Kommt ein Mann ins Zimmer
Kommt ein Mann ins Zimmer von Nicole Krauss
LESEPROBE
Prolog
Juni 1957
GIRLS GIRLSGIRLS steht auf einem Schild am Maschendrahtzaun,und wir pfeifen und johlen, als der Bus vorbeirauscht, eine Staubwolke in derMulde hinterlassend. Eine aufsässige schwarze Fliege dröhnt gegen das Fenster,und jemand versucht sie mit einer Zigarette zu versengen. Endlos ziehen sichdie Beifußstoppeln hin, und Kohler sagt, du wärst noch keinen Tag tot, dannhätten die Kojoten dich schon blank geputzt. Kurz bevor wir Pendletonverließen, hat Kohler sich noch ein Tattoo geholt,ein Mädchen, das zappelt, wenn er die Muskeln spielen lässt, und zum sechstenoder siebten Mal heute krempelt er den Ärmel hoch.
An einem Straßenschild mit der Aufschrift100 Meilen bis Las Vegas geht das Grölen wieder los, und hinausgelehnt trommelnwir dem Bus auf die Flanken, bis das Asphaltband sich in der Ferne entwindet.Einer sagt, er habe gehört, beim ersten Versuch, der über dem Bikini-Atollgezündet wurde, habe ein Bild von Rita Hayworth an der Bombe geklebt, und dasbringt ein paar Lacher ein. Kohler, der Vegas kennt, erzählt vom Desert Inn, wie wir an unserem freien Abend dort hingehen,an Geldautomaten spielen, Shirley Jones sehen werden.
Um 15 Uhr 13 fahren wir langsam in Desert Rock ein, recken uns und joggen eine Runde über denMakadam, um die steifen Glieder zu lockern. Es hatknapp 45 Grad, jene Art Hitze, die einem den Kopf platzen lässt. Der Schauereiner fernen Regenwolke verdunstet hoch oben in der Luft, ehe je ein Tropfenauf die Wüste fällt.
Wir bekommen frischeDrillichuniformen ausgehändigt, und danach gibt es vorerst keine Pflichten,also suchen wir uns ein Schattenfleckchen und sehen zu, wie ein paar Jungs aufErkundung gehen, ein abgerissener Haufen, rangelnd und scherzend, bis sieKrater suchend aus dem Blickfeld verschwinden.
In der Nacht ist der Himmel reineAstronomie.
Tagelang tun wir nichts als warten,vertreiben uns die Zeit, indem wir schlafen oder auf dem rissigen WüstenbodenEchsen jagen. Wir leben auf dem Grund eines ausgetrockneten Sees, schreibt jemand nach Hause, es gibt Fossilien, die das beweisen.Wir unternehmen eine Fahrt zu einer Geisterstadt beim DeathValley, bleiben an der einzigen Kreuzung dort stehen und liefern uns Duelle mitzu Pistolen geformten Fingern. Hin und wieder lässt jemand eine verkratzteAufnahme von Johnny Mathis oder Elvis über die Lautsprecheranlage laufen. Wirtrinken, damit unser Blut nicht stockt, Wasser bei Tage, Bier in der Nacht. Wirschauen dem Mädchen beim Zappeltanz auf Kohlers Bizeps zu. Der Wind blästbeständig in die falsche Richtung, ein seltsamer Wind, der uns fertig macht undrastlos Staub aufwirbelt. Wir essen mit Sand zwischen den Zähnen. Als der Windsich schließlich dreht, kommen Ansagen durch, die Zündung finde um 6 Uhr 30 statt.Um 4 Uhr stehen wir auf.
Die Versuchsbomben sind nachWissenschaftlern oder Bergen benannt, außer der, um deretwillen wir gekommensind, Priscilla, die an einem Heliumballon gut 200 Meter über dem Bodenschwebt. Eine Sondermeldung warnt die Zivilbevölkerung vor Netzhautschädendurch den Anblick des Feuerballs auf eine Entfernung von über hundertKilometern, doch die Bergarbeiter klettern trotzdem auf den Angel'sPeak, als wäre es der Vierte Juli.
Wir fahren die 5o Kilometer bis Frenchman Flat hinten aufMilitärlastwagen, jeder mit einer angesteckten Messplakette, noch inberuhigendem Blau. Zweitausend Meter vom Bodennullpunkt entfernt halten dieLaster an, und wir stolpern halb schlafend hinunter, steigen in die Gräben, biswir auf Augenhöhe mit dem Wüstenboden sind. Tausend von uns sind so gut wienichts auf dieser endlosen Fläche, wie Ameisen von oben betrachtet, etwas kaumUngewöhnliches, keine Spezies, nur ein kleines Gewusel, das sich selbst nicht alsgeschichtliches Ereignis begreift. Wir sind jetzt fast durchweg still,lauschen den Kojoten und dem Knacken der Wüste, bis die Lautsprecher anfangen,Befehle durch die weichende Dunkelheit zu brüllen. Später wurden einige von unsnach Vietnam geschickt, wo wir uns schwitzend, mit entzündeter, verpilzter Haut in den von Spinnen wimmelnden Zelten an dashier erinnern sollten, wie einfach es war.
