Kates Geheimnis
Tänzerin Jill ist mit ihrem Verlobten Hal zu einem Ausflug unterwegs. Während der Autofahrt verliert Jill plötzlich die Kontrolle über den Wagen. Der Unfall ist fürchterlich, Hal stirbt in ihren Armen und seine letzten Worte lauten: Ich liebe dich ... Kate.
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Produktinformationen zu „Kates Geheimnis “
Tänzerin Jill ist mit ihrem Verlobten Hal zu einem Ausflug unterwegs. Während der Autofahrt verliert Jill plötzlich die Kontrolle über den Wagen. Der Unfall ist fürchterlich, Hal stirbt in ihren Armen und seine letzten Worte lauten: Ich liebe dich ... Kate.
Lese-Probe zu „Kates Geheimnis “
Kates Geheimnis von Brenda JoyceAus dem Amerikanischen von Katharina Volk
Prolog
Jill Gallagher konnte sich nicht mehr daran erinnern, jemals nicht allein gewesen zu sein. Doch vor acht Monaten war Hal Sheldon in ihr Leben getreten und hatte es für immer verändert. Er war nicht nur ihr Liebhaber, sondern auch ihr bester Freund und engster Vertrauter. Und nun endlich begann sie, alles zu vergessen und hinter sich zu lassen - die unbestimmte Angst und tiefe Verunsicherung, deren dunkle Schatten sie mit sich herumtrug, seit sie sich vor vielen Jahren unausweichlich in die Seele eines verlassenen, einsamen kleinen Mädchens gebrannt hatten. Eines Mädchens, das seine Eltern durch einen Autounfall verlor, als es fünf Jahre alt war. Ihre schlaflosen Nächte, in denen sie den Tanz der Schatten an der Zimmerdecke verfolgte und vergeblich gegen ihre ungreifbaren Ängste ankämpfte, gehörten nun endlich der Vergangenheit an.
... mehr
Während ihr Mietwagen, ein kleiner Toyota, den Northern State Parkway entlangfuhr, blickte Jill zu Hal hinüber, der neben ihr auf dem Beifahrersitz saß. Ihre Laune war nicht nur gut, sie war ausgelassen, doch ihre Hände schlossen sich plötzlich fester um das Lenkrad. War etwas nicht in Ordnung? Hal schien ganz in die Straßenkarte vertieft, und das war auch notwendig - aber er hatte kein einziges Wort gesagt, seit sie aus Manhattan heraus waren, und das sah ihm gar nicht ähnlich. Obwohl es für Anfang April ungewöhnlich kalt war, hatten sie sich zu einem Wochenende an der Küste aufgemacht. Jill war Tänzerin von Beruf, und dies war ihre letzte Chance auf einen kleinen Urlaub, bevor ihr Ensemble mit einer neuen Show herauskommen würde. Sie hatten ein Zimmer in einer malerischen Pension direkt an der Peconic Bay gebucht. Jill freute sich auf ein Wochenende friedlicher Zweisamkeit vor dem mörderischen Marathon von sieben Vorstellungen an sechs Tagen die Woche. Sie freute sich auch auf ausgiebiges Pläneschmieden für ihre gemeinsame Zukunft.
Natürlich war alles in Ordnung. Letzte Woche hatte Hal sie gefragt, ob sie seine Frau werden wollte. Jill hatte keinen Moment gezögert, seinen Antrag anzunehmen. Und letzte Nacht hatte er sie noch leidenschaftlicher geliebt als jemals zuvor.
Jill lächelte beim Gedanken an seinen romantischen Heiratsantrag in einem winzigen, schummrigen Restaurant im East Village. Sie dachte, wie erstaunlich es doch war, dass eine einzige zufällige Begegnung das Leben für immer verändern konnte. Noch vor einem Jahr, bevor sie Hal kennen gelernt hatte, war sie resigniert zu dem Schluss gekommen, dass sie ihr Leben als Single verbringen würde.
Die Karte raschelte. Es hörte sich störend und merkwürdig an.
Jill sah zu ihm hinüber, und ihr Lächeln erlosch, denn sein Gesichtsausdruck wirkte so finster und verschlossen. Der Hal, den sie kannte, war ein sehr liebenswerter und unbeschwerter Mensch. Er hatte immer ein Lächeln auf den Lippen. Sein sonniges Temperament war eine der Eigenschaften, die sie am meisten an ihm schätzte - das und seine Leidenschaft für die Fotografie, die ihrer Hingabe an den Tanz gleichkam. »Hal? Stimmt etwas nicht?« Eine leise, angstvolle Ahnung stieg in ihr auf.
Sofort knipste er sein blendendes Lächeln an. Obwohl er wie die meisten Engländer ein heller Typ war und dunkelblondes Haar hatte, war er immer leicht gebräunt. Seine Familie war sehr wohlhabend. Blaues Blut, die Oberen Zehntausend oder so ähnlich. Jill hatte vor kurzem erfahren, dass sein Vater ein Earl war. Ein wahrhaftiger, echter Graf. Sein älterer Bruder war ein Viscount und würde den Titel eines Tages erben. Reiche Leute, das wusste Jill, waren immer leicht gebräunt. Das war eben einfach so.
Sie würde einen Adeligen heiraten. Ihr Leben war zu einem Märchen geworden - und sie zu Aschenputtel. Jill lächelte stillvergnügt.
»Jill. Schau auf die Straße«, befahl Hal knapp.
Sie gehorchte, und ihr Lächeln und ihre gute Laune schwanden; sein barscher Tonfall beunruhigte sie. Während sie sich auf den Verkehr konzentrierte, begann ihr Herz langsam und heftig Alarm zu schlagen. »Wir müssen reden«, sagte Hal.
Jill drehte sich zu ihm hin und starrte ihn überrascht an. Sie brauchte einen Moment, bevor sie herausbrachte: »Was ist los?«
Er wandte sich ab. Konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Ich will dir nicht wehtun«, sagte er.
Jill verriss das Lenkrad und wäre um ein Haar in ein entgegenkommendes Auto gerast. Es war Nachmittag, und auf dem Highway war viel Betrieb, aber der Verkehr floss mit gut 100 km / h flott dahin.
Ihr Magen machte einen Salto. Jill sah zu ihm hinüber, doch er starrte nach vorn durch die Windschutzscheibe. Sein Gesicht wirkte so ernst, so grimmig.
Nein, dachte sie und umklammerte so heftig das Lenkrad, dass ihre Finger sich verkrampften. Er liebt mich, und wir heiraten im Herbst. Er meint etwas anderes.
Es konnte nicht sein. Sie hatte schon so viel ertragen, dass es für ein ganzes Leben reichte. Nach dem Tod ihrer Eltern war Jill zu einer Tante in Columbus geschickt worden - einer ältlichen Witwe, deren eigene Kinder schon längst erwachsen waren und selbst Familien hatten. Tante Madeline war unnahbar, reserviert, fast abweisend, und aus der Sicht eines kleinen Kindes lieblos gewesen. Jill hatte eine sehr einsame Kindheit verbracht. Sie hatte nie richtige Freunde gehabt; das Ballett war ihre Zuflucht, ihr Lebensinhalt gewesen. Mit siebzehn war sie nach New York gegangen, um Ballett- Tänzerin zu werden, ohne auch nur einmal zurückzublicken.
Nun, da es Hal in ihrem Leben gab, war ihr klar geworden, wie einsam sie gewesen war.
Hal räusperte sich plötzlich, als wollte er eine einstudierte Rede halten. Jills Kopf fuhr wieder herum, und diesmal war sie wirklich besorgt. »Was ist denn? Ist jemand aus deiner Familie krank geworden?« Sie brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Oh Gott, ich weiß schon. Harrelson hat deine Arbeiten abgelehnt.« Hal hatte mit Feuereifer seine Arbeitsmappe in der ganzen Stadt herumgezeigt in der Hoffnung, dass eine Galerie seine Fotos ausstellen würde. Dieser Kunsthändler in SoHo hatte sich bei ihrem ersten Treffen begeistert gezeigt.
»Niemand ist krank. Harrelson hat sich noch nicht wieder gemeldet. Jill, ich habe viel nachgedacht. Über unser Gespräch von letzter Woche.«
Jill packte das Lenkrad noch fester und bemühte sich, ihre Aufmerksamkeit auf die Straße zu richten. Sie versuchte sich zu erinnern, worüber sie letzte Woche gesprochen hatten, aber es war unmöglich - ihr kastanienbrauner Pony hing ihr vor den Augen, und sie brach in Schweiß aus. Das Blut rauschte ihr in den Ohren und übertönte ihre Gedanken. Sein Tonfall gefiel ihr gar nicht - war er nervös? Ihr fiel nur ein einziges Gespräch ein, aber er konnte doch unmöglich seinen Antrag meinen? Das meinte er nicht. »Ich weiß nicht genau, von was wir gesprochen haben - außer, dass du mir einen Heiratsantrag gemacht hast und ich ihn angenommen habe.«
Sie versuchte ihn anzulächeln, aber es gelang ihr nicht ganz.
Er lehnte sich verdrießlich zurück. »Mir sind inzwischen Zweifel gekommen.«
Jill bemühte sich, ruhig zu bleiben, aber ihr Puls lief Amok. Sie bremste vorsichtig ab, schaute in den Rückspiegel und wechselte in die rechte Spur, wobei sie einen roten Wagen abdrängte, der nun praktisch an ihrer hinteren Stoßstange klebte. Das konnte nicht wahr sein. »Zweifel?« Sie war völlig schockiert und hoffte inständig, dass sie ihn falsch verstanden hatte. »Du meinst doch nicht an unserer Heirat? « Ihr Lächeln fühlte sich kläglich an.
»Es hat nichts mit dir zu tun«, sagte Hal; er hörte sich elend an.
»Meine Gefühle für dich haben sich nicht geändert.«
Oh Gott. Er meinte ihre Hochzeit. Jill konnte es einfach nicht glauben; ihr Verstand schien die Läden herunterzulassen, in Streik zu treten, die Aufnahme dessen zu verweigern, was er da sagte. Sie starrte ihn an. »Ich verstehe dich nicht. Du liebst mich. Ich liebe dich. So einfach ist das.«
Er fühlte sich sichtlich unbehaglich und vermied es, ihr in die Augen zu sehen. »Meine Gefühle für dich sind dieselben geblieben. Aber ich denke andauernd ... «
»Was?« Jills Stimme klang wie ein Peitschenschlag. Das konnte doch nicht wahr sein!
Aber hatte sie so etwas nicht erwartet, instinktiv, irgendwo tief drinnen? Denn - war ihre Liebe nicht zu schön gewesen, um wahr zu sein?
Er wandte sich ihr zu. »Ich will nicht den Rest meines Lebens in New York verbringen. Ich vermisse meine Familie, ich vermisse London. Ich vermisse unser Sommerhaus in Yorkshire.«
Jill wollte ihren Ohren nicht trauen. Mit schweißnassen Händen umklammerte sie das Lenkrad. Ihr weißes T-Shirt klebte an ihrem Körper. »Haben wir denn beschlossen, für immer in New York zu bleiben?«, fragte sie heiser und versuchte, sich auf die Straße zu konzentrieren, obwohl sie kaum etwas wahrnehmen konnte. Das Blut dröhnte ihr so laut in den Ohren, dass sie fast nichts anderes mehr hörte.
»Wenn diese Show ein Knüller wird, könnte sie noch Jahre am Broadway laufen. Erzähl mir nicht, dass du dann deinen Platz im Ensemble einfach sausen lassen würdest. So eine tolle Chance hattest du noch nie.«
Jill wünschte sich auch, dass The Mask ein Riesenerfolg würde, sie glaubte fest daran, und bis vor kurzem hatte sie nur für ihre Karriere gelebt, aber nun dachte sie fassungslos: Ja, ich würde gehen, wenn ich nur dich nicht verliere. Sie blieb stumm.
Auch Hal schwieg.
»Soll das heißen, dass du mich nicht heiraten willst?«, brachte sie schließlich hervor.
»Nein. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich denke, wir sollten es ein wenig langsamer angehen lassen. Ich glaube, es wäre das Beste, wenn ich für eine Weile nach Hause fahre und mir alles gründlich durch den Kopf gehen lasse.«
Jill schnappte nach Luft, als habe er ihr einen tödlichen Schlag versetzt. Sie wurde sich plötzlich ihrer zitternden Glieder und einer schrecklichen Übelkeit bewusst - sie fühlte sich, als müsste sie sich gleich übergeben. Sie wandte sich ihm zu, und während sie auf sein vollkommenes Profil starrte, spürte sie einen unvorstellbaren Schmerz, ein schweres, schreckliches Gewicht in der Brust. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Gute Nacht, Mäuschen. Eine tiefe Männerstimme. Daddy. Seine Lippen streiften ihr Haar. Seine Hand strich durch ihren fransigen Pony. Schlaf schön. Wir sind bald wieder da. Bevor du aufwachst.
