Komm, dunkle Nacht
Sarah Patrick und ihr Golden Retriever Monty arbeiten für die K-9, die Spezialeinheit des Rettungsdienstes. Doch nun wird Sarah gezwungen, an einer tödlichen Mission teilzunehmen und zwar von einem Mann, der ihre Vergangenheit so gut kennt, dass...
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Produktinformationen zu „Komm, dunkle Nacht “
Sarah Patrick und ihr Golden Retriever Monty arbeiten für die K-9, die Spezialeinheit des Rettungsdienstes. Doch nun wird Sarah gezwungen, an einer tödlichen Mission teilzunehmen und zwar von einem Mann, der ihre Vergangenheit so gut kennt, dass er sich ihrer Hilfe ganz sicher sein kann.
"Wirklich packend und voller schockierender Wendungen."
New York Post
Lese-Probe zu „Komm, dunkle Nacht “
KOMM, DUNKLE NACHT von Iris Johansen1
Barat, Türkei
11. Juni
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»KOMM RAUS DA, SARAH«, schrie Boyd von draußen.
»Die Wand kann jeden Moment einstürzen.«
»Monty hat was gefunden.« Sarah kletterte vorsichtig bis zu dem Trümmerhaufen, vor dem ihr Golden Retriever stand. »Ruhig, Junge, ganz ruhig.«
Ein Kind?
»Woher soll ich das wissen?« Monty hoffte immer, dass es ein Kind sein würde. Er liebte Kinder und es brachte ihn fast um, all diese vermissten und verletzten Kinder zu sehen. Genau wie mich, dachte Sarah erschöpft. Kinder und alte Leute zu finden war immer am schlimmsten. So wenige von ihnen überlebten diese Katastrophen. Die Erde bebte, die Mauern fielen ein und Leben wurden ausgelöscht, als hätte es sie nie gegeben.
Raus.
»Bist du sicher?«
Raus.
»Okay.« Geistesabwesend tätschelte sie Montys Kopf, während sie die Trümmer betrachtete. Das zweite Geschoss des kleinen Hauses war eingestürzt und die Chancen, dass unter den Trümmern noch jemand lebte, waren minimal.
Sie hörte ein Stöhnen oder Weinen. Doch sie konnte es nicht verantworten, noch jemanden aus dem Rettungsteam hier reinzuholen. Auch sie sollte schleunigst verschwinden.
Kind?
O verdammt! Wozu Zeit verschwenden? Sie würde ja doch nicht eher rausgehen, bis sie nicht alles gründlich abgesucht hatte. Sie packte einen Hocker und schob ihn beiseite. »Geh zu Boyd, Monty.«
Der Retriever setzte sich und sah sie an. »Wie oft soll ich dir noch sagen, du musst wie ein Profi arbeiten. Und Profis gehorchen.«
Hier bleiben.
Sie warf ein Kissen zur Seite und zog an einem Sessel. Jesus , war der schwer. »Du kannst mir jetzt nicht helfen.«
Hier bleiben.
»Komm raus da, Sarah«, schrie Boyd. »Das ist ein Befehl. Es ist vier Tage her. Du weißt, dass wahrscheinlich niemand mehr am Leben ist.«
»In Tegucigalpa haben wir nach zwölf Tagen noch einen Überlebenden gefunden. Aber tu mir den Gefallen und rufe Monty, Boyd.«
»Monty!«
Monty rührte sich nicht. Sie hatte auch nicht damit gerechnet, einen Versuch war es wert gewesen. »Blöder Hund.«
Hier bleiben.
»Wenn du da drinbleibst, komme ich dir helfen«, sagte Boyd.
»Nein, tu das nicht, ich komme sofort.« Sarah beäugte misstrauisch die hintere Wand, dann zog sie an einer Matratze, bis sie das Ding auf die Seite kippen konnte. »Ich sehe mich nur um.«
»Ich gebe dir drei Minuten.«
Drei Minuten. Sie zog verzweifelt an dem geschnitzten Kopfbrett eines Betts. Monty jaulte.
»Schschsch.« Endlich gelang es ihr, das Brett zur Seite zu ziehen.
Und dann sah sie die Hand.
Eine kleine, zarte Hand, die eine Perlenschnur umklammerte ...
»Ein Überlebender?«, fragte Boyd, als Sarah aus dem Haus kam.
»Müssen wir ein Team reinschicken?«
Sie schüttelte benommen den Kopf. »Tot. Ein junges Mädchen. Seit zwei Tagen vielleicht. Bringe niemanden in Gefahr deswegen, aber markiere die Stelle.« Sie zog an Montys Leine. »Ich muss Monty hier rausbringen. Du weißt ja, wie sehr ihn das mitnimmt. In ein paar Stunden bin ich zurück.«
»Ja, ich weiß, deinen Hund nimmt das mit«, sagte Boyd in sarkastischem Ton. »Und deshalb zitterst du wie Espenlaub, stimmt's?«
»Mir geht's gut.«
»Ich will dich vor morgen früh hier nicht mehr sehen. Du bist seit sechsunddreißig Stunden auf den Beinen. Du weißt, dass ein übermüdeter Helfer sich selbst und die Leute, denen er zu helfen versucht, in Lebensgefahr bringt. Es war unglaublich dumm von dir, dieses Risiko einzugehen! Normalerweise bist du doch vernünftiger.«
»Monty war überzeugt, dass da jemand war.« Aber warum ließ sie sich auf diese Streiterei ein? Er hatte ja recht. In Situationen wie dieser kam man nur dann mit dem Leben davon, wenn man sich an die Regeln hielt und nicht irgendwelchen plötzlichen Eingebungen folgte. Sie hätte sich danach richten sollen. »Tut mir leid, Boyd.«
»Na, hoffentlich.« Er verzog das Gesicht. »Du gehörst zu meinen besten Leuten und ich will nicht, dass du aus dem Team geworfen wirst, weil du anfängst, mit dem Herzen statt mit dem Kopf zu denken. Du hast nicht nur dich selber in Gefahr gebracht, sondern auch deinen Hund. Was hättest du gemacht, wenn die Wand eingestürzt wäre und Monty erschlagen hätte?«
»Dazu wäre es nicht gekommen. Ich hätte mich auf ihn geworfen und du hättest die Mauer von mir runtergebuddelt.«
Sie lächelte schwach. »Ich weiß schließlich, auf wen's hier ankommt.«
»Sehr komisch.« Er schüttelte den Kopf. »Und du meinst das auch noch ernst.«
»Stimmt.« Sie rieb sich die Augen. »Sie hatte einen Rosenkranz in der Hand, Boyd. Sie muss den ergriffen haben, als das Beben anfing. Aber er hat ihr wohl nicht geholfen.«
»Ich fürchte, nicht.«
»Sie kann nicht älter als sechzehn gewesen sein und sie war schwanger.«
»Scheiße.«
»Ja.« Sie zog sanft an Montys Leine. »Wir sind bald zurück.«
»Du hörst mir offenbar nicht zu. Ich bin derjenige, der diese Suchaktion leitet, Sarah. Ich will, dass du dich ausruhst. Wir haben inzwischen wahrscheinlich alle Überlebenden gefunden. Ich nehme an, dass wir morgen abberufen werden. Die Suche nach den Toten wird die russische Mannschaft zu Ende führen.«
»Gerade deshalb sollten wir umso härter arbeiten, bis wir den Befehl zum Abzug kriegen. Von den russischen Hunden hat keiner Montys Nase. Du weißt, wie gut er ist.«
»Du bist selbst sehr gut. Wusstest du, dass die anderen im Team darauf wetten, dass du Montys Gedanken lesen kannst?«
»Schwachsinn. Sie haben doch alle eine enge Beziehung zu ihren Hunden. Sie müssen doch wissen, dass man ein Tier verstehen lernt, wenn man mit ihm lebt.«
»Nicht wie du.«
»Was soll das Gerede? Es kommt doch nur darauf an, dass Monty einzigartig ist. Er hat noch Überlebende gefunden, wo alle anderen längst die Hoffnung aufgegeben hatten. Und er könnte auch heute noch welche finden.«
»Wahrscheinlich ist das nicht.« Sie ging davon.
»Ich meine es ernst, Sarah.« Sie sah sich über die Schulter nach ihm um: »Und seit wann hast du nicht mehr geschlafen, Boyd?«
»Das geht dich nichts an.«
»Mach, was ich sage, aber nicht, was ich mache? Ich bin in ein paar Stunden wieder da.« Sie hörte ihn hinter sich fluchen, während sie sich durch die Trümmer einen Weg den Hang hinab zu den Wohnwagen des Rettungsteams suchte, die am Fuße des Hügels aufgestellt worden waren. Boyd Medford war ein guter Kerl, ein ausgezeichneter Einsatzleiter, und was er sagte, hatte Sinn und Verstand. Aber es gab Zeiten, da sie nicht vernünftig sein konnte. Zu viele Tote. Zu wenig Überlebende. O Gott, viel zu viele Leichen ...
Der Rosenkranz ...
Hatte das arme Mädchen noch Zeit gehabt, für ihr Leben und das ihres Kindes zu beten, ehe sie zermalmt wurde? Wahrscheinlich nicht. Im Bruchteil einer Sekunde konnte ein Erdbeben gewaltige Zerstörungen anrichten. Vielleicht sollte sie hoffen, dass der Tod schnell eingetreten war und das Mädchen nicht gelitten hatte. Monty drückte sich an ihre Beine. Traurig.
»Ich auch.« Sie öffnete Monty die Tür zum Wohnwagen.
»Das kommt vor. Nächstes Mal wird es anders sein. Vielleicht.«
Traurig.
Sie füllte Montys Wasserschüssel. »Trink, Junge.«
Traurig. Er legte sich vor der Metallschüssel nieder. Er würde bald trinken, aber mit dem Füttern würde sie noch ein, zwei Stunden warten. Er war zu verstört zum Essen. Er hatte sich nie daran gewöhnen können, einen Toten zu finden. Genauso wenig wie sie. Sie setzte sich neben Monty auf den Boden und legte die Arme um ihn. »Es wird alles gut werden«, flüsterte sie.
»Vielleicht finden wir bald wieder einen lebendigen kleinen Jungen, wie gestern.«
War es gestern? Die Tage verschwammen ineinander, das war bei jeder Suchaktion so. »Erinnerst du dich an das Kind, Monty?«
Kind.
»Er lebt, dank dir. Deshalb müssen wir weitermachen. Wenn es auch wehtut.« Jesus, es tat wirklich weh. Es tat weh, Monty so verstört zu sehen. Der Gedanke an das Mädchen mit dem Rosenkranz in der Hand tat weh. Die Vorstellung, dass wahrscheinlich niemand mehr lebend geborgen werden würde, tat weh. Doch auch wenn es nicht wahrscheinlich war, es war nicht ausgeschlossen. Es gab immer Hoffnung, solange man die Suche nicht aufgab.
