Kalter Mond
In einer Höhle in den Wäldern von Alonquin Bay wird eine Leiche gefunden. Das grausige daran ist, dass die Höhle mit jeder Menge Zeichen versehen ist und der Leiche Hände und Füße abgetrennt wurden. Detective Cardinal und...
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Produktinformationen zu „Kalter Mond “
In einer Höhle in den Wäldern von Alonquin Bay wird eine Leiche gefunden. Das grausige daran ist, dass die Höhle mit jeder Menge Zeichen versehen ist und der Leiche Hände und Füße abgetrennt wurden. Detective Cardinal und seine Kollegin Lise Delorme haben zunächst keinen Anhaltspunkt. Aber dann führt eine Spur zu einem mysteriösen indianischen Schamanen.
Lese-Probe zu „Kalter Mond “
Kalter Mond von Giles Blunt1
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Wer schon einmal, egal, wie lange, in Algonquin Bay gewesen ist, dem fallen viele Gründe dafür ein, weshalb man besser woanders leben sollte. Zunächst einmal die Entfernung von der zivilisierten Welt, worunter Kanadier Toronto, etwa zweihundertfünfzig Meilen im Süden, verstehen. Dann der schleichende Verfall des einstmals schmucken Zentrums - Opfer der doppelten Plage vorstädtischer Einkaufszentren und einer unglücklichen Serie von Bränden. Schließlich die strengen, schneereichen und langen Winter. Es kommt nicht selten vor, dass die klirrende Kälte sich bis in den April hineinzieht, und die letzten Schneefälle gibt es oft im Mai.
Nicht zu vergessen die Kriebelmücken. Jedes Jahr brechen aus den Betten zahlloser Flüsse und Bäche im nördlichen Ontario Schwärme von Kriebelmücken hervor, um sich am Blut von Vögeln, Vieh und anderen Bewohnern rund um Algonquin Bay zu laben. Dafür sind sie hervorragend ausgestattet. Auch wenn die Kriebelmücke nur einen halben Zentimeter misst, so ähnelt sie doch stark einem Kampfhubschrauber, mit je einem Saugrüssel und einem fiesen kleinen Haken vorne und hinten. Schon eine einzige dieser Kreaturen kann einem Menschen übel mitspielen. Ein ganzer Schwarm davon kann ihn schnell in den Wahnsinn treiben.
Die World Tavern war an diesem Freitag vielleicht nicht gerade der Wahnsinn, doch der Barkeeper Blaine Styles hatte eine leise Ahnung, dass es Probleme geben würde. Die Kriebelmückensaison brachte nicht unbedingt das Beste in den Menschen hervor, zumindest nicht in denen, die tranken. Blaine war sich zwar nicht hundertprozentig sicher, aus welcher Ecke der Ärger kommen würde, doch es gab ein paar Kandidaten.
Da war schon mal das Deppen-Trio an der Bar - ein Kerl namens Regis und seine beiden Freunde in Baseballkappen, Bob und Tony. Sie tranken still vor sich hin, hatten aber ein bisschen zu lange mit Darla, der Kellnerin geflirtet, und sie legten eine Rastlosigkeit an den Tag, die für später nichts Gutes versprach. Und dann der Tisch hinten unter der Karte von Afrika. Sie hatten seit Stunden Bier gepichelt. Mäßig, aber regelmäßig. Schließlich dieses Mädchen, diese Rothaarige, die Blaine noch nie gesehen hatte, die sich langsam von Tisch zu Tisch bewegte, und zwar auf eine Weise, die er - aus beruflicher Sicht - beunruhigend fand.
Eine Flasche Labatt Blue flog durch den Raum und traf die Karte von Kanada direkt über Neufundland. Blaine schoss hinter dem Tresen hervor und setzte den Besoffenen, der sie geworfen hatte, vor die Tür, bevor der auch nur einen Muckser herausbrachte. Es machte Blaine zu schaffen, dass er den Zwischenfall nicht einmal hatte kommen sehen. Der Blödmann hatte mit ein paar anderen Typen in Lederjacken unter Frankreich gesessen, und Blaines Radarschirm hatte ihn nicht einmal erfasst. In der World Tavern, der ältesten Spelunke von Algonquin Bay, konnte es, besonders in der Kriebelmückensaison, an einem Freitagabend schon mal brenzlig werden, und Blaine zog lieber beizeiten die Grenze.
Er kehrte wieder hinter den Tresen zurück und schenkte ein paar Krüge für den Tisch bei der Afrikakarte ein - an dem es, wie er feststellte, eine Idee lauter wurde. Als Nächstes hielt ihn eine Bestellung von sechs Continental und ein paar eisgekühlten Margaritas auf Trab. Danach konnte er ein bisschen verschnaufen. Er stellte den Fuß auf einen Bierkasten, um seinen Rücken zu entlasten, während er ein paar Gläser spülte.
Heute Abend waren kaum Stammgäste zu sehen; er war froh. Fernsehserien versuchten einem immer weiszumachen, die Stammgäste in einer Bar seien Exzentriker mit einem Herzen aus Gold, doch nach Blaines Erfahrung waren sie einfach nur hoffnungslose Spastis mit einem ernsten Problem in Sachen Selbstvertrauen. Weiter als bis zu den fleckigen, schellacküberzogenen Karten an den Wänden der World Tavern würden diese Leute vermutlich nie über Algonquin Bay hinausgelangen.
Jerry Commanda saß, seine übliche Cola light mit einem Spritzer Zitronensaft in der Hand, am Ende der Bar und las in seinem Maclean's. Ein bisschen rätselhaft, dieser Jerry. Im Großen und Ganzen konnte Blaine ihn ganz gut leiden, obwohl er ein Stammkunde war - jedenfalls respektierte er ihn, auch wenn er mit dem Trinkgeld knauserte.
Jerry war mal ein schwerer Trinker gewesen - kein hoffnungsloser Säufer, aber doch ein schwerer Trinker. Hatte damit angefangen, als er noch an der Highschool war, und so weitergemacht bis irgendwann Anfang zwanzig. Dann hatte ihn irgendetwas ausgenüchtert, und er rührte keinen Tropfen Alkohol mehr an. Fünf, sechs Jahre hatte er keinen Fuß mehr in eine Bar gesetzt. Aber auf einmal hatte er damit angefangen, freitagabends in die World Tavern zu kommen und seinen knöchernen Hintern ans Ende der Bar zu schieben. Von da aus hatte man einen guten Überblick.
Blaine hatte ihn einmal gefragt, wie er von der Flasche losgekommen sei, ob er es mit den zwölf Schritten der AA geschafft hätte.