Sie sah schattenhaft sein liebevolles Lächeln.
Gute Nacht, mein Schatz. Eine Frauenstimme, weich und zärtlich, die schlanke, anmutige Silhouette ihrer Mutter in der Tür ihres weiß und rosa eingerichteten Kinderzimmers.
Die Tür schloss sich.
Dunkelheit.
Stille.
Grauen. Allein sein - für immer.
Weil sie nie wiedergekommen waren.
»Jill!«, schrie Hal.
Jill zwang ihren Blick auf die Straße. Zu ihrem Entsetzen raste eine riesige Pinie heran, während der Wagen darauf zu schoss. Jill riss das Lenkrad herum, wohl wissend, dass es schon zu spät war ...
Nichts im Leben hätte sie auf den Moment des Aufpralls vorbereiten können. Ihr Herz blieb stehen. Jills ganzer Körper wurde gleichzeitig gegen den Sicherheitsgurt und den Airbag geschleudert. Das Auto, eine riesige Masse aus Stahl und Fiberglas, dröhnte, kreischte und schien bei dem frontalen Zusammenstoß regelrecht zu explodieren. Überall flogen Glassplitter umher. Sie prasselten auf Jills Haar, ihre nackten Arme, ihre Oberschenkel.
Und dann herrschte absolute Stille, absolutes Schweigen.
Bis auf Jills donnernden Herzschlag.
Sie kam zu sich, langsam und voll Entsetzen. Ihr Herz hämmerte schmerzhaft in ihrer Brust. Jills ganzer Körper fühlte sich an, als sei er in zwei Teile zerbrochen worden, zerschmettert und zerquetscht. Sie konnte sich nicht bewegen, sie konnte nicht atmen. Der Schock löschte jeden Gedanken aus.
Ein Unfall ...
Und dann fühlte sie etwas an ihrem Gesicht herabrinnen, ihre Lungen füllten sich mit Luft, und sie öffnete langsam die Augen. Sie musste das Rinnsal nicht sehen oder schmecken, um zu wissen, dass es Blut war - ihr Blut.
Sie atmete, sie lebte, sie waren gegen einen Baum gefahren - oh Gott. Jill riss die Augen auf und sah die zersplitterte Windschutzscheibe. Ihre Seite des Wagens hatte sich richtiggehend um den Baum gewickelt; Hals Seite war wie ein Akkordeon zusammengequetscht.
Hal.
Jill stöhnte und versuchte, den Gurt loszumachen, konnte aber wegen des Airbags nichts sehen. Sie drückte ihn beiseite, um nach Hal zu schauen. Blut und Schweiß und ihr viel zu langer Pony raubten ihr die Sicht. »Hal?«
Sie kämpfte mit dem Airbag und ihren Strähnen. Dann erstarrte Jill. Auch Hal war hinter einem Airbag eingeklemmt. Aber sein Kopf hing leblos zur Seite, seine Augen waren geschlossen.
»Hal!«, kreischte Jill.
Sie drehte sich um und warf sich gegen die Tür, bis sie irgendwie den Griff zu fassen bekam und die Tür aufging. Jill kam schwankend auf die Beine, der Kopf tat ihr weh, und sie konnte kaum atmen. Sie wankte und stolperte auf dem unebenen Untergrund aus Steinen, Zweigen und Matsch um das Heck des Wagens herum. Vor der Beifahrertür blieb sie wie erstarrt stehen. Blut schoss aus seinem Hals, wo ein großer Splitter der Windschutzscheibe sich offenbar in seine Kehle gebohrt hatte.
»Nein!« Jill zog heftig an seiner Tür, und sie flog auf. Panisch tastete sie nach dem Verschluss des Sicherheitsgurtes und öffnete ihn.
Jill legte die Arme um Hal und zerrte ihn aus dem Wrack. Das Blut floss weiter in Strömen aus seinem Hals; die Vorderseite seines Hemdes färbte sich dunkelrot. Sie legte ihn auf den Boden und presste beide Hände auf die Wunde in dem verzweifelten Versuch, die Blutung zu stoppen. Warm und nass und klebrig floss sein Blut durch ihre Finger. »Hilfe!«, schrie sie, so laut sie konnte. »Hilfe! Bitte helft uns!«
Sie schluchzte und starrte in sein leichenblasses Gesicht. Dann sah sie seine Augenlider flattern - er lebte!
»Du darfst nicht sterben!«, schrie sie und drückte noch fester auf die Wunde, doch die Blutlache wurde unaufhaltsam größer und größer. »Hal, gleich kommt Hilfe, bitte stirb nicht - halt durch!«
Er schlug die Augen auf. Als er den Mund öffnete, füllte er sich mit Blut. »Ich liebe dich«, sagte er.
»Nein!«, kreischte Jill.
Und dann schlossen sich seine Augen, und er sagte: »Kate.«
Erster Teil
Die Liebenden
Eins
London - in der Gegenwart
Wer war Kate?
Jill holte tief Luft. Unter ihren geschlossenen Lidern quollen Tränen hervor. Hal war tot, und sie stand am Band der Gepäckausgabe in der Ankunftshalle von Heathrow. Es war kaum zu fassen, wo sie sich befand, und noch schwerer zu begreifen, warum sie hier war. Jill war wie betäubt. Ihre Erschöpfung, die hauptsächlich durch den Schock, aber auch durch den Jetlag bedingt war, machte es nicht eben besser. Hal war tot, und sie brachte seinen Leichnam nach Hause zu seiner Familie. Die Leere in ihr, der Schmerz, die Trauer, all das war entsetzlich stark und einfach überwältigend.
Hal war tot. Fort, für immer. Sie würde ihn nie wiedersehen. Und sie hatte ihn umgebracht.
Das war das Schlimmste, was sie sich jemals hätte vorstellen können, ein wahr gewordener Albtraum.
Sie wusste nicht, ob sie den Schmerz, die hilflose Verwirrung noch länger ertragen konnte - und sich selbst.
Sie wusste nicht, ob sie die Dunkelheit noch länger ertragen konnte.
Ich liebe dich ... Kate.
Hals Stimme, seine letzten Worte erfüllten ihr ganzes Denken. Sie waren eine gespenstische Litanei, die sie nicht abstellen konnte.
Wer war Kate?
Jill fuhr zusammen. Das Gepäck ihrer British-Airways-Maschine kam die Rampe herabgerutscht und plumpste auf das Förderband, um sich wie ihre Gedanken immer auf derselben Bahn im Kreis zu drehen. Das Bild von Hal, wie er unter den Bemühungen eines Rettungsteams am Rande des Highways starb, hatte sich tief in ihr Gedächtnis gegraben. Genauso tief wie seine letzten Worte, die sie wie ein grausames Echo verfolgten. Worte, die sie niemals vergessen wollte - Worte, an die sie sich nie mehr erinnern wollte.
Ich liebe dich ... Kate.
Jill schlang die Arme um sich, sie war zittrig und fror. Das vorbeiziehende Gepäck verschwamm vor ihren Augen. Jill wusste, sie wusste es ganz sicher, dass er sie, Jill, gemeint hatte, als er sterbend sagte, dass er sie liebte. Er hatte sie geliebt - so, wie sie ihn geliebt hatte. Jill hatte nicht den geringsten Zweifel daran. Und sie wusste, dass sie sich an dieser Überzeugung festhalten musste. Aber, gütiger Gott, sein Tod und die Rolle, die sie dabei gespielt hatte, und dass er von dieser anderen Frau, Kate, sprach - all das war schrecklich genug ohne ihr letztes, endgültiges, unvergessliches Gespräch. Wenn er ihr nur nicht gesagt hätte, dass ihm wegen ihrer gemeinsamen Zukunft Zweifel gekommen waren. Er hatte an ihnen, an ihr gezweifelt. Jill schluchzte erstickt. Sie wurde von Schuld und Schmerz, Trauer und Bestürzung überwältigt.
Jill schloss die Augen. Sie durfte nicht an dieses Gespräch denken, es war unerträglich. Alles war unerträglich. Hal war ihr genommen worden. Genau wie ihre Eltern. Ihre Liebe, ihr Leben war zerstört - zum zweiten Mal.
Plötzlich war Jills Welt so von Schmerz erfüllt, dass sie es nicht mehr ertragen konnte. Ihr wurde schwarz vor Augen. Jill kämpfte gegen das Verlangen, sich einfach fallen zu lassen, ohnmächtig zu werden. Sie musste aufhören zu denken, sagte sie sich verzweifelt, und wurde sich der Tränen bewusst, die über ihr Gesicht liefen, des belebten Terminals, der abwechselnd verschwamm und wieder deutlich wurde. Sie kämpfte schwankend um ihr Gleichgewicht, ihre Knie drohten nachzugeben. Sie musste ihr Gepäck holen. Sie musste hier raus, sie brauchte frische Luft. Sie musste sich auf einfache, alltägliche Dinge konzentrieren - und darauf, Hals Familie zu begegnen, du lieber Himmel. Hals Schwester Lauren sollte sie vom Flughafen abholen.
Und in diesem Augenblick setzte ihr Verstand auf einmal zu ihrem Entsetzen völlig aus.
Für einen Moment war sie vollkommen desorientiert. Panik erfasste sie. Sie wusste nicht, wo sie war, und warum. Sie wusste nicht, wer sie war. Die Menschenmenge um sie herum, die große Halle, alles war nur noch ein Meer aus Schatten und Schemen. Sie konnte nichts und niemanden erkennen. Selbst die Worte auf den Hinweisschildern wurden zu einem fremdartigen Kauderwelsch, das sie nicht lesen konnte.
Aber überall waren Augen. Auf sie gerichtet, weit aufgerissen und vorwurfsvoll, hunderte feindseliger Blicke.
Warum glotzten alle sie an, als wünschten sie, sie wäre tot? Jill wollte sich umdrehen und fliehen, aber wohin?
Tot.
Im nächsten Augenblick schaltete ihr Verstand wieder in den richtigen Gang, die Schatten wurden zu Wänden und Türen, Gängen und Geländern, die Schemen zu Menschen, die Augen zu Gesichtern, und sie wusste, dass alles noch viel schlimmer war. Die Leute starrten sie tatsächlich an, aber schließlich weinte sie unaufhörlich, und sie war in Heathrow, um Hals Leichnam nach Hause zu seiner Familie zu bringen
- morgen sollte die Beerdigung stattfinden. Wussten alle diese Leute hier, dass sie den Mann ihrer Träume umgebracht hatte? Jill wünschte, sie hätte sich nicht wieder an alles erinnert. Das kurze Aussetzen ihres Gedächtnisses empfand sie nun als herrliche Erleichterung. So ging es ihr andauernd seit Hals Tod - sie wusste nicht, was sie tun sollte, erlebte Augenblicke schrecklicher Verwirrung, gefolgt von totalen Aussetzern und dann von vollkommener, grausamer Erinnerung. Schock, hatte der Arzt gesagt. Sie würde die nächsten paar Tage unter Schock stehen, vielleicht sogar die nächsten Wochen. Er hatte ihr geraten, sich zu Hause auszuruhen und die Medikamente zu nehmen, die er ihr verschrieben hatte.
Jill hatte die Antidepressiva nach der ersten Nacht in der Toilette hinuntergespült. Sie hatte Hal so sehr geliebt, und sie wollte sich ihre Gefühle nicht rauben lassen, indem sie sie mit Tabletten dämpfte oder ausschaltete. Sie würde ihn betrauern, wie sie ihn geliebt hatte, mit ganzem Herzen, auf ewig.
Jill nahm ihre Sonnenbrille ab und trocknete ihre Tränen mit einem Taschentuch, bevor sie sie wieder aufsetzte. Ihr Gepäck. Sie musste ihre Reisetasche finden und hier herauskommen, so lange sie noch bei sich war und sich auf den Beinen halten konnte. Das Einzige, was sie jetzt tun musste, entschied Jill, war möglichst nicht zu denken.
Ihre eigenen Gedanken waren ihr schlimmster Feind.
Jill schaute nach unten und entdeckte neben ihren Füßen ihr Beauty-Case, ihre Shoppertasche aus Vinyl mit Leopardenmuster und ihren viel zu weiten schwarzen Blazer. Sie richtete den Blick auf das Gepäckband. Überrascht stellte sie fest, dass die meisten Koffer und Taschen schon abgeholt worden waren. Es schien ihr, als sei sie noch vor wenigen Sekunden von hundert Passagieren ihres Fluges umgeben gewesen - jetzt warteten nur noch ein Dutzend Leute auf ihr Gepäck. Jill schnappte erschrocken nach Luft. Hatte sie ein Blackout gehabt? Irgendwie schien sie mit ihrer Erinnerung auch ihr Zeitgefühl verloren zu haben.
