willkürherrschaft des Rum-Corps. Irgendwann würde auch diese unerfreuliche Ära ihr Ende finden, dafür würde schon das Kolonialamt sorgen, auch wenn es sich damit viel Zeit ließ. Was war seit jener ersten Sträflingsflotte vor gut einundzwanzig Jahren nicht schon alles geschehen! Wie hatte sich das Gesicht der Kolonie allein in den zehn Jahren verändert, die er schon in diesem Land war - diesem sonnendurchglühten und immer noch wilden Land, wovon die Farmer im Landesinneren ein Lied zu singen wussten. Jessica Brading beispielsweise. Ihre Farm am Hawkesbury River, gut vierzig Meilen von der Küste entfernt, lag im Buschland, das den mutigen Siedlern seine eigenen, strengen Gesetze diktierte. Wer dort nicht nur überleben, sondern eine ertragreiche Farm wie Seven Hills mit tausenden Morgen Land aufbauen und halten wollte, musste aus einem ganz besonderen Holz geschnitzt sein und einen zähen, unbeugsamen Willen haben. Jessica Brading besaß ihn, und dennoch war auch sie nicht vor Schicksalsschlägen gefeit.
Der Anwalt beobachtete, wie der Dreimaster in Ufernähe beidrehte und der Anker ins Wasser klatschte. Es war ein britischer Kauffahrer, der vor vielen Monaten einen englischen Hafen verlassen hatte und auf der Route über das Kap der Guten Hoffnung nach Australien gesegelt war. Er wünschte, es wäre die Pacific gewesen, die von einer erfolgreichen Walfangfahrt zurückkehrte und da vor Anker ging. Dann wäre Jessica gerettet gewesen und brauchte Brading's nicht zu verkaufen.
Es klopfte.
William Hutchinson fuhr aus seinen trüben Gedanken auf und wandte sich um. »Ja, bitte?«, rief er. Sein Hausmädchen Edna öffnete die Tür. »Missis Brading wünscht Sie zu sprechen«, meldete sie ihm Jessicas Ankunft.
»Führ sie herein, Edna«, forderte er sie auf und atmete tief durch. Was hätte er dafür gegeben, wenn er ihr am Vorabend ihrer Geschäftseröffnung eine wirklich gute Nachricht hätte übermitteln können. Dass das Leben nicht viel auf die eigenen Wünsche gab, hatte er am eigenen Leib deutlich genug erfahren. Doch manchmal war es geradezu unerträglich ungerecht.
2
Jessica trug ein Kleid aus leichtem lindfarbenem Musselin, das mit seinem reizenden Ausschnitt und dem großzügigen Faltenwurf den sommerlichen Temperaturen des Tages angepasst war und zugleich ihre aparte Schönheit nachdrücklich unterstrich. Ihrer schlanken, betörend weiblichen Figur sah man nicht an, dass sie schon Mutter von zwei Kindern war. Blondes, leicht gelocktes Haar fiel ihr bis auf die halb entblößten Schultern. Ein freundliches Lächeln lag auf ihrem zartgeschnittenen Gesicht mit den ausdrucksstarken Augen, deren ungewöhnliche Farbe den Anwalt stets an Smaragde erinnerte. Ihnen konnte ein Mann nur allzu leicht verfallen.
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange warten lassen, Mister Hutchinson«, sagte Jessica bei ihrem Eintreten und fügte entschuldigend hinzu: »Ich saß schon in der Kutsche, als mein Geschäftsführer mich noch einmal aufhielt.«
Er nahm ihre Hand mit einem warmherzigen Lächeln. »Aber Missis Brading! Auf eine Frau wie Sie wartet doch jeder Mann mit dem größten Vergnügen«, machte er ihr ein Kompliment, das von Herzen kam. Sie zog leicht spöttisch die Augenbrauen hoch. »Wenn Sie mir Komplimente machen, kommt mich das meistens teuer zu stehen«, erwiderte sie betont munter, obwohl ihr in Wirklichkeit gar nicht danach zumute war. Aber was half es, wenn sie ihre Sorgen und Kümmernisse offen zur Schau trug? Dinge, die sich nicht ändern ließen, musste man mit Anstand tragen, so schwer es einem auch fallen mochte. Sie war noch nie vor der Verantwortung geflüchtet und würde es auch diesmal nicht tun. Zudem war sie sich des geschäftlichen Risikos, das sie eingegangen war, ja von Anfang an bewusst gewesen.
»Sie tun mir in höchstem Maße unrecht«, gab er sich betroffen, während jedoch ein Lächeln seine Mundwinkel umspielte. »Es mag Kunden geben, die für Schmeicheleien empfänglich sind und sie nicht mit einer widersprüchlichen Wirklichkeit in Einklang zu setzen vermögen. Doch zu diesen gehören Sie wahrhaftig nicht. Außerdem sind Schmeicheleien bei Ihnen völlig fehl am Platz, dafür hat die Natur schon auf bezaubernde Weise Sorge getragen, Missis Brading.«
Jessica lachte belustigt auf und nahm auf dem gepolsterten Sessel vor seinem Schreibtisch Platz. Sie mochte William Hutchinson, einen Mann Anfang fünfzig, und schätzte ihn als Anwalt und Berater. Dabei sah er nicht so aus, als verstünde er etwas von seinem Gewerbe. Hager, blassgesichtig, mit den Hamsterbacken und dem verschleierten Blick einer müden Eule, machte er vielmehr den Eindruck eines kraftlosen, unfähigen Mannes, dem man bestenfalls Routinesachen anvertrauen konnte. Zudem hegte er eine Vorliebe für schwarze, schlecht sitzende Anzüge, was seinem äußeren Erscheinungsbild eine zusätzlich wenig vertrauenserweckende Note gab. In Wirklichkeit nannte William Hutchinson jedoch einen messerscharfen Verstand sein Eigen, zu dem sich bestes fachliches Wissen, ein wacher Geschäftssinn sowie eine ausgezeichnete Menschenkenntnis gesellten.
»Nun, was haben Sie bei Mister Jarway erreicht?«, erkundigte sich Jessica, ohne sich mit langen Vorreden aufzuhalten. Clive Jarway war im Kreditgewerbe tätig, und sie hatte den Anwalt beauftragt, ihm ihre zwanzigprozentige Beteiligung an dem Walfänger Pacific zum Kauf anzubieten.
»Er ist bereit, die Beteiligung zu übernehmen«, begann William Hutchinson. Jessica verzog das Gesicht. »Das wundert mich nicht. Immerhin sind zweitausend Pfund für einen Fünftel-Anteil an einem stattlichen Walfänger wirklich spottbillig. Eigentlich hätte ich das Doppelte verlangen müssen. Denn dass wir damals so billig an unsere Beteiligung gekommen sind, verdanken wir ja einem Glücksfall«, sagte sie.
Der Anwalt, der sich in derselben Höhe an der Pacific beteiligt hatte, nickte mit bedrücktem Gesichtsausdruck. »Sie haben recht, Missis Brading, viertausend wären immer noch ein gutes Geschäft, aber ...« Er zögerte.
Jessica furchte die Stirn. Seine Miene verriet nichts Gutes. Unwillkürlich zog sich ihr der Magen zusammen. »Aber was?«, fragte sie.
»Er bietet Ihnen noch nicht einmal mehr die zweitausend, sondern nur fünfzehnhundert«, übermittelte er ihr das Angebot des Geldverleihers.