»Konnte die zwölf Schritte nicht verknusen«, sagte Jerry. »Genauso wenig wie diese Treffen. Wo sie alle davon quatschen, wie hilflos sie sind, und dann Gott weiß wen bitten, ihnen aus der Bredouille zu helfen.« Jerry benutzte ab und zu solche Begriffe, obwohl er erst um die vierzig war. Altmodische Wörter wie verknusen, Bredouille oder Bursche oder zänkisch. »Aber als ich erst mal kapiert hatte, dass ich mit Denken aufhören muss, war es ziemlich leicht, den Alkohol aufzugeben.«
»Niemand kann mit Denken aufhören«, hatte Blaine gesagt. »Denken ist wie Atmen. Oder Schwitzen. Das tut man von selbst.«
Daraufhin ließ Jerry einen abwegigen psychologischen Kokolores vom Stapel. Sagte, sicher, man könne die Gedanken nicht daran hindern zu kommen, aber man könne anders mit ihnen umgehen, Ausweichmanöver finden. Blaine erinnerte sich genau an seine Worte, weil Jerry vierfacher KickboxMeister von Ontario gewesen war und, als er von Ausweichmanövern sprach, das Gemeinte mit einer wendigen Bewegung unterstrich, die, na ja, irgendwie gekonnt aussah.
Jerry Commanda hatte also gelernt, seinen Gedanken aus dem Weg zu gehen, und das hatte zur Folge, dass er sich jeden Freitagabend mit seiner Cola light und dem Zitronenspritzer für eine Stunde oder so am Ende der Bar aufpflanzte. Blaine hegte den Verdacht, dass er damit nicht zuletzt ein paar der Jungs aus dem Reservat daran hindern wollte, allzu tief ins Glas zu schauen. Ziemlich schwierig für sie, sich gehen zu lassen, wenn Jerry an der Bar hockte, seine Zeitschrift las und seine Cola schlürfte. Ein paar von denen brauchten ihn nur zu sehen, und schon machten sie einen Abgang.
Blaines müder Barkeeper-Blick schweifte über sein Reich. Am Afrikatisch ging es eindeutig ziemlich hoch her. Hoch her war ja in Ordnung, aber zum Überschwappen durfte es nicht kommen. Blaine legte den Kopf schief und horchte auf die üblichen Zeichen - barsche Drohungen und das empörte Gebrüll, das unweigerlich auf das Ratschen der Stuhlbeine folgte. Von dem Flaschenwerfer einmal abgesehen, schien es jedoch ein friedlicher Abend zu sein. Dem Flaschenwerfer und diesem Mädchen.
Blaine warf einen kurzen Blick in die entfernteste Ecke hinter der Jukebox. Es blitzte rot auf. Die Kleine hatte dichte rote Locken, die bei jeder Kopfbewegung in die eine oder andere Richtung wippten, so dass sich das Licht darin fing. Sie trug von oben bis unten blauen Denim - gute Jeans, kurze, eng anliegende Jacke -, die Klamotten waren okay, auch wenn es so aussah, als hätte sie drin geschlafen. Wieso wanderte sie von einem Tisch zum anderen? Das war schon der dritte, an dem sie in den letzten anderthalb Stunden gesessen hatte. Zwei Frauen und zwei Männer, Postangestellte, für deren Verhältnisse es ein bisschen spät geworden war; ganz offensichtlich fanden die beiden Frauen es überhaupt nicht amüsant, wie sich die Kleine in Jeans an ihrem Tisch dazwischendrängelte. Die Kerle dagegen schienen nicht das Geringste dagegen zu haben.
»Drei Blue, ein Creemore, einen Wodka Tonic.«
Blaine holte vier Flaschen Bier aus dem Eis und stellte sie Darla aufs Tablett.
»Was ist mit dem Rotschopf los, Darla? Was trinkt die Kleine?«
»Nichts, soweit ich weiß. Der letzte Tisch hat ihr einen spendiert, um mit ihr anzustoßen, aber sie hat nicht ausgetrunken.«
Blaine goss einen Wodka ein und stellte ihn zu den Bierflaschen. Darla füllte das Glas mit Soda aus dem Siphon auf.
»Ist sie high? Wieso hüpft sie von einem Tisch zum anderen?«
»Keine Ahnung, Blaine. Vielleicht macht sie irgendwelche Geschäfte.« Darla hievte ihr Tablett auf die Schulter und stürzte sich wieder in den Zoo, wie sie es nannte.
»Chef!«
Blaine drehte sich zu dem Trio am Tresen um. Der Typ namens Regis war ein alter Bekannter von der Highschool, er schaute vielleicht zweimal im Jahr vorbei. Seine Freunde mit den Baseballkappen waren neu. Wenn dich einer Chef nennt, dann weißt du, dass er dir gleich auf die eine oder andere Art lästig wird.
»Hey, Blaine«, sagte Regis. »Wann verrätst du uns, was sie mit deinem Gesicht gemacht haben, Mann?«
»Ja«, sagte eine der Baseballkappen. »Du siehst wie ein Chinese aus.«
»War Sonntag mit dem Kanu draußen. Die Kriebelmücken waren in Hochform.«
»Die Mücke muss 'n Elefant gewesen sein, Mann. Siehst aus wie 'n Sumoringer.«
Die ganze Woche bekam er nun schon zu hören, er sähe wie ein Sumoringer aus. Um diese Jahreszeit waren die Mücken immer eine Plage, aber so hatte sie Blaine noch nie erlebt. Millionen von den Viechern in Schwärmen wie riesige, schwarze Wolken. Er hatte die üblichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, eine Kappe aufgesetzt, die Hosenbeine in die Socken gestopft, aber die Schwärme waren so dicht, dass man nicht mal Luft holen konnte, ohne sie einzuatmen. Die kleinen Biester waren ganz und gar verzückt von ihm und stachen ihn im ganzen Gesicht. Bis Montagmorgen waren seine Augen so zugeschwollen, dass er nichts mehr sehen konnte.
Er tippte die drei Bier in die Kasse ein. Als er sich wieder umdrehte, stand der Rotschopf plötzlich da.
»Hallo«, sagte die Kleine und kletterte auf einen Hocker. »Was darf's denn sein?«
»Einfach nur Wasser wäre nett. Bier scheint mir nicht zu bekommen.«
Blaine goss ihr ein Glas Eiswasser ein und stellte es auf eine Serviette.