Sie schloss die Augen. Sie war müde und ihr taten alle Knochen weh. Na und? Bald würde sie die Zeit haben, sich auszuruhen. Fürs Erste brauchte sie nur ein paar Stunden Schlaf, dann konnte sie weitermachen.
»Los, machen wir ein Nickerchen.« Sie streckte sich neben ihrem Retriever aus. »Und dann werden wir sehen, ob wir in diesem Höllenloch nicht doch noch einen Überlebenden finden.« Leise wimmernd legte Monty den Kopf auf die Pfoten.
»Schschsch.« Sie vergrub das Gesicht in seinem Fell. »Ist ja gut.« Nichts war gut. Der Tod war nie gut. »Wir sind doch zusammen. Wir machen unsere Arbeit. Wir müssen nur noch die nächsten paar Tage überstehen, dann kehren wir zurück zur Ranch.« Sie begann, seinen Kopf zu streicheln.
»Das wird dir gefallen, nicht wahr?«
Traurig.
Er litt, aber nicht so schlimm wie gewöhnlich. Einzelfälle waren oft schlimmer für ihn. Nicht dass er gegen die Massen von Todesopfern bei großen Katastrophen abgestumpft wäre, aber sie waren so ununterbrochen im Einsatz, dass die Reaktion hinausgezögert wurde. In ein paar Stunden würde er wieder einsatzbereit sein.
Und sie selbst?
Sie würde es schaffen. Genau wie sie es Boyd angekündigt hatte. Die letzten Tage waren immer die schlimmsten. Die Hoffnung dämmerte dahin, die Verzweiflung wuchs und Traurigkeit beschwerte Herz und Sinne, bis man glaubte, sie nicht mehr ertragen zu können.
Aber sie ertrug es jedes Mal. Man musste es ertragen, weil es immer noch die Chance gab, dass da noch jemand auf Hilfe hoffte. Und dieser Jemand würde verloren sein, wenn sie und Monty ihn nicht fänden.
Monty drehte sich auf die Seite.
Schlaf.
»Ja, wir sollten schlafen.« Schlaf, mein Freund, und auch ich werde schlafen. Vergessen wir die Rosenkränze und die ungeborenen Kinder. Vergessen wir den Tod. Lassen wir die Hoffnung zurückkehren. »Nur ein kleines Nickerchen ...«
Santo Camaro, Kolumbien
12. Juni
»Wie viele Tote?«, fragte Logan.
»Vier.« Castleton presste die Lippen zusammen. »Und zwei Männer liegen schwer verletzt im örtlichen Krankenhaus. Können wir jetzt abhauen? Bei dem Gestank hier wird
mir übel. Außerdem habe ich Schuldgefühle. Ich habe Bassett für diesen Job angeworben. Ich mochte ihn.«
»Noch einen Augenblick.« Logans Blick wanderte durch die geschwärzten Ruinen, die noch vor Kurzem eine Forschungseinrichtung auf dem neusten Stand der Technik gewesen waren. Das Feuer hatte erst vor drei Tagen gewütet, aber schon meldete der Dschungel seinen Herrschaftsanspruch wieder an. Zwischen den zu Boden gestürzten Deckenbalken wuchs Gras, Schlingpflanzen wanden sich von den nächststehenden Bäumen in makaberer Umarmung um die Mauerreste.
»Haben Sie Bassetts Arbeit retten können?«
»Nein.« Logan sah auf den dunkelroten Skarabäus in seiner Hand.
»Und den hat mir Rudzak heute Morgen geschickt?«
»Ich nehme an, es war Rudzak. Das Ding lag auf meiner Türschwelle, mit Ihrem Namen drauf.«
»Es war Rudzak.«
Castletons Blick wanderte von dem Skarabäus zu Logans Gesicht. »Bassett hat Frau und Kind. Was werden Sie denen erzählen?«
»Gar nichts.«
»Was soll das heißen, gar nichts? Sie werden denen doch sagen müssen, was Bassett zugestoßen ist.«
»Und was soll ich ihnen sagen? Wir wissen nicht, was Bassett zugestoßen ist. Noch nicht.« Er wandte sich ab und ging zum Jeep zurück.
»Rudzak wird ihn töten«, sagte Castleton, der Logan folgte.
»Vielleicht.«
»Sie wissen das genau.«
»Ich glaube, zunächst wird er versuchen, ein Geschäft zu machen.«
»Lösegeld?«
»Möglich. Jedenfalls will er etwas, sonst hätte er sich die Mühe gespart, Bassett zu entführen.«
»Und Sie werden mit diesem Schwein verhandeln? Nach dem, was er Ihren Leuten angetan hat?«
»Ich würde sogar mit dem Teufel verhandeln, wenn ich damit kriegen kann, was ich will.«
Es war die Antwort, die Castleton erwartet hatte. John Logan war nicht zu einem der wirtschaftlich mächtigsten Männer der Welt geworden, weil er schwierigen Situationen aus dem Weg gegangen war. Er hatte mit seiner Computerfirma und anderen Unternehmen schon vor seinem vierzigsten
Geburtstag Milliarden verdient. Und um die gigantischen Gewinne einzustreichen, die das hiesige Projekt abzuwerfen versprach, hatte er das Leben mehrerer Wissenschaftler aufs Spiel gesetzt. Viele Leute waren der Meinung, dass ein Mann mit Gewissen dieses Projekt im Wissen um die Konsequenzen nie fortgeführt hätte.
»Sagen Sie es.« Logan starrte ihn an. »Nur raus mit der Sprache.«
»Sie hätten es nicht tun sollen.«
»Diese Leute waren aus freien Stücken hier. Ich habe über das, was sie hier erwartet, nie gelogen. Sie waren der Ansicht , dass das Risiko sich lohnte.«
»Ich frage mich, wie ihnen zumute war, als die Kugeln sie trafen. Meinen Sie, dass sie da noch immerglaubten, es habe sich gelohnt?«
Logan zuckte nicht mit der Wimper. »Wer zum Teufel weiß, wofür es sich zu sterben lohnt? Wollen Sie aussteigen, Castleton?«
Ja, er wollte aussteigen. Die Sache wurde allmählich zu gefährlich und zu unübersichtlich. Er verstand sich nicht auf solche Situationen und er verfluchte den Tag, an dem er sich auf dieses Projekt eingelassen hatte. »Feuern Sie mich?«
»Aber nicht doch. Ich brauche Sie. Sie wissen, wie hier unten Geschäfte gemacht werden. Deshalb habe ich Sie eingestellt. Aber ich habe Verständnis, wenn Sie aussteigen wollen. Ich werde Sie auszahlen und ziehen lassen.«
»Lassen?«
»Ich könnte einen Weg finden, Sie auf Ihrem Posten zu halten«, sagte Logan müde. »Es gibt immer Methoden, das zu erreichen, was man erreichen möchte. Die Frage ist nur, wie weit man zu gehen bereit ist. Aber Sie haben anständige Arbeit geleistet und ich will Sie nicht zum Bleiben zwingen. Ich werde versuchen, einen anderen zu finden für Ihren Job.«
»Niemand kann mich zwingen, etwas zu tun, was ich nicht will.«
»Wie Sie meinen«, sagte Logan und stieg in seinen Jeep.
»Bringen Sie mich zum Flughafen zurück. Es gibt viel zu erledigen. Glauben Sie, dass ich Ärger mit der örtlichen Polizei zu erwarten habe?«
»Das müssten Sie doch besser wissen: Diese Hügel liegen mitten in dem Gebiet, das die Drogenbarone kontrollieren. Fragen stellen ist hier gefährlich. Die Polizei drückt beide Augen zu.« Er lächelte bitter, als er den Jeep anließ. »Das ist doch der Grund, weshalb Sie die Einrichtung gerade hier gebaut haben?«
»Richtig.«
»Aber die Polizei wird Ihnen auch nicht helfen, Bassett aus Rudzaks Gewalt zu befreien. Er ist ein toter Mann.«
»Wenn er nicht schon tot ist, hole ich ihn zurück.«
»Wie das? Mit Geld?
»Was immer nötig ist.«
»Unmöglich. Selbst wenn Sie ein Lösegeld zahlen, wird Rudzak ihn trotzdem umbringen. Sie können nicht damit rechnen ...«
»Ich kriege ihn zurück.« Logans Stimme hatte plötzlich einen scharfen Klang. »Hören Sie mir gut zu, Castleton. Sie halten mich vielleicht für einen Schweinehund, aber ich drücke mich nicht um meine Verantwortung. Die Menschen, die hier getötet wurden, waren meine Angestellten, und ich will die Leute, die dafür verantwortlich sind, zur Rechenschaft ziehen. Und wenn Sie glauben, ich würde zulassen, dass sie Bassett umbringen oder ihn benutzen, mir eins auszuwischen, haben Sie sich gewaltig geirrt. Ich werde ihn finden.«
»Mitten im Dschungel?«
»Mitten in der Hölle.« Logan sprach mit unerbittlichem Tonfall. »Sie erzählen mir, wie leid Ihnen alles tut und wie schuldig ich mich fühlen sollte. Aber für Schuld habe ich keine Zeit. Habe ich schon immer für kontraproduktiv gehalten. Tun Sie, was Sie für richtig halten; nur erzählen Sie mir nicht, dass irgendwas unmöglich ist, ehe Sie es nicht mindestens einmal versucht haben und gescheitert sind und es noch mal versucht haben. Kaufe ich Ihnen nicht ab.«
»Sie brauchen mir nichts abzukaufen. Ich will Ihnen gar nichts ...«
Aufmerksam blickte er Logan ins Gesicht. »Sie versuchen, mich zu manipulieren!«
»Ach ja? Versuche ich das?«
»Das wissen Sie verdammt genau.«
»Kluger Mann. Aber Sie hätten darauf gefasst sein sollen. Ich bin genauso skrupellos, wie Sie glauben, und dass ich Sie brauche, habe ich Ihnen ja schon gesagt ...«
Castleton schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Glauben Sie wirklich, dass es eine Chance gibt, Bassett zu befreien?«
»Wenn er noch lebt, hole ich ihn zurück. Werden Sie mir helfen?«
»Was soll ich tun?«
»Was Sie schon die ganze Zeit tun. Beamte schmieren und für meine Leute sorgen. Übrigens möchte ich, dass alle so bald wie möglich aus dem Krankenhaus kommen und sich auf den Heimweg machen. Hier sind sie zu vielen Gefahren ausgesetzt.«
»Das hatte ich ohnehin vor.«
»Und halten Sie die Ohren offen und machen Sie den Mund nicht auf. Wenn ich nicht in der Gegend bin, wird Rudzak wahrscheinlich mit Ihnen Kontakt aufnehmen.« Er lächelte schief. »Keine Angst, ich verlange nicht, dass Sie den Hals unters Messer legen. Sie sind viel zu wertvoll für mich.«
»Ich bin kein Feigling, Logan.«
»Nein, aber diese Sache liegt nicht auf Ihrem Terrain. In der Regel suche ich für jeden Job jemanden, der optimal qualifiziert ist - nach Möglichkeit. Ich kann Ihnen aber versichern, dass ich nicht zögern würde, notfalls auch Sie in die Sache zu verwickeln.«
Castleton glaubte ihm. So wie heute hatte er Logan noch nie erlebt. Normalerweise lag seinerücksichtslose Härte unter dem Charme einer unwiderstehlichen, charismatischen Persönlichkeit verborgen. Plötzlich fielen ihm die vielen Geschichten von Logans dunklen Geschäften während seiner frühen Jahre in Asien wieder ein. Wenn er Logan jetzt ansah, konnte er glauben, dass an diesen Geschichten von Schmuggel und gewalttätigen Machtkämpfen mit einheimischen Banden, die von ihm Schutzgelder kassieren wollten, vielleicht doch mehr Wahres war, als er bisher für möglich gehalten hatte.
