Kalter Mond
Ein bizarrer Ritualmord in den kanadischen Wäldern schockiert die Polizei von Algonquin Bay. Detective John Cardinal und seine Kollegin Lise Delorme tappen im Dunkeln. Kurz darauf taucht eine junge Frau auf, die sich merkwürdig benimmt. Offenbar weiß sie...
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Ein bizarrer Ritualmord in den kanadischen Wäldern schockiert die Polizei von Algonquin Bay. Detective John Cardinal und seine Kollegin Lise Delorme tappen im Dunkeln. Kurz darauf taucht eine junge Frau auf, die sich merkwürdig benimmt. Offenbar weiß sie weder wer, noch wo sie ist. Der vom Barkeeper gerufene Cardinal bringt sie ins Krankenhaus, wo ihr eine Kugel aus dem Kopf entfernt wird. Ein Wunder, dass die Frau noch lebte. Die Kugel kann einem gestolenen Colt zugeordnet werden und die weiteren Ermittlungen ergeben eine überraschende Verbindung zu dem Mordfall.
Der ehemalige Streetworker, Gerichtsdiener und Barkeeper gilt inzwischen als Kanadas Thrillerautor Nr.1. Mit "gefrorene Seelen" und "Blutiges Eis" gelangen ihm internationale Bestseller. "Kalter Mond" ist bereits der dritte Fall für Detective John Cardinal - der bisher spannendste!
Kalter Mond von Giles Blunt
LESEPROBE
Wer schoneinmal, egal, wie lange, in Algonquin Bay gewesen ist, dem fallen viele Gründedafür ein, weshalb man besser woanders leben sollte. Zunächst einmal dieEntfernung von der zivilisierten Welt, worunter Kanadier Toronto, etwazweihundertfünfzig Meilen im Süden, verstehen. Dann der schleichende Verfall deseinstmals schmucken Zentrums - Opfer der doppelten Plage vorstädtischerEinkaufszentren und einer unglücklichen Serie von Bränden. Schließlich diestrengen, schneereichen und langen Winter. Es kommt nicht selten vor, dass dieklirrende Kälte sich bis in den April hineinzieht, und die letzten Schneefällegibt es oft im Mai.
Nicht zuvergessen die Kriebelmücken. Jedes Jahr brechen aus den Betten zahlloser Flüsseund Bäche im nördlichen Ontario Schwärme von Kriebelmücken hervor, um sich amBlut von Vögeln, Vieh und anderen Bewohnern rund um Algonquin Bay zu laben.Dafür sind sie hervorragend ausgestattet.
Auch wenndie Kriebelmücke nur einen halben Zentimeter misst, so ähnelt sie doch starkeinem Kampfhubschrauber, mit je einem Saugrüssel und einem fiesen kleinen Hakenvorne und hinten. Schon eine einzige dieser Kreaturen kann einem Menschen übelmitspielen. Ein ganzer Schwarm davon kann ihn schnell in den Wahnsinn treiben.Die World Tavern war an diesem Freitag vielleicht nicht gerade der Wahnsinn,doch der Barkeeper Blaine Styles hatte eine leise Ahnung, dass es Problemegeben würde. Die Kriebelmückensaison brachte nicht unbedingt das Beste in denMenschen hervor, zumindest nicht in denen, die tranken. Blaine war sich zwarnicht hundertprozentig sicher, aus welcher Ecke der Ärger kommen würde, doch esgab ein paar Kandidaten. Da war schon mal das Deppen-Trio an der Bar - ein Kerlnamens Regis und seine beiden Freunde in Baseballkappen, Bob und Tony. Sietranken still vor sich hin, hatten aber ein bisschen zu lange mit Darla, derKellnerin geflirtet, und sie legten eine Rastlosigkeit an den Tag, die fürspäter nichts Gutes versprach. Und dann der Tisch hinten unter der Karte vonAfrika. Sie hatten seit Stunden Bier gepichelt. Mäßig, aber regelmäßig.Schließlich dieses Mädchen, diese Rothaarige, die Blaine noch nie gesehenhatte, die sich langsam von Tisch zu Tisch bewegte, und zwar auf eine Weise,die er - aus beruflicher Sicht - beunruhigend fand.