»Fünfzehnhundert! Das kann er doch nicht machen! Da kann ich meine Beteiligung ja auch gleich verschenken!«, empörte sie sich.
Er hob in einer Gebärde der Ohnmacht Hände und Schultern. »Es tut mir leid, aber mehr will er nicht zahlen. Ich habe ihm nach besten Kräften zugesetzt, konnte ihn jedoch nicht zu einer höheren Summe bewegen. Schiffsbeteiligungen wären immer ein hohes Risiko, erklärte er, zumal bei Walfängern. Da hänge viel vom Glück ab, wie schnell das Schiff auf Wale stoße und wie gut die Harpunierer seien.«
»Aber bei zweitausend Pfund für ein Fünftel Gewinn ist das doch dummes Geschwätz! Besonders bei der Pacific, die erst vor ein paar Jahren vom Stapel gelaufen ist und mit Samuel Morgan einen mehr als gut beleumundeten Captain hat! Allein der Profit aus einer einzigen erfolgreichen Fahrt kann sich auf zehntausend Pfund und mehr belaufen! Von wegen Risiko! Man muss nur warten können!«, erregte sie sich.
»Wem sagen Sie das«, seufzte der Anwalt. »Dasselbe habe ich ihm mehr als einmal und in aller Ausführlichkeit vorgehalten. Aber es hat nichts gefruchtet. Über fünfzehnhundert geht er nicht hinaus.«
»Verdammter Halsabschneider!«, stieß Jessica wütend hervor. »Für fünfzehnhundert verkaufe ich nicht!«
Er warf ihr einen mitfühlenden Blick zu, denn er wusste, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als Clive Jarways Angebot anzunehmen. »Wenn es meine finanziellen Verhältnisse erlauben würden, würde ich nicht zögern, Ihnen einen Kredit über zweitausend Pfund auf Ihre Beteiligung einzuräumen. Aber bedauerlicherweise kann ich im Augenblick nur über wenige hundert Pfund disponieren.«
Sie machte eine ungehaltene Geste. »Ihre Hilfsbereitschaft steht hier nicht zur Debatte.«
»Dennoch bedaure ich es, denn in diesem Fall ließe sich Hilfsbereitschaft mit einem guten Geschäft verbinden.«
»Mister Jarway hat mir zwar einen Kredit eingeräumt, aber die Rückzahlung ist erst im nächsten Jahr fällig! Er soll nur nicht glauben, ich müsste an ihn verkaufen!«, sagte sie grimmig. »Wir werden schon einen anderen Interessenten finden, der einen fairen Preis zu zahlen bereit ist.«
Hutchinson nickte bedächtig. »Das wäre theoretisch durchaus möglich«, räumte er ein. Jessica blieb der Vorbehalt in der Stimme des Anwalts nicht verborgen.
»Aber aus irgendeinem Grund ziehen Sie diese Alternative nicht in Betracht, nicht wahr?«, fragte sie und ahnte bereits, dass es mit den schlechten Nachrichten noch kein Ende hatte. »Was haben Sie mir denn noch mitzuteilen, Mister Hutchinson? Nur heraus damit! Ich bin in letzter Zeit an Hiobsbotschaften gewöhnt. « Bitterkeit sprach aus ihrer Stimme.
Der Anwalt griff zu einem Stück Siegellack und betrachtete es eingehend, als erhoffte er sich davon eine Offenbarung, die ihn davor bewahrte, ihr eine weitere schlechte Nachricht zu überbringen. »Mister Jarway ist ein gut informierter Mann und neben mir und Ihrem Verwalter, Mister McIntosh, vermutlich der Einzige, der weiß, wie prekär Ihre finanzielle Situation ist. Dass dieses Verbrecherpack, das Mister Hawkley angeheuert hatte, mehrere tausend Schafe auf Seven Hills abgeschlachtet und zudem den gesamten Hof niedergebrannt hat, war ihm lange bekannt. Und über Ihr sehr kostspieliges Unternehmen hier in Sydney, die Errichtung eines großen Geschäftshauses, war er ebenfalls unterrichtet ...«
»Natürlich!«, fiel sie ihm ungeduldig ins Wort. »Deshalb bat ich ihn ja auch um einen kurzfristigen Kredit. Der Neubau und der Ankauf von genügend Waren haben eine Menge Geld verschlungen.« Hutchinson nickte. »In der Tat. Aber dennoch hätten Sie Brading's gewiss halten können, wenn die Comet mit ihrer Ladung von zwanzig Tonnen bester Wolle Sydney sicher erreicht hätte. Mit dem Erlös hätten Sie Ihre Kredite zurückzahlen und Ihren anderen finanziellen Verbindlichkeiten gerecht werden können«, fuhr er bedrückt fort. »Doch das Schicksal wollte es anders. Der Schoner ist an einem Riff zerschellt und samt der kostbaren Fracht gesunken. Und diesen Verlust können Sie nicht ohne Weiteres wegstecken. Sie befinden sich jetzt in einer akuten Notlage, die Ihre Verhandlungsmöglichkeiten extrem einschränkt.«
»Sie erzählen mir damit nichts Neues«, sagte Jessica beherrscht. »Ich weiß, dass ich das Geschäft in Sydney nicht halten kann.«
Der Anwalt sah ihr offen ins Gesicht. »Und Mister Jarway weiß es auch. Das ist die schlechte Nachricht, die ich Ihnen mitteilen muss. Denn dass Sie das Haus samt dem neuen Geschäft erst im nächsten Jahr zu verkaufen gedenken, hatten wir ja noch einige Zeit geheim halten wollen, da wir auf einen guten Umsatz und damit auf eine starke Verhandlungsposition spekuliert haben. Damit ist es nun vorbei. Mister Jarway wittert ein blendendes Geschäft, und er hat seine Krallen schon in Ihrem Fleisch, wenn ich mir diesen drastischen Vergleich erlauben darf. Aber als Ihr Anwalt ist es meine Pflicht, Ihnen reinen Wein einzuschenken.«
Jessica wurde blass, denn ihr dämmerte, was hinter seinen Worten lag. »Wollen Sie damit sagen, dass er nicht nur meine Beteiligung an der Pacific will, sondern auch Brading's?«, fragte sie mit belegter Stimme.
Er nickte. »Ja, so verhält es sich. Er will beides - oder gar nichts. Und ich fürchte, Sie werden ihm beides überlassen müssen. «
Sie lachte freudlos auf. »Das hätte er vielleicht gerne! Doch er kann mich nicht zwingen, an ihn zu verkaufen - und er kann schon gar nicht den Zeitpunkt bestimmen!«
»Einerseits ist das richtig, doch andererseits auch wieder nicht«, entgegnete der Anwalt. »Sicherlich liegt es in Ihrer freien Entscheidung, wann und an wen Sie verkaufen. Doch Mister Jarway kann Ihnen die Daumenschrauben anlegen und Sie zum großen Verlierer machen, auch ohne letztlich der Käufer zu sein.«
»Und wie will er das anstellen?«
»Indem er Ihnen keine Zeit lässt, das Geschäft der nächsten Wochen abzuwarten und in aller Ruhe einen seriösen Käufer zu finden. Er hat mir unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er sein Wissen nicht länger für sich behalten, sondern es in den entsprechenden Kreisen verbreiten wird«, erläuterte er das geplante Vorgehen von Clive Jarway. »Welche Folgen das hat, können Sie sich ja vorstellen. New South Wales ist eine kleine Kolonie, und die Zahl möglicher Aufkäufer für ein Objekt dieser Art ist dementsprechend gering. Wenn nun bekannt wird, dass Ihnen das Wasser bis zum Hals steht und Sie in wenigen Monaten nicht einmal mehr in der Lage sind, Ihre fälligen Kredite zu zahlen, wird das unweigerlich dazu führen, dass man Sie so lange zappeln lassen wird, bis Sie jeden Kaufpreis akzeptieren.«
»Dieses Schwein!«, zischte Jessica.
