Kürzere Tage
Roman
Marco wohnt im Hochhaus an der Hauptstraße. Von hier ist es nicht weit bis zum Olgaeck, und hinter dem Olgaeck liegt die Constantinstraße, wo die Altbauten unter Denkmalschutz stehen und die Äpfel beim türkischen Feinkosthändler teurer sind als im...
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Produktinformationen zu „Kürzere Tage “
Klappentext zu „Kürzere Tage “
Marco wohnt im Hochhaus an der Hauptstraße. Von hier ist es nicht weit bis zum Olgaeck, und hinter dem Olgaeck liegt die Constantinstraße, wo die Altbauten unter Denkmalschutz stehen und die Äpfel beim türkischen Feinkosthändler teurer sind als im Hauptbahnhof. Hier wohnen die Aufsteiger, Übermütter und ihre wohlerzogenen Kinder. Hier scheint alles in Ordnung - wenn man nicht vom Supermarkt ins Büro und vom Büro in den Kindergarten hetzt, so wie Leonie, wenn man nicht am Doppelleben als Karrierefrau und Mutter verzweifelt. Judith findet Halt in der Anthroposophie. Hingebungsvoll pflegt sie den Jahreszeitentisch für ihre Kleinen. Doch nachts helfen nur Tabletten gegen die Angst. Im Nebenhaus wohnen die alten Posselts. Sie haben geschafft, wovon die Enkelgeneration nur träumt, nämlich ein Leben lang zusammenzubleiben. Da versetzt Marco die Nachbarschaft in Aufruhr.Kürzere Tage ist eine wortmächtige Bestandsaufnahme und eine melancholische Abrechnung mit einer Gesellschaft, in der alle Werte fragwürdig geworden sind.Wohlstand und Aussichtslosigkeit, Eurythmie und Hysterie, Elternglück und Kinderleid. Virtuos schildert Anna Katharina Hahn das satte Stuttgart von einer anderen Seite.
Lese-Probe zu „Kürzere Tage “
Kürzere Tage von Anna Katharina Hahn Judith
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Judith raucht hastig, mit dem Rücken gegen die Wohnungstür gelehnt. Sie läßt den Rauch tief in ihre Brust einströmen und atmet ihn durch die Nasenflügel wieder aus. Das Verlangen nach einer Zigarette, schlimmer als der Druck einer vollen Blase, beherrscht schon den ganzen Tag. Am Morgen waren die Kinder zu ihr ins Bett geschlüpft, bevor sie sich hinausschleichen konnte, um auf dem Küchenbalkon zu rauchen. Viel zu lange mußte sie auf eine günstige Gelegenheit warten. Das steinerne Gesicht, mit dem sie Tee gekocht, Müsli in Schalen gefüllt, Obst geschnitten und selbst nur an ihrer Tasse genippt hatte, kennt die Familie schon. »Die Mama ist manchmal ein Morgenmuffel«, bemerkte der fünfjährige Uli. Judith macht einen inbrünstigen Lungenzug und stellt sich vor, wie sich die bläulichen Schwaden mit ihrem Blut vermischen und zum Herzen ziehen, es einhüllen und ruhiger schlagen lassen. Die Gier ebbt langsam ab, sie hat wieder Augen und Ohren für ihre Umgebung und beginnt sich zu schämen. Im Treppenhaus flucht Klaus, wahrscheinlich hat er etwas vergessen, die Blockflöte, Ulis Mütze. Um vier fängt der Unterricht an. Sie betet in eine unbestimmte Richtung, daß die beiden nicht nochmal hochkommen. Dann hört sie Ulis helle, vorwurfsvolle Stimme: »Aber Papa, da ist sie doch!«, einen Seufzer von Klaus, Gepolter auf den Stufen, das Schlagen der Haustür. Schnell macht sie den letzten Zug, spürt schon die Glut an den Fingerspitzen, als sie den Stummel in den winzigen Aschenbecher quetscht. Sie schiebt den Deckel zu und schließt eine schmale Faust um das Döschen, das silbern funkelnd und gewärmt von der in seinem Inneren sterbenden Glut anmutet wie das Utensil zu einem besonders verfeinerten Laster – das Spritzbesteck eines Dandys, der Kokslöffel einer Bohemienne.
Sie geht durch den langen Flur ins Eßzimmer, öffnet die Fenster weit und läßt den Qualm abziehen. Seit langem hat sie sich nicht so gehenlassen. Normalerweise raucht sie auf dem Balkon oder unten im Hof. Das Wegbringen der Mülltüten hat sie deshalb an sich gerissen. Die Constantinstraße liegt still im Nachmittagslicht. Braungelbe Sandsteinhäuser wölben ihre verzierten Fassaden nach vorne wie frische Brote und Kuchen, die aus ihren Backformen quellen. Über den grauen Schieferdächern steht die Sonne und läßt Gerüche aufsteigen, die auch mitten in der Stadt zum Herbst gehören: das Nußaroma zerquetschter Blätter auf dem Gehweg und in den umliegenden Höfen, die Früchte von Eberesche, Holunder, Apfel und Zwetschge, teils überreif an den Ästen, teils als fauliges Fallobst auf der Wiese des kleinen Gartens hinter dem Haus. Dazu kommen die Dünste selten vorbeifahrender Autos und Heizungsrauch als Bote der ersten Nachtfröste.