»Sie sind aber groß.«
»Kann mich nicht beklagen.«
Blaine räumte hinter der Bar ein paar Gläser weg. »Sie scheinen ein netter Kerl zu sein.«
Blaine lachte. Der Rotschopf war schätzungsweise Mitte zwanzig, mit einer Menge Sommersprossen im Gesicht. Sie hatte wirklich das vollste, lockigste Haar, das ihm je untergekommen war. Schien sich allerdings nicht sonderlich zu pflegen. Wie Blaine hatte auch sie eine Menge Mückenstiche, und in ihren Haaren steckten kleine Stücke von Blättern.
»Wie heißen Sie?«, fragte sie.
»Blaine.«
»Blaine? Das ist ein hübscher Name.«
»Wenn Sie meinen. Und Sie?«
»Ich weiß nicht, um ehrlich zu sein. Ist das nicht seltsam?«
Blaine hatte ein komisches Gefühl in der Magengegend. Das Mädchen wirkte nicht high; ihre Art war freundlich und ruhig. Sie rutschte jetzt von ihrem Hocker und ging zu Regis und seinen Baseballkumpeln hinüber.
»Ihr seht nett aus.«
»Aber hallo«, sagte Regis. »Sie sind auch nicht ohne. Dürfen wir Ihnen einen Drink spendieren?«
»Nein, danke. Ich hab keinen Durst.«
»Chef! Ein Molson für die junge Dame hier.«
»Kann ich nicht machen«, antwortete Blaine. »Sie sagt, sie will nicht.«
»Danke vielmals, Blaine. Du mich auch.« Regis schob den Arm über die Theke und schnappte sich eins der Gläser, die dort auf dem Ständer zum Trocknen standen. Er goss von seinem Bier ein und reichte es der Rothaarigen.
»Danke. Wirklich nett von Ihnen.« Sie nahm einen Schluck und verzog das Gesicht.
Blaine nahm ihr Glas Wasser von der Bar und stellte es ihr hin.
»Oh, danke, echt nett.«
Nett, nett, alles ist nett. Schätzchen, du hast noch 'ne Menge zu lernen.
»Ich heiße Regis. Das hier ist Bob, und der da ist Tony. Wie heißen Sie?«
»Das weiß ich im Moment nicht.«
Sie lachten.
»Geht schon in Ordnung«, sagte Regis. »Sie müssen es uns nicht sagen.«
»Wir nennen Sie einfach Red«, sagte der Kerl, der Tony hieß.
»Wir nennen Sie einfach Anonymus«, schlug sein Freund namens Bob vor.
»Anonymus Sex«, sagte Regis, und sie lachten alle. »Klingt wie Tyrannosaurus Rex.«
Er fummelte an ihrer Jeansjacke herum.
»Das ist niedlich.«
»Ja, ich mag sie.«
Dieser Tony legte ihr den Arm um die Schulter und strich ihr mit der Hand durchs Haar. Er zog einen Blattfetzen heraus.
»Mann, du hast das tollste Haar, das ich je gesehen habe. Ein bisschen belaubt, aber toll.«
»Ihr seid alle so freundlich.«
»Du aber auch«, meinte Regis. »Hast ein paar üble Stiche abgekriegt, aber ich weiß ein Mittel dagegen.« Er lehnte sich vor und küsste sie auf die Wange.
Das Mädchen lächelte und rieb sich das Gesicht.
Blaine schob sich näher zu ihnen heran.
»Miss, meinen Sie nicht, es ist Zeit, nach Hause zu gehen?«
»He, kümmer dich um deinen eigenen Dreck, Blaine.« Re-gis schlug mit der Hand auf den Tresen und warf eine Schale Erdnüsse um. »Sie ist nicht betrunken, sie hat nur ein bisschen Spaß.«
»Nein, ihr habt Spaß, was sie hat, weiß sie nicht.«
Das Mädchen lächelte, ohne einen von ihnen anzusehen. »Zwei Creemore, drei Blue, ein Export!«
Blaine ging hinter dem Tresen zu Darla hinüber, um die Bestellung fertig zu machen. Als er zurückkam, saß der Rotschopf bei Regis auf dem Schoß.
»Schätzchen, ich glaube, wir müssen dann mal, haben noch einen langen Ritt vor uns«, sagte Regis.
»Ihr Jungs seid wirklich witzig.«
Bob hatte inzwischen die Finger in ihrem Haar. »Ich glaube, du solltest auf unseren Ritt mitkommen«, sagte er. »Uns besser kennen lernen.«
Regis' Hand glitt ihre Jeansjacke hoch. Das Mädchen lächelte und fing an, etwas zu summen. Regis' Hand glitt unter die Jacke.
»Lass sie in Ruhe.«
Regis lehnte sich zurück und schielte den Tresen entlang, bis sein Blick auf Jerry Commanda traf.
»Was hast du gesagt?«
»Ich sagte, lass sie in Ruhe.«
»Wie wär's, wenn du dich um deinen eigenen Dreck scheren würdest, Chingachgook?«
Jerry rutschte von seinem Hocker und kam zur Mitte des Tresens.
»Wissen Sie, wie Sie heißen?«, fragte er das Mädchen. »Hey, Rothaut«, sagte Regis. »Halt dich da raus.« »Halt du den Mund. Wissen Sie, wie Sie heißen?«
»Nein«, sagte das Mädchen. »Ist mir momentan entfallen.« »Wissen Sie, welcher Tag heute ist?«
»Ehm, nein.«
Regis schob sie von seinem Schoß und stand auf. »Ich glaube, du und ich, wir beide haben draußen was zu regeln.«
Jerry ignorierte ihn. »Wissen Sie, wo Sie sind?«, fragte er das Mädchen weiter.
»Jemand hat es mir vorhin gesagt, aber ich hab's vergessen.«
»Hast du mich nicht gehört?«, fragte Regis. »Ich kann ja verstehen, dass du vielleicht keine Lust hast, zu deiner Squaw nach Hause zu gehen, aber das gibt dir noch lange nicht das Recht ... «
Jerry würdigte ihn keines Blickes. Er fasste nur in seine Jackentasche und zog seine Dienstmarke heraus, um sie dem Kerl vor die Nase zu halten.
»Oh, Mann, tut mir leid. Das hab ich nicht gewusst.«
»Können Sie sich irgendwie ausweisen?«, fragte Jerry das Mädchen. »Haben Sie eine Brieftasche dabei? Kreditkarten? Etwas, wo Ihr Name draufsteht?«
»Nein, ich hab nichts dergleichen.«
Regis tippte Jerry auf die Schulter, während er die Ich-binder-netteste-Kerl-auf-der-Welt-Masche abzog. »Nichts für ungut, okay? Meinen Sie, ihr fehlt was? Ich mach mir irgendwie Sorgen um sie.«
»Würden Sie wohl mitkommen, Miss? Ich möchte Sie wohin bringen, wo Sie in Sicherheit sind.«
Das Mädchen zuckte die Achseln. »Klar, warum nicht.« Blaine sah zu, wie Regis ihnen bis zur Tür folgte und sich die ganze Zeit entschuldigte. So was tat einem Barkeeper gut.