Sie fragte sich, wie sie das alles überstehen sollte, nicht nur die nächsten Tage, sondern auch die nächsten Wochen, Monate, Jahre. Denk nicht daran!, befahl sie sich hektisch. Sie durfte ihren Gedanken keinen freien Lauf lassen. Plötzlich entdeckte sie ihre Reisetasche aus schwarzem Nylon. Sie glitt bereits an ihr vorbei. Jill hastete verzweifelt hinterher, packte den Griff und hievte die Tasche vom Band. Die Anstrengung kam sie teuer zu stehen; keuchend verharrte sie einen Moment. Sie war noch nie so unglaublich erschöpft gewesen.
Als sie wieder zu Atem gekommen war, blickte sie sich in der wimmelnden Menge um. Wohin sollte sie jetzt gehen? Was sollte sie jetzt tun? Wie sollte sie Lauren finden, die sie nur von einem Foto kannte?
Jill stand da wie angewurzelt und musste trotz ihrer Vorsätze daran denken, wie Hal ihr damals stolz die Fotos von seiner Familie gezeigt hatte. Hal hatte oft von ihnen gesprochen, nicht nur von seiner Schwester, sondern auch von seinem älteren Bruder Thomas, seinen Eltern und seinem Cousin aus Amerika. Seinen Schilderungen zufolge standen sich in seiner Familie alle sehr nahe. Es war so offensichtlich gewesen, wie sehr er sie liebte. Er hatte richtig gestrahlt, wenn er ihr Geschichten aus seiner Kindheit erzählte. Am häufigsten hatte er von den Sommerferien in Stainesmore gesprochen, dem alten Familiensitz im Norden, wo sie als Kinder geangelt, gejagt und ein nahe gelegenes altes Spuk- haus erforscht hatten. Doch es hatte auch Winterferien in St. Moritz gegeben, Ostern in St. Tropez und die Jahre in Eton, in denen er Hockey gespielt, das Londoner West End unsicher gemacht, den »Babes«, wie er sagte, nachgestellt und sich an Türstehern vorbeigemogelt hatte. Dann seine Jahre in Cambridge, der Fußball. Und immer, seit er ein kleiner Junge gewesen war, war da seine erste, seine wahre Liebe, seine Fotografie gewesen.
Jill wusste, dass sie wieder weinte. Er hatte sie in so vielen Nächten in den Armen gehalten und ihr versichert, wie sehr seine Familie sie lieben würde - und dass sie sie mit offenen Armen willkommen heißen würde, als gehörte sie zu ihnen. Er hatte es kaum erwarten können, sie mit nach Hause zu bringen, und sich darauf gefreut, dass Jill sie kennen lernte. Bis zu ihrem unfassbaren letzten Gespräch im Auto, als er ihr gesagt hatte, dass er sie vielleicht doch nicht heiraten wollte, dass er für eine Weile nach Hause fahren würde, allein.
Jill wusste, dass sie nicht wieder weinen durfte, doch die Tränen ließen sich nicht abstellen. Zitternd und schwach und voll Angst vor einem erneuten Blackout sammelte sie ihr Gepäck ein und ging langsam durch die Menschenmenge. Sie musste jenes letzte Gespräch vergessen. Es war der Tropfen, der das Fass der Katastrophe zum Überlaufen brachte, und sie war darüber vor Entsetzen und Verständnislosigkeit wie gelähmt. Mit der Zeit hätten sie solche Schwierigkeiten überwunden. Hal hätte sie niemals verlassen. Jill musste das einfach glauben.
Beobachtet von einigen Zollbeamten folgte sie den anderen Passagieren durch die Absperrung und war erleichtert, dass ihre Tränen wenigstens für den Augenblick versiegt waren. Sie würde gleich Lauren und den Rest von Hals Familie treffen, und sie hätte es niemals für möglich gehalten, dass das unter diesen Umständen geschehen könnte - sie brachte Hals Leichnam zur Beerdigung nach Hause. Sie wollte unbedingt die Kontrolle über sich zurückgewinnen. Sie wollte in Gegenwart der Familie nicht einen solchen Aussetzer erleiden.
Sie blieb stehen, als sie zu einem kreisförmigen Bereich gelangte, wo eine Menge Leute auf die ankommenden Passagiere warteten. Es waren Chauffeure darunter, die Schilder mit Namen in dicken Lettern hochhielten. Und Jills Blick fiel sofort auf eine blonde Frau etwa in ihrem Alter. Jill erkannte die Frau augenblicklich. Selbst wenn sie Lauren nicht auf Fotos gesehen hätte, hätte sie sie erkannt, denn sie sah Hal sehr ähnlich. Ihr schulterlanges Haar hatte denselben dunkelblonden Ton, in den sich hellere, goldfarbene Strähnchen mischten, und ihr Gesicht war ebenso klassisch geschnitten. Wie Hal war sie groß und schlank. Lauren strahlte auch dieselbe beiläufige Eleganz und die Sorglosigkeit der Wohlhabenden aus, die nichts mit dem teuren Hosenanzug zu tun hatte, den sie trug - diese Aura umgab nur jene, die schon reich geboren waren.
Jill zögerte und konnte einfach nicht mehr weiter. Plötzlich hatte sie eine Todesangst davor, dieser Frau gegenüberzutreten.
Lauren hatte sie auch gesehen. Auch sie verharrte reglos und starrte vor sich hin. Wie Jill trug sie eine Sonnenbrille. Aber ihre war aus Perlmutt und von modisch großer Form, passte perfekt zu ihrem beigen Armani-Anzug und dem Hermès-Schal. Sie lächelte Jill nicht an. Ihr Gesicht war unbeweglich, zu einer Maske erstarrt ... was bedeutete sie? Selbstbeherrschung? Leid? Abscheu? Jill konnte es nicht einschätzen.
Aber sie war verblüfft und bestürzt. Sie packte ihre Reisetasche, ihr Beauty-Case und ihre leopardengemusterte Umhängetasche und war sich nun der verwaschenen Levis und des einfachen weißen T-Shirts bewusst, die sie trug. Jill ging langsam auf Hals Schwester zu.
»Lauren Sheldon?« Sie konnte ihr trotz der dunklen Brillen, die sie beide trugen, nicht ins Gesicht sehen.
Lauren nickte einmal knapp und wandte sich ab. Jill schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter, der sie zu ersticken drohte. »Ich bin Jill Gallagher.«
Lauren hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ihre Handtasche schien aus dunkelbraunem Kroko zu sein. Eine goldene, diamantbesetzte Piaget-Uhr blitzte unter ihrem Ärmel hervor. »Ich habe einen Wagen draußen. Den Sarg haben wir bereits abgeholt. Wegen der Osterferien konnten wir kein anständiges Hotelzimmer für Sie finden, also werden Sie im Haus übernachten.« Sie drehte sich um und strebte eilig auf den Ausgang zu.
Einen Moment lang starrte Jill ihr zitternd und ungläubig nach. Die Frau hatte nicht einmal Hallo gesagt oder sich nach ihrem Flug erkundigt.
Hal hatte Lauren als liebenswürdig, einfühlsam und mehr als freundlich beschrieben. Diese Frau war kalt und abweisend, nicht einmal höflich.
Aber was hatte sie denn erwartet? Sie hatte am Steuer gesessen, und nun war Hal tot. Lauren musste sie hassen - die ganze Familie Sheldon musste sie hassen. Sie hasste sich ja selbst.
Noch viel elender als vorher, nun von einer zusätzlichen grässlichen Angst erfüllt, folgte Jill Lauren aus dem Terminal, und ihr Gehirn war wie leergefegt.
Jill setzte sich so zurecht, dass sie auf die Straße hinter sich schauen konnte. Sie saß mit Lauren im Fond, während ein Chauffeur den Rolls-Royce lenkte. Die Frauen hatten sich so weit wie möglich entfernt voneinander in gegenüberliegenden Ecken der geräumigen Limousine niedergelassen. Der Leichenwagen fuhr direkt hinter ihnen. Jill sah, wie er links abbog. Sie schaute dem langen schwarzen Wagen weiter nach, während er sich immer weiter entfernte. Er brachte Hals Leichnam zum Friedhof, während Lauren und sie zum Haus der Sheldons in London fuhren.
Jill wollte nicht von dem Leichenwagen getrennt werden. Am liebsten hätte sie an die Tür gehämmert und darum gebeten, aussteigen zu können. Ihr Herz schlug heftig, und das Gefühl des Verlustes wurde erstaunlicherweise noch stärker. Es war verrückt. Jill starrte weiter hinter dem verschwindenden Wagen her. Sie biss sich auf die Lippe, entschlossen, keinen Laut von sich zu geben. Sie konnte nicht aufhören zu zittern und befürchtete, dass sie wieder versucht sein könnte, ihrer Trauer durch ein Blackout zu entkommen.
Jill zwang sich, sich im Sitz zurückzulehnen und tief durchzuatmen; mit geschlossenen Augen kämpfte sie um ihre Selbstbeherrschung. Sie würde nicht einmal die nächsten vierundzwanzig Stunden überstehen, wenn sie sich nicht irgendwie in den Griff bekam. Als sie wieder ein wenig Fassung gewonnen hatte, sah sie zu Lauren hinüber. In der halben Stunde, seit sie den Flughafen verlassen hatten, hatte Hals Schwester kein einziges Wort gesagt. Sie wandte Jill mit hochgezogenen Schultern den Rücken zu und starrte aus dem Fenster. Sie hatte ihre Sonnenbrille nicht abgenommen, aber Jill trug ihre auch noch. Sie saßen da wie zwei feindselige Zombies, dachte Jill grimmig.
So viel zu Laurens Liebenswürdigkeit. Sie hätten einander trösten können. Schließlich hatten sie beide Hal geliebt. Doch Jill fand nicht den Mut, den ersten Schritt zu tun, noch nicht, und sie war sich der Rolle, die sie bei seinem Tod gespielt hatte, nur allzu bewusst. Tränen brannten ihr in den Augen. Morgen war die Beerdigung. Ihr Rückflug war für den übernächsten Abend gebucht. Sie hasste den Gedanken, Hal hier zurückzulassen, mit einem ganzen Ozean zwischen ihnen; aber andererseits - wenn alle Sheldons so mitfühlend waren wie Lauren, war es sicher besser so.
Sie öffnete ihr großes Beauty-Case, eine Louis-Vuitton- Imitation, die sie für fünfzehn Dollar an einer Straßenecke gekauft hatte, und kramte ein Taschentuch hervor. Sie tupfte sich die Augen trocken. Lauren hasste sie. Dessen war Jill sich ganz sicher. Sie konnte die brodelnde Abneigung der anderen Frau fast spüren.
Jill konnte es ihr nicht verübeln.
Als sie das Taschentuch wieder in die Tasche steckte, blickte sie auf und sah, dass Lauren sie beobachtete, sie zum ersten Mal direkt anschaute.
Jill dachte nicht lange nach. Impulsiv sagte sie mit leiser Stimme:
»Es tut mir Leid.«
»Uns allen tut es Leid«, erwiderte Lauren trocken.
Jill biss sich auf die Lippe. »Es war ein Unfall.«
Lauren sah sie unverwandt an. Jill konnte ihre Augen hinter der dunklen Brille nicht sehen. »Warum sind Sie gekommen? «
Jill war überrascht. »Ich musste ihn doch nach Hause bringen. Er hat so oft von Ihnen gesprochen - von Ihnen allen. « Sie konnte nicht weitersprechen.
Lauren sah wieder weg. Es herrschte Schweigen.
»Ich habe ihn auch geliebt«, hörte Jill sich sagen.
Lauren drehte sich zu ihr um. »Er sollte noch am Leben sein. Vor wenigen Tagen hat er noch gelebt. Ich kann nicht glauben, dass er fort ist.« Ihre Stimme klang wütend, und sie hatte mit dem Finger auf Jill gezeigt - es war unübersehbar, wem sie die Schuld gab.
»Ich auch nicht«, flüsterte Jill elend. Es stimmte. Mitten in der Nacht wachte sie auf und erwartete, neben sich die beruhigende Wärme von Hals Körper zu spüren. Die Kälte ihres Bettes war ein Schock, ebenso wie die plötzliche Erinnerung an seinen Tod. Jill hatte erfahren müssen, dass es nichts Schlimmeres gab als das Vergessen des Schlafes, auf das die absolute Bewusstheit des Wachens folgte. »Wenn«, flüsterte Jill, mehr an sich als an Lauren gerichtet, »wenn wir nur an jenem Wochenende nicht weggefahren wären.« Aber das waren sie. Und sie konnte die vergangenen Tage nicht ändern, sie konnte sie nur bereuen. Sie würde ihr ganzes restliches Leben lang Reue fühlen - Reue und Schuld.
Hatte er wirklich daran gedacht, sich von ihr zu trennen?
»Hal hätte schon vor Monaten nach Hause kommen sollen «, unterbrach Lauren barsch Jills Gedanken. »Es war geplant, dass er im Februar kommt - zu meinem Geburtstag.«
»Es gefiel ihm in New York«, brachte Jill mit abgewandtem Blick hervor.