Judith versteckt Aschenbecher, Feuerzeug und die Packung Rothändle im Flurschrank in der Tiefe ihrer häßlichsten Handtasche und steckt ein starkes Pfefferminzbonbon in den Mund. Dann tritt sie wieder ans Fenster und schüttelt das Tischtuch aus. Ein Mädchen in Ulis Alter wippt auf dem gegenüberliegenden Bordstein, unruhig wie ein Vogel. Ihr Gesicht ist weiß geschminkt, ein grelles Kopftuch verbirgt das Haar, in einer Hand hält sie einen kleinen Besen. Sie wendet den Kopf zur geöffneten Eingangstür des Nachbarhauses und brüllt: »Mama, Feli, schneller! « Halloween ist erst in einer Woche, aber Judith hat heute schon verkleidete Kinder gesehen. Sollte eines von ihnen klingeln, wird sie nicht öffnen. An mit grinsenden Kürbissen, Skeletten und Vampiren dekorierten Geschäften lotst sie ihre Söhne vorbei.
Der silberne Skoda ist bereits weg. Sie hat Uli und Klaus nicht gewinkt. Sicher hat der Junge enttäuscht hochgeschaut. Klaus weiß, warum sie nicht aufgetaucht ist. Wahrscheinlich hat er für sie gelogen: »Die Mama ist sicher in der Küche, oder sie muß sich um den Kilian kümmern.« Aber im Laufe des Abends würde er die Sache doch noch ansprechen: »Mal wieder unnötige Traurigkeit wegen deines Hackstraßenmists.«
Hackstraßenmist ist Klaus’ Codewort für verschiedene schlechte Gewohnheiten, die Judith aus ihren Jahren in der dunklen Einzimmerwohnung im Stuttgarter Osten mitgebracht hat. Aus dem Fenster konnte man den Gaskessel und die Anlagen der Schlachthöfe sehen, auch das Stadion mit seinem geschwungenen Rund und den Turm einer Kirche, deren Namen sie bis heute nicht kennt.
In der Hackstraße hatte sie sich schon morgens im Bett die erste angesteckt, mit halbgeschlossenen Augen und schlaf warmen Händen, deren Muskeln noch so abgeschlafft waren, daß sie kaum die Kraft hatten, das Feuerzeug aufschnappen zu lassen. Wenn sie sich dann langsam herausquälte, zum Klo, zur Kaffeemaschine und später ins Seminar oder zu einer ihrer Praktikumsstellen, folgte der Morgenzigarette die Frühstückszigarette und so weiter. Und hier in der Constantinstraße, weit weg vom dreckigen Osten, war sie selbst während ihrer Schwangerschaften manchmal nachts aufgestanden und hatte geraucht, lustvoll inhalierend und gleichzeitig gequält von dem Bild des hilflos im Fruchtwasser zuckenden Embryos, dessen Pulsschlag sich enorm beschleunigte, während sich seine Gefäße verengten. Klaus hatte das zum Glück nie mitbekommen, ebensowenig wie ihr Frauenarzt oder die Hebamme.
Doch Hackstraßenmist war auch der Wunsch, eine Mumie zu sein, reglos und starr, alle Glieder fest umwunden von harzgetränkten Binden, Finsternis vor den Augen, ein vertrocknetes Kräuterbüschel im Mund und das rasende, peinigende Herz, gegen alle Regeln dieser Bestattungsform, ausquartiert in einem Alabasterkrug mit Hieroglyphen in der hintersten Kammer der unterirdischen Behausung. Das unaufhörlich schwätzende Hirn mit seiner Dauerbeschallung »Ich kann nicht, ich kann nicht, ich habe Angst, ich schaffe es nicht« war sauber in Lauge aufgelöst und in Fetzen aus den Nasenlöchern hinausbefördert worden, ähnlich wie Rotz, ebenso unnütz und ekelerregend. Die knöcherne Wölbung war mit Stroh ausgestopft und beherbergte den reinen Frieden. Die Ohren hörten Stille. Keiner konnte diesen tauben Lazarus mehr zurücklocken in ein Leben voller Qualen. Judith, die in der Hackstraße an einer Magisterarbeit über Otto Dix’ altmeisterliche Tafelbilder verzweifelte, war in ihrem Wunsch, dem Zustand des Begrabenseins möglichst nahe zu kommen, an manchen Tagen gar nicht erst aufgestanden. Sie hatte sich die Decke über den Kopf gezogen und sich mit dem Rücken zum Schreibtisch gedreht, um die Bildbände aus der Landesbibliothek, die Stapel zusammengehefteter Kopien und das beleidigt verschlossene Maul ihres Notebooks nicht mehr sehen zu müssen. Erst gegen Abend stand sie auf, wenn Sören, ihre Daueraffäre, anrief und vorschlug, sich in irgendeiner Bar zu treffen. Dann schminkte sie sich sorgfältig, zog ihre Lederhose an und besprühte sich mit ›Opium‹.