»Na?«
»Okay.« Castleton befeuchtete sich die Lippen. »Ich bleibe.«
»Gut.«
»Aber nicht, weil Sie mich überzeugt haben. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich in der Stadt war und nicht hier an Ort und Stelle, als es passierte. Vielleicht hätte ich etwas tun können, vielleicht hätte ich verhindern können, dass ...«
»Seien Sie kein Idiot. In dem Fall wären auch Sie jetzt nicht mehr am Leben. Aber fällt Ihnen irgendein Kontaktmann von Rudzak ein, den wir anzapfen könnten?«
»Es heißt, dass ein gewisser Ricardo Sanchez in Bogotá zwischen dem Mendez-Kartell und Rudzak vermittelt.«
»Treiben Sie den auf. Tun Sie alles, was zu tun ist. Ich will wissen, wo Rudzak sein Lager aufgeschlagen hat.«
»Ich bin kein Schläger, Logan.«
»Und würde es Ihr ethisches Zartgefühl verletzen, einen Schläger anzuheuern?«
»Ihren Sarkasmus können Sie sich sparen.«
»Sie haben recht«, sagte er müde. »Wenn ich die Zeit hätte, würde ich selbst nach Bogotá gehen, um Druck auf Sanchez zu machen. Aber keine Sorge, ich habe jemanden, der rauskriegen kann, was ich wissen muss.«
»Ich hoffe, Sie haben Erfolg.«
»Ich auch. Aber selbst wenn Sanchez nichts weiß, werde ich Bassett finden.«
Castleton schüttelte den Kopf. »Niemand hier wird Ihnen sagen, wo er steckt, oder in den Urwald auf die Suche nach ihm gehen.«
»Dann werde ich ihn auf eigene Faust finden.«
»Wie?«
»Ich kenne da jemanden, der mir vielleicht helfen kann.«
»Eine Fachkraft für derartige Aufgaben?«
»Genau.«
»Dann möge Gott ihm beistehen!«
»Es ist kein Mann.« Logan blickte über die Schulter zurück auf die Ruinen. »Es ist eine Frau.«
Logan rief Margaret Wilson, seine Privatsekretärin, an, sobald sein Jet in Santo Camaro gestartet war. »Suchen Sie mir doch bitte die Akte über Sarah Patrick raus.«
»Patrick?« Logan sah Margaret vor sich, wie sie im Kopf die Akten durchging. »Ach, richtig. Die Frau mit dem Hund. Die Recherche über sie habe ich doch vor ungefähr sechs Monaten gemacht, stimmt's? Ich dachte, Sie hätten von ihr gekriegt, was Sie brauchten.«
»Habe ich auch. Aber jetzt liegt etwas anderes an.«
»Und Sie können nicht noch einmal den gleichen Hebel ansetzen?«
»Doch, vielleicht. Aber diesmal ist die Lage komplizierter. Ich will die Akte noch einmal durchgehen, wahrscheinlich werde ich alles brauchen, was wir über sie wissen. Es genügt nicht, dass sie springt, wenn ich pfeife.«
»Ich glaube nicht, dass Sarah Patrick springt, wenn irgendwer pfeift«, sagte Margaret kühl. »Und ich wäre gern dabei, wenn Sie die Lippen spitzen, John. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass Sie das letzte Mal einfach Glück hatten . Geschähe Ihnen recht, wenn ...«
»Bitte keinen Spott jetzt«, sagte er seufzend. »Ich bin nicht in der Stimmung.«
»Aber warum denn nicht?« Sie hielt inne. »Ist Bassett tot?«
»Nein. Ich glaube nicht. Jedenfalls war er am Leben, als er entführt wurde.«
»Scheiße.«
»Ich brauche diese Akte, Margaret.«
»Geben Sie mir fünf Minuten. Soll ich sie Ihnen faxen oder die Informationen telefonisch durchgeben?«
»Rufen Sie mich wieder an.« Logan legte auf, lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss die Augen.
Sarah Patrick.
Er sah sie vor sich. Kurzes, schwarzes Haar mit blonden, von der Sonne gebleichten Strähnen, hohe Wangen knochen, gebräunte Haut und ein schlanker, athletischer Körper. Das Gesicht eher interessant als hübsch, der Verstand so scharf wie ihre Zunge.
Diese Schärfe hatte er während der Zeit in Phoenix unzählige Male zu spüren gekriegt. Sarah war nicht der Typ, der beide Augen zudrückte, vergab und vergaß. Mit Eve Duncan und Joe Quinn hatte sie sich angefreundet, nachdem Logan sie dazu gedrängt hatte, mit Eve zusammenzuarbeiten. Die drei waren noch immer gute Freunde. Erst im vergangenen Monat hatte Eve ihn angerufen und ihm erzählt, dass Sarah sie in Atlanta besucht hatte und ...
Sein Telefon klingelte.
»Sarah Elizabeth Patrick«, sagte Margaret. »Achtundzwanzig Jahre alt. Halb Apache-Indianerin, halb Irin. In Chicago aufgewachsen, hat einige Sommer mit ihrem Vater im Reservat verbracht. Beide Eltern sind tot. Der Vater starb, als sie noch ein Kind war, die Mutter vor fünf Jahren. Hoher IQ. Studium der Veterinärmedizin an der Arizona State University, später hat sie von ihrem Großvater eine kleine Ranch am Rande des Gebirges südlich von Phoenix geerbt, ungefähr zu der Zeit, als ihre Mutter starb. Dort wohnt sie immer noch. Aber das wissen Sie ja, Sie sind ja dort gewesen. Sie ist eine Einzelgängerin, hatte aber immer gute Kontakte zu ihren Kommilitonen und Professoren. Nach dem Staatsexamen hat sie angefangen, für eine Hundestaffel-Ausbildungseinheit der Behörde für Alkohol, Tabak und Feuerwaffen, ATF, zu arbeiten. Sie kann ungewöhnlich gut mit Tieren umgehen. Sie ist Mitglied eines freiwilligen Such- und Rettungsteams in Tuscon, und die ATF hat sie für Einsätze bei Katastrophen aller Art freigestellt. Außerdem sind sie und ihr Hund Monty schon von verschiedenen Polizeibehörden zur Suche nach Leichen und Sprengstoff eingesetzt worden. Monty gilt als wahrer Wunder-Hund.«
»Ich weiß.«
»Richtig, er hat diese Leiche in Phoenix gefunden.« Sie zögerte. »Ich glaube, ich mag sie, John. Diese Rettungsleute sind einfach wunderbar. Als ich im Fernsehen die Bilder von Oklahoma City gesehen habe, wollte ich jedem einzelnen einen Orden verleihen oder ihm mein erstgeborenes Kind schenken.«
»Sie haben keine Kinder.«
»Egal, Sie verstehen, was ich meine.« Sie schwieg. »Jedenfalls hat sie's nicht verdient, in diese Sache mit Bassett hineingezogen zu werden.«
»Auch Bassett hat nicht verdient, was ihm passiert ist.«
»Er hat seine Aufgabe freiwillig übernommen.«
»Sie kann ebenfalls nein sagen.«
»Das werden Sie nicht zulassen. Die Sache ist Ihnen zu wichtig.«
»Warum versuchen Sie dann, mich umzustimmen?«
»Ich weiß nicht. Oder doch, ich weiß. Habe ich erwähnt, dass Sarah Patrick beim Rettungseinsatz in Oklahoma City dabei war? Dies ist also wohl mein Versuch, ihr mein erstgeborenes Kind zu widmen.«
»Sie hat daran keinen Bedarf. Sie hat ihren Hund.«
»Und Sie werden ohnehin nicht auf mich hören.«
»Nein, nein, ich bin ganz Ohr. Etwas anderes würde ich gar nicht wagen.«
»Quatsch. Ich verlange ja nicht, dass Sie ihr einen Orden verleihen. Aber geben Sie ihr die Möglichkeit, nein zu sagen.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Auf der Heimreise aus Barat. Sie war dort fünf Tage im Einsatz. Erdbeben.«
»Ich lebe nicht so weit hinterm Mond, wie Sie glauben, Margaret. Ich habe von dem Erdbeben gehört, bevor ich Monterey verlassen habe.«
»Aber es hat Sie nicht so erschüttert wie die Nachricht von Bassett. Was soll ich nun machen? Soll ich sie anrufen? Ein Treffen arrangieren?«
»Sie würde Sie nur zum Teufel schicken. Und da ich ein Mensch von vornehmer Lebensart bin und Ihnen diese Demütigung ersparen möchte, werde ich mich selbst darum kümmern.«
»Sie haben bloß Angst, dass ich gemeinsame Sache mit ihr mache und Sie dann plötzlich mit uns beiden fertig werden müssen, stimmt's?«
»Sie sagen es.«
»Okay, wo kann ich Sie dann erreichen? Fliegen Sie direkt nach Phoenix?«
»Nein, erst nach Atlanta.« Schweigen. »Eve?«
»Wer sonst?«
»Oh.«
»Mein Gott, Sie sind sprachlos, welche Leistung. Aber ich werde mich Ihrer erbarmen: Nein, ich jage nicht einer verlorenen Liebe hinterher. Eve und ich sind gute Freunde.«
»Der Himmel sei davor, dass irgendjemand Sie je für emotional halten könnte. Außerdem sind Sie mir keine Rechenschaft ...«
»Nein, aber es besteht immerhin die Gefahr, dass Sie vor Neugier platzen, und dann müsste ich eine neue Privatsekretärin suchen, und davor graut es mir.«
»Ich bin gar nicht übermäßig neugierig. Nur im Rahmen des normal Menschlichen«, sagte sie spitz. »Sie haben schließlich ein ganzes Jahr mit ihr verbracht. Da dachte ich, Sie könnten ...«
»Sie können mich in Atlanta im Ritz Carlton in Buckhead erreichen.«
»Wenn Sie sich nicht gleich mit Sarah Patrick treffen wollen, kann ich sie inzwischen beobachten lassen.«
»Das wird nicht nötig sein. Ich werde mich in Atlanta mit ihr treffen.«
»Nein, sie hat eine Reservierung bis Phoenix.«
»Dann wird sie ihre Pläne eben ändern müssen. Übrigens werde ich gleich nach diesem Gespräch Sean Galen anrufen. Wenn er Mittel braucht, geben Sie ihm ...«
»Carte blanche«, beendete Margaret den Satz für ihn.