Lauren nahm ihre Sonnenbrille ab und enthüllte rotgeweinte Augen in exakt demselben Bernsteinton wie Hals. »Er hatte Heimweh. Das hat er mir bei unseren letzten Telefonaten gesagt.«
Jill war wie versteinert. Was hatte er seiner jüngeren Schwester, mit der er sich so gut verstand, sonst noch gesagt?
Sie meinte, sterben zu müssen, wenn Lauren von Hals plötzlichem Rückzieher wüsste.
Dann korrigierte sie sich ärgerlich - er hatte keinen Rückzieher gemacht. Nichts war endgültig beschlossen worden. Alles hätte sich wieder eingerenkt, und zwar eher früher als später.
Auch Lauren blieb reglos. Schließlich sagte sie: »Er hat auch Sie erwähnt.«
Jill zuckte zusammen und starrte Lauren aus weit aufgerissenen Augen an, als säße sie einem Alien gegenüber. Er hatte sie erwähnt?
»Was meinen Sie damit, dass er mich erwähnt hat?«
»Genau, was ich sage«, antwortete Lauren und setzte ihre Brille wieder auf. Sie sah aus dem Fenster, während der silbergraue Rolls-Royce dahinglitt. »Er hat erwähnt, dass er öfter mit Ihnen ausginge.«
Jill starrte sie immer noch entgeistert an. Sie waren nicht öfter miteinander ausgegangen. Sie hatten vom Heiraten gesprochen - sie hatten kurz vor einer Verlobung gestanden. Sie war sprachlos.
»Wie lange waren Sie mit ihm befreundet?«, fragte Lauren fast grob. Jills Augen füllten sich erneut mit Tränen, und sie sah die andere Frau nur noch verschwommen. »Acht Monate. Wir haben uns vor acht Monaten kennen gelernt.« Sie krallte sich Hilfe suchend in das geschmeidige Leder des Sitzes.
»Das ist nicht besonders lange«, stellte Lauren nach einer kurzen Pause fest.
»Es war lange genug, um sich mit Haut und Haaren zu verlieben und darüber nachzudenken ... « Jill unterbrach sich.
Lauren nahm die Brille wieder ab. »Worüber nachzudenken? «, fragte sie fordernd.
Jill fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Sie zögerte. So vieles schoss ihr durch den Kopf - seine Zwiespältigkeit, ihre Schuld, eine Frau namens Kate. »Über die Zukunft«, flüsterte sie. Lauren starrte sie an, als sei sie ein Kalb mit zwei Köpfen. »Er hätte schon vor langer Zeit nach Hause kommen sollen«, sagte sie schließlich. »Er gehörte einfach nicht nach New York.«
Jill wusste nicht, wie sie darauf antworten sollte. Hal hatte seiner Schwester nicht erzählt, wie ernsthaft seine Beziehung zu ihr war. Warum? Das tat ihr weh. Gott, es tat ihr so weh wie der Gedanke an ihr letztes Gespräch - daran, wie sehr er sie mit seinen Zweifeln an ihrer Zukunft als Ehepaar verletzt hatte. Sie lehnte sich im Sitz zurück; sie war völlig am Ende. Es schmerzte sie fast so sehr wie sein Tod.
Sie musste irgendeinen ruhigen Ort finden, den Kopf unter einem Kissen vergraben, und schlafen. Aber dann würde sie aufwachen und sich an alles erinnern, und es würde so schrecklich sein ...
Der Rolls-Royce hielt an.
Augenblicklich wurde Jills Anspannung noch stärker. Das Haus der Sheldons war der letzte Ort auf Erden, an dem sie jetzt sein wollte, denn wenn sie aus Laurens Empfang darauf schließen konnte, wie der Rest der Familie sie begrüßen würde, dann war sie nicht in der Verfassung, sie kennen zu lernen - jetzt nicht und auch nicht irgendwann.
Jill bemerkte, dass sie sich auf einer viel befahrenen zweispurigen Straße mitten in London befanden. Der Chauffeur wartete auf eine Lücke im Gegenverkehr, um nach rechts abbiegen zu können. Die Flügel eines hohen Gittertores standen offen, doch die Straße, in die sie einbiegen wollten, wurde von einem Schlagbaum und einem uniformierten Wachmann versperrt. Jill fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Hinter dem Schlagbaum konnte sie eine schattige Allee und eindrucksvolle Villen erkennen.
Der Rolls-Royce bog ab, der Schlagbaum hob sich, ohne dass sie abbremsen mussten, und der Wachmann in seiner kleinen Kabine winkte sie durch. Jill verrenkte sich fast den Hals, während der Rolls-Royce die Straße entlangfuhr, um ein palastartiges Anwesen nach dem anderen zu bewundern. Hinter den Villen auf der rechten Seite schien ein Park zu liegen.
Jill hätte gern gefragt, wo sie sich befand, doch sie tat es nicht.
Der Wagen bog in die kreisförmige Auffahrt einer der größten Villen der Straße ein und blieb auf dem Kies vor dem Haus stehen. Jill meinte zu fühlen, wie ihr Puls in die Höhe schnellte.
»Da sind wir.« Lauren stieg aus, ohne darauf zu warten, dass der Chauffeur ihr die Tür aufhielt. Jill war nicht so schnell. Der Mann öffnete ihr die Tür, und Jill stolperte hinaus. Es hatte zu nieseln begonnen.
Jill stand da wie versteinert. Die feinen Tröpfchen fielen ihr auf Haar und Schultern, doch sie starrte auf das Haus, in dem Hal aufgewachsen war, während Lauren die breite, imposante Freitreppe hinaufeilte. Zwei steinerne Löwen saßen zu beiden Seiten der Treppe. Einen Moment lang war Jill wie vor den Kopf gestoßen.
Hal hatte mit großem Stolz vom Anwesen seiner Familie in London gesprochen. Er hatte betont beiläufig bemerkt, dass das Haus, das um die Jahrhundertwende erbaut worden war, etwa fünfundzwanzig Zimmer und einen der herrlichsten Rosengärten Londons hatte. Es war nicht der ursprüngliche Sitz der Familie, welcher aus der Georgianischen Ära stammte und heute als Baudenkmal dem National Trust unterstand. Jill hatte nur so viel verstanden, dass Uxbridge Hall, das etwas abseits vom Zentrum Londons lag, der Öffentlichkeit zur Besichtigung offen stand, obwohl die Familie auch dort private Räumlichkeiten zur Verfügung hatte.
Jill betrachtete entgeistert die Sheldonsche Stadtvilla. Sie hatte erwartet, dass das Gebäude von Reichtum zeugte, doch nun stand sie dem ganzen Ausmaß dieses Reichtums wahrhaftig gegenüber. Das Haus war aus zart getöntem Sandstein gebaut und drei Stockwerke hoch - allerdings hatten die beiden unteren offensichtlich doppelte Raumhöhe. Ein tempelartiger Ziergiebel über dem riesigen Portal wurde von dicken Säulen gestützt, und auch die vielen bogenförmigen Fenster waren mit kleinen Pedimenten und komplizierten steinernen Reliefs geschmückt. Die Zimmer im ersten Stock hatten eiserne Balkone, und aus den hohen, schrägen Dächern ragte ein kleiner Wald von Schornsteinen. Das Mauerwerk an sich war schon bewundernswert schön. Mühevolle Feinarbeit war in jedes Sims und jede Verzierung geflossen. Das Haus war umgeben von äußerst gepflegten Rasenflächen und blühenden Rosengärten, die einen betörenden Duft verbreiteten. Ein hoher schmiedeeiserner Zaun umgab das gesamte Anwesen und hielt Neugierige fern.
»Du lieber Himmel«, hörte Jill sich sagen. Trotz aller Erzählungen von Hal konnte sie kaum glauben, dass er hier aufgewachsen war. Und das war nur das Stadthaus, nicht einmal der Stammsitz der Familie, von dem Jill annahm, er müsse noch größer und grandioser sein. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie klein und schäbig ihr Apartment im Village war. Und sie wünschte, sie trüge nicht ihre älteste, liebste und verwaschenste Jeans.
Falls Lauren sie gehört hatte, gab sie es nicht zu erkennen, sondern öffnete stattdessen das schwere Eingangsportal.
»Ich bringe Ihr Gepäck hinein, Madam«, sagte der Chauffeur hinter ihr.
Jill versuchte ihn anzulächeln, merkte, dass es ihr misslang, und folgte langsam Lauren ins Haus. Sie fand sich in einer großen Eingangshalle wieder, mit einer hohen Decke und einem polierten Fußboden aus beigem und weißem Marmor. Kunstwerke zierten die Wände, und die kleine Bank, der Tisch mit der Marmorplatte sowie der Spiegel darüber waren sämtlich vergoldet. Jill biss sich grimmig auf die Lippe. Ihr war nur allzu deutlich klar, dass sie hier nicht hingehörte.
Sie schaute an ihrer abgetragenen Jeans und der schwarzen Jacke hinunter, die sie in dem klimatisierten Wagen angezogen hatte. Eigentlich war es ein Herren-Sportjackett, aber es hatte ihr auf Anhieb gefallen, und sie hatte es in dem Second-Hand-Shop für sich selbst gekauft. Ihre Slipper waren von Cole-Haan, aber schon sehr alt, butterweich und ausgeleiert. Sie konnte nun einmal nur bequeme, gut eingelaufene Schuhe tragen, wenn sie nicht tanzte, weil ihr Beruf ihr kaputte und schmerzende Füße eingetragen hatte.
Jill zögerte, denn sie hatte Angst davor, Lauren zu folgen. Sie fühlte sich entschieden fehl am Platze und wünschte, sie trüge einen Hosenanzug wie Lauren. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wie sie sich auf die weite Reise vorbereitet hatte. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sich in ihrer Reisetasche befand. Wenn sie Glück hatte, hatte KC, ihre beste Freundin und Nachbarin, ihr beim Packen geholfen, aber Jill wusste nicht einmal mehr, ob sie in den letzten Tagen überhaupt mit KC gesprochen hatte. Plötzlich machte sie sich Sorgen um ihren Kater Ezekial. Sie musste sofort KC anrufen und sich vergewissern, dass sie ihn gut versorgte.
Jills Blick verharrte auf einem Gemälde, das eine ganze Wand einnahm. Es musste ein großes Meisterwerk sein und stellte irgendeine Szene aus der Mythologie dar, die ihr nichts sagte. Sie schluckte und befahl sich, tief und gleichmäßig zu atmen. Sie würde nun seine Verwandten kennen lernen, und sie würde höflich zu ihnen sein. Sicher würden sie sie im Gegenzug freundlich behandeln - nicht wie Lauren. In ein paar Augenblicken würde man ihr ihr Zimmer zeigen. Es konnte ihr nicht schnell genug gehen.
Wenn sie nur in einem Hotel untergekommen wäre.
Sie hatte inzwischen so große Angst, dass sie drauf und dran war, das Haus fluchtartig wieder zu verlassen. Jill schaute über die Schulter zurück. Die Eingangstür war fest geschlossen.
Allmählich stieg Panik in ihr auf.
Jill sagte sich, dass alles gut werden würde. Dass sie nur weiterhin tief durchatmen musste.
Hal, der in ihren Armen starb, sein totenbleiches Gesicht, das Blut, das ihm aus dem Mund lief, all diese schrecklichen Bilder drängten sich mit einem Mal wieder in ihr Bewusstsein.
Sie hörte Schritte. Jill versuchte, ihre zitternden Hände ruhig zu halten und zu lächeln, als Lauren erschien. Sie hatte ihren Blazer abgelegt und ein T-Shirt aus beigefarbener Seide enthüllt, das vermutlich mehr gekostet hatte als Jills gesamte momentane Garderobe.
»Kommen Sie«, sagte sie.
Jill folgte ihr voll ängstlicher Erwartung. Lauren führte sie in ein großes Wohnzimmer, das noch viel luxuriöser eingerichtet war als das Foyer. Doch Jill hatte keinen Blick übrig für die prächtigen, wenn auch verblassten Orientteppiche, die antiken Möbel oder den Matisse an der Wand. Drei Männer standen in der Mitte des Raumes, einer älter und weißhaarig, die beiden anderen jünger, etwa um die Dreißig, der eine goldblond und sonnengebräunt, der andere dunkelhaarig mit olivfarbenem Teint. Alle drei hielten ein Glas in der Hand.
Lauren blieb stehen und Jill ebenfalls. Die drei Männer drehten sich um. Sie starrten sie an.
Drei Paar durchdringender Augen. Dreimal derselbe vorwurfsvolle Blick.
Das war Hals Familie.
Jill wusste, dass sie Hals alten Vater William vor sich hatte, seinen älteren Bruder Thomas und seinen Cousin Alex. Sie wusste nicht genau, welcher von den jüngeren Männern Thomas war. Aber in diesem Moment wurde ihr alles zu viel. Denn sie hörten nicht auf, sie so anzustarren. Ihre Feindseligkeit war unverkennbar. Aber schließlich war sie diejenige, die am Steuer gesessen hatte ...
Mir alles in Ruhe durch den Kopf gehen lassen ... Ich liebe dich ... Kate.