»Eine passende Bezeichnung für menschliche Aasgeier seiner Art«, pflichtete er ihr bei. »Nur ändert das nichts an den Tatsachen, Missis Brading. Clive Jarway hat die besseren Karten in der Hand. Wenn Sie das Geschäft nicht mit ihm machen, wird Ihr Verlust um einiges größer ausfallen, als wenn Sie mit ihm handelseinig werden. Unter diesen erpresserischen Umständen ist sein Angebot fast noch großzügig zu nennen. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch! Ich verabscheue seine Skrupellosigkeit, mit der er Sie unter Druck setzt und Ihre Situation auszunutzen gedenkt. Doch er bewegt sich dabei noch in gewissen Grenzen, die man akzeptieren kann - wenn auch mit einem Zähneknirschen. «
Jessica beherrschte ihren wilden Zorn. »Wie lautet sein Angebot? «, fragte sie knapp.
»Er bietet Ihnen, wie schon gesagt, fünfzehnhundert für Ihre Beteiligung an der Pacific sowie einen Kaufpreis für Brading's, der zwanzig Prozent unter den nachgewiesenen Baukosten liegt«, teilte Hutchinson ihr mit. »Das Warenlager übernimmt er.«
»Natürlich ebenfalls mit einem Nachlass von zwanzig Prozent, ja?«
Der Anwalt bestätigte ihre Vermutung durch ein Nicken. »Und er will die Beteiligung und das Geschäft - oder aber er wirft Sie der Meute zum Fraß vor, wie er sich wortwörtlich auszudrücken pflegte.« Jessica schwieg einen Augenblick. Das Geschäft aufgeben zu müssen, in das sie so viel Hoffnungen, Liebe und Arbeit gesteckt hatte, war bitter genug. Doch jetzt auch noch den halsabschneiderischen Forderungen eines Kredithais wie Clive Jarway ohnmächtig ausgeliefert zu sein, erschütterte sie zutiefst.
»Welche Wahl habe ich?«, wollte sie nach einer Weile bedrückenden Schweigens wissen. »Eigentlich gar keine«, nahm ihr Hutchinson jegliche Illusionen.
»Es sei denn, Sie ziehen es in Erwägung, Seven Hills erheblich zu belasten.«
»Ausgeschlossen!«, lehnte Jessica sofort und ohne eine Sekunde nachzudenken ab. »Die Farm werde ich nie und nimmer in die Waagschale werfen! Seven Hills ist mir wichtiger als alles andere! Ich habe meinem Mann noch in der Stunde seines Todes hoch und heilig versprochen, die Farm niemals in Gefahr zu bringen! Eines Tages soll mein Sohn Herr auf Seven Hills sein, und wenn es so weit ist, soll Edward eine blühende Farm ohne Belastungen übernehmen!«
»Ja, das habe ich mir gedacht«, sagte der Anwalt, der wusste, wie viel ihr Seven Hills bedeutete. Jessica war nicht nur eine schöne und mutige Frau, sondern zudem auch noch ungewöhnlich weitsichtig und geschäftstüchtig. Aber bei all ihren geschäftlichen Unternehmungen hatte sie doch nie aus den Augen verloren, was das wahre Zentrum ihrer Welt war - und das hieß Seven Hills. »Und eben deshalb haben Sie keine andere Wahl, als das Angebot anzunehmen. Er lässt Ihnen übrigens drei Tage Bedenkzeit. Wenn Sie den Vertrag, so wie er ihn bestimmt hat, dann nicht unterzeichnen, will er mit seiner Kampagne gegen Sie beginnen.«
»Mein Gott, drei Tage Galgenfrist!« Jessica ließ die Schultern resigniert sinken und schaute auf ihre Hände, die ruhig in ihrem Schoß lagen. »Morgen eröffne ich Brading's, das erste Geschäft in New South Wales in dieser Größe und mit einem derartig weit gefächerten Warenangebot. Ich dachte immer, es würde ein unvergesslich aufregender und freudiger Tag sein«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Ja, wie sehr habe ich mich darauf gefreut, und nun ist es schon vorbei, noch bevor es richtig begonnen hat. Und wissen Sie, was mich besonders schmerzt?«
Er fragte nicht, sondern wartete. Es gab nichts, was er jetzt sagen konnte, um ihren Schmerz zu mildern. Sie musste allein damit fertigwerden. »Dass ich meinem Geschäftsführer das antun muss«, fuhr Jessica niedergeschlagen fort. »Glenn Pickwick hat genauso viel Anteil an dem, was wir gemeinsam aufgebaut haben - und was morgen dann doch in der Pitt Street sozusagen tot geboren wird. Ohne ihn hätte ich vermutlich noch nicht einmal den kleinen Kolonialwarenladen halten können. Wie engagiert er sich eingesetzt hat! Wissen Sie, Brading's ist auch sein Traum gewesen. Und er hat seine Constance ganz bewusst erst am heutigen Tag geheiratet, am Tag vor der Geschäftseröffnung. Wenn es auch nur eine ganz kleine, stille Feier war, so sollte es vom Tag her doch in zweifacher Hinsicht ein bedeutsames Datum sein. Das bleibt es wohl, wenn auch in negativem Sinne. Ich komme mir vor, als würde ich ihn verraten und seine Loyalität und seinen unermüdlichen Einsatz mit einem Fußtritt vergelten.«
Hutchinson räusperte sich, um seiner inneren Bewegung Herr zu werden. »Sie wissen, dass dem nicht so ist und von einem Verrat nun wirklich nicht die Rede sein kann. Auch ich schätze Mister Pickwick sehr, da er ein Mann von Charakter ist, und gerade deshalb wird er niemals so von Ihnen denken. Er wird vielmehr verstehen, dass Sie gar nicht anders handeln konnten und der Verkauf mit ihm nicht das Geringste zu tun hat. Zudem besteht ja die Hoffnung, dass Clive Jarway ihn in seiner jetzigen Position belässt.«
»Können wir das als Bedingung stellen?«
»Ich fürchte nein.«
»Richtig, ich befinde mich in einer Lage, in der ich noch nicht einmal das zur Bedingung machen kann«, stellte sie mit schmerzlicher Selbsterkenntnis fest. »Also gut, ich werde an Clive Jarway verkaufen. Möge ihn die Pest heimsuchen!«
»Er ist ein schändlicher Halsabschneider, daran gibt es nicht den geringsten Zweifel«, bekräftigte Hutchinson. »Doch versuchen Sie trotz der Bitterkeit, die dieser erzwungene Verkauf in Ihnen hervorrufen muss, die guten Seiten zu sehen.«
Jessica sah ihn verblüfft an und fragte dann sarkastisch: »Ach, ich soll Clive Jarway vielleicht auch noch dankbar sein, dass er mich der Sorge, wie das Geschäft denn nun anlaufen wird, großzügig enthebt?«
Eine leichte Röte stieg in sein Gesicht. »Nein, das meine ich ganz sicher nicht, Missis Brading. Ich bemühe mich nur, Sie ein wenig aufzumuntern. Dass Sie Brading's hergeben müssen, schmerzt Sie sehr, das weiß ich. Aber vergessen Sie nicht, dass Ihnen trotz des zwanzigprozentigen Nachlasses immer noch eine beträchtliche Summe Geldes bleibt. Damit können Sie eine Menge anfangen.«
Sie schüttelte den Kopf. »O nein, es reicht hinten und vorne nicht, um noch einmal von Neuem zu beginnen. Außerdem würde fast ein Jahr vergehen, bevor ich wieder ein Geschäft, und dann ein bedeutend kleineres, eröffnen könnte. Ich wäre damit keine ernstzunehmende Konkurrenz.«
»Ich dachte auch weniger an ein neues Geschäft in Sydney als an ein neues Schiff«, erwiderte der Anwalt. »Die Comet hat auf dem Hawkesbury doch gute Gewinne gebracht, und es läge, meine ich, nahe, diesen Frachtverkehr wieder aufzunehmen.«
»Ja, ein neuer Schoner wäre ein kleines Trostpflaster«, gab sie zu und erinnerte sich unwillkürlich daran, dass man mit dem erstklassigen Holz von Van Diemen's Land einen guten Profit machen konnte. Wenn sie sich ein neues Schiff zulegte, dann musste es diesmal ein etwas größeres sein als der behäbige Marssegelschoner. Es musste hochseetüchtig und für einen dauerhaften Pendelverkehr zwischen Sydney und der gut sechshundert Meilen entfernten Insel Van Diemen's Land einsatzfähig sein. Jessica wunderte sich im nächsten Moment, wie sie angesichts dieser niederschmetternden Kapitulation vor Clive Jarway solche Gedanken haben konnte. »Ich werde bei Gelegenheit mit Captain Rourke darüber sprechen.«
»Da Sie ihn erwähnen, wie geht es ihm überhaupt?«, erkundigte sich Hutchinson, insgeheim erleichtert, das Thema wechseln zu können.