»Wie gewöhnlich. Ich habe mir schon gedacht, dass Sie den für Ihre Rettungsaktion mobilisieren würden. Soll er geradewegs nach Santo Camaro fliegen?«
»Nein, zuerst soll er in Bogotá einige Recherchen anstellen.«
Margaret schnalzte skeptisch mit der Zunge. »Klingt hübsch. Wen soll er verprügeln?«
»Vielleicht niemanden. Er soll nur jemanden aufstöbern und besagtem Herren ein paar Fragen stellen.«
»Tja, natürlich.«
»Wenn Castleton anruft, soll er sich bei mir melden. Er hat meine Handynummer, aber er ist zu vorsichtig für meinen Geschmack. Er würde mich nur im äußersten Notfall mobil anrufen. Dabei ist aus meiner Sicht der äußerste Notfall im Moment ständig gegeben.«
»Alles klar. Niente Problema.«
»Falsch, Probleme en masse. Ich melde mich wieder.« Er legte auf. Er hätte sich denken können, dass Margaret Sarah Patricks Partei ergreifen würde. Margaret war eine feurige Feministin, die selbstbewusste, kluge Frauen bewunderte, die das eigene Leben und die eigene Karriere selbst in die Hand nahmen. Aus dem gleichen Grunde hatte Margaret auch Eve Duncan bewundert. Eve war eine bekannte Koryphäe auf dem Gebiet der forensischen Gesichtsrekonstruktion, die sich gegen enorme Widerstände sowohl in ihrem Privatleben als auch beruflich durchgesetzt hatte. Eine außergewöhnliche Frau ...
Es waren fast sechs Monate vergangen, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Hatte er den Übergang vom Liebhaber zum Freund, den er Margaret als vollendete Tatsache hingestellt hatte, wirklich geschafft? Er wusste es nicht. Was er für Eve empfunden hatte, hatte er noch für keine andere Frau gefühlt, und während der letzten Monate hatte er sich oft bemüht, diese Gefühle zu analysieren. Respekt, Mitleid, Leidenschaft ...
Ach, verdammt, vermutlich waren alle diese Gefühle zugleich wirksam gewesen. Jedenfalls hatte sie sich voll und ganz seiner Fantasie bemächtigt, seit er sie zum ersten Mal
gesehen hatte.
Nein, er war nicht ehrlich. Er hatte Eve geliebt, denn was war Liebe anderes als eine Mischung aus Respekt, Mitleid, Leidenschaft und hundert anderen Emotionen? Joe Quinn hatte gesagt, Logan habe sie nicht genug geliebt und sie deshalb nicht verdient. Fest stand, dass er sie verloren hatte, vielleicht hatte der Kerl also recht. Vielleicht war er nicht imstande, sich ganz und gar auf eine Frau einzulassen. Vielleicht konnte man das nur, wenn man noch jung und mutig war.
Jesus, das klang wie aus einer Seifenoper. Okay, schieben wir die persönlichen Probleme beiseite.
Eve würde Joe Quinn heiraten, mit dieser Tatsache hatte er sich schon vor Wochen abgefunden. Jetzt ging es um Bassett und er musste alle Anstrengungen darauf konzentrieren, ihn zu befreien.
Und dafür brauchte er Sarah Patrick. Er konnte sie zwingen, ihm zu helfen, wie er es beim letzten Mal getan hatte, aber er würde es vorziehen, keinen Zwang auszuüben. Gab es irgendetwas in ihrer Vergangenheit, dessen er sich bedienen konnte, um sie zu manipulieren? Er hatte Zeit, darüber nachzudenken. Mindestens einen Tag, um sich zu überlegen, was er ihr sagen wollte. Und die Zeit würde er brauchen, dachte er. Sarah konnte eisenhart sein und Margaret hatte wahrscheinlich recht. Dieses Mal konnte er sich keineswegs darauf verlassen, dass sie sprang, wenn er pfiff.
Doch worauf konnte er sich überhaupt verlassen? Auch ohne Sarah war die Situation explosiv genug. Seit er Santo Camaro verlassen hatte, war er in Unruhe. Sein Instinkt sagte ihm, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte, und er vertraute seinen Instinkten. Aber was war es, das ihn
beunruhigte?
Er war voller Zorn und Trauer und unverkennbar tat auch der Adrenalinstoß seine Wirkung, die Lust, sich in den Kampf zu stürzen. Es empfahl sich also, diesen Gefühlen nicht nachzugeben. Er musste mit klarem Kopf Rudzaks Eröffnungszug analysieren. Warum hatte Rudzak Bassett entführt?
Um Lösegeld zu erpressen oder um sich zu rächen, das wären die nahe liegendsten Antworten. Nur waren Rudzaks Motive selten leicht zu durchschauen.
Er zog den Skarabäus aus der Tasche, den Rudzak ihm über Castleton geschickt hatte. Mit dem Daumen rieb er die skulptierte Oberfläche. Der Skarabäus stammte aus einer so fern entlegenen Zeit, einer Zeit des Schmerzes und der Qual und des Bedauerns ... Rudzak hatte ihm damit eine Botschaft zukommen lassen wollen, aber was hatte diese Botschaft mit Bassett zu tun?
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. Denk nach, spiel alle Möglichkeiten durch. Füge die Teile des Puzzles zusammen, bevor du Galen anrufst.
Das Heulen hallte durch die Nacht. Sarah hielt auf dem Gipfel des Hügels inne, nach dem schnellen Lauf bergauf atmete sie schwer. Noch ein Heulen, kläglicher als das erste.
Ein Wolf, dachte Sarah. Wahrscheinlich einer der mexikanischen grauen Wölfe, die vor Kurzem im westlichen Arizona ausgesetzt worden waren. Angeblich waren einige bis hierher gewandert, sehr zum Ärger der hiesigen Viehzüchter. Dieses Geheul jedenfalls schien aus der Nähe zu
kommen. Sie musterte die Felsen, die aus dem Bergrücken hinter ihr in die Höhe ragten.
Nichts. Die Nacht war klar und still und der Wolf wahrscheinlich weiter weg, als es sich anhörte.
Schön. Monty betrachtete den Berg.
»Du würdest deine Ansicht sofort ändern, wenn dir einer dieser Wölfe über den Weg liefe, Monty. Die haben keine Manieren, brauchst bloß mal bei den Ranchern der Gegend nachzufragen.«
Noch einmal tönte das Geheul weit durch die Nacht.
Monty hob den Kopf. Schön. Frei.
Zwar stammten Hunde angeblich von den Wölfen ab, aber Sarah hatte nie wölfische Eigenschaften bei Monty bemerkt. Kein Tier konnte sanfter und liebevoller sein als Monty. Aber regte sich nicht doch ein verborgener Instinkt in ihm, als er so dem Heulen des Wolfes lauschte? Der Gedanke
beunruhigte sie und sie schob ihn sofort beiseite. »Es wird Zeit, in die Hütte zurückzukehren. Sonst wirst du mir noch mondsüchtig.«
Sie begann den Pfad, der zu der Hütte unten im Tal führte, hinabzulaufen.
Sauberer Wind.
Saubere Luft.
Fester Boden.
Stille, die nichts mit Tod und Trauer zu tun hatte.
Gott, es tat gut, wieder daheim zu sein!
Gut.
»Recht hast du. Los, wer zuerst bei der Hütte ist!«
Natürlich war sie nicht die Erste. Als sie die Tür der Hütte aufzog, war Monty längst durch die Hundeklappe gesprungen und schlabberte Wasser aus seinem Napf. »Ich denke, du bist erschöpft von dem Einsatz in Barat. Da könntest du mich doch mal gewinnen lassen.
Monty warf ihr einen verächtlichen Blick zu und wanderte gemächlich zu seinem Teppich, der vor dem Kaminfeuer lag.
»Dann halt nicht. Aber vergiss nicht, wer hier die Lebensmittel zahlt.«
Monty gähnte und streckte sich aus. Das Feuer war einladend und ihr Sessel winkte. Sie hatte große Lust, sich auszustrecken. Widerwillig warf sie dem blinkenden roten Lämpchen ihres Anrufbeantworters einen Blick zu. Sie hatte es ignoriert, als sie vor zwei Stunden in die Hütte zurückgekehrt war, und war geneigt, dies auch weiterhin zu tun. Sollte sie sich anhören, was das Ding zu melden hatte, oder unter die Dusche springen und es sich vor dem Kaminfeuer gemütlich machen? Sie wusste, was sie am liebsten tun würde. Die Welt ausschließen und mit Monty das einfache Leben führen, das ihnen zwischen den Einsätzen neue Kräfte gab. Unter diesen Umständen war selbst ein Anruf eine lästige Unterbrechung. Was sie brauchte, waren Ruhe, Sport und vielleicht ein gutes Buch zur geistigen Auslastung. Aber das rote Lämpchen hörte einfach nicht auf zu blinken. Am besten, sie brachte es hinter sich.
Sie ging durchs Zimmer. Zwei Nachrichten.
Sie drückte den Knopf.
»Todd Madden. Willkommen daheim, Sarah.«
Scheiße. Der hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie ballte unwillkürlich die Fäuste, als sie Maddens sanften, leicht spöttischen Tonfall hörte. »Wie ich höre, hast du wieder ausgezeichnete Arbeit geleistet. Das Team ist von der türkischen Regierung gelobt worden, ganz zu schweigen von der tollen Berichterstattung auf CNN. Ich glaube, wir müssen dich und Monty für ein paar Interviews nach Washington holen.«
»Das könnte dir so passen, du Arschloch«, murmelte sie.