EineFlasche Labatt Blue flog durch den Raum und traf die Karte von Kanada direktüber Neufundland. Blaine schoss hinter dem Tresen hervor und setzte denBesoffenen, der sie geworfen hatte, vor die Tür, bevor der auch nur einenMuckser herausbrachte. Es machte Blaine zu schaffen, dass er den Zwischenfallnicht einmal hatte kommen sehen. Der Blödmann hatte mit ein paar anderen Typenin Lederjacken unter Frankreich gesessen, und Blaines Radarschirm hatte ihnnicht einmal erfasst. In der World Tavern, der ältesten Spelunke von AlgonquinBay, konnte es, besonders in der Kriebelmückensaison, an einem Freitagabendschon mal brenzlig werden, und Blaine zog lieber beizeiten die Grenze.
Er kehrtewieder hinter den Tresen zurück und schenkte ein paar Krüge für den Tisch beider Afrikakarte ein - an dem es, wie er feststellte, eine Idee lauter wurde.Als Nächstes hielt ihn eine Bestellung von sechs Continental und ein paareisgekühlten Margaritas auf Trab. Danach konnte er ein bisschen verschnaufen.Er stellte den Fuß auf einen Bierkasten, um seinen Rücken zu entlasten, währender ein paar Gläser spülte. Heute Abend waren kaum Stammgäste zu sehen; er warfroh. Fernsehserien versuchten einem immer weiszumachen, die Stammgäste ineiner Bar seien Exzentriker mit einem Herzen aus Gold, doch nach BlainesErfahrung waren sie einfach nur hoffnungslose Spastis mit einem ernsten Problemin Sachen Selbstvertrauen. Weiter als bis zu den fleckigen,schellacküberzogenen Karten an den Wänden der World Tavern würden diese Leutevermutlich nie über Algonquin Bay hinausgelangen.
JerryCommanda saß, seine übliche Cola light mit einem Spritzer Zitronensaft in derHand, am Ende der Bar und las in seinem Maclean s. Ein bisschen rätselhaft,dieser Jerry. Im Großen und Ganzen konnte Blaine ihn ganz gut leiden, obwohl erein Stammkunde war - jedenfalls respektierte er ihn, auch wenn er mit demTrinkgeld knauserte. Jerry war mal ein schwerer Trinker gewesen - keinhoffnungsloser Säufer, aber doch ein schwerer Trinker. Hatte damit angefangen,als er noch an der Highschool war, und so weitergemacht bis irgendwann Anfangzwanzig. Dann hatte ihn irgendetwas ausgenüchtert, und er rührte keinen TropfenAlkohol mehr an. Fünf, sechs Jahre hatte er keinen Fuß mehr in eine Bargesetzt. Aber auf einmal hatte er damit angefangen, freitagabends in die WorldTavern zu kommen und seinen knöchernen Hintern ans Ende der Bar zu schieben.Von da aus hatte man einen guten Überblick. Blaine hatte ihn einmal gefragt,wie er von der Flasche losgekommen sei, ob er es mit den zwölf Schritten der AAgeschafft hätte. »Konnte die zwölf Schritte nicht verknusen«, sagte Jerry.»Genauso wenig wie diese Treffen. Wo sie alle davon quatschen, wie hilflos siesind, und dann Gott weiß wen bitten, ihnen aus der Bredouille zu helfen.« Jerrybenutzte ab und zu solche Begriffe, obwohl er erst um die vierzig war.Altmodische Wörter wie verknusen, Bredouille oder Bursche oder zänkisch. »Aberals ich erst mal kapiert hatte, dass ich mit Denken aufhören muss, war esziemlich leicht, den Alkohol aufzugeben.« »Niemand kann mit Denken aufhören«,hatte Blaine gesagt. »Denken ist wie Atmen. Oder Schwitzen. Das tut man vonselbst.« Daraufhin ließ Jerry einen abwegigen psychologischen Kokolores vomStapel. Sagte, sicher, man könne die Gedanken nicht daran hindern zu kommen,aber man könne anders mit ihnen umgehen, Ausweichmanöver finden. Blaineerinnerte sich genau an seine Worte, weil Jerry vierfacher Kickbox-Meister vonOntario gewesen war und, als er von Ausweichmanövern sprach, das Gemeinte miteiner wendigen Bewegung unterstrich, die, na ja, irgendwie gekonnt aussah.