Jill versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Sie schaffte es nicht. Lauren sagte etwas, aber ihre Stimme war so kalt und unfreundlich wie die Blicke, die auf sie gerichtet waren. Dieses anklagende, kalte, feindselige Starren - Jill bemerkte, wie die drei Gestalten vor ihren Augen verschwammen, während sie von neuem in der Erinnerung versank. Hals gespenstisch bleiches Gesicht, das viele Blut ... Sie war gefahren ... Der Raum schien erst dunkler, dann heller zu werden, und wieder dunkler. Und dann wurde alles vollkommen schwarz.
Es war ein Segen.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2014 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Während ihr Mietwagen, ein kleiner Toyota, den Northern State Parkway entlangfuhr, blickte Jill zu Hal hinüber, der neben ihr auf dem Beifahrersitz saß. Ihre Laune war nicht nur gut, sie war ausgelassen, doch ihre Hände schlossen sich plötzlich fester um das Lenkrad. War etwas nicht in Ordnung? Hal schien ganz in die Straßenkarte vertieft, und das war auch notwendig - aber er hatte kein einziges Wort gesagt, seit sie aus Manhattan heraus waren, und das sah ihm gar nicht ähnlich. Obwohl es für Anfang April ungewöhnlich kalt war, hatten sie sich zu einem Wochenende an der Küste aufgemacht. Jill war Tänzerin von Beruf, und dies war ihre letzte Chance auf einen kleinen Urlaub, bevor ihr Ensemble mit einer neuen Show herauskommen würde. Sie hatten ein Zimmer in einer malerischen Pension direkt an der Peconic Bay gebucht. Jill freute sich auf ein Wochenende friedlicher Zweisamkeit vor dem mörderischen Marathon von sieben Vorstellungen an sechs Tagen die Woche. Sie freute sich auch auf ausgiebiges Pläneschmieden für ihre gemeinsame Zukunft.
Natürlich war alles in Ordnung. Letzte Woche hatte Hal sie gefragt, ob sie seine Frau werden wollte. Jill hatte keinen Moment gezögert, seinen Antrag anzunehmen. Und letzte Nacht hatte er sie noch leidenschaftlicher geliebt als jemals zuvor.
Jill lächelte beim Gedanken an seinen romantischen Heiratsantrag in einem winzigen, schummrigen Restaurant im East Village. Sie dachte, wie erstaunlich es doch war, dass eine einzige zufällige Begegnung das Leben für immer verändern konnte. Noch vor einem Jahr, bevor sie Hal kennen gelernt hatte, war sie resigniert zu dem Schluss gekommen, dass sie ihr Leben als Single verbringen würde.
Die Karte raschelte. Es hörte sich störend und merkwürdig an.
Jill sah zu ihm hinüber, und ihr Lächeln erlosch, denn sein Gesichtsausdruck wirkte so finster und verschlossen. Der Hal, den sie kannte, war ein sehr liebenswerter und unbeschwerter Mensch. Er hatte immer ein Lächeln auf den Lippen. Sein sonniges Temperament war eine der Eigenschaften, die sie am meisten an ihm schätzte - das und seine Leidenschaft für die Fotografie, die ihrer Hingabe an den Tanz gleichkam. »Hal? Stimmt etwas nicht?« Eine leise, angstvolle Ahnung stieg in ihr auf.
Sofort knipste er sein blendendes Lächeln an. Obwohl er wie die meisten Engländer ein heller Typ war und dunkelblondes Haar hatte, war er immer leicht gebräunt. Seine Familie war sehr wohlhabend. Blaues Blut, die Oberen Zehntausend oder so ähnlich. Jill hatte vor kurzem erfahren, dass sein Vater ein Earl war. Ein wahrhaftiger, echter Graf. Sein älterer Bruder war ein Viscount und würde den Titel eines Tages erben. Reiche Leute, das wusste Jill, waren immer leicht gebräunt. Das war eben einfach so.
Sie würde einen Adeligen heiraten. Ihr Leben war zu einem Märchen geworden - und sie zu Aschenputtel. Jill lächelte stillvergnügt.
»Jill. Schau auf die Straße«, befahl Hal knapp.
Sie gehorchte, und ihr Lächeln und ihre gute Laune schwanden; sein barscher Tonfall beunruhigte sie. Während sie sich auf den Verkehr konzentrierte, begann ihr Herz langsam und heftig Alarm zu schlagen. »Wir müssen reden«, sagte Hal.
Jill drehte sich zu ihm hin und starrte ihn überrascht an. Sie brauchte einen Moment, bevor sie herausbrachte: »Was ist los?«
Er wandte sich ab. Konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Ich will dir nicht wehtun«, sagte er.
Jill verriss das Lenkrad und wäre um ein Haar in ein entgegenkommendes Auto gerast. Es war Nachmittag, und auf dem Highway war viel Betrieb, aber der Verkehr floss mit gut 100 km / h flott dahin.
Ihr Magen machte einen Salto. Jill sah zu ihm hinüber, doch er starrte nach vorn durch die Windschutzscheibe. Sein Gesicht wirkte so ernst, so grimmig.
Nein, dachte sie und umklammerte so heftig das Lenkrad, dass ihre Finger sich verkrampften. Er liebt mich, und wir heiraten im Herbst. Er meint etwas anderes.
Es konnte nicht sein. Sie hatte schon so viel ertragen, dass es für ein ganzes Leben reichte. Nach dem Tod ihrer Eltern war Jill zu einer Tante in Columbus geschickt worden - einer ältlichen Witwe, deren eigene Kinder schon längst erwachsen waren und selbst Familien hatten. Tante Madeline war unnahbar, reserviert, fast abweisend, und aus der Sicht eines kleinen Kindes lieblos gewesen. Jill hatte eine sehr einsame Kindheit verbracht. Sie hatte nie richtige Freunde gehabt; das Ballett war ihre Zuflucht, ihr Lebensinhalt gewesen. Mit siebzehn war sie nach New York gegangen, um Ballett- Tänzerin zu werden, ohne auch nur einmal zurückzublicken.
Nun, da es Hal in ihrem Leben gab, war ihr klar geworden, wie einsam sie gewesen war.
Hal räusperte sich plötzlich, als wollte er eine einstudierte Rede halten. Jills Kopf fuhr wieder herum, und diesmal war sie wirklich besorgt. »Was ist denn? Ist jemand aus deiner Familie krank geworden?« Sie brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Oh Gott, ich weiß schon. Harrelson hat deine Arbeiten abgelehnt.« Hal hatte mit Feuereifer seine Arbeitsmappe in der ganzen Stadt herumgezeigt in der Hoffnung, dass eine Galerie seine Fotos ausstellen würde. Dieser Kunsthändler in SoHo hatte sich bei ihrem ersten Treffen begeistert gezeigt.
»Niemand ist krank. Harrelson hat sich noch nicht wieder gemeldet. Jill, ich habe viel nachgedacht. Über unser Gespräch von letzter Woche.«
Jill packte das Lenkrad noch fester und bemühte sich, ihre Aufmerksamkeit auf die Straße zu richten. Sie versuchte sich zu erinnern, worüber sie letzte Woche gesprochen hatten, aber es war unmöglich - ihr kastanienbrauner Pony hing ihr vor den Augen, und sie brach in Schweiß aus. Das Blut rauschte ihr in den Ohren und übertönte ihre Gedanken. Sein Tonfall gefiel ihr gar nicht - war er nervös? Ihr fiel nur ein einziges Gespräch ein, aber er konnte doch unmöglich seinen Antrag meinen? Das meinte er nicht. »Ich weiß nicht genau, von was wir gesprochen haben - außer, dass du mir einen Heiratsantrag gemacht hast und ich ihn angenommen habe.«
Sie versuchte ihn anzulächeln, aber es gelang ihr nicht ganz.
Er lehnte sich verdrießlich zurück. »Mir sind inzwischen Zweifel gekommen.«
Jill bemühte sich, ruhig zu bleiben, aber ihr Puls lief Amok. Sie bremste vorsichtig ab, schaute in den Rückspiegel und wechselte in die rechte Spur, wobei sie einen roten Wagen abdrängte, der nun praktisch an ihrer hinteren Stoßstange klebte. Das konnte nicht wahr sein. »Zweifel?« Sie war völlig schockiert und hoffte inständig, dass sie ihn falsch verstanden hatte. »Du meinst doch nicht an unserer Heirat? « Ihr Lächeln fühlte sich kläglich an.
»Es hat nichts mit dir zu tun«, sagte Hal; er hörte sich elend an.
»Meine Gefühle für dich haben sich nicht geändert.«
Oh Gott. Er meinte ihre Hochzeit. Jill konnte es einfach nicht glauben; ihr Verstand schien die Läden herunterzulassen, in Streik zu treten, die Aufnahme dessen zu verweigern, was er da sagte. Sie starrte ihn an. »Ich verstehe dich nicht. Du liebst mich. Ich liebe dich. So einfach ist das.«
Er fühlte sich sichtlich unbehaglich und vermied es, ihr in die Augen zu sehen. »Meine Gefühle für dich sind dieselben geblieben. Aber ich denke andauernd ... «
»Was?« Jills Stimme klang wie ein Peitschenschlag. Das konnte doch nicht wahr sein!
Aber hatte sie so etwas nicht erwartet, instinktiv, irgendwo tief drinnen? Denn - war ihre Liebe nicht zu schön gewesen, um wahr zu sein?
Er wandte sich ihr zu. »Ich will nicht den Rest meines Lebens in New York verbringen. Ich vermisse meine Familie, ich vermisse London. Ich vermisse unser Sommerhaus in Yorkshire.«
Jill wollte ihren Ohren nicht trauen. Mit schweißnassen Händen umklammerte sie das Lenkrad. Ihr weißes T-Shirt klebte an ihrem Körper. »Haben wir denn beschlossen, für immer in New York zu bleiben?«, fragte sie heiser und versuchte, sich auf die Straße zu konzentrieren, obwohl sie kaum etwas wahrnehmen konnte. Das Blut dröhnte ihr so laut in den Ohren, dass sie fast nichts anderes mehr hörte.
»Wenn diese Show ein Knüller wird, könnte sie noch Jahre am Broadway laufen. Erzähl mir nicht, dass du dann deinen Platz im Ensemble einfach sausen lassen würdest. So eine tolle Chance hattest du noch nie.«
Jill wünschte sich auch, dass The Mask ein Riesenerfolg würde, sie glaubte fest daran, und bis vor kurzem hatte sie nur für ihre Karriere gelebt, aber nun dachte sie fassungslos: Ja, ich würde gehen, wenn ich nur dich nicht verliere. Sie blieb stumm.
Auch Hal schwieg.
»Soll das heißen, dass du mich nicht heiraten willst?«, brachte sie schließlich hervor.
»Nein. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich denke, wir sollten es ein wenig langsamer angehen lassen. Ich glaube, es wäre das Beste, wenn ich für eine Weile nach Hause fahre und mir alles gründlich durch den Kopf gehen lasse.«
Jill schnappte nach Luft, als habe er ihr einen tödlichen Schlag versetzt. Sie wurde sich plötzlich ihrer zitternden Glieder und einer schrecklichen Übelkeit bewusst - sie fühlte sich, als müsste sie sich gleich übergeben. Sie wandte sich ihm zu, und während sie auf sein vollkommenes Profil starrte, spürte sie einen unvorstellbaren Schmerz, ein schweres, schreckliches Gewicht in der Brust. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Gute Nacht, Mäuschen. Eine tiefe Männerstimme. Daddy. Seine Lippen streiften ihr Haar. Seine Hand strich durch ihren fransigen Pony. Schlaf schön. Wir sind bald wieder da. Bevor du aufwachst.
Sie sah schattenhaft sein liebevolles Lächeln.
Gute Nacht, mein Schatz. Eine Frauenstimme, weich und zärtlich, die schlanke, anmutige Silhouette ihrer Mutter in der Tür ihres weiß und rosa eingerichteten Kinderzimmers.
Die Tür schloss sich.
Dunkelheit.
Stille.
Grauen. Allein sein - für immer.
Weil sie nie wiedergekommen waren.
»Jill!«, schrie Hal.
Jill zwang ihren Blick auf die Straße. Zu ihrem Entsetzen raste eine riesige Pinie heran, während der Wagen darauf zu schoss. Jill riss das Lenkrad herum, wohl wissend, dass es schon zu spät war ...
Nichts im Leben hätte sie auf den Moment des Aufpralls vorbereiten können. Ihr Herz blieb stehen. Jills ganzer Körper wurde gleichzeitig gegen den Sicherheitsgurt und den Airbag geschleudert. Das Auto, eine riesige Masse aus Stahl und Fiberglas, dröhnte, kreischte und schien bei dem frontalen Zusammenstoß regelrecht zu explodieren. Überall flogen Glassplitter umher. Sie prasselten auf Jills Haar, ihre nackten Arme, ihre Oberschenkel.