Seit Beginn ihres Kunstgeschichtsstudiums war Judith eine eifrige und ehrgeizige Studentin, die nie kellnern mußte, sondern immer Hilfskraftstellen bekam. Sie saß oft bis zur Schließung der Seminarbibliothek in der Keplerstraße unter einer flackernden Neonröhre, exzerpierte Weisheiten von Panofsky bis Aby Warburg auf Karteikarten, besuchte Wochenende für Wochenende die Staatsgalerie und fuhr mit Billigbussen nach Berlin, Düsseldorf und Hamburg, um sich wichtige Ausstellungen anzusehen. Im Oberseminar kreuzte sie lässig die schmalen Knöchel in roten Riemchenschuhen. Das schwarze Haar trug sie aufgesteckt, dazu ein Make-up wie Frida Kahlo und große glänzende Ohrringe. Daß sie eigentlich Jutta hieß, ihre Eltern ein Küchenstudio in Kirchheimunter Teck besaßen und ihre zwei verheirateten Schwestern zusammen schon fünf Kinder hatten, sah man ihr nicht an. Sie sagte nicht viel, aber wenn sie sprach, war es unangreifbar. »Hier hat jemand wirklich nachgedacht. Sehr gut, Frau Seysollf.« Keine ihrer Kommilitoninnen ahnte, daß Judith vor jedem Referat nächtelang nicht schlafen konnte, daß sie weinend unter ihrem Schreibtisch saß und nichts aß, daß sie jeden Beitrag vor einer größeren Gruppe erst niederschreiben und auswendig lernen mußte, bis sie wagte, sich zu äußern. Auch die Abgabe von Hausarbeiten stürzte sie in Panikattacken. Sie verlor mehrere Semester durch die Zögerlichkeit, mit der sie ihre Arbeiten wieder und wieder korrigierte. An der Uni funktionierte dieses Verhalten, denn niemand hielt sie davon ab, niemand gab ihr Ratschläge. Zu Hause verstanden sie nichts davon. Den gelegentlichen Jammerrufen: »Mädle, was bringt dir des, du sottscht endlich au heirate« entging Judith, indem sie ihre Besuche auf die hohen Feiertage beschränkte, obwohl sie an ihrer Familie hing, die runde Kuppe der Teck, ihre Neffen und Nichten und sogar die Kochinseln und Hängeschränke im elterlichen Laden vermißte.
Der Betreuer ihrer Magisterarbeit war aufgrund seines guten Rufs viel im Ausland. Zu seinen seltenen Sprechstunden mußte man sich Monate vorher anmelden. Als Judith als Hilfskraft für ihn arbeitete, bekam sie ihn innerhalb eines Semesters vielleicht dreimal zu Gesicht. Sie geriet an Professor Baumeister, der zu allem Überfluß Canetti zum Verwechseln ähnlich sah, wie eine Masochistin, die sich auf die Anzeige eines strengen Dompteurs meldet. Er galt als unberechenbar. Seine Streitigkeiten mit den Kollegen im Seminar waren legendär. Man tuschelte, daß er seinem eigenen Assistenten die Diss vor die Füße geschmissen hätte. Judith zitterte am ganzen Körper, wenn sie mit Baumeister telefonierte und mit kühler Stimme ihre Thesen darlegte. Schriftliche Äußerungen vermied sie. Es schien ihr zu gefährlich, ihm etwas in die Hand zu geben, was er zerreißen oder rot anstreichen konnte.
»Die altmeisterliche Phase bei Otto Dix, das ist ein Thema, über das noch nicht viel geschrieben worden ist. Frau Seysollf, Sie sind doch so gewissenhaft, da machen Sie was draus. Sie wissen, bei mir gibt es keinen Kindergarten. Sie können ja selbständig arbeiten, Ihnen muß man nicht die ganze Zeit das Händchen halten. Nicht mehr als 70 Seiten. Fangen Sie im Kunstgebäude an. Und dann eine kleine Reise auf die Höri, Hemmenhofen. Und am Abend fahren Sie zum Schiener Berg und essen im ›Hirsch‹ ein Felchen in Mandelbutter. Und dazu einen schönen Weißherbst.«
Judith mochte Otto Dix nicht. Die tückischen Fratzen seiner Großstädter schoben sich sogar beim Einkaufen und in der Straßenbahn vor die Gesichter der Passanten. Sie sah Babys in Kinderwagen, die sich plötzlich in bläulichrote Abtreibungsopfer verwandelten. Die Bettler in der Unterführung Keplerstraße grinsten mit verstümmelten Fratzen, die Bonzenfrauen bei Breuninger leuchteten in der teigigen Obszönität von Berliner Nutten. Auch unter den eisklaren Himmeln der altmeisterlichen Landschaften verspürte sie stets ein Frösteln.
In der Staatsgalerie schlich Judith, nachdem sie pflichtbewußt ihre Visite bei den Expressionisten beendet hatte, zu Corinth, Liebermann und Thoma. Sie betrachtete Waldwiesen, kinderreiche Familien, mit den Händen arbeitende Menschen und setzte sich auf eine der mit dunkelgrünem Samt bezogenen Bänke. Sie stützte den Kopf in die Hände und schaute in eine Welt, die es nicht mehr gab und in die sie sich, allem Wissen über den sozioökonomischen Kontext zum Trotz, sofort gestürzt hätte.
Das einzige Dix-Bild, das Judith gefiel, war das der Tänzerin Anita Berber. Sie hing als Poster an ihrem Kleiderschrank in der Hackstraße, im knallroten Kleid, durch das sich Brüste und Scham abzeichneten wie eine Ohrfeige. Eine Hand stützte sich auf der Hüfte, die lackierten Klauen glänzten. Anita zeigte eine arrogante Fresse und war einfach nur cool. »Die würde ich nicht vögeln, da hätte ich zuviel Schiß«, meinte Sören mit einem Kopfschütteln.