»Sehr viel besser«, antwortete sie. »Seine Fußwunde heilt sehr gut. Doch er quält sich noch immer mit unsinnigen Selbstvorwürfen, als hätte er den Untergang der Comet zu verantworten, dabei lag er doch im Fieberdelirium, als seine Mannschaft beschloss, ohne einen erfahrenen Steuermann weiterzusegeln, um ihn zu einem Arzt zu bringen. Mein Gott, er sollte seinen Männern so dankbar sein wie ich, dass sie ihm das Leben gerettet haben!« Patrick Rourkes Wohlbefinden lag ihr sehr am Herzen, denn er war ihr in den Jahren, die sie als Geschäftspartner verbunden gewesen waren und auch in Zukunft noch sein würden, ein treuer Freund geworden, den sie nicht mal um den Preis von zehn Schiffen missen wollte.
Hutchinson lächelte. »Das freut mich zu hören. Und ich bin sicher, dass Mister Pickwick so über Sie sprechen wird wie Sie über Captain Rourke.«
Jessica erwiderte sein Lächeln müde. »Ich hoffe, Sie behalten recht«, sagte sie und erhob sich. »Ich denke, was es zu besprechen gab, haben wir geklärt. Setzen Sie den Vertrag mit Clive Jarway auf. Ich werde morgen kommen und ihn unterschreiben. Was nutzen mir drei Tage Bedenkzeit, wenn es nichts mehr zu bedenken gibt.«
Der Anwalt stemmte sich mit einem Stoßseufzer aus seinem Lehnstuhl. »Nun ja, er ist zweifellos ein Mistkerl, aber er lässt Sie mit einem blauen Auge davonkommen.«
»Richtig, es sind die kleinen Freuden des Lebens, derer wir uns mehr besinnen sollten, nicht wahr?«, erwiderte Jessica bissig.
Hutchinson führte sie zur Tür und schaffte es doch tatsächlich, sie zum Abschied noch zu einem herzhaften Lachen zu bringen, als er sagte: »Es kommen auch wieder andere Zeiten, Missis Brading, seien Sie versichert. Wenn es auf Ihre Person Aktien gäbe, ich würde all mein Geld in Sie investieren und mich noch bis über beide Ohren verschulden.«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
»Sogar die guten Nachrichten, die ich für Jessica Brading habe, sind noch schlechte Nachrichten«, murmelte William Hutchinsonvor sich hin, während er am Fenster seines Bürozimmers stand und ihr Kommen erwartete. »Es ist ungerecht, dass sich das Schicksal so sehr gegen einen Menschen verschwört. Zum Teufel noch mal, sie hat es am wenigsten von uns allen verdient.«
Mit kummervoller Miene blickte der Anwalt, der wie seine Klientin vor fast einem Jahrzehnt als Sträfling nach Australien gekommen war und hier einen neuen Anfang gemacht hatte, auf die weite tiefblaue Bucht von Sydney hinaus, die im Licht des schwindenden Sommertags lag. Das Wissen, dass ein anderer die Früchte ihrer langjährigen Plackerei ernten würde, schmerzte ihn. Reichte es denn noch nicht, dass sie schon die Comet, ihren Schoner mit zwanzig Tonnen Wolle und mehrere tausend Schafe verloren hatte sowie bei dem verbrecherischen Brandanschlag auf ihre Farm Seven Hills beinahe ums Leben gekommen wäre? Musste sie jetzt auch noch ihre Beteiligung an der Pacific und ihr neu gebautes Geschäftshaus in Sydney verkaufen, um nicht ihre Farm in Gefahr zu bringen?
Ein stolzer Dreimaster näherte sich unter gerefften Segeln vom Meer her. Der Hafen der Sträflingskolonie galt als einer der schönsten und sichersten Ankerplätze der Welt. Der Bug des schlanken Schiffs schnitt durch die in der Abendsonne glitzern den Fluten, während die Matrosen die Takelage aufenterten und über die Rahen turnten, um das Segeltuch einzuholen. Aus ihrer schwindelerregenden Höhe bot sich ihnen ein ausgezeichneter Ausblick auf die größte Stadt der vor zwanzig Jahren gegründeten Kolonie New South Wales.
Längst gehörte die Zeit der Vergangenheit an, da Sydney nichts weiter als eine planlose und wenig einladende Ansammlung von einfachen Zelten, Lehmhütten und einigen wenigen Holzbaracken gewesen war. Die primitive Pionierzeit der ersten Jahre war vorbei, zumindest hier an der Küste. Wenn die Straßen auch noch ungepflastert und daher im Sommer staubig und im Winter schlammig und Sträflingskolonnen überall gegenwärtig waren, so hatte diese Siedlung mittlerweile doch den Eindruck einer provisorischen Niederlassung mit zweifelhafter Zukunft verloren. Es hatte Jahre gegeben, da hatten Naturkatastrophen Hungersnöte hervorgerufen und die junge Kolonie an den Rand der physischen Vernichtung geführt. Im Kolonialamt in London hatte es lange Zeit so ausgesehen, als würden die Pessimisten recht behalten, die New South Wales keine Überlebenschance gaben und einen baldigen Zusammenbruch der »Sträflingskolonie am Ende der Welt« prophezeiten. Doch diese Skeptiker waren schon vor Jahren verstummt.