Und dann herrschte absolute Stille, absolutes Schweigen.
Bis auf Jills donnernden Herzschlag.
Sie kam zu sich, langsam und voll Entsetzen. Ihr Herz hämmerte schmerzhaft in ihrer Brust. Jills ganzer Körper fühlte sich an, als sei er in zwei Teile zerbrochen worden, zerschmettert und zerquetscht. Sie konnte sich nicht bewegen, sie konnte nicht atmen. Der Schock löschte jeden Gedanken aus.
Ein Unfall ...
Und dann fühlte sie etwas an ihrem Gesicht herabrinnen, ihre Lungen füllten sich mit Luft, und sie öffnete langsam die Augen. Sie musste das Rinnsal nicht sehen oder schmecken, um zu wissen, dass es Blut war - ihr Blut.
Sie atmete, sie lebte, sie waren gegen einen Baum gefahren - oh Gott. Jill riss die Augen auf und sah die zersplitterte Windschutzscheibe. Ihre Seite des Wagens hatte sich richtiggehend um den Baum gewickelt; Hals Seite war wie ein Akkordeon zusammengequetscht.
Hal.
Jill stöhnte und versuchte, den Gurt loszumachen, konnte aber wegen des Airbags nichts sehen. Sie drückte ihn beiseite, um nach Hal zu schauen. Blut und Schweiß und ihr viel zu langer Pony raubten ihr die Sicht. »Hal?«
Sie kämpfte mit dem Airbag und ihren Strähnen. Dann erstarrte Jill. Auch Hal war hinter einem Airbag eingeklemmt. Aber sein Kopf hing leblos zur Seite, seine Augen waren geschlossen.
»Hal!«, kreischte Jill.
Sie drehte sich um und warf sich gegen die Tür, bis sie irgendwie den Griff zu fassen bekam und die Tür aufging. Jill kam schwankend auf die Beine, der Kopf tat ihr weh, und sie konnte kaum atmen. Sie wankte und stolperte auf dem unebenen Untergrund aus Steinen, Zweigen und Matsch um das Heck des Wagens herum. Vor der Beifahrertür blieb sie wie erstarrt stehen. Blut schoss aus seinem Hals, wo ein großer Splitter der Windschutzscheibe sich offenbar in seine Kehle gebohrt hatte.
»Nein!« Jill zog heftig an seiner Tür, und sie flog auf. Panisch tastete sie nach dem Verschluss des Sicherheitsgurtes und öffnete ihn.
Jill legte die Arme um Hal und zerrte ihn aus dem Wrack. Das Blut floss weiter in Strömen aus seinem Hals; die Vorderseite seines Hemdes färbte sich dunkelrot. Sie legte ihn auf den Boden und presste beide Hände auf die Wunde in dem verzweifelten Versuch, die Blutung zu stoppen. Warm und nass und klebrig floss sein Blut durch ihre Finger. »Hilfe!«, schrie sie, so laut sie konnte. »Hilfe! Bitte helft uns!«
Sie schluchzte und starrte in sein leichenblasses Gesicht. Dann sah sie seine Augenlider flattern - er lebte!
»Du darfst nicht sterben!«, schrie sie und drückte noch fester auf die Wunde, doch die Blutlache wurde unaufhaltsam größer und größer. »Hal, gleich kommt Hilfe, bitte stirb nicht - halt durch!«
Er schlug die Augen auf. Als er den Mund öffnete, füllte er sich mit Blut. »Ich liebe dich«, sagte er.
»Nein!«, kreischte Jill.
Und dann schlossen sich seine Augen, und er sagte: »Kate.«
Erster Teil
Die Liebenden
Eins
London - in der Gegenwart
Wer war Kate?
Jill holte tief Luft. Unter ihren geschlossenen Lidern quollen Tränen hervor. Hal war tot, und sie stand am Band der Gepäckausgabe in der Ankunftshalle von Heathrow. Es war kaum zu fassen, wo sie sich befand, und noch schwerer zu begreifen, warum sie hier war. Jill war wie betäubt. Ihre Erschöpfung, die hauptsächlich durch den Schock, aber auch durch den Jetlag bedingt war, machte es nicht eben besser. Hal war tot, und sie brachte seinen Leichnam nach Hause zu seiner Familie. Die Leere in ihr, der Schmerz, die Trauer, all das war entsetzlich stark und einfach überwältigend.
Hal war tot. Fort, für immer. Sie würde ihn nie wiedersehen. Und sie hatte ihn umgebracht.
Das war das Schlimmste, was sie sich jemals hätte vorstellen können, ein wahr gewordener Albtraum.
Sie wusste nicht, ob sie den Schmerz, die hilflose Verwirrung noch länger ertragen konnte - und sich selbst.
Sie wusste nicht, ob sie die Dunkelheit noch länger ertragen konnte.
Ich liebe dich ... Kate.
Hals Stimme, seine letzten Worte erfüllten ihr ganzes Denken. Sie waren eine gespenstische Litanei, die sie nicht abstellen konnte.
Wer war Kate?
Jill fuhr zusammen. Das Gepäck ihrer British-Airways-Maschine kam die Rampe herabgerutscht und plumpste auf das Förderband, um sich wie ihre Gedanken immer auf derselben Bahn im Kreis zu drehen. Das Bild von Hal, wie er unter den Bemühungen eines Rettungsteams am Rande des Highways starb, hatte sich tief in ihr Gedächtnis gegraben. Genauso tief wie seine letzten Worte, die sie wie ein grausames Echo verfolgten. Worte, die sie niemals vergessen wollte - Worte, an die sie sich nie mehr erinnern wollte.
Ich liebe dich ... Kate.
Jill schlang die Arme um sich, sie war zittrig und fror. Das vorbeiziehende Gepäck verschwamm vor ihren Augen. Jill wusste, sie wusste es ganz sicher, dass er sie, Jill, gemeint hatte, als er sterbend sagte, dass er sie liebte. Er hatte sie geliebt - so, wie sie ihn geliebt hatte. Jill hatte nicht den geringsten Zweifel daran. Und sie wusste, dass sie sich an dieser Überzeugung festhalten musste. Aber, gütiger Gott, sein Tod und die Rolle, die sie dabei gespielt hatte, und dass er von dieser anderen Frau, Kate, sprach - all das war schrecklich genug ohne ihr letztes, endgültiges, unvergessliches Gespräch. Wenn er ihr nur nicht gesagt hätte, dass ihm wegen ihrer gemeinsamen Zukunft Zweifel gekommen waren. Er hatte an ihnen, an ihr gezweifelt. Jill schluchzte erstickt. Sie wurde von Schuld und Schmerz, Trauer und Bestürzung überwältigt.
Jill schloss die Augen. Sie durfte nicht an dieses Gespräch denken, es war unerträglich. Alles war unerträglich. Hal war ihr genommen worden. Genau wie ihre Eltern. Ihre Liebe, ihr Leben war zerstört - zum zweiten Mal.
Plötzlich war Jills Welt so von Schmerz erfüllt, dass sie es nicht mehr ertragen konnte. Ihr wurde schwarz vor Augen. Jill kämpfte gegen das Verlangen, sich einfach fallen zu lassen, ohnmächtig zu werden. Sie musste aufhören zu denken, sagte sie sich verzweifelt, und wurde sich der Tränen bewusst, die über ihr Gesicht liefen, des belebten Terminals, der abwechselnd verschwamm und wieder deutlich wurde. Sie kämpfte schwankend um ihr Gleichgewicht, ihre Knie drohten nachzugeben. Sie musste ihr Gepäck holen. Sie musste hier raus, sie brauchte frische Luft. Sie musste sich auf einfache, alltägliche Dinge konzentrieren - und darauf, Hals Familie zu begegnen, du lieber Himmel. Hals Schwester Lauren sollte sie vom Flughafen abholen.
Und in diesem Augenblick setzte ihr Verstand auf einmal zu ihrem Entsetzen völlig aus.
Für einen Moment war sie vollkommen desorientiert. Panik erfasste sie. Sie wusste nicht, wo sie war, und warum. Sie wusste nicht, wer sie war. Die Menschenmenge um sie herum, die große Halle, alles war nur noch ein Meer aus Schatten und Schemen. Sie konnte nichts und niemanden erkennen. Selbst die Worte auf den Hinweisschildern wurden zu einem fremdartigen Kauderwelsch, das sie nicht lesen konnte.
Aber überall waren Augen. Auf sie gerichtet, weit aufgerissen und vorwurfsvoll, hunderte feindseliger Blicke.
Warum glotzten alle sie an, als wünschten sie, sie wäre tot? Jill wollte sich umdrehen und fliehen, aber wohin?
Tot.
Im nächsten Augenblick schaltete ihr Verstand wieder in den richtigen Gang, die Schatten wurden zu Wänden und Türen, Gängen und Geländern, die Schemen zu Menschen, die Augen zu Gesichtern, und sie wusste, dass alles noch viel schlimmer war. Die Leute starrten sie tatsächlich an, aber schließlich weinte sie unaufhörlich, und sie war in Heathrow, um Hals Leichnam nach Hause zu seiner Familie zu bringen
- morgen sollte die Beerdigung stattfinden. Wussten alle diese Leute hier, dass sie den Mann ihrer Träume umgebracht hatte? Jill wünschte, sie hätte sich nicht wieder an alles erinnert. Das kurze Aussetzen ihres Gedächtnisses empfand sie nun als herrliche Erleichterung. So ging es ihr andauernd seit Hals Tod - sie wusste nicht, was sie tun sollte, erlebte Augenblicke schrecklicher Verwirrung, gefolgt von totalen Aussetzern und dann von vollkommener, grausamer Erinnerung. Schock, hatte der Arzt gesagt. Sie würde die nächsten paar Tage unter Schock stehen, vielleicht sogar die nächsten Wochen. Er hatte ihr geraten, sich zu Hause auszuruhen und die Medikamente zu nehmen, die er ihr verschrieben hatte.
Jill hatte die Antidepressiva nach der ersten Nacht in der Toilette hinuntergespült. Sie hatte Hal so sehr geliebt, und sie wollte sich ihre Gefühle nicht rauben lassen, indem sie sie mit Tabletten dämpfte oder ausschaltete. Sie würde ihn betrauern, wie sie ihn geliebt hatte, mit ganzem Herzen, auf ewig.
Jill nahm ihre Sonnenbrille ab und trocknete ihre Tränen mit einem Taschentuch, bevor sie sie wieder aufsetzte. Ihr Gepäck. Sie musste ihre Reisetasche finden und hier herauskommen, so lange sie noch bei sich war und sich auf den Beinen halten konnte. Das Einzige, was sie jetzt tun musste, entschied Jill, war möglichst nicht zu denken.
Ihre eigenen Gedanken waren ihr schlimmster Feind.
Jill schaute nach unten und entdeckte neben ihren Füßen ihr Beauty-Case, ihre Shoppertasche aus Vinyl mit Leopardenmuster und ihren viel zu weiten schwarzen Blazer. Sie richtete den Blick auf das Gepäckband. Überrascht stellte sie fest, dass die meisten Koffer und Taschen schon abgeholt worden waren. Es schien ihr, als sei sie noch vor wenigen Sekunden von hundert Passagieren ihres Fluges umgeben gewesen - jetzt warteten nur noch ein Dutzend Leute auf ihr Gepäck. Jill schnappte erschrocken nach Luft. Hatte sie ein Blackout gehabt? Irgendwie schien sie mit ihrer Erinnerung auch ihr Zeitgefühl verloren zu haben.
Sie fragte sich, wie sie das alles überstehen sollte, nicht nur die nächsten Tage, sondern auch die nächsten Wochen, Monate, Jahre. Denk nicht daran!, befahl sie sich hektisch. Sie durfte ihren Gedanken keinen freien Lauf lassen. Plötzlich entdeckte sie ihre Reisetasche aus schwarzem Nylon. Sie glitt bereits an ihr vorbei. Jill hastete verzweifelt hinterher, packte den Griff und hievte die Tasche vom Band. Die Anstrengung kam sie teuer zu stehen; keuchend verharrte sie einen Moment. Sie war noch nie so unglaublich erschöpft gewesen.
Als sie wieder zu Atem gekommen war, blickte sie sich in der wimmelnden Menge um. Wohin sollte sie jetzt gehen? Was sollte sie jetzt tun? Wie sollte sie Lauren finden, die sie nur von einem Foto kannte?