In der Dix-Ära begannen die Symptome der Angst unerträglich zu werden. Das Gefühl des Versagens, des totalen Abkackens, wie Sören es nannte, packte sie, schüttelte sie durch und machte es unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Angst, normalerweise nur ein zeitweiliger Gast, begann sich jetzt häuslich niederzulassen und in ihrem Brustkorb festzusetzen. Sie ließ sie nachts wach liegen und begleitete jeden ihrer Schritte, verschaffte ihr einen hohen Ruhepuls und einen unsteten Blick.
Als sie an einem Sommernachmittag nicht mehr in der Lage war, die Bibliothek zu betreten, ging sie von der Uni geradewegs zum Arzt. Sie hatte in großer Runde etwas über Schlaflosigkeit gesagt. Der Name eines Neurologen war gefallen. »Der ist total locker drauf, der schreibt dir auch ein Attest, wenn du im Examen was brauchst oder für ’ne Klausur.« Judith schilderte dem Arzt ihre Ängste und verließ die Praxis mit einem Rezept für Tavor tabs und der Auflage, in einer Woche wiederzukommen. So begann die Zeit der blauen Dose.
Die blaue Blechdose war ein Mitbringsel aus London. Auf dem Deckel stand ›General Bisquits‹. Darunter waren zwei nackte Engel eingeprägt, die ein Netz in den Händen hielten. Darin zappelte ein dicker Fisch, der trotz seiner prekären Lage ein Schmunzeln um das breite Maul trug. Die Dose steht in der Constantinstraße ganz hinten im Küchenschrank und enthält Ausstecher für Weihnachtsplätzchen. In der Hackstraße hatte sie, für jedermann sichtbar, auf dem Spülkasten der Toilette ihren Platz gehabt. Judith verwahrte ihre Medikamente darin, zunächst nur Kopfschmerztabletten und eine Schachtel Tavor. Das Medikament tauchte Canetti-Baumeister, Dix’ Bilder und Judiths Zukunftsaussichten im Stuttgarter Kunstbetrieb in einen wabernden Nebel, vertrieb die Angst für eine Weile und half auch, die tägliche zermürbende Warterei auf Sörens Anrufe und sein sonstiges Verhalten zu ertragen. Leider reichte die verordnete Dosis nicht aus, um Judith langfristig zu erlösen.
Bald hatte sie außer dem Neurologen an der Uni noch drei weitere Ärzte in verschiedenen Vierteln der Stadt gefunden, die sie regelmäßig aufsuchte. Es war ganz einfach: Sie kam ungeschminkt und ungeduscht, ließ die Worte Examensstreß und Schlaflosigkeit fallen und heulte ein bißchen, was leichtfiel. Sie bekam schnell heraus, bei welchem Apotheken-Nachtdienst der Satz »Der Herr Doktor schreibt mir dieses Medikament immer auf« wirkungsvoll war, wo überlastete Helferinnen hastig unterschriebene Rezepte über den Tresen reichten. Bei akutem Mangel konnte sie auch am Nordeingang des Hauptbahnhofs einen Typen in schwarzem Jogginganzug und einer mit Flammen bestickten Wollmütze aufsuchen. Er hatte alles und leierte die Namen der Medikamente mit leiser Stimme herunter wie einen Psalm: »Valium, Librium, Tranxilium, Adumbran, Halcion, Rohypnol, Tramal, Fortal, Lepinal, Repocal . . .«
Judith trägt das Kaffeegeschirr in die Küche und steckt den Stöpsel in den Ausguß. Sie spritzt Spülmittel darauf und läßt heißes Wasser einlaufen. Aus dem Kinderzimmer tönen leises Gebrabbel und Liedfetzen: Kilian ist noch beschäftigt, und Judith macht sich nicht bemerkbar. Sie wischt den Tisch ab, rückt die Stühle weg und beginnt langsam, den Fußboden zu fegen. Sie konzentriert sich ganz auf die gleichmäßigen Bahnen, in denen sie den Besen über das Parkett führt. Die körperliche Anstrengung, das Bücken und Zusammenkehren mit dem Handfeger, das Verrücken der Möbel, läßt sie schwitzen. Etwas anderes als ihr keuchender Atem und der Rhythmus der sachte über das Holz kratzenden Borsten dringen nicht an ihr Ohr. Im Schädel herrscht eine wohlige Leere. Dumpf wie ein Tiefseefisch läßt sie sich durch den Raum treiben, ungestört von Querschüssen aus der Hirnrinde. Auf diese Weise kommt Judith einem entspannten Zustand so nahe wie möglich.