Sydney hatte sich rund um die keilförmige, hügelige Bucht zu einer stetig wachsenden, geschäftigen Pionierstadt mit all ihren guten wie schlechten Seiten entwickelt. Der Zustrom der freien Siedler und Kaufleute, die in Australien ihr Glück suchten und es häufig auch fanden, hatte in den letzten Jahren enorm zugenommen. Und es kamen längst nicht mehr nur die Mittellosen und in der alten Heimat Gescheiterten. Dies schlug sich auch in den zahlreichen Werkstätten, Kontoren, Lagerhäusern, Geschäften und Wohnhäusern nieder, die nun nicht mehr wie früher aus geflochtenen Zweigen und Lehm innerhalb von wenigen Tagen errichtet wurden, sondern als solide dauerhafte Gebäude aus Holz oder aus Sandstein und Ziegel. Die vielen stattlichen Privathäuser auf dem sanft ansteigenden Ostufer, dem besten Wohnviertel der Stadt, wo sich ebenfalls die Residenz des vor fast einem Jahr gestürzten Gouverneurs Bligh befand, gaben ein deutliches Zeugnis vom wirtschaftlichen Aufschwung ab - wie auch die zahlreichen Lagerschuppen, Kornspeicher, Kontore und Werften entlang der Hafenanlagen.
Doch Sydney hatte auch sein hässliches Gesicht, und das fand man in den Sträflingsunterkünften sowie auf dem felsigen Westufer. Hier erstreckten sich die berüchtigten Rocks, ein labyrinthisches Lasterviertel, das sich allen nur erdenklichen Ausschweifungen verschrieben hatte. Dass die Festung der Bewachungs- und Schutztruppe der Kolonie, das verhasste New South Wales Corps, direkt über diesem Viertel thronte und die Soldatenbaracken in unmittelbarer Nähe lagen, hatte zynischen Symbolcharakter. Denn die korrupten Soldaten beherrschten nicht nur die Kolonie, sondern sie förderten jede Art von Laster, die in irgendeinem Zusammenhang mit Rum stand.
Die Offiziere des Corps und einige mit ihnen befreundete Händler hatten sich das Rum-Monopol gesichert. Sie kontrollierten den Import von Alkohol und verkauften ihn mit bis zu tausend Prozent Gewinn an die Schankwirte weiter. Rum war zu einer inoffiziellen Währung geworden, denn jeder Sträfling hatte Anspruch auf seine tägliche Rumration, sodass auch die Farmer, die fast ohne Ausnahme Sträflinge beschäftigten, Rum kaufen mussten.
Gouverneur Bligh, der ehemalige Captain des Meutererschiffs Bounty, hatte die Macht des sogenannten Rum-Corps brechen und in der Kolonie Recht und Ordnung durchsetzen wollen. Doch wie seine Vorgänger war auch er an der Macht der Offiziere gescheitert. Unter einem fadenscheinigen Vorwand hatte die korrupte Offiziersclique im Januar, am zwanzigsten Jahrestag der Kolonie, die Residenz des Gouverneurs besetzt, Bligh gestürzt, unter Arrest gestellt und damit auch ganz offiziell die Herrschaft über New South Wales an sich gerissen.
William Hutchinson seufzte und verdrängte die Gedanken an die Willkürherrschaft des Rum-Corps. Irgendwann würde auch diese unerfreuliche Ära ihr Ende finden, dafür würde schon das Kolonialamt sorgen, auch wenn es sich damit viel Zeit ließ. Was war seit jener ersten Sträflingsflotte vor gut einundzwanzig Jahren nicht schon alles geschehen! Wie hatte sich das Gesicht der Kolonie allein in den zehn Jahren verändert, die er schon in diesem Land war - diesem sonnendurchglühten und immer noch wilden Land, wovon die Farmer im Landesinneren ein Lied zu singen wussten. Jessica Brading beispielsweise. Ihre Farm am Hawkesbury River, gut vierzig Meilen von der Küste entfernt, lag im Buschland, das den mutigen Siedlern seine eigenen, strengen Gesetze diktierte. Wer dort nicht nur überleben, sondern eine ertragreiche Farm wie Seven Hills mit tausenden Morgen Land aufbauen und halten wollte, musste aus einem ganz besonderen Holz geschnitzt sein und einen zähen, unbeugsamen Willen haben. Jessica Brading besaß ihn, und dennoch war auch sie nicht vor Schicksalsschlägen gefeit.
Der Anwalt beobachtete, wie der Dreimaster in Ufernähe beidrehte und der Anker ins Wasser klatschte. Es war ein britischer Kauffahrer, der vor vielen Monaten einen englischen Hafen verlassen hatte und auf der Route über das Kap der Guten Hoffnung nach Australien gesegelt war. Er wünschte, es wäre die Pacific gewesen, die von einer erfolgreichen Walfangfahrt zurückkehrte und da vor Anker ging. Dann wäre Jessica gerettet gewesen und brauchte Brading's nicht zu verkaufen.
Es klopfte.
William Hutchinson fuhr aus seinen trüben Gedanken auf und wandte sich um. »Ja, bitte?«, rief er. Sein Hausmädchen Edna öffnete die Tür. »Missis Brading wünscht Sie zu sprechen«, meldete sie ihm Jessicas Ankunft.
»Führ sie herein, Edna«, forderte er sie auf und atmete tief durch. Was hätte er dafür gegeben, wenn er ihr am Vorabend ihrer Geschäftseröffnung eine wirklich gute Nachricht hätte übermitteln können. Dass das Leben nicht viel auf die eigenen Wünsche gab, hatte er am eigenen Leib deutlich genug erfahren. Doch manchmal war es geradezu unerträglich ungerecht.
2
Jessica trug ein Kleid aus leichtem lindfarbenem Musselin, das mit seinem reizenden Ausschnitt und dem großzügigen Faltenwurf den sommerlichen Temperaturen des Tages angepasst war und zugleich ihre aparte Schönheit nachdrücklich unterstrich. Ihrer schlanken, betörend weiblichen Figur sah man nicht an, dass sie schon Mutter von zwei Kindern war. Blondes, leicht gelocktes Haar fiel ihr bis auf die halb entblößten Schultern. Ein freundliches Lächeln lag auf ihrem zartgeschnittenen Gesicht mit den ausdrucksstarken Augen, deren ungewöhnliche Farbe den Anwalt stets an Smaragde erinnerte. Ihnen konnte ein Mann nur allzu leicht verfallen.
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange warten lassen, Mister Hutchinson«, sagte Jessica bei ihrem Eintreten und fügte entschuldigend hinzu: »Ich saß schon in der Kutsche, als mein Geschäftsführer mich noch einmal aufhielt.«
Er nahm ihre Hand mit einem warmherzigen Lächeln. »Aber Missis Brading! Auf eine Frau wie Sie wartet doch jeder Mann mit dem größten Vergnügen«, machte er ihr ein Kompliment, das von Herzen kam. Sie zog leicht spöttisch die Augenbrauen hoch. »Wenn Sie mir Komplimente machen, kommt mich das meistens teuer zu stehen«, erwiderte sie betont munter, obwohl ihr in Wirklichkeit gar nicht danach zumute war. Aber was half es, wenn sie ihre Sorgen und Kümmernisse offen zur Schau trug? Dinge, die sich nicht ändern ließen, musste man mit Anstand tragen, so schwer es einem auch fallen mochte. Sie war noch nie vor der Verantwortung geflüchtet und würde es auch diesmal nicht tun. Zudem war sie sich des geschäftlichen Risikos, das sie eingegangen war, ja von Anfang an bewusst gewesen.