»Ich sehe deinen Gesichtsausdruck förmlich vor mir, es ist ja immer das Gleiche. Unglücklicherweise steht in Boyds Bericht, dass du bei einer Gelegenheit den Gehorsam verweigert hast. Er hat natürlich versucht, es runterzuspielen, aber natürlich konnte er es nicht unter den Tisch fallen
Übersetzung: Peter Hahlbrock
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
»KOMM RAUS DA, SARAH«, schrie Boyd von draußen.
»Die Wand kann jeden Moment einstürzen.«
»Monty hat was gefunden.« Sarah kletterte vorsichtig bis zu dem Trümmerhaufen, vor dem ihr Golden Retriever stand. »Ruhig, Junge, ganz ruhig.«
Ein Kind?
»Woher soll ich das wissen?« Monty hoffte immer, dass es ein Kind sein würde. Er liebte Kinder und es brachte ihn fast um, all diese vermissten und verletzten Kinder zu sehen. Genau wie mich, dachte Sarah erschöpft. Kinder und alte Leute zu finden war immer am schlimmsten. So wenige von ihnen überlebten diese Katastrophen. Die Erde bebte, die Mauern fielen ein und Leben wurden ausgelöscht, als hätte es sie nie gegeben.
Raus.
»Bist du sicher?«
Raus.
»Okay.« Geistesabwesend tätschelte sie Montys Kopf, während sie die Trümmer betrachtete. Das zweite Geschoss des kleinen Hauses war eingestürzt und die Chancen, dass unter den Trümmern noch jemand lebte, waren minimal.
Sie hörte ein Stöhnen oder Weinen. Doch sie konnte es nicht verantworten, noch jemanden aus dem Rettungsteam hier reinzuholen. Auch sie sollte schleunigst verschwinden.
Kind?
O verdammt! Wozu Zeit verschwenden? Sie würde ja doch nicht eher rausgehen, bis sie nicht alles gründlich abgesucht hatte. Sie packte einen Hocker und schob ihn beiseite. »Geh zu Boyd, Monty.«
Der Retriever setzte sich und sah sie an. »Wie oft soll ich dir noch sagen, du musst wie ein Profi arbeiten. Und Profis gehorchen.«
Hier bleiben.
Sie warf ein Kissen zur Seite und zog an einem Sessel. Jesus , war der schwer. »Du kannst mir jetzt nicht helfen.«
Hier bleiben.
»Komm raus da, Sarah«, schrie Boyd. »Das ist ein Befehl. Es ist vier Tage her. Du weißt, dass wahrscheinlich niemand mehr am Leben ist.«
»In Tegucigalpa haben wir nach zwölf Tagen noch einen Überlebenden gefunden. Aber tu mir den Gefallen und rufe Monty, Boyd.«
»Monty!«
Monty rührte sich nicht. Sie hatte auch nicht damit gerechnet, einen Versuch war es wert gewesen. »Blöder Hund.«
Hier bleiben.
»Wenn du da drinbleibst, komme ich dir helfen«, sagte Boyd.
»Nein, tu das nicht, ich komme sofort.« Sarah beäugte misstrauisch die hintere Wand, dann zog sie an einer Matratze, bis sie das Ding auf die Seite kippen konnte. »Ich sehe mich nur um.«
»Ich gebe dir drei Minuten.«
Drei Minuten. Sie zog verzweifelt an dem geschnitzten Kopfbrett eines Betts. Monty jaulte.
»Schschsch.« Endlich gelang es ihr, das Brett zur Seite zu ziehen.
Und dann sah sie die Hand.
Eine kleine, zarte Hand, die eine Perlenschnur umklammerte ...
»Ein Überlebender?«, fragte Boyd, als Sarah aus dem Haus kam.
»Müssen wir ein Team reinschicken?«
Sie schüttelte benommen den Kopf. »Tot. Ein junges Mädchen. Seit zwei Tagen vielleicht. Bringe niemanden in Gefahr deswegen, aber markiere die Stelle.« Sie zog an Montys Leine. »Ich muss Monty hier rausbringen. Du weißt ja, wie sehr ihn das mitnimmt. In ein paar Stunden bin ich zurück.«
»Ja, ich weiß, deinen Hund nimmt das mit«, sagte Boyd in sarkastischem Ton. »Und deshalb zitterst du wie Espenlaub, stimmt's?«
»Mir geht's gut.«
»Ich will dich vor morgen früh hier nicht mehr sehen. Du bist seit sechsunddreißig Stunden auf den Beinen. Du weißt, dass ein übermüdeter Helfer sich selbst und die Leute, denen er zu helfen versucht, in Lebensgefahr bringt. Es war unglaublich dumm von dir, dieses Risiko einzugehen! Normalerweise bist du doch vernünftiger.«
»Monty war überzeugt, dass da jemand war.« Aber warum ließ sie sich auf diese Streiterei ein? Er hatte ja recht. In Situationen wie dieser kam man nur dann mit dem Leben davon, wenn man sich an die Regeln hielt und nicht irgendwelchen plötzlichen Eingebungen folgte. Sie hätte sich danach richten sollen. »Tut mir leid, Boyd.«
»Na, hoffentlich.« Er verzog das Gesicht. »Du gehörst zu meinen besten Leuten und ich will nicht, dass du aus dem Team geworfen wirst, weil du anfängst, mit dem Herzen statt mit dem Kopf zu denken. Du hast nicht nur dich selber in Gefahr gebracht, sondern auch deinen Hund. Was hättest du gemacht, wenn die Wand eingestürzt wäre und Monty erschlagen hätte?«
»Dazu wäre es nicht gekommen. Ich hätte mich auf ihn geworfen und du hättest die Mauer von mir runtergebuddelt.«
Sie lächelte schwach. »Ich weiß schließlich, auf wen's hier ankommt.«
»Sehr komisch.« Er schüttelte den Kopf. »Und du meinst das auch noch ernst.«
»Stimmt.« Sie rieb sich die Augen. »Sie hatte einen Rosenkranz in der Hand, Boyd. Sie muss den ergriffen haben, als das Beben anfing. Aber er hat ihr wohl nicht geholfen.«
»Ich fürchte, nicht.«
»Sie kann nicht älter als sechzehn gewesen sein und sie war schwanger.«
»Scheiße.«
»Ja.« Sie zog sanft an Montys Leine. »Wir sind bald zurück.«
»Du hörst mir offenbar nicht zu. Ich bin derjenige, der diese Suchaktion leitet, Sarah. Ich will, dass du dich ausruhst. Wir haben inzwischen wahrscheinlich alle Überlebenden gefunden. Ich nehme an, dass wir morgen abberufen werden. Die Suche nach den Toten wird die russische Mannschaft zu Ende führen.«
»Gerade deshalb sollten wir umso härter arbeiten, bis wir den Befehl zum Abzug kriegen. Von den russischen Hunden hat keiner Montys Nase. Du weißt, wie gut er ist.«
»Du bist selbst sehr gut. Wusstest du, dass die anderen im Team darauf wetten, dass du Montys Gedanken lesen kannst?«
»Schwachsinn. Sie haben doch alle eine enge Beziehung zu ihren Hunden. Sie müssen doch wissen, dass man ein Tier verstehen lernt, wenn man mit ihm lebt.«
»Nicht wie du.«
»Was soll das Gerede? Es kommt doch nur darauf an, dass Monty einzigartig ist. Er hat noch Überlebende gefunden, wo alle anderen längst die Hoffnung aufgegeben hatten. Und er könnte auch heute noch welche finden.«
»Wahrscheinlich ist das nicht.« Sie ging davon.
»Ich meine es ernst, Sarah.« Sie sah sich über die Schulter nach ihm um: »Und seit wann hast du nicht mehr geschlafen, Boyd?«
»Das geht dich nichts an.«
»Mach, was ich sage, aber nicht, was ich mache? Ich bin in ein paar Stunden wieder da.« Sie hörte ihn hinter sich fluchen, während sie sich durch die Trümmer einen Weg den Hang hinab zu den Wohnwagen des Rettungsteams suchte, die am Fuße des Hügels aufgestellt worden waren. Boyd Medford war ein guter Kerl, ein ausgezeichneter Einsatzleiter, und was er sagte, hatte Sinn und Verstand. Aber es gab Zeiten, da sie nicht vernünftig sein konnte. Zu viele Tote. Zu wenig Überlebende. O Gott, viel zu viele Leichen ...
Der Rosenkranz ...
Hatte das arme Mädchen noch Zeit gehabt, für ihr Leben und das ihres Kindes zu beten, ehe sie zermalmt wurde? Wahrscheinlich nicht. Im Bruchteil einer Sekunde konnte ein Erdbeben gewaltige Zerstörungen anrichten. Vielleicht sollte sie hoffen, dass der Tod schnell eingetreten war und das Mädchen nicht gelitten hatte. Monty drückte sich an ihre Beine. Traurig.
»Ich auch.« Sie öffnete Monty die Tür zum Wohnwagen.
»Das kommt vor. Nächstes Mal wird es anders sein. Vielleicht.«
Traurig.
Sie füllte Montys Wasserschüssel. »Trink, Junge.«
Traurig. Er legte sich vor der Metallschüssel nieder. Er würde bald trinken, aber mit dem Füttern würde sie noch ein, zwei Stunden warten. Er war zu verstört zum Essen. Er hatte sich nie daran gewöhnen können, einen Toten zu finden. Genauso wenig wie sie. Sie setzte sich neben Monty auf den Boden und legte die Arme um ihn. »Es wird alles gut werden«, flüsterte sie.
»Vielleicht finden wir bald wieder einen lebendigen kleinen Jungen, wie gestern.«
War es gestern? Die Tage verschwammen ineinander, das war bei jeder Suchaktion so. »Erinnerst du dich an das Kind, Monty?«
Kind.
»Er lebt, dank dir. Deshalb müssen wir weitermachen. Wenn es auch wehtut.« Jesus, es tat wirklich weh. Es tat weh, Monty so verstört zu sehen. Der Gedanke an das Mädchen mit dem Rosenkranz in der Hand tat weh. Die Vorstellung, dass wahrscheinlich niemand mehr lebend geborgen werden würde, tat weh. Doch auch wenn es nicht wahrscheinlich war, es war nicht ausgeschlossen. Es gab immer Hoffnung, solange man die Suche nicht aufgab.
Sie schloss die Augen. Sie war müde und ihr taten alle Knochen weh. Na und? Bald würde sie die Zeit haben, sich auszuruhen. Fürs Erste brauchte sie nur ein paar Stunden Schlaf, dann konnte sie weitermachen.
»Los, machen wir ein Nickerchen.« Sie streckte sich neben ihrem Retriever aus. »Und dann werden wir sehen, ob wir in diesem Höllenloch nicht doch noch einen Überlebenden finden.« Leise wimmernd legte Monty den Kopf auf die Pfoten.