Im Wagen fragte Jerry die junge Frau, woher sie käme. »Ich weiß nicht. Das ist ein schöner Wagen.«
»Wo sind Sie denn untergekommen?« »Untergekommen?«
»Ja. Ich nehme mal an, Sie sind nicht von hier. Bei wem wohnen Sie?«
»Ich weiß nicht. Das ist ein netter Bau, ist das eine Schule?« Sie ließen die Ecole Secondaire Algonquin links liegen und fuhren bergauf. In der McGowan bog Jerry links ab.
»Sie haben eine Menge Kriebelmückenstiche abbekommen. Waren Sie draußen im Wald?«
»Ach, das sind Mückenstiche?« Geistesabwesend fasste sie sich mit der Linken an die Stirn und rieb sich die roten Pusteln am Haaransatz. »Sie jucken. Ich hab sie auch überall an den Knöcheln. Tun ein bisschen weh.«
»Waren Sie draußen im Wald?«
»Ja. Heute Morgen bin ich da aufgewacht.«
»Sie haben draußen geschlafen? Haben Sie deshalb Blätter in den Haaren?«
»Blätter?« Wieder hob sie die blasse, sommersprossige Hand an die Locken.
Kein Ehering, registrierte Jerry.
»Red, tun Sie mir den Gefallen und sehen Sie in Ihren Taschen nach, ob Sie irgendwelche Ausweispapiere bei sich haben, ja?«
Sie klopfte sich die Taschen ab und fühlte von innen. Sie zog ein paar Münzen sowie einen Nagelknipser aus der Jeans. Sie bot Jerry ein Pfefferminz an, doch er lehnte dankend ab.
»Mehr hab ich nicht«, sagte sie.
»Keine Schlüssel?«
»Keine Schlüssel.«
Jemand musste ihr die Sachen abgenommen haben, da war sich Jerry ziemlich sicher. Normalerweise ging man nicht ohne Schlüssel aus dem Haus. Er stellte den Wagen auf dem Parkplatz an der Notaufnahme des Städtischen Krankenhauses ab. Die Lichter von der Algonquin und Maine folgten einem weiten Bogen den Hügel hinab. »Wissen Sie, ich glaube nicht, dass ich deswegen ins Krankenhaus muss. Es sind doch nur Insektenstiche.«
»Schauen wir einfach mal, ob wir rausfinden, wo Sie Ihr Gedächtnis verloren haben, okay?«
»Okay. Sie sehen nett aus. Sind Sie Indianer?«
»Ja. Und Sie?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube nicht.«
Ihre Antwort kam mit solchem Ernst heraus, dass Jerry lachen musste. Er konnte sich niemanden vorstellen, der weniger indianisch aussah.
In der Notaufnahme reichte ihm ein junger Mann hinter der Empfangstheke ein Klemmbrett mit einem Formular.
»Wir werden keine einzige dieser Fragen beantworten können«, sagte Jerry. »Die junge Dame kann sich nicht ausweisen und an nichts erinnern.«
Der junge Mann zuckte nicht mit der Wimper, als ob jeden Abend Fälle von Amnesie bei ihm hereinspazierten. »Füllen Sie es einfach für Mrs. X aus, und das Übrige Pi mal Daumen. Die Aufnahmeschwester ist auf dem Weg.«
Das Mädchen saß da und summte, während sie warteten, ohne erkennbare Melodie vor sich hin. Jerry füllte das Formblatt aus, indem er immer wieder »unbekannt« schrieb. Allmählich wurde es voller im Raum. John Cardinal kam mit einem Mann im mittleren Alter herein, der wie das Opfer eines tätlichen Überfalls aussah. Er nickte Jerry zu. In der Notfallaufnahme lief man nicht selten einem Kollegen über den Weg, und freitagabends war es geradezu vorprogrammiert. Die Schwester kam herüber und sprach etwa drei Minuten mit ihnen, gerade lange genug, um eine Laboruntersuchung anzuordnen und ihren Fall dringend zu machen. Irgendwann kam Dr. Michael Fortis aus einem Untersuchungszimmer und besprach sich mit der Schwester. Jerry gesellte sich zu ihnen; er hatte schon viel mit Fortis gearbeitet.
»Nicht viel los für einen Freitag«, sagte Jerry. »Schickt ihr sie alle zum St. Francis?«
»Sie hätten vor einer Stunde hier sein sollen. Wir hatten unabhängig voneinander zwei Auffahrunfälle, auf dem Highway 11 gab's Streit zwischen ein paar Pkw und einigen Elchen. Der eine in dem Allradwagen war nicht so schlimm dran, aber der Kerl im Miata kann von Glück sagen, wenn er je wieder laufen kann. Passiert immer um diese Jahreszeit. Die Kriebelmücken treiben die Elche aus den Wäldern, und rums.«
»Ich hab ein bisschen was Ungewöhnlicheres für Sie.« Zwanzig Minuten später kam Dr. Fortis aus dem Untersuchungszimmer und zog die Tür hinter sich zu.
»Diese junge Frau ist sowohl zeitlich als auch räumlich vollkommen desorientiert. Außerdem leidet sie unter Affektminderung und einer dramatischen Amnesie. Sie könnte schizophren oder bipolar sein und unter Medikamentenentzug stehen. Wissen wir irgendetwas über sie?«
»Nichts«, sagte Jerry. »Sie kann von hier stammen, aber das würde ich eher bezweifeln. Sie sagt, sie ist im Wald aufgewacht.«
»Ja, ich hab die Stiche gesehen.«
Ein Angestellter reichte dem Arzt ein Klemmbrett. Er blätterte ein-, zweimal um. »Ihre Laborwerte. Rauschmittelbefund negativ. Ich ruf wohl besser mal in der Psychiatrie an und frag, ob bei ihnen eine Patientin entlaufen ist. Falls nicht, werde ich einen Kollegen von der Psychiatrie zu Rate ziehen, aber nicht vor morgen früh. Inzwischen machen wir ein Schädel-Röntgenbild. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was wir sonst noch tun sollen.«
Er öffnete die Tür zum Untersuchungszimmer und holte das Mädchen heraus.
»Wer sind Sie?«, fragte sie Jerry.
»Erinnern Sie sich an mich?«, fragte Dr. Fortis.
»Nein, eigentlich nicht.«
»Ich bin Dr. Fortis. Dieser Gedächtnisverlust, den Sie da haben, ist gewöhnlich ein Traumasymptom. Ich nehme Sie jetzt mit dort rüber und mache eine Aufnahme von Ihnen.«
...