»Sie tun mir in höchstem Maße unrecht«, gab er sich betroffen, während jedoch ein Lächeln seine Mundwinkel umspielte. »Es mag Kunden geben, die für Schmeicheleien empfänglich sind und sie nicht mit einer widersprüchlichen Wirklichkeit in Einklang zu setzen vermögen. Doch zu diesen gehören Sie wahrhaftig nicht. Außerdem sind Schmeicheleien bei Ihnen völlig fehl am Platz, dafür hat die Natur schon auf bezaubernde Weise Sorge getragen, Missis Brading.«
Jessica lachte belustigt auf und nahm auf dem gepolsterten Sessel vor seinem Schreibtisch Platz. Sie mochte William Hutchinson, einen Mann Anfang fünfzig, und schätzte ihn als Anwalt und Berater. Dabei sah er nicht so aus, als verstünde er etwas von seinem Gewerbe. Hager, blassgesichtig, mit den Hamsterbacken und dem verschleierten Blick einer müden Eule, machte er vielmehr den Eindruck eines kraftlosen, unfähigen Mannes, dem man bestenfalls Routinesachen anvertrauen konnte. Zudem hegte er eine Vorliebe für schwarze, schlecht sitzende Anzüge, was seinem äußeren Erscheinungsbild eine zusätzlich wenig vertrauenserweckende Note gab. In Wirklichkeit nannte William Hutchinson jedoch einen messerscharfen Verstand sein Eigen, zu dem sich bestes fachliches Wissen, ein wacher Geschäftssinn sowie eine ausgezeichnete Menschenkenntnis gesellten.
»Nun, was haben Sie bei Mister Jarway erreicht?«, erkundigte sich Jessica, ohne sich mit langen Vorreden aufzuhalten. Clive Jarway war im Kreditgewerbe tätig, und sie hatte den Anwalt beauftragt, ihm ihre zwanzigprozentige Beteiligung an dem Walfänger Pacific zum Kauf anzubieten.
»Er ist bereit, die Beteiligung zu übernehmen«, begann William Hutchinson. Jessica verzog das Gesicht. »Das wundert mich nicht. Immerhin sind zweitausend Pfund für einen Fünftel-Anteil an einem stattlichen Walfänger wirklich spottbillig. Eigentlich hätte ich das Doppelte verlangen müssen. Denn dass wir damals so billig an unsere Beteiligung gekommen sind, verdanken wir ja einem Glücksfall«, sagte sie.
Der Anwalt, der sich in derselben Höhe an der Pacific beteiligt hatte, nickte mit bedrücktem Gesichtsausdruck. »Sie haben recht, Missis Brading, viertausend wären immer noch ein gutes Geschäft, aber ...« Er zögerte.
Jessica furchte die Stirn. Seine Miene verriet nichts Gutes. Unwillkürlich zog sich ihr der Magen zusammen. »Aber was?«, fragte sie.
»Er bietet Ihnen noch nicht einmal mehr die zweitausend, sondern nur fünfzehnhundert«, übermittelte er ihr das Angebot des Geldverleihers.
»Fünfzehnhundert! Das kann er doch nicht machen! Da kann ich meine Beteiligung ja auch gleich verschenken!«, empörte sie sich.
Er hob in einer Gebärde der Ohnmacht Hände und Schultern. »Es tut mir leid, aber mehr will er nicht zahlen. Ich habe ihm nach besten Kräften zugesetzt, konnte ihn jedoch nicht zu einer höheren Summe bewegen. Schiffsbeteiligungen wären immer ein hohes Risiko, erklärte er, zumal bei Walfängern. Da hänge viel vom Glück ab, wie schnell das Schiff auf Wale stoße und wie gut die Harpunierer seien.«
»Aber bei zweitausend Pfund für ein Fünftel Gewinn ist das doch dummes Geschwätz! Besonders bei der Pacific, die erst vor ein paar Jahren vom Stapel gelaufen ist und mit Samuel Morgan einen mehr als gut beleumundeten Captain hat! Allein der Profit aus einer einzigen erfolgreichen Fahrt kann sich auf zehntausend Pfund und mehr belaufen! Von wegen Risiko! Man muss nur warten können!«, erregte sie sich.
»Wem sagen Sie das«, seufzte der Anwalt. »Dasselbe habe ich ihm mehr als einmal und in aller Ausführlichkeit vorgehalten. Aber es hat nichts gefruchtet. Über fünfzehnhundert geht er nicht hinaus.«
»Verdammter Halsabschneider!«, stieß Jessica wütend hervor. »Für fünfzehnhundert verkaufe ich nicht!«
Er warf ihr einen mitfühlenden Blick zu, denn er wusste, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als Clive Jarways Angebot anzunehmen. »Wenn es meine finanziellen Verhältnisse erlauben würden, würde ich nicht zögern, Ihnen einen Kredit über zweitausend Pfund auf Ihre Beteiligung einzuräumen. Aber bedauerlicherweise kann ich im Augenblick nur über wenige hundert Pfund disponieren.«
Sie machte eine ungehaltene Geste. »Ihre Hilfsbereitschaft steht hier nicht zur Debatte.«
»Dennoch bedaure ich es, denn in diesem Fall ließe sich Hilfsbereitschaft mit einem guten Geschäft verbinden.«
»Mister Jarway hat mir zwar einen Kredit eingeräumt, aber die Rückzahlung ist erst im nächsten Jahr fällig! Er soll nur nicht glauben, ich müsste an ihn verkaufen!«, sagte sie grimmig. »Wir werden schon einen anderen Interessenten finden, der einen fairen Preis zu zahlen bereit ist.«
Hutchinson nickte bedächtig. »Das wäre theoretisch durchaus möglich«, räumte er ein. Jessica blieb der Vorbehalt in der Stimme des Anwalts nicht verborgen.
»Aber aus irgendeinem Grund ziehen Sie diese Alternative nicht in Betracht, nicht wahr?«, fragte sie und ahnte bereits, dass es mit den schlechten Nachrichten noch kein Ende hatte. »Was haben Sie mir denn noch mitzuteilen, Mister Hutchinson? Nur heraus damit! Ich bin in letzter Zeit an Hiobsbotschaften gewöhnt. « Bitterkeit sprach aus ihrer Stimme.