Die therapeutische Qualität des Putzens hat sie erst kennengelernt, als sie ihren Haushalt mit Ulis Geburt enttechnisierte, Spülmaschine, Mixer und sogar den Staubsauger abschaffte. »Wenn die Kinder zu Haus nur einen brummenden Maschinenpark kennenlernen, der Sauberkeit und Ordnung schafft, aber keine Menschen bei der Arbeit sehen, wie sollen sie dann lernen mitzutun, zu helfen, sich zu entfalten?« hatte der sanfte Herr im Vortragsraum auf der Uhlandshöhe zu bedenken gegeben. Und Judith, die, geleitet von einem pastellfarbenen Faltblatt auf der Theke der Frauenärztin, eher zufällig in die Keimzelle der Waldorfpädagogik geraten war, empfand eine befreiende Freude über die Strenge der dort vorgegebenen Richtlinien. Ihre Entscheidung für die Waldorf- Welt glich einer plötzlichen Erleuchtung, dem Übertritt in einen geistigen Orden. Ein Buch, ein dickleibiger Ratgeber zur Gesundheit und Erziehung, genügte, um sie zu überzeugen. Judith schaffte eine Wiege mit rosa Himmel, Stoffwindeln und ein Schaffell an, hängte Raffaels Madonna an die Wand und fing an zu stricken. Manches würde hart werden, keine Frage. Aber wenn sie sich an all die verheißungsvollen Vorgaben hielt, konnte sie gar nichts falsch machen. Es schien einfach und bestechend: Ihre Kinder würden nicht krank werden, sie konnten zu geradlinigen, phantasievollen und glücklichen Menschen heranwachsen, frei von Süchten, Zweifeln, unvertraut mit Hackstraßenmist und der schneidenden Kälte auf den Gipfeln der Verzweiflung. Sie tauschte Dix gegen Hans Thoma. Wenn sie Ulrich und Kilian in ihrem plastikfreien Kinderzimmer spielen oder in Küche und Garten eifrig ihre eigenen hausfraulichen Tätigkeiten nachahmen sieht, hat sie den Eindruck, noch nie in ihrem bisherigen Leben so erfolgreich gewesen zu sein.
In der Küche liegt ein orangeroter Kürbis neben einem Bund Karotten auf der Arbeitsplatte: die Zutaten für die Abendsuppe. Sie freut sich an den Farben, muß schnell über die warzige Oberfläche des Kürbisses streichen, mit dem Daumen über eine erdverkrustete Möhre reiben, bis die leuchtende Schale zum Vorschein kommt. Im Frühjahr will sie mit den Kindern zusammen Möhren säen. Sie werden im Gärtle eine Stelle finden, wo das buschige grüne Kraut in die Höhe schießen kann. Sie stellt sich vor, wie die beiden Jungen die fedrigen Pflanzenschöpfe packen und das Gemüse aus dem Boden ziehen, die Erde an der Hose abwischen und sofort zubeißen, im vertrauensvollen Umgang mit der Natur, die ihnen die Nahrung spendet. Kartoffeln zu setzen wäre auch ein schönes Erlebnis, beobachten, wie aus einer Mutterknolle viele kleine Früchte hervorgehen, oben hübsche weiß violette Blüten, unten eßbare Wurzeln. Aber bei einem der letzten Informationsabende im Kindergarten hat Judith von Rudolf Steiners ablehnender Haltung bezüglich der stärkehaltigen Knolle erfahren. Die Referentin, eine anthroposophische Ärztin, war deutlich: »Die Kartoffel wirkt in einseitiger Weise auf die Nervenorgane. Sie schwächt das meditativ-verinnerlichende Denken zugunsten eines verstandesmäßig-reflektierenden. Damit wird ein auf das Materialistische reduziertes Vorstellungsleben gefördert. Sie werden feststellen, daß bereits vier Wochen nach einer Umstellung von Kartoffeln auf Getreide, Wurzeln und andere Gemüse eine zunehmende gedankliche Frische und Beweglichkeit eintritt, und das tut allen gut, Kindern und Eltern.«
Früher hätte Judith solche Aussagen nicht ohne Grinsen hingenommen. Im Studium ging der Zweifel automatisch in jede Lektüre, jede Bildbetrachtung ein. Es schien ein Organ zu geben, das ständig dieses zersetzende Sekret absonderte. Wer nicht kritisierte, dessen Verstand funktionierte nicht. Vertrauensvoll hinnehmen, nicht hinterfragen, mittun und fühlend aufnehmen, diese Maximen der Steinerschen Pädagogik, die Kindern wie Erwachsenen anempfohlen wurden, erscheinen ihr wie ein warmes Bad, in dem sich ihr ausgeleiertes Denkvermögen erholen kann.
Allerdings liest Judith nur widerwillig in Steiners Werken, auch wenn es im Kindergarten gerne gesehen wird, daß die Eltern sich in das Gedankengut des Meisters einarbeiteten. ›Die Philosophie der Freiheit‹ liegt mit ungebrochenem Rücken auf ihrem Nachttisch. Sie blättert darin, wenn sie den Wunsch hat, auf den Endlosspiralen schlecht formulierter, krauser Gedankengänge leichter in den Schlaf zu gleiten. Ihr genügt das Vertrauen auf einen Überbau. Sie weiß wenig über die Akasha-Chronik, Atlantis, über Karma, Elementarwesen und die Temperamentenlehre. Lieber sind ihr die hilfreichen Heftchen aus anthroposophischen Verlagen, in denen man angeleitet wird, womit die Kinder spielen, was sie zu essen bekommen sollen, wie man Jahreszeitentische aufbaut, Haulemännlein strickt und längst vergessene Murmel- und Ballspiele reaktiviert. Wenn sie das liest und befolgt, fühlt sie sich aufgehoben wie in dem wollenen Fäustling, in den die Maus aus dem Bilderbuch schlüpft.