Übersetzung: Anke und Eberhard Kreutzer
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Wer schon einmal, egal, wie lange, in Algonquin Bay gewesen ist, dem fallen viele Gründe dafür ein, weshalb man besser woanders leben sollte. Zunächst einmal die Entfernung von der zivilisierten Welt, worunter Kanadier Toronto, etwa zweihundertfünfzig Meilen im Süden, verstehen. Dann der schleichende Verfall des einstmals schmucken Zentrums - Opfer der doppelten Plage vorstädtischer Einkaufszentren und einer unglücklichen Serie von Bränden. Schließlich die strengen, schneereichen und langen Winter. Es kommt nicht selten vor, dass die klirrende Kälte sich bis in den April hineinzieht, und die letzten Schneefälle gibt es oft im Mai.
Nicht zu vergessen die Kriebelmücken. Jedes Jahr brechen aus den Betten zahlloser Flüsse und Bäche im nördlichen Ontario Schwärme von Kriebelmücken hervor, um sich am Blut von Vögeln, Vieh und anderen Bewohnern rund um Algonquin Bay zu laben. Dafür sind sie hervorragend ausgestattet. Auch wenn die Kriebelmücke nur einen halben Zentimeter misst, so ähnelt sie doch stark einem Kampfhubschrauber, mit je einem Saugrüssel und einem fiesen kleinen Haken vorne und hinten. Schon eine einzige dieser Kreaturen kann einem Menschen übel mitspielen. Ein ganzer Schwarm davon kann ihn schnell in den Wahnsinn treiben.
Die World Tavern war an diesem Freitag vielleicht nicht gerade der Wahnsinn, doch der Barkeeper Blaine Styles hatte eine leise Ahnung, dass es Probleme geben würde. Die Kriebelmückensaison brachte nicht unbedingt das Beste in den Menschen hervor, zumindest nicht in denen, die tranken. Blaine war sich zwar nicht hundertprozentig sicher, aus welcher Ecke der Ärger kommen würde, doch es gab ein paar Kandidaten.
Da war schon mal das Deppen-Trio an der Bar - ein Kerl namens Regis und seine beiden Freunde in Baseballkappen, Bob und Tony. Sie tranken still vor sich hin, hatten aber ein bisschen zu lange mit Darla, der Kellnerin geflirtet, und sie legten eine Rastlosigkeit an den Tag, die für später nichts Gutes versprach. Und dann der Tisch hinten unter der Karte von Afrika. Sie hatten seit Stunden Bier gepichelt. Mäßig, aber regelmäßig. Schließlich dieses Mädchen, diese Rothaarige, die Blaine noch nie gesehen hatte, die sich langsam von Tisch zu Tisch bewegte, und zwar auf eine Weise, die er - aus beruflicher Sicht - beunruhigend fand.
Eine Flasche Labatt Blue flog durch den Raum und traf die Karte von Kanada direkt über Neufundland. Blaine schoss hinter dem Tresen hervor und setzte den Besoffenen, der sie geworfen hatte, vor die Tür, bevor der auch nur einen Muckser herausbrachte. Es machte Blaine zu schaffen, dass er den Zwischenfall nicht einmal hatte kommen sehen. Der Blödmann hatte mit ein paar anderen Typen in Lederjacken unter Frankreich gesessen, und Blaines Radarschirm hatte ihn nicht einmal erfasst. In der World Tavern, der ältesten Spelunke von Algonquin Bay, konnte es, besonders in der Kriebelmückensaison, an einem Freitagabend schon mal brenzlig werden, und Blaine zog lieber beizeiten die Grenze.
Er kehrte wieder hinter den Tresen zurück und schenkte ein paar Krüge für den Tisch bei der Afrikakarte ein - an dem es, wie er feststellte, eine Idee lauter wurde. Als Nächstes hielt ihn eine Bestellung von sechs Continental und ein paar eisgekühlten Margaritas auf Trab. Danach konnte er ein bisschen verschnaufen. Er stellte den Fuß auf einen Bierkasten, um seinen Rücken zu entlasten, während er ein paar Gläser spülte.
Heute Abend waren kaum Stammgäste zu sehen; er war froh. Fernsehserien versuchten einem immer weiszumachen, die Stammgäste in einer Bar seien Exzentriker mit einem Herzen aus Gold, doch nach Blaines Erfahrung waren sie einfach nur hoffnungslose Spastis mit einem ernsten Problem in Sachen Selbstvertrauen. Weiter als bis zu den fleckigen, schellacküberzogenen Karten an den Wänden der World Tavern würden diese Leute vermutlich nie über Algonquin Bay hinausgelangen.
Jerry Commanda saß, seine übliche Cola light mit einem Spritzer Zitronensaft in der Hand, am Ende der Bar und las in seinem Maclean's. Ein bisschen rätselhaft, dieser Jerry. Im Großen und Ganzen konnte Blaine ihn ganz gut leiden, obwohl er ein Stammkunde war - jedenfalls respektierte er ihn, auch wenn er mit dem Trinkgeld knauserte.
Jerry war mal ein schwerer Trinker gewesen - kein hoffnungsloser Säufer, aber doch ein schwerer Trinker. Hatte damit angefangen, als er noch an der Highschool war, und so weitergemacht bis irgendwann Anfang zwanzig. Dann hatte ihn irgendetwas ausgenüchtert, und er rührte keinen Tropfen Alkohol mehr an. Fünf, sechs Jahre hatte er keinen Fuß mehr in eine Bar gesetzt. Aber auf einmal hatte er damit angefangen, freitagabends in die World Tavern zu kommen und seinen knöchernen Hintern ans Ende der Bar zu schieben. Von da aus hatte man einen guten Überblick.
Blaine hatte ihn einmal gefragt, wie er von der Flasche losgekommen sei, ob er es mit den zwölf Schritten der AA geschafft hätte.
»Konnte die zwölf Schritte nicht verknusen«, sagte Jerry. »Genauso wenig wie diese Treffen. Wo sie alle davon quatschen, wie hilflos sie sind, und dann Gott weiß wen bitten, ihnen aus der Bredouille zu helfen.« Jerry benutzte ab und zu solche Begriffe, obwohl er erst um die vierzig war. Altmodische Wörter wie verknusen, Bredouille oder Bursche oder zänkisch. »Aber als ich erst mal kapiert hatte, dass ich mit Denken aufhören muss, war es ziemlich leicht, den Alkohol aufzugeben.«
»Niemand kann mit Denken aufhören«, hatte Blaine gesagt. »Denken ist wie Atmen. Oder Schwitzen. Das tut man von selbst.«
Daraufhin ließ Jerry einen abwegigen psychologischen Kokolores vom Stapel. Sagte, sicher, man könne die Gedanken nicht daran hindern zu kommen, aber man könne anders mit ihnen umgehen, Ausweichmanöver finden. Blaine erinnerte sich genau an seine Worte, weil Jerry vierfacher KickboxMeister von Ontario gewesen war und, als er von Ausweichmanövern sprach, das Gemeinte mit einer wendigen Bewegung unterstrich, die, na ja, irgendwie gekonnt aussah.