Während wir warten, rollt eineKarawane Lastwagen mit dem verängstigten Gedränge lebender Tiere heran. TausendMeter vor uns sehen wir, wie neunhundert Schweine herausgestoßenund in Löchern oder Pferchen zusammengetrieben werden. Einige Schweine tragengefütterte Kampfjacken, brandneu, die auf ihre Strapazierfähigkeit getestet werdensollen. Dazu eine Hand voll Kaninchen für die Wissenschaft in ihrem ständigenBemühen, die Erblindungseffekte der Leuchtkraft zu erforschen.
Noch fünfzehn Minuten bis zumCountdown. Fünfzehn Minuten, um an Vegas zu denken, an die Zeit, da wir Ike dieHand schüttelten, an Schlagzeuger wie Krupa, die inden Big Bands spielten und mit Feingefühl die Trommeln rührten, sie zumSprechen brachten, ohne auf sie einzudreschen, an die sanfte Klaviermusik inden Clubs in Kalifornien. Fünfzehn Minuten für noch eine Chesterfield, oder umgeistesabwesend mit den Fingern kleine Löcher in die Grabenwand zu bohren.Tausend Gedanken, der reduzierte Querschnitt eines Augenblicks in Amerika.Unsere Helme schief, noch nicht zugeschnallt. Die Drillichhosen steif vorNeuheit. In glühender Pracht geht die Sonne auf, als müsste sie die Wüste ersterfinden. Zwei Minuten für die Zeitungsleute, sich auf ihren Sitzen amKontrollpunkt einzurichten, Männer in Anzügen, mit Tickets unter denHutbändern, die dies niemandem berichten würden.
Tausend Mann, die Arme vor den Augenverschränkt wie Mädchen im Kino, auf den verstärkten Ton einer einzigen, vonzehn rückwärts zählenden Stimme konzentriert. Es ist Juni 1957, und derCountdown ist noch kein Synonym für Raketenabschüsse geworden, mit denenAstronauten aus der Erdatmosphäre hinaus ins All befördert werden.
Und dann ein Geräusch, wie wir esnoch nie gehört haben. Eine Art Maximum an Lautstärke. Sogar mit geschlossenen Augensehen wir das gleißende weiße Licht der Explosion, viermal so stark wie die vonNagasaki, so hell, dass keine Schatten fallen. Wir zählen bis zehn und öffnendie Augen, und was wir sehen, ist das Blut, das durch unsere Venen fließt, sinddie Skelette der Männer vor uns. Röntgenbilder von tausend GIs, ihre Knochenwie eine Diashow in der Wüste. Scharf zeichnen sich die Yuccabäume ab, dieBerge sind Aluminium.
Die Lautsprecher brüllen, wir sollenaufstehen, und wir erheben uns, betäubt, bewegen uns, ohne zu denken, außer denJungs, die ganz unten sind, weinend und betend. Wir richten uns auf und werdenvon einer Stoßwelle heißer Luft erfasst, als würden uns die Köpfe abgerissen.Sie schmettert uns zurück, der Boden neigt sich. Wir sind zu sehr in Panik, umuns nach der Logik der Befehle zu fragen. Wir gehorchen, weil es der einzigeWeg ist, lebend durchzukommen.
Die Luft ist schwärzer als derJüngste Tag im Comic. Wie soll ich erklären, dass wir das persönlich nahmen?
Eine zweite Wand, eine nahende,leuchtende Flut aus Dreck und Schutt, die all das auf uns niederprasseln lässt,Stöcke und Steine und sonstige Dinge, an die wir jetzt, manche von uns halbbegraben, keine Gedanken verschwenden können. Es folgt ein Moment seltsamerRuhe, wie eine Pause tiefen Respekts, bevor der Chor anhebt zu singen. Dannkönnen wir nicht mehr atmen. Es bleibt keine Luft übrig, als der Druckumschlägt und wieder zum Bodennullpunkt zieht, ruhiger, trauriger jetzt, da dieDetonation in sich zusammenfällt, ein Vakuum, das alles aufzusaugen droht. Wirringen um Atem, jeder für sich allein, während der Schutt sich ablagert, und dannsehen wir es, das, um dessentwillen wir gekommen sind: einen riesigenFeuerball, der hinter der Pilzwolke aufsteigt, als führe der Teufel gen Himmel.Es ist das Schönste, was wir je gesehen haben, im eigenen Blut kochend, steigter zwölftausend Meter hoch und breitet sich aus, bis er die Sonne verdunkelt,breitet sich als eine Wolke, aus der es Wüstenreste regnet, über unsere Köpfe.Wir können nicht mehr denken. Es ist kein Platz mehr darin für etwas anderes.
Zweiundzwanzig Kilometer entfernt,am Kontrollpunkt, fliegen die Türen aus den Angeln. Die Geigerzähler müssenberuhigt werden wie scheuende Pferde. Auf dem Highway in der Nähe haltenAutofahrer am Straßenrand, stehen benommen und blinzelnd neben ihren Kombisund suchen den Himmel nach Außerirdischen ab. Man spürt die Druckwelle inMercury und in Indian Springs, hört sie wie ein Grollen bis nach Kalifornienund Reno. In Utah fährt Kindern ein heißer Wind durchs Haar, klatscht ihnen dieT-Shirts an die Brust, als sie wegrennen und sich unter einem Ascheschauerumdrehen. ()
© Rowohlt Verlag
- Autor: Nicole Krauss
- 2006, 1, 320 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Osterwald, Grete
- Übersetzer: Grete Osterwald
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10: 349803524X
- ISBN-13: 9783498035242
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