Eine Weile ist Judith damit beschäftigt, das Gemüse zu putzen. Der Kürbis leistet viel Widerstand, seine Schale ist hart und brüchig. Sie hebelt Stück um Stück herunter. Sie ist gerne in der Küche. Es gefällt ihr, die gefüllten Regale zu sehen, die Schraubgläser mit Dinkel, Weizenschrot, Haferflocken, die bunten Blechdosen der Kräutertees, das irdene Geschirr, die gebügelten Trockentücher an ihren Haken. Es ist ein Ort, an dem sie Entspannung fühlt. Mit Abscheu denkt sie an die winzige dunkle Kochnische in der Hackstraße. Es gab keinen richtigen Herd, nur zwei elektrische Platten, verkrustet vom Dreck des Vormieters, auf denen sie nie etwas anderes kochte als Kaffeewasser und Fertiggerichte. Beim Essen las sie Zeitung, telefonierte, rauchte und tippte manchmal am Computer Seminararbeiten, auf die Tastatur kleckernd und mit Magenkrämpfen bei der Vorstellung, wie Baumeister ihre Deutungsversuche des Dixschen Werks beurteilen würde. Das Bild der verdreckten Kochgelegenheit bleibt nicht lange allein, weitere folgen und entfalten sich klar, grell und so schmerzhaft vor ihr, daß sie das Gesicht verzieht: die morgendlichen Straßenbahnfahrten zur Uni, quer durch den Stuttgarter Osten, vorbei am Gaskessel, der wie ein riesiges Michelinmännchen aus schwarzen Scheiben zusammengesetzt im Talkessel hockte, umgeben von den Baukastenelementen der Industrieanlagen. Jeden Morgen fuhr Judith vom Schlachthof bis zur Keplerstraße, vorbei an Saunapuffs, türkischen Gemüse- und Juweliergeschäften, dem Karl-Olga-Krankenhaus. Sie passierte den Bergfriedhof im Schutz grau verputzter Mauern, hinter denen dunkle Bäume emporragten wie auf einem Böcklin-Gemälde, kroatische, griechische und serbische Restaurants, Tanzschuppen und Änderungsschneidereien, das Arbeitsamt am Stöckach, Tankstellen, Discounter und die lange Schräge der Werastraße, die aus diesen Niederungen ins Gerichtsviertel hinaufführt.
Dann sieht sie sich selbst, mit verschmierter Wimperntusche, eine ihrer riesigen Silbercreolen in der aufgelösten Frisur verhakt, heftig hustend. Der Husten kam von ihrem Versuch, Sörens Penis bis zum Schaft zu schlucken. Sie würgte, drehte den Kopf stumm zur Seite. »Nicht auf meine Jacke, Mensch«, brüllte er und riß ihr das Kleidungsstück, eine alte Pilotenjacke der U.S. Army, förmlich unter dem Hintern weg. Sören studierte Medizin in Tübingen und kam nur am Wochenende nach Stuttgart. Er war groß, blaß und blond. Sein Gesicht mit der Hakennase, dem vollen Mund und den kalten blauen Augen hinter der Stahlbrille hatte einen abschätzigen Ausdruck, den es selbst im Schlaf nicht verlor. Gewöhnlich kippte Judith ein paar Kurze, bevor sie ihre abendlichen Partytouren begann, um jene Gleichgültigkeit zu erlangen, die man ihrer Ansicht nach brauchte, um mit Männern ins Gespräch zu kommen. »Du siehst aus wie ein Nazi-Offizier«, hatte sie zu Sören gesagt. Sie nahm ihn mit in die Hackstraße und erschrak darüber, wie sehr sie sich wünschte, etwas Verbindliches von ihm zu hören, als er am nächsten Morgen in seine Jeans stieg. Aber Sören ließ sich nicht festlegen. Er kam, wann es ihm paßte, rief an, wenn er in der Stadt war, oder zitierte Judith nach Tübingen in sein Wohnheim. Er sprach ganz offen von seinen anderen Beziehungen, es mußten mindestens zwei sein. Judith verbat sich nähere Informationen. Natürlich hätte sie gerne jedes Detail erfragt, aber sie wollte nicht aus der Rolle fallen. Einmal klingelte er mitten in der Nacht bei ihr, blutüberströmt und nach Bier stinkend, und nähte sich in ihrem fensterlosen, immer nach Ausguß riechenden Bad selbst die lange Platzwunde über der Stirn, ohne eine Erklärung. Er schrieb seine Diss über Penicillin und schwärmte ständig von der Wunderkraft der Antibiotika. Aber Sören brachte ihr auch Champagner und küßte sie auf dem Balkon des Verbindungshauses, während verschiedene blonde Frauen wütend zusahen. Seine harten Finger hatten sich mit den ihren verschränkt, während die sonnendurchwärmten Säulen der Sandsteinbalustrade gegen ihren Rücken drückten wie die Rippenbögen eines riesigen Urzeit-Lebewesens. Sörens Gesicht war ganz nah, die Brille spiegelte vor seinen Augen. Sie nahm sie vorsichtig ab und steckte sie ein. Er war stark kurzsichtig, und den Rest des Abends mußte er an ihrer Hand gehen.
Judith kneift die Augen zusammen, schüttelt sich, um den Film abreißen zu lassen. Sie zwingt sich, an Kilians Imbiß zu denken, bis zum Abendessen dauert es noch. Nach dem Abschied von Vater und Bruder hat sich der Dreijährige ins Kinderzimmer zurückgezogen. Er kann sich lange allein beschäftigen und ist, im Gegensatz zu dem redseligen Uli, nicht ständig auf ein Gegenüber angewiesen.