Der Anwalt griff zu einem Stück Siegellack und betrachtete es eingehend, als erhoffte er sich davon eine Offenbarung, die ihn davor bewahrte, ihr eine weitere schlechte Nachricht zu überbringen. »Mister Jarway ist ein gut informierter Mann und neben mir und Ihrem Verwalter, Mister McIntosh, vermutlich der Einzige, der weiß, wie prekär Ihre finanzielle Situation ist. Dass dieses Verbrecherpack, das Mister Hawkley angeheuert hatte, mehrere tausend Schafe auf Seven Hills abgeschlachtet und zudem den gesamten Hof niedergebrannt hat, war ihm lange bekannt. Und über Ihr sehr kostspieliges Unternehmen hier in Sydney, die Errichtung eines großen Geschäftshauses, war er ebenfalls unterrichtet ...«
»Natürlich!«, fiel sie ihm ungeduldig ins Wort. »Deshalb bat ich ihn ja auch um einen kurzfristigen Kredit. Der Neubau und der Ankauf von genügend Waren haben eine Menge Geld verschlungen.« Hutchinson nickte. »In der Tat. Aber dennoch hätten Sie Brading's gewiss halten können, wenn die Comet mit ihrer Ladung von zwanzig Tonnen bester Wolle Sydney sicher erreicht hätte. Mit dem Erlös hätten Sie Ihre Kredite zurückzahlen und Ihren anderen finanziellen Verbindlichkeiten gerecht werden können«, fuhr er bedrückt fort. »Doch das Schicksal wollte es anders. Der Schoner ist an einem Riff zerschellt und samt der kostbaren Fracht gesunken. Und diesen Verlust können Sie nicht ohne Weiteres wegstecken. Sie befinden sich jetzt in einer akuten Notlage, die Ihre Verhandlungsmöglichkeiten extrem einschränkt.«
»Sie erzählen mir damit nichts Neues«, sagte Jessica beherrscht. »Ich weiß, dass ich das Geschäft in Sydney nicht halten kann.«
Der Anwalt sah ihr offen ins Gesicht. »Und Mister Jarway weiß es auch. Das ist die schlechte Nachricht, die ich Ihnen mitteilen muss. Denn dass Sie das Haus samt dem neuen Geschäft erst im nächsten Jahr zu verkaufen gedenken, hatten wir ja noch einige Zeit geheim halten wollen, da wir auf einen guten Umsatz und damit auf eine starke Verhandlungsposition spekuliert haben. Damit ist es nun vorbei. Mister Jarway wittert ein blendendes Geschäft, und er hat seine Krallen schon in Ihrem Fleisch, wenn ich mir diesen drastischen Vergleich erlauben darf. Aber als Ihr Anwalt ist es meine Pflicht, Ihnen reinen Wein einzuschenken.«
Jessica wurde blass, denn ihr dämmerte, was hinter seinen Worten lag. »Wollen Sie damit sagen, dass er nicht nur meine Beteiligung an der Pacific will, sondern auch Brading's?«, fragte sie mit belegter Stimme.
Er nickte. »Ja, so verhält es sich. Er will beides - oder gar nichts. Und ich fürchte, Sie werden ihm beides überlassen müssen. «
Sie lachte freudlos auf. »Das hätte er vielleicht gerne! Doch er kann mich nicht zwingen, an ihn zu verkaufen - und er kann schon gar nicht den Zeitpunkt bestimmen!«
»Einerseits ist das richtig, doch andererseits auch wieder nicht«, entgegnete der Anwalt. »Sicherlich liegt es in Ihrer freien Entscheidung, wann und an wen Sie verkaufen. Doch Mister Jarway kann Ihnen die Daumenschrauben anlegen und Sie zum großen Verlierer machen, auch ohne letztlich der Käufer zu sein.«
»Und wie will er das anstellen?«
»Indem er Ihnen keine Zeit lässt, das Geschäft der nächsten Wochen abzuwarten und in aller Ruhe einen seriösen Käufer zu finden. Er hat mir unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er sein Wissen nicht länger für sich behalten, sondern es in den entsprechenden Kreisen verbreiten wird«, erläuterte er das geplante Vorgehen von Clive Jarway. »Welche Folgen das hat, können Sie sich ja vorstellen. New South Wales ist eine kleine Kolonie, und die Zahl möglicher Aufkäufer für ein Objekt dieser Art ist dementsprechend gering. Wenn nun bekannt wird, dass Ihnen das Wasser bis zum Hals steht und Sie in wenigen Monaten nicht einmal mehr in der Lage sind, Ihre fälligen Kredite zu zahlen, wird das unweigerlich dazu führen, dass man Sie so lange zappeln lassen wird, bis Sie jeden Kaufpreis akzeptieren.«
»Dieses Schwein!«, zischte Jessica.
»Eine passende Bezeichnung für menschliche Aasgeier seiner Art«, pflichtete er ihr bei. »Nur ändert das nichts an den Tatsachen, Missis Brading. Clive Jarway hat die besseren Karten in der Hand. Wenn Sie das Geschäft nicht mit ihm machen, wird Ihr Verlust um einiges größer ausfallen, als wenn Sie mit ihm handelseinig werden. Unter diesen erpresserischen Umständen ist sein Angebot fast noch großzügig zu nennen. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch! Ich verabscheue seine Skrupellosigkeit, mit der er Sie unter Druck setzt und Ihre Situation auszunutzen gedenkt. Doch er bewegt sich dabei noch in gewissen Grenzen, die man akzeptieren kann - wenn auch mit einem Zähneknirschen. «
Jessica beherrschte ihren wilden Zorn. »Wie lautet sein Angebot? «, fragte sie knapp.
»Er bietet Ihnen, wie schon gesagt, fünfzehnhundert für Ihre Beteiligung an der Pacific sowie einen Kaufpreis für Brading's, der zwanzig Prozent unter den nachgewiesenen Baukosten liegt«, teilte Hutchinson ihr mit. »Das Warenlager übernimmt er.«
»Natürlich ebenfalls mit einem Nachlass von zwanzig Prozent, ja?«
Der Anwalt bestätigte ihre Vermutung durch ein Nicken. »Und er will die Beteiligung und das Geschäft - oder aber er wirft Sie der Meute zum Fraß vor, wie er sich wortwörtlich auszudrücken pflegte.« Jessica schwieg einen Augenblick. Das Geschäft aufgeben zu müssen, in das sie so viel Hoffnungen, Liebe und Arbeit gesteckt hatte, war bitter genug. Doch jetzt auch noch den halsabschneiderischen Forderungen eines Kredithais wie Clive Jarway ohnmächtig ausgeliefert zu sein, erschütterte sie zutiefst.
»Welche Wahl habe ich?«, wollte sie nach einer Weile bedrückenden Schweigens wissen. »Eigentlich gar keine«, nahm ihr Hutchinson jegliche Illusionen.