»Schschsch.« Sie vergrub das Gesicht in seinem Fell. »Ist ja gut.« Nichts war gut. Der Tod war nie gut. »Wir sind doch zusammen. Wir machen unsere Arbeit. Wir müssen nur noch die nächsten paar Tage überstehen, dann kehren wir zurück zur Ranch.« Sie begann, seinen Kopf zu streicheln.
»Das wird dir gefallen, nicht wahr?«
Traurig.
Er litt, aber nicht so schlimm wie gewöhnlich. Einzelfälle waren oft schlimmer für ihn. Nicht dass er gegen die Massen von Todesopfern bei großen Katastrophen abgestumpft wäre, aber sie waren so ununterbrochen im Einsatz, dass die Reaktion hinausgezögert wurde. In ein paar Stunden würde er wieder einsatzbereit sein.
Und sie selbst?
Sie würde es schaffen. Genau wie sie es Boyd angekündigt hatte. Die letzten Tage waren immer die schlimmsten. Die Hoffnung dämmerte dahin, die Verzweiflung wuchs und Traurigkeit beschwerte Herz und Sinne, bis man glaubte, sie nicht mehr ertragen zu können.
Aber sie ertrug es jedes Mal. Man musste es ertragen, weil es immer noch die Chance gab, dass da noch jemand auf Hilfe hoffte. Und dieser Jemand würde verloren sein, wenn sie und Monty ihn nicht fänden.
Monty drehte sich auf die Seite.
Schlaf.
»Ja, wir sollten schlafen.« Schlaf, mein Freund, und auch ich werde schlafen. Vergessen wir die Rosenkränze und die ungeborenen Kinder. Vergessen wir den Tod. Lassen wir die Hoffnung zurückkehren. »Nur ein kleines Nickerchen ...«
Santo Camaro, Kolumbien
12. Juni
»Wie viele Tote?«, fragte Logan.
»Vier.« Castleton presste die Lippen zusammen. »Und zwei Männer liegen schwer verletzt im örtlichen Krankenhaus. Können wir jetzt abhauen? Bei dem Gestank hier wird
mir übel. Außerdem habe ich Schuldgefühle. Ich habe Bassett für diesen Job angeworben. Ich mochte ihn.«
»Noch einen Augenblick.« Logans Blick wanderte durch die geschwärzten Ruinen, die noch vor Kurzem eine Forschungseinrichtung auf dem neusten Stand der Technik gewesen waren. Das Feuer hatte erst vor drei Tagen gewütet, aber schon meldete der Dschungel seinen Herrschaftsanspruch wieder an. Zwischen den zu Boden gestürzten Deckenbalken wuchs Gras, Schlingpflanzen wanden sich von den nächststehenden Bäumen in makaberer Umarmung um die Mauerreste.
»Haben Sie Bassetts Arbeit retten können?«
»Nein.« Logan sah auf den dunkelroten Skarabäus in seiner Hand.
»Und den hat mir Rudzak heute Morgen geschickt?«
»Ich nehme an, es war Rudzak. Das Ding lag auf meiner Türschwelle, mit Ihrem Namen drauf.«
»Es war Rudzak.«
Castletons Blick wanderte von dem Skarabäus zu Logans Gesicht. »Bassett hat Frau und Kind. Was werden Sie denen erzählen?«
»Gar nichts.«
»Was soll das heißen, gar nichts? Sie werden denen doch sagen müssen, was Bassett zugestoßen ist.«
»Und was soll ich ihnen sagen? Wir wissen nicht, was Bassett zugestoßen ist. Noch nicht.« Er wandte sich ab und ging zum Jeep zurück.
»Rudzak wird ihn töten«, sagte Castleton, der Logan folgte.
»Vielleicht.«
»Sie wissen das genau.«
»Ich glaube, zunächst wird er versuchen, ein Geschäft zu machen.«
»Lösegeld?«
»Möglich. Jedenfalls will er etwas, sonst hätte er sich die Mühe gespart, Bassett zu entführen.«
»Und Sie werden mit diesem Schwein verhandeln? Nach dem, was er Ihren Leuten angetan hat?«
»Ich würde sogar mit dem Teufel verhandeln, wenn ich damit kriegen kann, was ich will.«
Es war die Antwort, die Castleton erwartet hatte. John Logan war nicht zu einem der wirtschaftlich mächtigsten Männer der Welt geworden, weil er schwierigen Situationen aus dem Weg gegangen war. Er hatte mit seiner Computerfirma und anderen Unternehmen schon vor seinem vierzigsten
Geburtstag Milliarden verdient. Und um die gigantischen Gewinne einzustreichen, die das hiesige Projekt abzuwerfen versprach, hatte er das Leben mehrerer Wissenschaftler aufs Spiel gesetzt. Viele Leute waren der Meinung, dass ein Mann mit Gewissen dieses Projekt im Wissen um die Konsequenzen nie fortgeführt hätte.
»Sagen Sie es.« Logan starrte ihn an. »Nur raus mit der Sprache.«
»Sie hätten es nicht tun sollen.«
»Diese Leute waren aus freien Stücken hier. Ich habe über das, was sie hier erwartet, nie gelogen. Sie waren der Ansicht , dass das Risiko sich lohnte.«
»Ich frage mich, wie ihnen zumute war, als die Kugeln sie trafen. Meinen Sie, dass sie da noch immerglaubten, es habe sich gelohnt?«
Logan zuckte nicht mit der Wimper. »Wer zum Teufel weiß, wofür es sich zu sterben lohnt? Wollen Sie aussteigen, Castleton?«
Ja, er wollte aussteigen. Die Sache wurde allmählich zu gefährlich und zu unübersichtlich. Er verstand sich nicht auf solche Situationen und er verfluchte den Tag, an dem er sich auf dieses Projekt eingelassen hatte. »Feuern Sie mich?«
»Aber nicht doch. Ich brauche Sie. Sie wissen, wie hier unten Geschäfte gemacht werden. Deshalb habe ich Sie eingestellt. Aber ich habe Verständnis, wenn Sie aussteigen wollen. Ich werde Sie auszahlen und ziehen lassen.«
»Lassen?«
»Ich könnte einen Weg finden, Sie auf Ihrem Posten zu halten«, sagte Logan müde. »Es gibt immer Methoden, das zu erreichen, was man erreichen möchte. Die Frage ist nur, wie weit man zu gehen bereit ist. Aber Sie haben anständige Arbeit geleistet und ich will Sie nicht zum Bleiben zwingen. Ich werde versuchen, einen anderen zu finden für Ihren Job.«
»Niemand kann mich zwingen, etwas zu tun, was ich nicht will.«
»Wie Sie meinen«, sagte Logan und stieg in seinen Jeep.
»Bringen Sie mich zum Flughafen zurück. Es gibt viel zu erledigen. Glauben Sie, dass ich Ärger mit der örtlichen Polizei zu erwarten habe?«
»Das müssten Sie doch besser wissen: Diese Hügel liegen mitten in dem Gebiet, das die Drogenbarone kontrollieren. Fragen stellen ist hier gefährlich. Die Polizei drückt beide Augen zu.« Er lächelte bitter, als er den Jeep anließ. »Das ist doch der Grund, weshalb Sie die Einrichtung gerade hier gebaut haben?«
»Richtig.«
»Aber die Polizei wird Ihnen auch nicht helfen, Bassett aus Rudzaks Gewalt zu befreien. Er ist ein toter Mann.«
»Wenn er nicht schon tot ist, hole ich ihn zurück.«
»Wie das? Mit Geld?
»Was immer nötig ist.«
»Unmöglich. Selbst wenn Sie ein Lösegeld zahlen, wird Rudzak ihn trotzdem umbringen. Sie können nicht damit rechnen ...«
»Ich kriege ihn zurück.« Logans Stimme hatte plötzlich einen scharfen Klang. »Hören Sie mir gut zu, Castleton. Sie halten mich vielleicht für einen Schweinehund, aber ich drücke mich nicht um meine Verantwortung. Die Menschen, die hier getötet wurden, waren meine Angestellten, und ich will die Leute, die dafür verantwortlich sind, zur Rechenschaft ziehen. Und wenn Sie glauben, ich würde zulassen, dass sie Bassett umbringen oder ihn benutzen, mir eins auszuwischen, haben Sie sich gewaltig geirrt. Ich werde ihn finden.«
»Mitten im Dschungel?«
»Mitten in der Hölle.« Logan sprach mit unerbittlichem Tonfall. »Sie erzählen mir, wie leid Ihnen alles tut und wie schuldig ich mich fühlen sollte. Aber für Schuld habe ich keine Zeit. Habe ich schon immer für kontraproduktiv gehalten. Tun Sie, was Sie für richtig halten; nur erzählen Sie mir nicht, dass irgendwas unmöglich ist, ehe Sie es nicht mindestens einmal versucht haben und gescheitert sind und es noch mal versucht haben. Kaufe ich Ihnen nicht ab.«
»Sie brauchen mir nichts abzukaufen. Ich will Ihnen gar nichts ...«
Aufmerksam blickte er Logan ins Gesicht. »Sie versuchen, mich zu manipulieren!«
»Ach ja? Versuche ich das?«
»Das wissen Sie verdammt genau.«
»Kluger Mann. Aber Sie hätten darauf gefasst sein sollen. Ich bin genauso skrupellos, wie Sie glauben, und dass ich Sie brauche, habe ich Ihnen ja schon gesagt ...«
Castleton schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Glauben Sie wirklich, dass es eine Chance gibt, Bassett zu befreien?«
»Wenn er noch lebt, hole ich ihn zurück. Werden Sie mir helfen?«
»Was soll ich tun?«
»Was Sie schon die ganze Zeit tun. Beamte schmieren und für meine Leute sorgen. Übrigens möchte ich, dass alle so bald wie möglich aus dem Krankenhaus kommen und sich auf den Heimweg machen. Hier sind sie zu vielen Gefahren ausgesetzt.«
»Das hatte ich ohnehin vor.«
»Und halten Sie die Ohren offen und machen Sie den Mund nicht auf. Wenn ich nicht in der Gegend bin, wird Rudzak wahrscheinlich mit Ihnen Kontakt aufnehmen.« Er lächelte schief. »Keine Angst, ich verlange nicht, dass Sie den Hals unters Messer legen. Sie sind viel zu wertvoll für mich.«
»Ich bin kein Feigling, Logan.«
»Nein, aber diese Sache liegt nicht auf Ihrem Terrain. In der Regel suche ich für jeden Job jemanden, der optimal qualifiziert ist - nach Möglichkeit. Ich kann Ihnen aber versichern, dass ich nicht zögern würde, notfalls auch Sie in die Sache zu verwickeln.«
Castleton glaubte ihm. So wie heute hatte er Logan noch nie erlebt. Normalerweise lag seinerücksichtslose Härte unter dem Charme einer unwiderstehlichen, charismatischen Persönlichkeit verborgen. Plötzlich fielen ihm die vielen Geschichten von Logans dunklen Geschäften während seiner frühen Jahre in Asien wieder ein. Wenn er Logan jetzt ansah, konnte er glauben, dass an diesen Geschichten von Schmuggel und gewalttätigen Machtkämpfen mit einheimischen Banden, die von ihm Schutzgelder kassieren wollten, vielleicht doch mehr Wahres war, als er bisher für möglich gehalten hatte.