Sie füllt getrocknete Apfelringe und Rosinen in eine kleine Schüssel, löffelt Kräutertee in das porzellanene Ei mit Vergißmeinnichtmuster, dreht den Wasserhahn auf, hält den Kessel darunter, reißt ein Streichholz an – in der Hackstraße gab es ein Feuerzeug in Knallpink mit dem Aufdruck eines Pizzaservices. Sie entzündet das Gas. Das Wasser kocht schnell. Das Pfeifen des Kessels, das Versinken des Eis, das beim Eintauchen eine Schnur silbriger Blasen hinter sich herzieht, der Geruch nach Minze und Melisse, das alles ist wie jeden Tag. Die Ordnung der Dinge wird von ihr und der Waldorfpädagogik bestimmt: keine Aufregungen, kein Fernsehen, nicht zuviel Besuch, ein durchritualisierter Alltag, geregelt nach dem Kreislauf der Natur. Es ist ein vorhersehbares Leben, zu Hause genauso wie im Kindergarten: montags Müsli, dienstags Schrotbrei, mittwochs Wasserfarben, donnerstags Plastizieren, wochenlang wird dasselbe Märchen erzählt. Das Gehetze ist aus ihrem Leben verschwunden. Sie fährt oft aus der Stadt hinaus, über Degerloch hinauf in die eingemeindeten Dörfer auf den Fildern. Dort hält sie Ausschau nach Schildern: Blumen zum Selbstschneiden. Sie schleppt sie büschelweise nach Hause: Pfingstrosen, Gladiolen und Sonnenblumen, im Herbst Astern, Efeuranken, Tannenzweige und schließlich Christrosen, grünlichbleich mit wächsernen Blütenblättern voller Frostkristalle. Im Wohnzimmer steht der Jahreszeitentisch mit den kleinen Filzfiguren der Naturgeister, die sie alle selbst hergestellt hat, immer wieder staunend, daß ihre Hände so etwas fertigbringen. So schwingt sie mit ihrer Familie im großen Rhythmus im Inneren einer riesigen Glocke, in der sie alle den Lauf der Zeit durchmessen, hin- und hergewiegt, vom Winter in den Frühling, vom Frühling in den Sommer, den Herbst, durch die Adventszeit, in ständiger, beruhigender Wiederholung.
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 2009
Sie geht durch den langen Flur ins Eßzimmer, öffnet die Fenster weit und läßt den Qualm abziehen. Seit langem hat sie sich nicht so gehenlassen. Normalerweise raucht sie auf dem Balkon oder unten im Hof. Das Wegbringen der Mülltüten hat sie deshalb an sich gerissen. Die Constantinstraße liegt still im Nachmittagslicht. Braungelbe Sandsteinhäuser wölben ihre verzierten Fassaden nach vorne wie frische Brote und Kuchen, die aus ihren Backformen quellen. Über den grauen Schieferdächern steht die Sonne und läßt Gerüche aufsteigen, die auch mitten in der Stadt zum Herbst gehören: das Nußaroma zerquetschter Blätter auf dem Gehweg und in den umliegenden Höfen, die Früchte von Eberesche, Holunder, Apfel und Zwetschge, teils überreif an den Ästen, teils als fauliges Fallobst auf der Wiese des kleinen Gartens hinter dem Haus. Dazu kommen die Dünste selten vorbeifahrender Autos und Heizungsrauch als Bote der ersten Nachtfröste.
Judith versteckt Aschenbecher, Feuerzeug und die Packung Rothändle im Flurschrank in der Tiefe ihrer häßlichsten Handtasche und steckt ein starkes Pfefferminzbonbon in den Mund. Dann tritt sie wieder ans Fenster und schüttelt das Tischtuch aus. Ein Mädchen in Ulis Alter wippt auf dem gegenüberliegenden Bordstein, unruhig wie ein Vogel. Ihr Gesicht ist weiß geschminkt, ein grelles Kopftuch verbirgt das Haar, in einer Hand hält sie einen kleinen Besen. Sie wendet den Kopf zur geöffneten Eingangstür des Nachbarhauses und brüllt: »Mama, Feli, schneller! « Halloween ist erst in einer Woche, aber Judith hat heute schon verkleidete Kinder gesehen. Sollte eines von ihnen klingeln, wird sie nicht öffnen. An mit grinsenden Kürbissen, Skeletten und Vampiren dekorierten Geschäften lotst sie ihre Söhne vorbei.
Der silberne Skoda ist bereits weg. Sie hat Uli und Klaus nicht gewinkt. Sicher hat der Junge enttäuscht hochgeschaut. Klaus weiß, warum sie nicht aufgetaucht ist. Wahrscheinlich hat er für sie gelogen: »Die Mama ist sicher in der Küche, oder sie muß sich um den Kilian kümmern.« Aber im Laufe des Abends würde er die Sache doch noch ansprechen: »Mal wieder unnötige Traurigkeit wegen deines Hackstraßenmists.«
Hackstraßenmist ist Klaus’ Codewort für verschiedene schlechte Gewohnheiten, die Judith aus ihren Jahren in der dunklen Einzimmerwohnung im Stuttgarter Osten mitgebracht hat. Aus dem Fenster konnte man den Gaskessel und die Anlagen der Schlachthöfe sehen, auch das Stadion mit seinem geschwungenen Rund und den Turm einer Kirche, deren Namen sie bis heute nicht kennt.