Jerry Commanda hatte also gelernt, seinen Gedanken aus dem Weg zu gehen, und das hatte zur Folge, dass er sich jeden Freitagabend mit seiner Cola light und dem Zitronenspritzer für eine Stunde oder so am Ende der Bar aufpflanzte. Blaine hegte den Verdacht, dass er damit nicht zuletzt ein paar der Jungs aus dem Reservat daran hindern wollte, allzu tief ins Glas zu schauen. Ziemlich schwierig für sie, sich gehen zu lassen, wenn Jerry an der Bar hockte, seine Zeitschrift las und seine Cola schlürfte. Ein paar von denen brauchten ihn nur zu sehen, und schon machten sie einen Abgang.
Blaines müder Barkeeper-Blick schweifte über sein Reich. Am Afrikatisch ging es eindeutig ziemlich hoch her. Hoch her war ja in Ordnung, aber zum Überschwappen durfte es nicht kommen. Blaine legte den Kopf schief und horchte auf die üblichen Zeichen - barsche Drohungen und das empörte Gebrüll, das unweigerlich auf das Ratschen der Stuhlbeine folgte. Von dem Flaschenwerfer einmal abgesehen, schien es jedoch ein friedlicher Abend zu sein. Dem Flaschenwerfer und diesem Mädchen.
Blaine warf einen kurzen Blick in die entfernteste Ecke hinter der Jukebox. Es blitzte rot auf. Die Kleine hatte dichte rote Locken, die bei jeder Kopfbewegung in die eine oder andere Richtung wippten, so dass sich das Licht darin fing. Sie trug von oben bis unten blauen Denim - gute Jeans, kurze, eng anliegende Jacke -, die Klamotten waren okay, auch wenn es so aussah, als hätte sie drin geschlafen. Wieso wanderte sie von einem Tisch zum anderen? Das war schon der dritte, an dem sie in den letzten anderthalb Stunden gesessen hatte. Zwei Frauen und zwei Männer, Postangestellte, für deren Verhältnisse es ein bisschen spät geworden war; ganz offensichtlich fanden die beiden Frauen es überhaupt nicht amüsant, wie sich die Kleine in Jeans an ihrem Tisch dazwischendrängelte. Die Kerle dagegen schienen nicht das Geringste dagegen zu haben.
»Drei Blue, ein Creemore, einen Wodka Tonic.«
Blaine holte vier Flaschen Bier aus dem Eis und stellte sie Darla aufs Tablett.
»Was ist mit dem Rotschopf los, Darla? Was trinkt die Kleine?«
»Nichts, soweit ich weiß. Der letzte Tisch hat ihr einen spendiert, um mit ihr anzustoßen, aber sie hat nicht ausgetrunken.«
Blaine goss einen Wodka ein und stellte ihn zu den Bierflaschen. Darla füllte das Glas mit Soda aus dem Siphon auf.
»Ist sie high? Wieso hüpft sie von einem Tisch zum anderen?«
»Keine Ahnung, Blaine. Vielleicht macht sie irgendwelche Geschäfte.« Darla hievte ihr Tablett auf die Schulter und stürzte sich wieder in den Zoo, wie sie es nannte.
»Chef!«
Blaine drehte sich zu dem Trio am Tresen um. Der Typ namens Regis war ein alter Bekannter von der Highschool, er schaute vielleicht zweimal im Jahr vorbei. Seine Freunde mit den Baseballkappen waren neu. Wenn dich einer Chef nennt, dann weißt du, dass er dir gleich auf die eine oder andere Art lästig wird.
»Hey, Blaine«, sagte Regis. »Wann verrätst du uns, was sie mit deinem Gesicht gemacht haben, Mann?«
»Ja«, sagte eine der Baseballkappen. »Du siehst wie ein Chinese aus.«
»War Sonntag mit dem Kanu draußen. Die Kriebelmücken waren in Hochform.«
»Die Mücke muss 'n Elefant gewesen sein, Mann. Siehst aus wie 'n Sumoringer.«
Die ganze Woche bekam er nun schon zu hören, er sähe wie ein Sumoringer aus. Um diese Jahreszeit waren die Mücken immer eine Plage, aber so hatte sie Blaine noch nie erlebt. Millionen von den Viechern in Schwärmen wie riesige, schwarze Wolken. Er hatte die üblichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, eine Kappe aufgesetzt, die Hosenbeine in die Socken gestopft, aber die Schwärme waren so dicht, dass man nicht mal Luft holen konnte, ohne sie einzuatmen. Die kleinen Biester waren ganz und gar verzückt von ihm und stachen ihn im ganzen Gesicht. Bis Montagmorgen waren seine Augen so zugeschwollen, dass er nichts mehr sehen konnte.
Er tippte die drei Bier in die Kasse ein. Als er sich wieder umdrehte, stand der Rotschopf plötzlich da.
»Hallo«, sagte die Kleine und kletterte auf einen Hocker. »Was darf's denn sein?«
»Einfach nur Wasser wäre nett. Bier scheint mir nicht zu bekommen.«
Blaine goss ihr ein Glas Eiswasser ein und stellte es auf eine Serviette.
»Sie sind aber groß.«
»Kann mich nicht beklagen.«
Blaine räumte hinter der Bar ein paar Gläser weg. »Sie scheinen ein netter Kerl zu sein.«
Blaine lachte. Der Rotschopf war schätzungsweise Mitte zwanzig, mit einer Menge Sommersprossen im Gesicht. Sie hatte wirklich das vollste, lockigste Haar, das ihm je untergekommen war. Schien sich allerdings nicht sonderlich zu pflegen. Wie Blaine hatte auch sie eine Menge Mückenstiche, und in ihren Haaren steckten kleine Stücke von Blättern.
»Wie heißen Sie?«, fragte sie.
»Blaine.«
»Blaine? Das ist ein hübscher Name.«
»Wenn Sie meinen. Und Sie?«
»Ich weiß nicht, um ehrlich zu sein. Ist das nicht seltsam?«
Blaine hatte ein komisches Gefühl in der Magengegend. Das Mädchen wirkte nicht high; ihre Art war freundlich und ruhig. Sie rutschte jetzt von ihrem Hocker und ging zu Regis und seinen Baseballkumpeln hinüber.