»Na?«
»Okay.« Castleton befeuchtete sich die Lippen. »Ich bleibe.«
»Gut.«
»Aber nicht, weil Sie mich überzeugt haben. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich in der Stadt war und nicht hier an Ort und Stelle, als es passierte. Vielleicht hätte ich etwas tun können, vielleicht hätte ich verhindern können, dass ...«
»Seien Sie kein Idiot. In dem Fall wären auch Sie jetzt nicht mehr am Leben. Aber fällt Ihnen irgendein Kontaktmann von Rudzak ein, den wir anzapfen könnten?«
»Es heißt, dass ein gewisser Ricardo Sanchez in Bogotá zwischen dem Mendez-Kartell und Rudzak vermittelt.«
»Treiben Sie den auf. Tun Sie alles, was zu tun ist. Ich will wissen, wo Rudzak sein Lager aufgeschlagen hat.«
»Ich bin kein Schläger, Logan.«
»Und würde es Ihr ethisches Zartgefühl verletzen, einen Schläger anzuheuern?«
»Ihren Sarkasmus können Sie sich sparen.«
»Sie haben recht«, sagte er müde. »Wenn ich die Zeit hätte, würde ich selbst nach Bogotá gehen, um Druck auf Sanchez zu machen. Aber keine Sorge, ich habe jemanden, der rauskriegen kann, was ich wissen muss.«
»Ich hoffe, Sie haben Erfolg.«
»Ich auch. Aber selbst wenn Sanchez nichts weiß, werde ich Bassett finden.«
Castleton schüttelte den Kopf. »Niemand hier wird Ihnen sagen, wo er steckt, oder in den Urwald auf die Suche nach ihm gehen.«
»Dann werde ich ihn auf eigene Faust finden.«
»Wie?«
»Ich kenne da jemanden, der mir vielleicht helfen kann.«
»Eine Fachkraft für derartige Aufgaben?«
»Genau.«
»Dann möge Gott ihm beistehen!«
»Es ist kein Mann.« Logan blickte über die Schulter zurück auf die Ruinen. »Es ist eine Frau.«
Logan rief Margaret Wilson, seine Privatsekretärin, an, sobald sein Jet in Santo Camaro gestartet war. »Suchen Sie mir doch bitte die Akte über Sarah Patrick raus.«
»Patrick?« Logan sah Margaret vor sich, wie sie im Kopf die Akten durchging. »Ach, richtig. Die Frau mit dem Hund. Die Recherche über sie habe ich doch vor ungefähr sechs Monaten gemacht, stimmt's? Ich dachte, Sie hätten von ihr gekriegt, was Sie brauchten.«
»Habe ich auch. Aber jetzt liegt etwas anderes an.«
»Und Sie können nicht noch einmal den gleichen Hebel ansetzen?«
»Doch, vielleicht. Aber diesmal ist die Lage komplizierter. Ich will die Akte noch einmal durchgehen, wahrscheinlich werde ich alles brauchen, was wir über sie wissen. Es genügt nicht, dass sie springt, wenn ich pfeife.«
»Ich glaube nicht, dass Sarah Patrick springt, wenn irgendwer pfeift«, sagte Margaret kühl. »Und ich wäre gern dabei, wenn Sie die Lippen spitzen, John. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass Sie das letzte Mal einfach Glück hatten . Geschähe Ihnen recht, wenn ...«
»Bitte keinen Spott jetzt«, sagte er seufzend. »Ich bin nicht in der Stimmung.«
»Aber warum denn nicht?« Sie hielt inne. »Ist Bassett tot?«
»Nein. Ich glaube nicht. Jedenfalls war er am Leben, als er entführt wurde.«
»Scheiße.«
»Ich brauche diese Akte, Margaret.«
»Geben Sie mir fünf Minuten. Soll ich sie Ihnen faxen oder die Informationen telefonisch durchgeben?«
»Rufen Sie mich wieder an.« Logan legte auf, lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss die Augen.
Sarah Patrick.
Er sah sie vor sich. Kurzes, schwarzes Haar mit blonden, von der Sonne gebleichten Strähnen, hohe Wangen knochen, gebräunte Haut und ein schlanker, athletischer Körper. Das Gesicht eher interessant als hübsch, der Verstand so scharf wie ihre Zunge.
Diese Schärfe hatte er während der Zeit in Phoenix unzählige Male zu spüren gekriegt. Sarah war nicht der Typ, der beide Augen zudrückte, vergab und vergaß. Mit Eve Duncan und Joe Quinn hatte sie sich angefreundet, nachdem Logan sie dazu gedrängt hatte, mit Eve zusammenzuarbeiten. Die drei waren noch immer gute Freunde. Erst im vergangenen Monat hatte Eve ihn angerufen und ihm erzählt, dass Sarah sie in Atlanta besucht hatte und ...
Sein Telefon klingelte.
»Sarah Elizabeth Patrick«, sagte Margaret. »Achtundzwanzig Jahre alt. Halb Apache-Indianerin, halb Irin. In Chicago aufgewachsen, hat einige Sommer mit ihrem Vater im Reservat verbracht. Beide Eltern sind tot. Der Vater starb, als sie noch ein Kind war, die Mutter vor fünf Jahren. Hoher IQ. Studium der Veterinärmedizin an der Arizona State University, später hat sie von ihrem Großvater eine kleine Ranch am Rande des Gebirges südlich von Phoenix geerbt, ungefähr zu der Zeit, als ihre Mutter starb. Dort wohnt sie immer noch. Aber das wissen Sie ja, Sie sind ja dort gewesen. Sie ist eine Einzelgängerin, hatte aber immer gute Kontakte zu ihren Kommilitonen und Professoren. Nach dem Staatsexamen hat sie angefangen, für eine Hundestaffel-Ausbildungseinheit der Behörde für Alkohol, Tabak und Feuerwaffen, ATF, zu arbeiten. Sie kann ungewöhnlich gut mit Tieren umgehen. Sie ist Mitglied eines freiwilligen Such- und Rettungsteams in Tuscon, und die ATF hat sie für Einsätze bei Katastrophen aller Art freigestellt. Außerdem sind sie und ihr Hund Monty schon von verschiedenen Polizeibehörden zur Suche nach Leichen und Sprengstoff eingesetzt worden. Monty gilt als wahrer Wunder-Hund.«
»Ich weiß.«
»Richtig, er hat diese Leiche in Phoenix gefunden.« Sie zögerte. »Ich glaube, ich mag sie, John. Diese Rettungsleute sind einfach wunderbar. Als ich im Fernsehen die Bilder von Oklahoma City gesehen habe, wollte ich jedem einzelnen einen Orden verleihen oder ihm mein erstgeborenes Kind schenken.«
»Sie haben keine Kinder.«
»Egal, Sie verstehen, was ich meine.« Sie schwieg. »Jedenfalls hat sie's nicht verdient, in diese Sache mit Bassett hineingezogen zu werden.«
»Auch Bassett hat nicht verdient, was ihm passiert ist.«
»Er hat seine Aufgabe freiwillig übernommen.«
»Sie kann ebenfalls nein sagen.«
»Das werden Sie nicht zulassen. Die Sache ist Ihnen zu wichtig.«
»Warum versuchen Sie dann, mich umzustimmen?«
»Ich weiß nicht. Oder doch, ich weiß. Habe ich erwähnt, dass Sarah Patrick beim Rettungseinsatz in Oklahoma City dabei war? Dies ist also wohl mein Versuch, ihr mein erstgeborenes Kind zu widmen.«
»Sie hat daran keinen Bedarf. Sie hat ihren Hund.«
»Und Sie werden ohnehin nicht auf mich hören.«
»Nein, nein, ich bin ganz Ohr. Etwas anderes würde ich gar nicht wagen.«
»Quatsch. Ich verlange ja nicht, dass Sie ihr einen Orden verleihen. Aber geben Sie ihr die Möglichkeit, nein zu sagen.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Auf der Heimreise aus Barat. Sie war dort fünf Tage im Einsatz. Erdbeben.«
»Ich lebe nicht so weit hinterm Mond, wie Sie glauben, Margaret. Ich habe von dem Erdbeben gehört, bevor ich Monterey verlassen habe.«
»Aber es hat Sie nicht so erschüttert wie die Nachricht von Bassett. Was soll ich nun machen? Soll ich sie anrufen? Ein Treffen arrangieren?«
»Sie würde Sie nur zum Teufel schicken. Und da ich ein Mensch von vornehmer Lebensart bin und Ihnen diese Demütigung ersparen möchte, werde ich mich selbst darum kümmern.«
»Sie haben bloß Angst, dass ich gemeinsame Sache mit ihr mache und Sie dann plötzlich mit uns beiden fertig werden müssen, stimmt's?«
»Sie sagen es.«
»Okay, wo kann ich Sie dann erreichen? Fliegen Sie direkt nach Phoenix?«
»Nein, erst nach Atlanta.« Schweigen. »Eve?«
»Wer sonst?«
»Oh.«
»Mein Gott, Sie sind sprachlos, welche Leistung. Aber ich werde mich Ihrer erbarmen: Nein, ich jage nicht einer verlorenen Liebe hinterher. Eve und ich sind gute Freunde.«
»Der Himmel sei davor, dass irgendjemand Sie je für emotional halten könnte. Außerdem sind Sie mir keine Rechenschaft ...«
»Nein, aber es besteht immerhin die Gefahr, dass Sie vor Neugier platzen, und dann müsste ich eine neue Privatsekretärin suchen, und davor graut es mir.«
»Ich bin gar nicht übermäßig neugierig. Nur im Rahmen des normal Menschlichen«, sagte sie spitz. »Sie haben schließlich ein ganzes Jahr mit ihr verbracht. Da dachte ich, Sie könnten ...«
»Sie können mich in Atlanta im Ritz Carlton in Buckhead erreichen.«
»Wenn Sie sich nicht gleich mit Sarah Patrick treffen wollen, kann ich sie inzwischen beobachten lassen.«
»Das wird nicht nötig sein. Ich werde mich in Atlanta mit ihr treffen.«
»Nein, sie hat eine Reservierung bis Phoenix.«
»Dann wird sie ihre Pläne eben ändern müssen. Übrigens werde ich gleich nach diesem Gespräch Sean Galen anrufen. Wenn er Mittel braucht, geben Sie ihm ...«
»Carte blanche«, beendete Margaret den Satz für ihn.