Jill stand da wie angewurzelt und musste trotz ihrer Vorsätze daran denken, wie Hal ihr damals stolz die Fotos von seiner Familie gezeigt hatte. Hal hatte oft von ihnen gesprochen, nicht nur von seiner Schwester, sondern auch von seinem älteren Bruder Thomas, seinen Eltern und seinem Cousin aus Amerika. Seinen Schilderungen zufolge standen sich in seiner Familie alle sehr nahe. Es war so offensichtlich gewesen, wie sehr er sie liebte. Er hatte richtig gestrahlt, wenn er ihr Geschichten aus seiner Kindheit erzählte. Am häufigsten hatte er von den Sommerferien in Stainesmore gesprochen, dem alten Familiensitz im Norden, wo sie als Kinder geangelt, gejagt und ein nahe gelegenes altes Spuk- haus erforscht hatten. Doch es hatte auch Winterferien in St. Moritz gegeben, Ostern in St. Tropez und die Jahre in Eton, in denen er Hockey gespielt, das Londoner West End unsicher gemacht, den »Babes«, wie er sagte, nachgestellt und sich an Türstehern vorbeigemogelt hatte. Dann seine Jahre in Cambridge, der Fußball. Und immer, seit er ein kleiner Junge gewesen war, war da seine erste, seine wahre Liebe, seine Fotografie gewesen.
Jill wusste, dass sie wieder weinte. Er hatte sie in so vielen Nächten in den Armen gehalten und ihr versichert, wie sehr seine Familie sie lieben würde - und dass sie sie mit offenen Armen willkommen heißen würde, als gehörte sie zu ihnen. Er hatte es kaum erwarten können, sie mit nach Hause zu bringen, und sich darauf gefreut, dass Jill sie kennen lernte. Bis zu ihrem unfassbaren letzten Gespräch im Auto, als er ihr gesagt hatte, dass er sie vielleicht doch nicht heiraten wollte, dass er für eine Weile nach Hause fahren würde, allein.
Jill wusste, dass sie nicht wieder weinen durfte, doch die Tränen ließen sich nicht abstellen. Zitternd und schwach und voll Angst vor einem erneuten Blackout sammelte sie ihr Gepäck ein und ging langsam durch die Menschenmenge. Sie musste jenes letzte Gespräch vergessen. Es war der Tropfen, der das Fass der Katastrophe zum Überlaufen brachte, und sie war darüber vor Entsetzen und Verständnislosigkeit wie gelähmt. Mit der Zeit hätten sie solche Schwierigkeiten überwunden. Hal hätte sie niemals verlassen. Jill musste das einfach glauben.
Beobachtet von einigen Zollbeamten folgte sie den anderen Passagieren durch die Absperrung und war erleichtert, dass ihre Tränen wenigstens für den Augenblick versiegt waren. Sie würde gleich Lauren und den Rest von Hals Familie treffen, und sie hätte es niemals für möglich gehalten, dass das unter diesen Umständen geschehen könnte - sie brachte Hals Leichnam zur Beerdigung nach Hause. Sie wollte unbedingt die Kontrolle über sich zurückgewinnen. Sie wollte in Gegenwart der Familie nicht einen solchen Aussetzer erleiden.
Sie blieb stehen, als sie zu einem kreisförmigen Bereich gelangte, wo eine Menge Leute auf die ankommenden Passagiere warteten. Es waren Chauffeure darunter, die Schilder mit Namen in dicken Lettern hochhielten. Und Jills Blick fiel sofort auf eine blonde Frau etwa in ihrem Alter. Jill erkannte die Frau augenblicklich. Selbst wenn sie Lauren nicht auf Fotos gesehen hätte, hätte sie sie erkannt, denn sie sah Hal sehr ähnlich. Ihr schulterlanges Haar hatte denselben dunkelblonden Ton, in den sich hellere, goldfarbene Strähnchen mischten, und ihr Gesicht war ebenso klassisch geschnitten. Wie Hal war sie groß und schlank. Lauren strahlte auch dieselbe beiläufige Eleganz und die Sorglosigkeit der Wohlhabenden aus, die nichts mit dem teuren Hosenanzug zu tun hatte, den sie trug - diese Aura umgab nur jene, die schon reich geboren waren.
Jill zögerte und konnte einfach nicht mehr weiter. Plötzlich hatte sie eine Todesangst davor, dieser Frau gegenüberzutreten.
Lauren hatte sie auch gesehen. Auch sie verharrte reglos und starrte vor sich hin. Wie Jill trug sie eine Sonnenbrille. Aber ihre war aus Perlmutt und von modisch großer Form, passte perfekt zu ihrem beigen Armani-Anzug und dem Hermès-Schal. Sie lächelte Jill nicht an. Ihr Gesicht war unbeweglich, zu einer Maske erstarrt ... was bedeutete sie? Selbstbeherrschung? Leid? Abscheu? Jill konnte es nicht einschätzen.
Aber sie war verblüfft und bestürzt. Sie packte ihre Reisetasche, ihr Beauty-Case und ihre leopardengemusterte Umhängetasche und war sich nun der verwaschenen Levis und des einfachen weißen T-Shirts bewusst, die sie trug. Jill ging langsam auf Hals Schwester zu.
»Lauren Sheldon?« Sie konnte ihr trotz der dunklen Brillen, die sie beide trugen, nicht ins Gesicht sehen.
Lauren nickte einmal knapp und wandte sich ab. Jill schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter, der sie zu ersticken drohte. »Ich bin Jill Gallagher.«
Lauren hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ihre Handtasche schien aus dunkelbraunem Kroko zu sein. Eine goldene, diamantbesetzte Piaget-Uhr blitzte unter ihrem Ärmel hervor. »Ich habe einen Wagen draußen. Den Sarg haben wir bereits abgeholt. Wegen der Osterferien konnten wir kein anständiges Hotelzimmer für Sie finden, also werden Sie im Haus übernachten.« Sie drehte sich um und strebte eilig auf den Ausgang zu.
Einen Moment lang starrte Jill ihr zitternd und ungläubig nach. Die Frau hatte nicht einmal Hallo gesagt oder sich nach ihrem Flug erkundigt.
Hal hatte Lauren als liebenswürdig, einfühlsam und mehr als freundlich beschrieben. Diese Frau war kalt und abweisend, nicht einmal höflich.
Aber was hatte sie denn erwartet? Sie hatte am Steuer gesessen, und nun war Hal tot. Lauren musste sie hassen - die ganze Familie Sheldon musste sie hassen. Sie hasste sich ja selbst.
Noch viel elender als vorher, nun von einer zusätzlichen grässlichen Angst erfüllt, folgte Jill Lauren aus dem Terminal, und ihr Gehirn war wie leergefegt.
Jill setzte sich so zurecht, dass sie auf die Straße hinter sich schauen konnte. Sie saß mit Lauren im Fond, während ein Chauffeur den Rolls-Royce lenkte. Die Frauen hatten sich so weit wie möglich entfernt voneinander in gegenüberliegenden Ecken der geräumigen Limousine niedergelassen. Der Leichenwagen fuhr direkt hinter ihnen. Jill sah, wie er links abbog. Sie schaute dem langen schwarzen Wagen weiter nach, während er sich immer weiter entfernte. Er brachte Hals Leichnam zum Friedhof, während Lauren und sie zum Haus der Sheldons in London fuhren.
Jill wollte nicht von dem Leichenwagen getrennt werden. Am liebsten hätte sie an die Tür gehämmert und darum gebeten, aussteigen zu können. Ihr Herz schlug heftig, und das Gefühl des Verlustes wurde erstaunlicherweise noch stärker. Es war verrückt. Jill starrte weiter hinter dem verschwindenden Wagen her. Sie biss sich auf die Lippe, entschlossen, keinen Laut von sich zu geben. Sie konnte nicht aufhören zu zittern und befürchtete, dass sie wieder versucht sein könnte, ihrer Trauer durch ein Blackout zu entkommen.
Jill zwang sich, sich im Sitz zurückzulehnen und tief durchzuatmen; mit geschlossenen Augen kämpfte sie um ihre Selbstbeherrschung. Sie würde nicht einmal die nächsten vierundzwanzig Stunden überstehen, wenn sie sich nicht irgendwie in den Griff bekam. Als sie wieder ein wenig Fassung gewonnen hatte, sah sie zu Lauren hinüber. In der halben Stunde, seit sie den Flughafen verlassen hatten, hatte Hals Schwester kein einziges Wort gesagt. Sie wandte Jill mit hochgezogenen Schultern den Rücken zu und starrte aus dem Fenster. Sie hatte ihre Sonnenbrille nicht abgenommen, aber Jill trug ihre auch noch. Sie saßen da wie zwei feindselige Zombies, dachte Jill grimmig.
So viel zu Laurens Liebenswürdigkeit. Sie hätten einander trösten können. Schließlich hatten sie beide Hal geliebt. Doch Jill fand nicht den Mut, den ersten Schritt zu tun, noch nicht, und sie war sich der Rolle, die sie bei seinem Tod gespielt hatte, nur allzu bewusst. Tränen brannten ihr in den Augen. Morgen war die Beerdigung. Ihr Rückflug war für den übernächsten Abend gebucht. Sie hasste den Gedanken, Hal hier zurückzulassen, mit einem ganzen Ozean zwischen ihnen; aber andererseits - wenn alle Sheldons so mitfühlend waren wie Lauren, war es sicher besser so.
Sie öffnete ihr großes Beauty-Case, eine Louis-Vuitton- Imitation, die sie für fünfzehn Dollar an einer Straßenecke gekauft hatte, und kramte ein Taschentuch hervor. Sie tupfte sich die Augen trocken. Lauren hasste sie. Dessen war Jill sich ganz sicher. Sie konnte die brodelnde Abneigung der anderen Frau fast spüren.
Jill konnte es ihr nicht verübeln.
Als sie das Taschentuch wieder in die Tasche steckte, blickte sie auf und sah, dass Lauren sie beobachtete, sie zum ersten Mal direkt anschaute.
Jill dachte nicht lange nach. Impulsiv sagte sie mit leiser Stimme:
»Es tut mir Leid.«
»Uns allen tut es Leid«, erwiderte Lauren trocken.
Jill biss sich auf die Lippe. »Es war ein Unfall.«
Lauren sah sie unverwandt an. Jill konnte ihre Augen hinter der dunklen Brille nicht sehen. »Warum sind Sie gekommen? «
Jill war überrascht. »Ich musste ihn doch nach Hause bringen. Er hat so oft von Ihnen gesprochen - von Ihnen allen. « Sie konnte nicht weitersprechen.
Lauren sah wieder weg. Es herrschte Schweigen.
»Ich habe ihn auch geliebt«, hörte Jill sich sagen.
Lauren drehte sich zu ihr um. »Er sollte noch am Leben sein. Vor wenigen Tagen hat er noch gelebt. Ich kann nicht glauben, dass er fort ist.« Ihre Stimme klang wütend, und sie hatte mit dem Finger auf Jill gezeigt - es war unübersehbar, wem sie die Schuld gab.
»Ich auch nicht«, flüsterte Jill elend. Es stimmte. Mitten in der Nacht wachte sie auf und erwartete, neben sich die beruhigende Wärme von Hals Körper zu spüren. Die Kälte ihres Bettes war ein Schock, ebenso wie die plötzliche Erinnerung an seinen Tod. Jill hatte erfahren müssen, dass es nichts Schlimmeres gab als das Vergessen des Schlafes, auf das die absolute Bewusstheit des Wachens folgte. »Wenn«, flüsterte Jill, mehr an sich als an Lauren gerichtet, »wenn wir nur an jenem Wochenende nicht weggefahren wären.« Aber das waren sie. Und sie konnte die vergangenen Tage nicht ändern, sie konnte sie nur bereuen. Sie würde ihr ganzes restliches Leben lang Reue fühlen - Reue und Schuld.
Hatte er wirklich daran gedacht, sich von ihr zu trennen?
»Hal hätte schon vor Monaten nach Hause kommen sollen «, unterbrach Lauren barsch Jills Gedanken. »Es war geplant, dass er im Februar kommt - zu meinem Geburtstag.«
»Es gefiel ihm in New York«, brachte Jill mit abgewandtem Blick hervor.
Lauren nahm ihre Sonnenbrille ab und enthüllte rotgeweinte Augen in exakt demselben Bernsteinton wie Hals. »Er hatte Heimweh. Das hat er mir bei unseren letzten Telefonaten gesagt.«
Jill war wie versteinert. Was hatte er seiner jüngeren Schwester, mit der er sich so gut verstand, sonst noch gesagt?
Sie meinte, sterben zu müssen, wenn Lauren von Hals plötzlichem Rückzieher wüsste.
Dann korrigierte sie sich ärgerlich - er hatte keinen Rückzieher gemacht. Nichts war endgültig beschlossen worden. Alles hätte sich wieder eingerenkt, und zwar eher früher als später.
Auch Lauren blieb reglos. Schließlich sagte sie: »Er hat auch Sie erwähnt.«
Jill zuckte zusammen und starrte Lauren aus weit aufgerissenen Augen an, als säße sie einem Alien gegenüber. Er hatte sie erwähnt?
»Was meinen Sie damit, dass er mich erwähnt hat?«
»Genau, was ich sage«, antwortete Lauren und setzte ihre Brille wieder auf. Sie sah aus dem Fenster, während der silbergraue Rolls-Royce dahinglitt. »Er hat erwähnt, dass er öfter mit Ihnen ausginge.«
Jill starrte sie immer noch entgeistert an. Sie waren nicht öfter miteinander ausgegangen. Sie hatten vom Heiraten gesprochen - sie hatten kurz vor einer Verlobung gestanden. Sie war sprachlos.