»Ihr seht nett aus.«
»Aber hallo«, sagte Regis. »Sie sind auch nicht ohne. Dürfen wir Ihnen einen Drink spendieren?«
»Nein, danke. Ich hab keinen Durst.«
»Chef! Ein Molson für die junge Dame hier.«
»Kann ich nicht machen«, antwortete Blaine. »Sie sagt, sie will nicht.«
»Danke vielmals, Blaine. Du mich auch.« Regis schob den Arm über die Theke und schnappte sich eins der Gläser, die dort auf dem Ständer zum Trocknen standen. Er goss von seinem Bier ein und reichte es der Rothaarigen.
»Danke. Wirklich nett von Ihnen.« Sie nahm einen Schluck und verzog das Gesicht.
Blaine nahm ihr Glas Wasser von der Bar und stellte es ihr hin.
»Oh, danke, echt nett.«
Nett, nett, alles ist nett. Schätzchen, du hast noch 'ne Menge zu lernen.
»Ich heiße Regis. Das hier ist Bob, und der da ist Tony. Wie heißen Sie?«
»Das weiß ich im Moment nicht.«
Sie lachten.
»Geht schon in Ordnung«, sagte Regis. »Sie müssen es uns nicht sagen.«
»Wir nennen Sie einfach Red«, sagte der Kerl, der Tony hieß.
»Wir nennen Sie einfach Anonymus«, schlug sein Freund namens Bob vor.
»Anonymus Sex«, sagte Regis, und sie lachten alle. »Klingt wie Tyrannosaurus Rex.«
Er fummelte an ihrer Jeansjacke herum.
»Das ist niedlich.«
»Ja, ich mag sie.«
Dieser Tony legte ihr den Arm um die Schulter und strich ihr mit der Hand durchs Haar. Er zog einen Blattfetzen heraus.
»Mann, du hast das tollste Haar, das ich je gesehen habe. Ein bisschen belaubt, aber toll.«
»Ihr seid alle so freundlich.«
»Du aber auch«, meinte Regis. »Hast ein paar üble Stiche abgekriegt, aber ich weiß ein Mittel dagegen.« Er lehnte sich vor und küsste sie auf die Wange.
Das Mädchen lächelte und rieb sich das Gesicht.
Blaine schob sich näher zu ihnen heran.
»Miss, meinen Sie nicht, es ist Zeit, nach Hause zu gehen?«
»He, kümmer dich um deinen eigenen Dreck, Blaine.« Re-gis schlug mit der Hand auf den Tresen und warf eine Schale Erdnüsse um. »Sie ist nicht betrunken, sie hat nur ein bisschen Spaß.«
»Nein, ihr habt Spaß, was sie hat, weiß sie nicht.«
Das Mädchen lächelte, ohne einen von ihnen anzusehen. »Zwei Creemore, drei Blue, ein Export!«
Blaine ging hinter dem Tresen zu Darla hinüber, um die Bestellung fertig zu machen. Als er zurückkam, saß der Rotschopf bei Regis auf dem Schoß.
»Schätzchen, ich glaube, wir müssen dann mal, haben noch einen langen Ritt vor uns«, sagte Regis.
»Ihr Jungs seid wirklich witzig.«
Bob hatte inzwischen die Finger in ihrem Haar. »Ich glaube, du solltest auf unseren Ritt mitkommen«, sagte er. »Uns besser kennen lernen.«
Regis' Hand glitt ihre Jeansjacke hoch. Das Mädchen lächelte und fing an, etwas zu summen. Regis' Hand glitt unter die Jacke.
»Lass sie in Ruhe.«
Regis lehnte sich zurück und schielte den Tresen entlang, bis sein Blick auf Jerry Commanda traf.
»Was hast du gesagt?«
»Ich sagte, lass sie in Ruhe.«
»Wie wär's, wenn du dich um deinen eigenen Dreck scheren würdest, Chingachgook?«
Jerry rutschte von seinem Hocker und kam zur Mitte des Tresens.
»Wissen Sie, wie Sie heißen?«, fragte er das Mädchen. »Hey, Rothaut«, sagte Regis. »Halt dich da raus.« »Halt du den Mund. Wissen Sie, wie Sie heißen?«
»Nein«, sagte das Mädchen. »Ist mir momentan entfallen.« »Wissen Sie, welcher Tag heute ist?«
»Ehm, nein.«
Regis schob sie von seinem Schoß und stand auf. »Ich glaube, du und ich, wir beide haben draußen was zu regeln.«
Jerry ignorierte ihn. »Wissen Sie, wo Sie sind?«, fragte er das Mädchen weiter.
»Jemand hat es mir vorhin gesagt, aber ich hab's vergessen.«
»Hast du mich nicht gehört?«, fragte Regis. »Ich kann ja verstehen, dass du vielleicht keine Lust hast, zu deiner Squaw nach Hause zu gehen, aber das gibt dir noch lange nicht das Recht ... «
Jerry würdigte ihn keines Blickes. Er fasste nur in seine Jackentasche und zog seine Dienstmarke heraus, um sie dem Kerl vor die Nase zu halten.
»Oh, Mann, tut mir leid. Das hab ich nicht gewusst.«
»Können Sie sich irgendwie ausweisen?«, fragte Jerry das Mädchen. »Haben Sie eine Brieftasche dabei? Kreditkarten? Etwas, wo Ihr Name draufsteht?«
»Nein, ich hab nichts dergleichen.«
Regis tippte Jerry auf die Schulter, während er die Ich-binder-netteste-Kerl-auf-der-Welt-Masche abzog. »Nichts für ungut, okay? Meinen Sie, ihr fehlt was? Ich mach mir irgendwie Sorgen um sie.«
»Würden Sie wohl mitkommen, Miss? Ich möchte Sie wohin bringen, wo Sie in Sicherheit sind.«
Das Mädchen zuckte die Achseln. »Klar, warum nicht.« Blaine sah zu, wie Regis ihnen bis zur Tür folgte und sich die ganze Zeit entschuldigte. So was tat einem Barkeeper gut.
Im Wagen fragte Jerry die junge Frau, woher sie käme. »Ich weiß nicht. Das ist ein schöner Wagen.«
»Wo sind Sie denn untergekommen?« »Untergekommen?«
»Ja. Ich nehme mal an, Sie sind nicht von hier. Bei wem wohnen Sie?«
»Ich weiß nicht. Das ist ein netter Bau, ist das eine Schule?« Sie ließen die Ecole Secondaire Algonquin links liegen und fuhren bergauf. In der McGowan bog Jerry links ab.
