Kokolores
Die Autobiografie der Marianne Rosenberg. Wie kaum eine andere Sängerin verkörpert sie die Entwicklung des deutschen Pop. Seit drei Jahrzehnten kennt man ihre Lieder, aber über sie selbst weiß man wenig. In diesem Buch erzählt sie offen aus ihrem Leben.
Die Autobiografie der Marianne Rosenberg. Wie kaum eine andere Sängerin verkörpert sie die Entwicklung des deutschen Pop. Seit drei Jahrzehnten kennt man ihre Lieder, aber über sie selbst weiß man wenig. In diesem Buch erzählt sie offen aus ihrem Leben.
Kokoloresvon Marianne Rosenberg
LESEPROBE
Nachts bei Engelhardt
Das Taxi wartet, meinBruder und ich steigen ein. Er mit der Klampfe unter dem Arm, ich dickeingepackt, denn ich fror immer, wenn ich nachts aufstand. Wir reden nichts.
Tick, tick, tick, ...klack, schon wieder eine Mark weg. Das Klicken der Uhr beruhigt mich, wenn ichnicht darüber nachdenke, was sie zählt. Ich schaue aus dem Fenster und meinBlick streift die vielen bunten Leuchtreklamen und die Laternen, die die Straßein regelmäßigen Abständen säumen. Wir lassen die Neubausiedlungen mit ihrenengen kleinen Wohnungen hinter uns und fahren auf einer großen breiten Straßein Richtung Neukölln. Je näher wir dem Herrmannplatz, dem Zentrum Neuköllns,kommen, desto mehr Läden und Kneipen tauchen auf. Altbauten, die den Kriegüberlebt haben, und die ich immer spannender fand als die Neubausiedlungen inden Vororten von Berlin, in denen wir lebten. Die alten Häuser haben ihreGeschichten, Neubauten eine Realität.
Wir halten vor einer Eckkneipemit einer großen, gelben Aufschrift: Engelhardt. Lange Zeit war ich erstauntdarüber, dass alle Kneipen, in die der Vater uns nachts zu sich kommen ließ,gleich hießen. Eines Tages entdeckte ich, dass es sich um eine Reklame für Bierhandelte.
Rauch schlägt unsentgegen, es riecht nach Zigarettenstummeln und Alkohol, und es ist, als habedas Mobiliar und die Tapeten den aus vielen langen Nächten entstandenen Geruchin sich aufgesogen und nun eine eigene, bittere, noch ranzigere Noteentwickelt.
Mein Vater umarmt mich,küsst mich, "Mein Mädel", sagt er zärtlich, und obwohl ich seine Liebe spüre,muss ich zu Boden schauen, weil die Starre seiner Augen mich traurig macht.
Könnte ich ihm nur sagen,dass es nichts nützt, und wie es ist, wenn er sich verwandelt, dass alles nurnoch schlimmer wird. Aber das geht nicht, auch nicht am nächsten Tag, wenn erwieder nüchtern ist. Er macht die Gesetze, und ein Gesetz lautet, dem Vaternicht zu widersprechen oder ihm Ratschläge zu erteilen.
Die braune Holzthekeendet mit einer gekühlten Vitrine, in der Soleier undBouletten liegen, manchmal auch Würstchen. Später werden wir etwas davon essenund uns über die Stapel der kleinen Karina-Schokoladen hermachen, die wir immerdanach bekommen. Unser großer grüner Aschenbecher wird dann gefüllt sein undwir werden das Geld wie immer in den Automaten an der Wand verspielen. MeinBruder ist felsenfest davon überzeugt, dass wir unseren Einsatz verdoppeln,aber die sich drehenden bunten Scheiben zeigen nur selten die gleichen Symbole.
Jedes Mal bevor mich meinVater auf den Tisch hebt, den er manchmal mit einer Handbewegung abräumt, fragter mich, wie alt ich bin. Ich nenne die Zahl, und er sagt: "Na, dann bist du janoch unter zehn und darfst auf den Tisch."
Frauen und Männer, dievereinzelt herumsitzen oder -stehen, wenden sich uns zu. Tragische, glasigeAugen. Viele alte Gesichter.
"Die Kleine gehört dochins Bett", ruft jemand.
Der Stecker der Musikbox,die eben noch gedudelt hat, wird aus der Wand gezogen. Mein Vater mahnt zurRuhe: "Sing, mein Mädel."
Mein Bruder, der auf demStuhl neben dem Tisch sitzt, schlägt einen Akkord auf der Gitarre an. Ichbeginne mit "Jiddische Mamme". Mein Vater liebtdieses Lied und sieht mich dabei melancholisch und stolz an. Ich singe es aufDeutsch: "Es gibt kein Leid auf Erden, das du nicht leicht erträgst, solang ihrgroßes Herz immer für dich schlägt, durch Wasser und Feuer ist sie gelaufen..."
Es wird still und ichbeobachte die Leute. Ihre Gesichter sind bewegt und Tränen laufen an ihrenWangen herunter. Ich kann nicht verstehen, warum sie weinen. Es muss mit ihremLeben zu tun haben. Sie weinen über sich und ihr Schicksal, schnäuzen sich dieNasen, während ich ungerührt weitersinge und siebeobachte.
Wenn ich den Text vergesse,schiebe ich es immer auf meinen Bruder und behaupte, er habe sich verspielt undich hätte den Einsatz nicht bekommen können.
Warum sich die MenschenLieder wünschen, bei denen sie weinen, verstehe ich nicht. Am liebsten singeich die Lieder von Connie Francis, "Schöner fremder Mann" oder "Die Liebe istein seltsames Spiel". Drei oder vier Titel spielen wir. Danach gehen meinBruder und ich mit dem Aschenbecher herum. Es gibt kaum einen, der nicht einpaar Groschen hineinwirft.
Wie häufig diese nächtlichenAuftritte in Kneipen stattfanden, hing davon ab, wie oft unser Vater ausging,und wie viel er trank. Ab einem bestimmten Pegel des Alkohols funktioniertesein Verdrängungsmechanismus nicht mehr, und das Schreckliche war wieder da, imHier und Jetzt.
Mein Vater kam aus derHölle. Um das zu verstehen, muss man Auschwitz kennen. Nur wenige kennen es,wenige haben es überlebt. Er war ein Sinto, und als die Alliierten die Tore derKonzentrationslager öffneten, achtzehn Jahre alt. Manchmal hörte ich meinenVater nachts laut weinen. Er rief immer wieder die Namen seiner Geschwister undEltern und fragte sich, wieso ausgerechnet er überlebt hatte. Jeder Feiertag,ob Weihnachten oder Geburtstage, war eine Belastung für ihn, er zog sich zurückund konnte schnell böse werden. Er sehnte sich nach seinen Menschen, nach dengemeinsamen Festen, bei denen seine Mutter immer sang. Er lehrte mich ihreLieder, und ich sang sie dann für ihn. Das waren die einzigen Momente, in denenich während des Gesangs ebenfalls berührt war.
Es waren Bruchteile, diemein Vater uns erzählte. Ich fügte sie zusammen, nach und nach, über vieleJahre. Fragen wollte ihn niemand von uns. Wie soll man etwas erzählen, das mannicht erzählen kann, weil es jede nur denkbare Vorstellung übertrifft? ( )
© List Verlag
- Autor: Marianne Rosenberg
- 2006, 270 Seiten, 24 Abbildungen, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: List Hardcover
- ISBN-10: 3471785868
- ISBN-13: 9783471785867
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