JerryCommanda hatte also gelernt, seinen Gedanken aus dem Weg zu gehen, und dashatte zur Folge, dass er sich jeden Freitagabend mit seiner Cola light und demZitronenspritzer für eine Stunde oder so am Ende der Bar aufpflanzte. Blaine hegteden Verdacht, dass er damit nicht zuletzt ein paar der Jungs aus dem Reservatdaran hindern wollte, allzu tief ins Glas zu schauen. Ziemlich schwierig fürsie, sich gehen zu lassen, wenn Jerry an der Bar hockte, seine Zeitschrift lasund seine Cola schlürfte. Ein paar von denen brauchten ihn nur zu sehen, undschon machten sie einen Abgang.
Blaines müder Barkeeper-Blickschweifte über sein Reich. Am Afrikatisch ging es eindeutig ziemlich hoch her.Hoch her war ja in Ordnung, aber zum Überschwappen durfte es nicht kommen.Blaine legte den Kopf schief und horchte auf die üblichen Zeichen - barscheDrohungen und das empörte Gebrüll, das unweigerlich auf das Ratschen derStuhlbeine folgte. Von dem Flaschenwerfer einmal abgesehen, schien es jedochein friedlicher Abend zu sein. Dem Flaschenwerfer und diesem Mädchen.
Blaine warf einen kurzen Blick indie entfernteste Ecke hinter der Jukebox. Es blitzte rot auf. Die Kleine hattedichte rote Locken, die bei jeder Kopfbewegung in die eine oder andere Richtungwippten, so dass sich das Licht darin fing. Sie trug von oben bis unten blauenDenim - gute Jeans, kurze, eng anliegende Jacke -, die Klamotten waren okay,auch wenn es so aussah, als hätte sie drin geschlafen. Wieso wanderte sie voneinem Tisch zum anderen? Das war schon der dritte, an dem sie in den letztenanderthalb Stunden gesessen hatte. Zwei Frauen und zwei Männer,Postangestellte, für deren Verhältnisse es ein bisschen spät geworden war; ganzoffensichtlich fanden die beiden Frauen es überhaupt nicht amüsant, wie sichdie Kleine in Jeans an ihrem Tisch dazwischendrängelte. Die Kerle dagegenschienen nicht das Geringste dagegen zu haben.
»Drei Blue, ein Creemore, einenWodka Tonic.« Blaine holte vier Flaschen Bier aus dem Eis und stellte sie Darlaaufs Tablett. »Was ist mit dem Rotschopf los, Darla? Was trinkt die Kleine?«»Nichts, soweit ich weiß. Der letzte Tisch hat ihr einen spendiert, um mit ihranzustoßen, aber sie hat nicht ausgetrunken. « Blaine goss einen Wodka ein undstellte ihn zu den Bierflaschen. Darla füllte das Glas mit Soda aus dem Siphonauf. »Ist sie high? Wieso hüpft sie von einem Tisch zum anderen?« »KeineAhnung, Blaine. Vielleicht macht sie irgendwelche Geschäfte.« Darla hievte ihrTablett auf die Schulter und stürzte sich wieder in den Zoo, wie sie es nannte.»Chef!« Blaine drehte sich zu dem Trio am Tresen um. Der Typ namens Regis warein alter Bekannter von der Highschool, er schaute vielleicht zweimal im Jahrvorbei. Seine Freunde mit den Baseballkappen waren neu. Wenn dich einer Chefnennt, dann weißt du, dass er dir gleich auf die eine oder andere Art lästigwird.