»Wie lange waren Sie mit ihm befreundet?«, fragte Lauren fast grob. Jills Augen füllten sich erneut mit Tränen, und sie sah die andere Frau nur noch verschwommen. »Acht Monate. Wir haben uns vor acht Monaten kennen gelernt.« Sie krallte sich Hilfe suchend in das geschmeidige Leder des Sitzes.
»Das ist nicht besonders lange«, stellte Lauren nach einer kurzen Pause fest.
»Es war lange genug, um sich mit Haut und Haaren zu verlieben und darüber nachzudenken ... « Jill unterbrach sich.
Lauren nahm die Brille wieder ab. »Worüber nachzudenken? «, fragte sie fordernd.
Jill fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Sie zögerte. So vieles schoss ihr durch den Kopf - seine Zwiespältigkeit, ihre Schuld, eine Frau namens Kate. »Über die Zukunft«, flüsterte sie. Lauren starrte sie an, als sei sie ein Kalb mit zwei Köpfen. »Er hätte schon vor langer Zeit nach Hause kommen sollen«, sagte sie schließlich. »Er gehörte einfach nicht nach New York.«
Jill wusste nicht, wie sie darauf antworten sollte. Hal hatte seiner Schwester nicht erzählt, wie ernsthaft seine Beziehung zu ihr war. Warum? Das tat ihr weh. Gott, es tat ihr so weh wie der Gedanke an ihr letztes Gespräch - daran, wie sehr er sie mit seinen Zweifeln an ihrer Zukunft als Ehepaar verletzt hatte. Sie lehnte sich im Sitz zurück; sie war völlig am Ende. Es schmerzte sie fast so sehr wie sein Tod.
Sie musste irgendeinen ruhigen Ort finden, den Kopf unter einem Kissen vergraben, und schlafen. Aber dann würde sie aufwachen und sich an alles erinnern, und es würde so schrecklich sein ...
Der Rolls-Royce hielt an.
Augenblicklich wurde Jills Anspannung noch stärker. Das Haus der Sheldons war der letzte Ort auf Erden, an dem sie jetzt sein wollte, denn wenn sie aus Laurens Empfang darauf schließen konnte, wie der Rest der Familie sie begrüßen würde, dann war sie nicht in der Verfassung, sie kennen zu lernen - jetzt nicht und auch nicht irgendwann.
Jill bemerkte, dass sie sich auf einer viel befahrenen zweispurigen Straße mitten in London befanden. Der Chauffeur wartete auf eine Lücke im Gegenverkehr, um nach rechts abbiegen zu können. Die Flügel eines hohen Gittertores standen offen, doch die Straße, in die sie einbiegen wollten, wurde von einem Schlagbaum und einem uniformierten Wachmann versperrt. Jill fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Hinter dem Schlagbaum konnte sie eine schattige Allee und eindrucksvolle Villen erkennen.
Der Rolls-Royce bog ab, der Schlagbaum hob sich, ohne dass sie abbremsen mussten, und der Wachmann in seiner kleinen Kabine winkte sie durch. Jill verrenkte sich fast den Hals, während der Rolls-Royce die Straße entlangfuhr, um ein palastartiges Anwesen nach dem anderen zu bewundern. Hinter den Villen auf der rechten Seite schien ein Park zu liegen.
Jill hätte gern gefragt, wo sie sich befand, doch sie tat es nicht.
Der Wagen bog in die kreisförmige Auffahrt einer der größten Villen der Straße ein und blieb auf dem Kies vor dem Haus stehen. Jill meinte zu fühlen, wie ihr Puls in die Höhe schnellte.
»Da sind wir.« Lauren stieg aus, ohne darauf zu warten, dass der Chauffeur ihr die Tür aufhielt. Jill war nicht so schnell. Der Mann öffnete ihr die Tür, und Jill stolperte hinaus. Es hatte zu nieseln begonnen.
Jill stand da wie versteinert. Die feinen Tröpfchen fielen ihr auf Haar und Schultern, doch sie starrte auf das Haus, in dem Hal aufgewachsen war, während Lauren die breite, imposante Freitreppe hinaufeilte. Zwei steinerne Löwen saßen zu beiden Seiten der Treppe. Einen Moment lang war Jill wie vor den Kopf gestoßen.
Hal hatte mit großem Stolz vom Anwesen seiner Familie in London gesprochen. Er hatte betont beiläufig bemerkt, dass das Haus, das um die Jahrhundertwende erbaut worden war, etwa fünfundzwanzig Zimmer und einen der herrlichsten Rosengärten Londons hatte. Es war nicht der ursprüngliche Sitz der Familie, welcher aus der Georgianischen Ära stammte und heute als Baudenkmal dem National Trust unterstand. Jill hatte nur so viel verstanden, dass Uxbridge Hall, das etwas abseits vom Zentrum Londons lag, der Öffentlichkeit zur Besichtigung offen stand, obwohl die Familie auch dort private Räumlichkeiten zur Verfügung hatte.
Jill betrachtete entgeistert die Sheldonsche Stadtvilla. Sie hatte erwartet, dass das Gebäude von Reichtum zeugte, doch nun stand sie dem ganzen Ausmaß dieses Reichtums wahrhaftig gegenüber. Das Haus war aus zart getöntem Sandstein gebaut und drei Stockwerke hoch - allerdings hatten die beiden unteren offensichtlich doppelte Raumhöhe. Ein tempelartiger Ziergiebel über dem riesigen Portal wurde von dicken Säulen gestützt, und auch die vielen bogenförmigen Fenster waren mit kleinen Pedimenten und komplizierten steinernen Reliefs geschmückt. Die Zimmer im ersten Stock hatten eiserne Balkone, und aus den hohen, schrägen Dächern ragte ein kleiner Wald von Schornsteinen. Das Mauerwerk an sich war schon bewundernswert schön. Mühevolle Feinarbeit war in jedes Sims und jede Verzierung geflossen. Das Haus war umgeben von äußerst gepflegten Rasenflächen und blühenden Rosengärten, die einen betörenden Duft verbreiteten. Ein hoher schmiedeeiserner Zaun umgab das gesamte Anwesen und hielt Neugierige fern.
»Du lieber Himmel«, hörte Jill sich sagen. Trotz aller Erzählungen von Hal konnte sie kaum glauben, dass er hier aufgewachsen war. Und das war nur das Stadthaus, nicht einmal der Stammsitz der Familie, von dem Jill annahm, er müsse noch größer und grandioser sein. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie klein und schäbig ihr Apartment im Village war. Und sie wünschte, sie trüge nicht ihre älteste, liebste und verwaschenste Jeans.
Falls Lauren sie gehört hatte, gab sie es nicht zu erkennen, sondern öffnete stattdessen das schwere Eingangsportal.
»Ich bringe Ihr Gepäck hinein, Madam«, sagte der Chauffeur hinter ihr.
Jill versuchte ihn anzulächeln, merkte, dass es ihr misslang, und folgte langsam Lauren ins Haus. Sie fand sich in einer großen Eingangshalle wieder, mit einer hohen Decke und einem polierten Fußboden aus beigem und weißem Marmor. Kunstwerke zierten die Wände, und die kleine Bank, der Tisch mit der Marmorplatte sowie der Spiegel darüber waren sämtlich vergoldet. Jill biss sich grimmig auf die Lippe. Ihr war nur allzu deutlich klar, dass sie hier nicht hingehörte.
Sie schaute an ihrer abgetragenen Jeans und der schwarzen Jacke hinunter, die sie in dem klimatisierten Wagen angezogen hatte. Eigentlich war es ein Herren-Sportjackett, aber es hatte ihr auf Anhieb gefallen, und sie hatte es in dem Second-Hand-Shop für sich selbst gekauft. Ihre Slipper waren von Cole-Haan, aber schon sehr alt, butterweich und ausgeleiert. Sie konnte nun einmal nur bequeme, gut eingelaufene Schuhe tragen, wenn sie nicht tanzte, weil ihr Beruf ihr kaputte und schmerzende Füße eingetragen hatte.
Jill zögerte, denn sie hatte Angst davor, Lauren zu folgen. Sie fühlte sich entschieden fehl am Platze und wünschte, sie trüge einen Hosenanzug wie Lauren. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wie sie sich auf die weite Reise vorbereitet hatte. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sich in ihrer Reisetasche befand. Wenn sie Glück hatte, hatte KC, ihre beste Freundin und Nachbarin, ihr beim Packen geholfen, aber Jill wusste nicht einmal mehr, ob sie in den letzten Tagen überhaupt mit KC gesprochen hatte. Plötzlich machte sie sich Sorgen um ihren Kater Ezekial. Sie musste sofort KC anrufen und sich vergewissern, dass sie ihn gut versorgte.
Jills Blick verharrte auf einem Gemälde, das eine ganze Wand einnahm. Es musste ein großes Meisterwerk sein und stellte irgendeine Szene aus der Mythologie dar, die ihr nichts sagte. Sie schluckte und befahl sich, tief und gleichmäßig zu atmen. Sie würde nun seine Verwandten kennen lernen, und sie würde höflich zu ihnen sein. Sicher würden sie sie im Gegenzug freundlich behandeln - nicht wie Lauren. In ein paar Augenblicken würde man ihr ihr Zimmer zeigen. Es konnte ihr nicht schnell genug gehen.
Wenn sie nur in einem Hotel untergekommen wäre.
Sie hatte inzwischen so große Angst, dass sie drauf und dran war, das Haus fluchtartig wieder zu verlassen. Jill schaute über die Schulter zurück. Die Eingangstür war fest geschlossen.
Allmählich stieg Panik in ihr auf.
Jill sagte sich, dass alles gut werden würde. Dass sie nur weiterhin tief durchatmen musste.
Hal, der in ihren Armen starb, sein totenbleiches Gesicht, das Blut, das ihm aus dem Mund lief, all diese schrecklichen Bilder drängten sich mit einem Mal wieder in ihr Bewusstsein.
Sie hörte Schritte. Jill versuchte, ihre zitternden Hände ruhig zu halten und zu lächeln, als Lauren erschien. Sie hatte ihren Blazer abgelegt und ein T-Shirt aus beigefarbener Seide enthüllt, das vermutlich mehr gekostet hatte als Jills gesamte momentane Garderobe.
»Kommen Sie«, sagte sie.
Jill folgte ihr voll ängstlicher Erwartung. Lauren führte sie in ein großes Wohnzimmer, das noch viel luxuriöser eingerichtet war als das Foyer. Doch Jill hatte keinen Blick übrig für die prächtigen, wenn auch verblassten Orientteppiche, die antiken Möbel oder den Matisse an der Wand. Drei Männer standen in der Mitte des Raumes, einer älter und weißhaarig, die beiden anderen jünger, etwa um die Dreißig, der eine goldblond und sonnengebräunt, der andere dunkelhaarig mit olivfarbenem Teint. Alle drei hielten ein Glas in der Hand.
Lauren blieb stehen und Jill ebenfalls. Die drei Männer drehten sich um. Sie starrten sie an.
Drei Paar durchdringender Augen. Dreimal derselbe vorwurfsvolle Blick.
Das war Hals Familie.
Jill wusste, dass sie Hals alten Vater William vor sich hatte, seinen älteren Bruder Thomas und seinen Cousin Alex. Sie wusste nicht genau, welcher von den jüngeren Männern Thomas war. Aber in diesem Moment wurde ihr alles zu viel. Denn sie hörten nicht auf, sie so anzustarren. Ihre Feindseligkeit war unverkennbar. Aber schließlich war sie diejenige, die am Steuer gesessen hatte ...
Mir alles in Ruhe durch den Kopf gehen lassen ... Ich liebe dich ... Kate.
Jill versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Sie schaffte es nicht. Lauren sagte etwas, aber ihre Stimme war so kalt und unfreundlich wie die Blicke, die auf sie gerichtet waren. Dieses anklagende, kalte, feindselige Starren - Jill bemerkte, wie die drei Gestalten vor ihren Augen verschwammen, während sie von neuem in der Erinnerung versank. Hals gespenstisch bleiches Gesicht, das viele Blut ... Sie war gefahren ... Der Raum schien erst dunkler, dann heller zu werden, und wieder dunkler. Und dann wurde alles vollkommen schwarz.
Es war ein Segen.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2014 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Brenda Joyce
Brenda Joyce stammt aus New York und lebte mehrere Jahre in Israel und Paris. Nach Jahren des Reisens kehrte sie die USA zurück. Inzwischen sind ihre historischen Romane regelmäßig auf der Liste der New York Times zu finden. Brenda Joyce lebt mit ihrer Familie in Arizona, wo sie ihren beiden großen Leidenschaften nachgeht: dem Schreiben und der Pferdezucht.
Bibliographische Angaben
- Autor: Brenda Joyce
- 2014, 1, 544 Seiten, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863658000
- ISBN-13: 9783863658007
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