»Sie haben eine Menge Kriebelmückenstiche abbekommen. Waren Sie draußen im Wald?«
»Ach, das sind Mückenstiche?« Geistesabwesend fasste sie sich mit der Linken an die Stirn und rieb sich die roten Pusteln am Haaransatz. »Sie jucken. Ich hab sie auch überall an den Knöcheln. Tun ein bisschen weh.«
»Waren Sie draußen im Wald?«
»Ja. Heute Morgen bin ich da aufgewacht.«
»Sie haben draußen geschlafen? Haben Sie deshalb Blätter in den Haaren?«
»Blätter?« Wieder hob sie die blasse, sommersprossige Hand an die Locken.
Kein Ehering, registrierte Jerry.
»Red, tun Sie mir den Gefallen und sehen Sie in Ihren Taschen nach, ob Sie irgendwelche Ausweispapiere bei sich haben, ja?«
Sie klopfte sich die Taschen ab und fühlte von innen. Sie zog ein paar Münzen sowie einen Nagelknipser aus der Jeans. Sie bot Jerry ein Pfefferminz an, doch er lehnte dankend ab.
»Mehr hab ich nicht«, sagte sie.
»Keine Schlüssel?«
»Keine Schlüssel.«
Jemand musste ihr die Sachen abgenommen haben, da war sich Jerry ziemlich sicher. Normalerweise ging man nicht ohne Schlüssel aus dem Haus. Er stellte den Wagen auf dem Parkplatz an der Notaufnahme des Städtischen Krankenhauses ab. Die Lichter von der Algonquin und Maine folgten einem weiten Bogen den Hügel hinab. »Wissen Sie, ich glaube nicht, dass ich deswegen ins Krankenhaus muss. Es sind doch nur Insektenstiche.«
»Schauen wir einfach mal, ob wir rausfinden, wo Sie Ihr Gedächtnis verloren haben, okay?«
»Okay. Sie sehen nett aus. Sind Sie Indianer?«
»Ja. Und Sie?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube nicht.«
Ihre Antwort kam mit solchem Ernst heraus, dass Jerry lachen musste. Er konnte sich niemanden vorstellen, der weniger indianisch aussah.
In der Notaufnahme reichte ihm ein junger Mann hinter der Empfangstheke ein Klemmbrett mit einem Formular.
»Wir werden keine einzige dieser Fragen beantworten können«, sagte Jerry. »Die junge Dame kann sich nicht ausweisen und an nichts erinnern.«
Der junge Mann zuckte nicht mit der Wimper, als ob jeden Abend Fälle von Amnesie bei ihm hereinspazierten. »Füllen Sie es einfach für Mrs. X aus, und das Übrige Pi mal Daumen. Die Aufnahmeschwester ist auf dem Weg.«
Das Mädchen saß da und summte, während sie warteten, ohne erkennbare Melodie vor sich hin. Jerry füllte das Formblatt aus, indem er immer wieder »unbekannt« schrieb. Allmählich wurde es voller im Raum. John Cardinal kam mit einem Mann im mittleren Alter herein, der wie das Opfer eines tätlichen Überfalls aussah. Er nickte Jerry zu. In der Notfallaufnahme lief man nicht selten einem Kollegen über den Weg, und freitagabends war es geradezu vorprogrammiert. Die Schwester kam herüber und sprach etwa drei Minuten mit ihnen, gerade lange genug, um eine Laboruntersuchung anzuordnen und ihren Fall dringend zu machen. Irgendwann kam Dr. Michael Fortis aus einem Untersuchungszimmer und besprach sich mit der Schwester. Jerry gesellte sich zu ihnen; er hatte schon viel mit Fortis gearbeitet.
»Nicht viel los für einen Freitag«, sagte Jerry. »Schickt ihr sie alle zum St. Francis?«
»Sie hätten vor einer Stunde hier sein sollen. Wir hatten unabhängig voneinander zwei Auffahrunfälle, auf dem Highway 11 gab's Streit zwischen ein paar Pkw und einigen Elchen. Der eine in dem Allradwagen war nicht so schlimm dran, aber der Kerl im Miata kann von Glück sagen, wenn er je wieder laufen kann. Passiert immer um diese Jahreszeit. Die Kriebelmücken treiben die Elche aus den Wäldern, und rums.«
»Ich hab ein bisschen was Ungewöhnlicheres für Sie.« Zwanzig Minuten später kam Dr. Fortis aus dem Untersuchungszimmer und zog die Tür hinter sich zu.
»Diese junge Frau ist sowohl zeitlich als auch räumlich vollkommen desorientiert. Außerdem leidet sie unter Affektminderung und einer dramatischen Amnesie. Sie könnte schizophren oder bipolar sein und unter Medikamentenentzug stehen. Wissen wir irgendetwas über sie?«
»Nichts«, sagte Jerry. »Sie kann von hier stammen, aber das würde ich eher bezweifeln. Sie sagt, sie ist im Wald aufgewacht.«
»Ja, ich hab die Stiche gesehen.«
Ein Angestellter reichte dem Arzt ein Klemmbrett. Er blätterte ein-, zweimal um. »Ihre Laborwerte. Rauschmittelbefund negativ. Ich ruf wohl besser mal in der Psychiatrie an und frag, ob bei ihnen eine Patientin entlaufen ist. Falls nicht, werde ich einen Kollegen von der Psychiatrie zu Rate ziehen, aber nicht vor morgen früh. Inzwischen machen wir ein Schädel-Röntgenbild. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was wir sonst noch tun sollen.«
Er öffnete die Tür zum Untersuchungszimmer und holte das Mädchen heraus.
»Wer sind Sie?«, fragte sie Jerry.
»Erinnern Sie sich an mich?«, fragte Dr. Fortis.
»Nein, eigentlich nicht.«
»Ich bin Dr. Fortis. Dieser Gedächtnisverlust, den Sie da haben, ist gewöhnlich ein Traumasymptom. Ich nehme Sie jetzt mit dort rüber und mache eine Aufnahme von Ihnen.«
...
Übersetzung: Anke und Eberhard Kreutzer
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Giles Blunt
Giles Blunt, geboren 1952, wuchs in North Bay in der kanadischen Provinz Ontario auf und studierte Englische Literatur an der Universität Toronto. 1980 ging er nach New York, wo er sich u. a. als Streetworker, Gerichtsdiener und Barkeeper durchschlug. Heute lebt er als freier Schriftsteller und Drehbuchautor wieder in Toronto.
Bibliographische Angaben
- Autor: Giles Blunt
- 2010, 1, 439 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828996051
- ISBN-13: 9783828996052
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