»Wie gewöhnlich. Ich habe mir schon gedacht, dass Sie den für Ihre Rettungsaktion mobilisieren würden. Soll er geradewegs nach Santo Camaro fliegen?«
»Nein, zuerst soll er in Bogotá einige Recherchen anstellen.«
Margaret schnalzte skeptisch mit der Zunge. »Klingt hübsch. Wen soll er verprügeln?«
»Vielleicht niemanden. Er soll nur jemanden aufstöbern und besagtem Herren ein paar Fragen stellen.«
»Tja, natürlich.«
»Wenn Castleton anruft, soll er sich bei mir melden. Er hat meine Handynummer, aber er ist zu vorsichtig für meinen Geschmack. Er würde mich nur im äußersten Notfall mobil anrufen. Dabei ist aus meiner Sicht der äußerste Notfall im Moment ständig gegeben.«
»Alles klar. Niente Problema.«
»Falsch, Probleme en masse. Ich melde mich wieder.« Er legte auf. Er hätte sich denken können, dass Margaret Sarah Patricks Partei ergreifen würde. Margaret war eine feurige Feministin, die selbstbewusste, kluge Frauen bewunderte, die das eigene Leben und die eigene Karriere selbst in die Hand nahmen. Aus dem gleichen Grunde hatte Margaret auch Eve Duncan bewundert. Eve war eine bekannte Koryphäe auf dem Gebiet der forensischen Gesichtsrekonstruktion, die sich gegen enorme Widerstände sowohl in ihrem Privatleben als auch beruflich durchgesetzt hatte. Eine außergewöhnliche Frau ...
Es waren fast sechs Monate vergangen, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Hatte er den Übergang vom Liebhaber zum Freund, den er Margaret als vollendete Tatsache hingestellt hatte, wirklich geschafft? Er wusste es nicht. Was er für Eve empfunden hatte, hatte er noch für keine andere Frau gefühlt, und während der letzten Monate hatte er sich oft bemüht, diese Gefühle zu analysieren. Respekt, Mitleid, Leidenschaft ...
Ach, verdammt, vermutlich waren alle diese Gefühle zugleich wirksam gewesen. Jedenfalls hatte sie sich voll und ganz seiner Fantasie bemächtigt, seit er sie zum ersten Mal
gesehen hatte.
Nein, er war nicht ehrlich. Er hatte Eve geliebt, denn was war Liebe anderes als eine Mischung aus Respekt, Mitleid, Leidenschaft und hundert anderen Emotionen? Joe Quinn hatte gesagt, Logan habe sie nicht genug geliebt und sie deshalb nicht verdient. Fest stand, dass er sie verloren hatte, vielleicht hatte der Kerl also recht. Vielleicht war er nicht imstande, sich ganz und gar auf eine Frau einzulassen. Vielleicht konnte man das nur, wenn man noch jung und mutig war.
Jesus, das klang wie aus einer Seifenoper. Okay, schieben wir die persönlichen Probleme beiseite.
Eve würde Joe Quinn heiraten, mit dieser Tatsache hatte er sich schon vor Wochen abgefunden. Jetzt ging es um Bassett und er musste alle Anstrengungen darauf konzentrieren, ihn zu befreien.
Und dafür brauchte er Sarah Patrick. Er konnte sie zwingen, ihm zu helfen, wie er es beim letzten Mal getan hatte, aber er würde es vorziehen, keinen Zwang auszuüben. Gab es irgendetwas in ihrer Vergangenheit, dessen er sich bedienen konnte, um sie zu manipulieren? Er hatte Zeit, darüber nachzudenken. Mindestens einen Tag, um sich zu überlegen, was er ihr sagen wollte. Und die Zeit würde er brauchen, dachte er. Sarah konnte eisenhart sein und Margaret hatte wahrscheinlich recht. Dieses Mal konnte er sich keineswegs darauf verlassen, dass sie sprang, wenn er pfiff.
Doch worauf konnte er sich überhaupt verlassen? Auch ohne Sarah war die Situation explosiv genug. Seit er Santo Camaro verlassen hatte, war er in Unruhe. Sein Instinkt sagte ihm, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte, und er vertraute seinen Instinkten. Aber was war es, das ihn
beunruhigte?
Er war voller Zorn und Trauer und unverkennbar tat auch der Adrenalinstoß seine Wirkung, die Lust, sich in den Kampf zu stürzen. Es empfahl sich also, diesen Gefühlen nicht nachzugeben. Er musste mit klarem Kopf Rudzaks Eröffnungszug analysieren. Warum hatte Rudzak Bassett entführt?
Um Lösegeld zu erpressen oder um sich zu rächen, das wären die nahe liegendsten Antworten. Nur waren Rudzaks Motive selten leicht zu durchschauen.
Er zog den Skarabäus aus der Tasche, den Rudzak ihm über Castleton geschickt hatte. Mit dem Daumen rieb er die skulptierte Oberfläche. Der Skarabäus stammte aus einer so fern entlegenen Zeit, einer Zeit des Schmerzes und der Qual und des Bedauerns ... Rudzak hatte ihm damit eine Botschaft zukommen lassen wollen, aber was hatte diese Botschaft mit Bassett zu tun?
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. Denk nach, spiel alle Möglichkeiten durch. Füge die Teile des Puzzles zusammen, bevor du Galen anrufst.
Das Heulen hallte durch die Nacht. Sarah hielt auf dem Gipfel des Hügels inne, nach dem schnellen Lauf bergauf atmete sie schwer. Noch ein Heulen, kläglicher als das erste.
Ein Wolf, dachte Sarah. Wahrscheinlich einer der mexikanischen grauen Wölfe, die vor Kurzem im westlichen Arizona ausgesetzt worden waren. Angeblich waren einige bis hierher gewandert, sehr zum Ärger der hiesigen Viehzüchter. Dieses Geheul jedenfalls schien aus der Nähe zu
kommen. Sie musterte die Felsen, die aus dem Bergrücken hinter ihr in die Höhe ragten.
Nichts. Die Nacht war klar und still und der Wolf wahrscheinlich weiter weg, als es sich anhörte.
Schön. Monty betrachtete den Berg.
»Du würdest deine Ansicht sofort ändern, wenn dir einer dieser Wölfe über den Weg liefe, Monty. Die haben keine Manieren, brauchst bloß mal bei den Ranchern der Gegend nachzufragen.«
Noch einmal tönte das Geheul weit durch die Nacht.
Monty hob den Kopf. Schön. Frei.
Zwar stammten Hunde angeblich von den Wölfen ab, aber Sarah hatte nie wölfische Eigenschaften bei Monty bemerkt. Kein Tier konnte sanfter und liebevoller sein als Monty. Aber regte sich nicht doch ein verborgener Instinkt in ihm, als er so dem Heulen des Wolfes lauschte? Der Gedanke
beunruhigte sie und sie schob ihn sofort beiseite. »Es wird Zeit, in die Hütte zurückzukehren. Sonst wirst du mir noch mondsüchtig.«
Sie begann den Pfad, der zu der Hütte unten im Tal führte, hinabzulaufen.
Sauberer Wind.
Saubere Luft.
Fester Boden.
Stille, die nichts mit Tod und Trauer zu tun hatte.
Gott, es tat gut, wieder daheim zu sein!
Gut.
»Recht hast du. Los, wer zuerst bei der Hütte ist!«
Natürlich war sie nicht die Erste. Als sie die Tür der Hütte aufzog, war Monty längst durch die Hundeklappe gesprungen und schlabberte Wasser aus seinem Napf. »Ich denke, du bist erschöpft von dem Einsatz in Barat. Da könntest du mich doch mal gewinnen lassen.
Monty warf ihr einen verächtlichen Blick zu und wanderte gemächlich zu seinem Teppich, der vor dem Kaminfeuer lag.
»Dann halt nicht. Aber vergiss nicht, wer hier die Lebensmittel zahlt.«
Monty gähnte und streckte sich aus. Das Feuer war einladend und ihr Sessel winkte. Sie hatte große Lust, sich auszustrecken. Widerwillig warf sie dem blinkenden roten Lämpchen ihres Anrufbeantworters einen Blick zu. Sie hatte es ignoriert, als sie vor zwei Stunden in die Hütte zurückgekehrt war, und war geneigt, dies auch weiterhin zu tun. Sollte sie sich anhören, was das Ding zu melden hatte, oder unter die Dusche springen und es sich vor dem Kaminfeuer gemütlich machen? Sie wusste, was sie am liebsten tun würde. Die Welt ausschließen und mit Monty das einfache Leben führen, das ihnen zwischen den Einsätzen neue Kräfte gab. Unter diesen Umständen war selbst ein Anruf eine lästige Unterbrechung. Was sie brauchte, waren Ruhe, Sport und vielleicht ein gutes Buch zur geistigen Auslastung. Aber das rote Lämpchen hörte einfach nicht auf zu blinken. Am besten, sie brachte es hinter sich.
Sie ging durchs Zimmer. Zwei Nachrichten.
Sie drückte den Knopf.
»Todd Madden. Willkommen daheim, Sarah.«
Scheiße. Der hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie ballte unwillkürlich die Fäuste, als sie Maddens sanften, leicht spöttischen Tonfall hörte. »Wie ich höre, hast du wieder ausgezeichnete Arbeit geleistet. Das Team ist von der türkischen Regierung gelobt worden, ganz zu schweigen von der tollen Berichterstattung auf CNN. Ich glaube, wir müssen dich und Monty für ein paar Interviews nach Washington holen.«
»Das könnte dir so passen, du Arschloch«, murmelte sie.
»Ich sehe deinen Gesichtsausdruck förmlich vor mir, es ist ja immer das Gleiche. Unglücklicherweise steht in Boyds Bericht, dass du bei einer Gelegenheit den Gehorsam verweigert hast. Er hat natürlich versucht, es runterzuspielen, aber natürlich konnte er es nicht unter den Tisch fallen
Übersetzung: Peter Hahlbrock
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Iris Johansen
Iris Johansen lebt mit ihrer Familie bei Atlanta, Georgia. Sie ist eine international erfolgreiche Bestsellerautorin, deren Romane eine Millionenauflage erreichen und die in viele Sprachen übersetzt wurde.
Bibliographische Angaben
- Autor: Iris Johansen
- 2012, 1, 384 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863652525
- ISBN-13: 9783863652524
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