»Hey, Blaine«, sagte Regis. »Wannverrätst du uns, was sie mit deinem Gesicht gemacht haben, Mann?« »Ja«, sagteeine der Baseballkappen. »Du siehst wie ein Chinese aus.« »War Sonntag mit demKanu draußen. Die Kriebelmücken waren in Hochform.« »Die Mücke muss n Elefantgewesen sein, Mann. Siehst aus wie n Sumoringer.« Die ganze Woche bekam er nunschon zu hören, er sähe wie ein Sumoringer aus. Um diese Jahreszeit waren dieMücken immer eine Plage, aber so hatte sie Blaine noch nie erlebt. Millionenvon den Viechern in Schwärmen wie riesige, schwarze Wolken. Er hatte dieüblichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, eine Kappe aufgesetzt, die Hosenbeine indie Socken gestopft, aber die Schwärme waren so dicht, dass man nicht mal Luftholen konnte, ohne sie einzuatmen. Die kleinen Biester waren ganz und garverzückt von ihm und stachen
ihn im ganzen Gesicht. BisMontagmorgen waren seine Augen so zugeschwollen, dass er nichts mehr sehenkonnte. Er tippte die drei Bier in die Kasse ein. Als er sich wieder umdrehte,stand der Rotschopf plötzlich da. »Hallo«, sagte die Kleine und kletterte aufeinen Hocker. »Was darf s denn sein?« »Einfach nur Wasser wäre nett. Bier scheint mir nicht zu bekommen.«Blaine goss ihr ein Glas Eiswasser ein und stellte es auf eine Serviette. »Siesind aber groß.« »Kann mich nicht beklagen.« Blaine räumte hinter der Bar einpaar Gläser weg. »Sie scheinen ein netter Kerl zu sein.« Blaine lachte. DerRotschopf war schätzungsweise Mitte zwanzig, mit einer Menge Sommersprossen imGesicht. Sie hatte wirklich das vollste, lockigste Haar, das ihm jeuntergekommen war. Schien sich allerdings nicht sonderlich zu pflegen. WieBlaine hatte auch sie eine Menge Mückenstiche, und in ihren Haaren stecktenkleine Stücke von Blättern.
»Wie heißen Sie?«, fragte sie.»Blaine.« »Blaine? Das ist ein hübscher Name.« »Wenn Sie meinen. Und Sie?« »Ichweiß nicht, um ehrlich zu sein. Ist das nicht seltsam?« Blaine hatte einkomisches Gefühl in der Magengegend. Das Mädchen wirkte nicht high; ihre Artwar freundlich und ruhig. Sie rutschte jetzt von ihrem Hocker und ging zu Regisund seinen Baseballkumpeln hinüber. »Ihr seht nett aus.« »Aber hallo«, sagteRegis. »Sie sind auch nicht ohne. Dürfen wir Ihnen einen Drink spendieren?«»Nein, danke. Ich hab keinen Durst.« »Chef! Ein Molson für die junge Damehier.« »Kann ich nicht machen«, antwortete Blaine. »Sie sagt, sie will nicht.«»Danke vielmals, Blaine. Du mich auch.« Regis schob den Arm über die Theke undschnappte sich eins der Gläser, die dort auf dem Ständer zum Trocknen standen.Er goss von seinem Bier ein und reichte es der Rothaarigen. »Danke. Wirklichnett von Ihnen.« Sie nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Blaine nahm ihrGlas Wasser von der Bar und stellte es ihr hin. »Oh, danke, echt nett.«
© DroemerKnaur
Übersetzung:Anke Kreutzer
- Autor: Giles Blunt
- 2007, 1, 436 Seiten, Maße: 13 x 19,3 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828987400
- ISBN-13: 9783828987401
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