»Es sei denn, Sie ziehen es in Erwägung, Seven Hills erheblich zu belasten.«
»Ausgeschlossen!«, lehnte Jessica sofort und ohne eine Sekunde nachzudenken ab. »Die Farm werde ich nie und nimmer in die Waagschale werfen! Seven Hills ist mir wichtiger als alles andere! Ich habe meinem Mann noch in der Stunde seines Todes hoch und heilig versprochen, die Farm niemals in Gefahr zu bringen! Eines Tages soll mein Sohn Herr auf Seven Hills sein, und wenn es so weit ist, soll Edward eine blühende Farm ohne Belastungen übernehmen!«
»Ja, das habe ich mir gedacht«, sagte der Anwalt, der wusste, wie viel ihr Seven Hills bedeutete. Jessica war nicht nur eine schöne und mutige Frau, sondern zudem auch noch ungewöhnlich weitsichtig und geschäftstüchtig. Aber bei all ihren geschäftlichen Unternehmungen hatte sie doch nie aus den Augen verloren, was das wahre Zentrum ihrer Welt war - und das hieß Seven Hills. »Und eben deshalb haben Sie keine andere Wahl, als das Angebot anzunehmen. Er lässt Ihnen übrigens drei Tage Bedenkzeit. Wenn Sie den Vertrag, so wie er ihn bestimmt hat, dann nicht unterzeichnen, will er mit seiner Kampagne gegen Sie beginnen.«
»Mein Gott, drei Tage Galgenfrist!« Jessica ließ die Schultern resigniert sinken und schaute auf ihre Hände, die ruhig in ihrem Schoß lagen. »Morgen eröffne ich Brading's, das erste Geschäft in New South Wales in dieser Größe und mit einem derartig weit gefächerten Warenangebot. Ich dachte immer, es würde ein unvergesslich aufregender und freudiger Tag sein«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Ja, wie sehr habe ich mich darauf gefreut, und nun ist es schon vorbei, noch bevor es richtig begonnen hat. Und wissen Sie, was mich besonders schmerzt?«
Er fragte nicht, sondern wartete. Es gab nichts, was er jetzt sagen konnte, um ihren Schmerz zu mildern. Sie musste allein damit fertigwerden. »Dass ich meinem Geschäftsführer das antun muss«, fuhr Jessica niedergeschlagen fort. »Glenn Pickwick hat genauso viel Anteil an dem, was wir gemeinsam aufgebaut haben - und was morgen dann doch in der Pitt Street sozusagen tot geboren wird. Ohne ihn hätte ich vermutlich noch nicht einmal den kleinen Kolonialwarenladen halten können. Wie engagiert er sich eingesetzt hat! Wissen Sie, Brading's ist auch sein Traum gewesen. Und er hat seine Constance ganz bewusst erst am heutigen Tag geheiratet, am Tag vor der Geschäftseröffnung. Wenn es auch nur eine ganz kleine, stille Feier war, so sollte es vom Tag her doch in zweifacher Hinsicht ein bedeutsames Datum sein. Das bleibt es wohl, wenn auch in negativem Sinne. Ich komme mir vor, als würde ich ihn verraten und seine Loyalität und seinen unermüdlichen Einsatz mit einem Fußtritt vergelten.«
Hutchinson räusperte sich, um seiner inneren Bewegung Herr zu werden. »Sie wissen, dass dem nicht so ist und von einem Verrat nun wirklich nicht die Rede sein kann. Auch ich schätze Mister Pickwick sehr, da er ein Mann von Charakter ist, und gerade deshalb wird er niemals so von Ihnen denken. Er wird vielmehr verstehen, dass Sie gar nicht anders handeln konnten und der Verkauf mit ihm nicht das Geringste zu tun hat. Zudem besteht ja die Hoffnung, dass Clive Jarway ihn in seiner jetzigen Position belässt.«
»Können wir das als Bedingung stellen?«
»Ich fürchte nein.«
»Richtig, ich befinde mich in einer Lage, in der ich noch nicht einmal das zur Bedingung machen kann«, stellte sie mit schmerzlicher Selbsterkenntnis fest. »Also gut, ich werde an Clive Jarway verkaufen. Möge ihn die Pest heimsuchen!«
»Er ist ein schändlicher Halsabschneider, daran gibt es nicht den geringsten Zweifel«, bekräftigte Hutchinson. »Doch versuchen Sie trotz der Bitterkeit, die dieser erzwungene Verkauf in Ihnen hervorrufen muss, die guten Seiten zu sehen.«
Jessica sah ihn verblüfft an und fragte dann sarkastisch: »Ach, ich soll Clive Jarway vielleicht auch noch dankbar sein, dass er mich der Sorge, wie das Geschäft denn nun anlaufen wird, großzügig enthebt?«
Eine leichte Röte stieg in sein Gesicht. »Nein, das meine ich ganz sicher nicht, Missis Brading. Ich bemühe mich nur, Sie ein wenig aufzumuntern. Dass Sie Brading's hergeben müssen, schmerzt Sie sehr, das weiß ich. Aber vergessen Sie nicht, dass Ihnen trotz des zwanzigprozentigen Nachlasses immer noch eine beträchtliche Summe Geldes bleibt. Damit können Sie eine Menge anfangen.«
Sie schüttelte den Kopf. »O nein, es reicht hinten und vorne nicht, um noch einmal von Neuem zu beginnen. Außerdem würde fast ein Jahr vergehen, bevor ich wieder ein Geschäft, und dann ein bedeutend kleineres, eröffnen könnte. Ich wäre damit keine ernstzunehmende Konkurrenz.«
»Ich dachte auch weniger an ein neues Geschäft in Sydney als an ein neues Schiff«, erwiderte der Anwalt. »Die Comet hat auf dem Hawkesbury doch gute Gewinne gebracht, und es läge, meine ich, nahe, diesen Frachtverkehr wieder aufzunehmen.«
»Ja, ein neuer Schoner wäre ein kleines Trostpflaster«, gab sie zu und erinnerte sich unwillkürlich daran, dass man mit dem erstklassigen Holz von Van Diemen's Land einen guten Profit machen konnte. Wenn sie sich ein neues Schiff zulegte, dann musste es diesmal ein etwas größeres sein als der behäbige Marssegelschoner. Es musste hochseetüchtig und für einen dauerhaften Pendelverkehr zwischen Sydney und der gut sechshundert Meilen entfernten Insel Van Diemen's Land einsatzfähig sein. Jessica wunderte sich im nächsten Moment, wie sie angesichts dieser niederschmetternden Kapitulation vor Clive Jarway solche Gedanken haben konnte. »Ich werde bei Gelegenheit mit Captain Rourke darüber sprechen.«
»Da Sie ihn erwähnen, wie geht es ihm überhaupt?«, erkundigte sich Hutchinson, insgeheim erleichtert, das Thema wechseln zu können.
»Sehr viel besser«, antwortete sie. »Seine Fußwunde heilt sehr gut. Doch er quält sich noch immer mit unsinnigen Selbstvorwürfen, als hätte er den Untergang der Comet zu verantworten, dabei lag er doch im Fieberdelirium, als seine Mannschaft beschloss, ohne einen erfahrenen Steuermann weiterzusegeln, um ihn zu einem Arzt zu bringen. Mein Gott, er sollte seinen Männern so dankbar sein wie ich, dass sie ihm das Leben gerettet haben!« Patrick Rourkes Wohlbefinden lag ihr sehr am Herzen, denn er war ihr in den Jahren, die sie als Geschäftspartner verbunden gewesen waren und auch in Zukunft noch sein würden, ein treuer Freund geworden, den sie nicht mal um den Preis von zehn Schiffen missen wollte.
Hutchinson lächelte. »Das freut mich zu hören. Und ich bin sicher, dass Mister Pickwick so über Sie sprechen wird wie Sie über Captain Rourke.«
Jessica erwiderte sein Lächeln müde. »Ich hoffe, Sie behalten recht«, sagte sie und erhob sich. »Ich denke, was es zu besprechen gab, haben wir geklärt. Setzen Sie den Vertrag mit Clive Jarway auf. Ich werde morgen kommen und ihn unterschreiben. Was nutzen mir drei Tage Bedenkzeit, wenn es nichts mehr zu bedenken gibt.«
Der Anwalt stemmte sich mit einem Stoßseufzer aus seinem Lehnstuhl. »Nun ja, er ist zweifellos ein Mistkerl, aber er lässt Sie mit einem blauen Auge davonkommen.«
»Richtig, es sind die kleinen Freuden des Lebens, derer wir uns mehr besinnen sollten, nicht wahr?«, erwiderte Jessica bissig.
Hutchinson führte sie zur Tür und schaffte es doch tatsächlich, sie zum Abschied noch zu einem herzhaften Lachen zu bringen, als er sagte: »Es kommen auch wieder andere Zeiten, Missis Brading, seien Sie versichert. Wenn es auf Ihre Person Aktien gäbe, ich würde all mein Geld in Sie investieren und mich noch bis über beide Ohren verschulden.«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von Ashley Carrington
Mit einer Gesamtauflage in Deutschland von fast 6 Millionen zählt Rainer M. Schröder, alias Ashley Carrington, zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftstellern von Jugendbüchern sowie historischen Gesellschaftsromanen für Erwachsene. Letztere erscheinen seit 1984 unter seinem zweiten, im Pass eingetragenen Namen Ashley Carrington.Rainer M. Schröder lebt Atlanta in den USA.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ashley Carrington
- 2013, 1, 304 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863650247
- ISBN-13: 9783863650247
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