In der Hackstraße hatte sie sich schon morgens im Bett die erste angesteckt, mit halbgeschlossenen Augen und schlaf warmen Händen, deren Muskeln noch so abgeschlafft waren, daß sie kaum die Kraft hatten, das Feuerzeug aufschnappen zu lassen. Wenn sie sich dann langsam herausquälte, zum Klo, zur Kaffeemaschine und später ins Seminar oder zu einer ihrer Praktikumsstellen, folgte der Morgenzigarette die Frühstückszigarette und so weiter. Und hier in der Constantinstraße, weit weg vom dreckigen Osten, war sie selbst während ihrer Schwangerschaften manchmal nachts aufgestanden und hatte geraucht, lustvoll inhalierend und gleichzeitig gequält von dem Bild des hilflos im Fruchtwasser zuckenden Embryos, dessen Pulsschlag sich enorm beschleunigte, während sich seine Gefäße verengten. Klaus hatte das zum Glück nie mitbekommen, ebensowenig wie ihr Frauenarzt oder die Hebamme.
Doch Hackstraßenmist war auch der Wunsch, eine Mumie zu sein, reglos und starr, alle Glieder fest umwunden von harzgetränkten Binden, Finsternis vor den Augen, ein vertrocknetes Kräuterbüschel im Mund und das rasende, peinigende Herz, gegen alle Regeln dieser Bestattungsform, ausquartiert in einem Alabasterkrug mit Hieroglyphen in der hintersten Kammer der unterirdischen Behausung. Das unaufhörlich schwätzende Hirn mit seiner Dauerbeschallung »Ich kann nicht, ich kann nicht, ich habe Angst, ich schaffe es nicht« war sauber in Lauge aufgelöst und in Fetzen aus den Nasenlöchern hinausbefördert worden, ähnlich wie Rotz, ebenso unnütz und ekelerregend. Die knöcherne Wölbung war mit Stroh ausgestopft und beherbergte den reinen Frieden. Die Ohren hörten Stille. Keiner konnte diesen tauben Lazarus mehr zurücklocken in ein Leben voller Qualen. Judith, die in der Hackstraße an einer Magisterarbeit über Otto Dix’ altmeisterliche Tafelbilder verzweifelte, war in ihrem Wunsch, dem Zustand des Begrabenseins möglichst nahe zu kommen, an manchen Tagen gar nicht erst aufgestanden. Sie hatte sich die Decke über den Kopf gezogen und sich mit dem Rücken zum Schreibtisch gedreht, um die Bildbände aus der Landesbibliothek, die Stapel zusammengehefteter Kopien und das beleidigt verschlossene Maul ihres Notebooks nicht mehr sehen zu müssen. Erst gegen Abend stand sie auf, wenn Sören, ihre Daueraffäre, anrief und vorschlug, sich in irgendeiner Bar zu treffen. Dann schminkte sie sich sorgfältig, zog ihre Lederhose an und besprühte sich mit ›Opium‹.
Seit Beginn ihres Kunstgeschichtsstudiums war Judith eine eifrige und ehrgeizige Studentin, die nie kellnern mußte, sondern immer Hilfskraftstellen bekam. Sie saß oft bis zur Schließung der Seminarbibliothek in der Keplerstraße unter einer flackernden Neonröhre, exzerpierte Weisheiten von Panofsky bis Aby Warburg auf Karteikarten, besuchte Wochenende für Wochenende die Staatsgalerie und fuhr mit Billigbussen nach Berlin, Düsseldorf und Hamburg, um sich wichtige Ausstellungen anzusehen. Im Oberseminar kreuzte sie lässig die schmalen Knöchel in roten Riemchenschuhen. Das schwarze Haar trug sie aufgesteckt, dazu ein Make-up wie Frida Kahlo und große glänzende Ohrringe. Daß sie eigentlich Jutta hieß, ihre Eltern ein Küchenstudio in Kirchheimunter Teck besaßen und ihre zwei verheirateten Schwestern zusammen schon fünf Kinder hatten, sah man ihr nicht an. Sie sagte nicht viel, aber wenn sie sprach, war es unangreifbar. »Hier hat jemand wirklich nachgedacht. Sehr gut, Frau Seysollf.« Keine ihrer Kommilitoninnen ahnte, daß Judith vor jedem Referat nächtelang nicht schlafen konnte, daß sie weinend unter ihrem Schreibtisch saß und nichts aß, daß sie jeden Beitrag vor einer größeren Gruppe erst niederschreiben und auswendig lernen mußte, bis sie wagte, sich zu äußern. Auch die Abgabe von Hausarbeiten stürzte sie in Panikattacken. Sie verlor mehrere Semester durch die Zögerlichkeit, mit der sie ihre Arbeiten wieder und wieder korrigierte. An der Uni funktionierte dieses Verhalten, denn niemand hielt sie davon ab, niemand gab ihr Ratschläge. Zu Hause verstanden sie nichts davon. Den gelegentlichen Jammerrufen: »Mädle, was bringt dir des, du sottscht endlich au heirate« entging Judith, indem sie ihre Besuche auf die hohen Feiertage beschränkte, obwohl sie an ihrer Familie hing, die runde Kuppe der Teck, ihre Neffen und Nichten und sogar die Kochinseln und Hängeschränke im elterlichen Laden vermißte.
Der Betreuer ihrer Magisterarbeit war aufgrund seines guten Rufs viel im Ausland. Zu seinen seltenen Sprechstunden mußte man sich Monate vorher anmelden. Als Judith als Hilfskraft für ihn arbeitete, bekam sie ihn innerhalb eines Semesters vielleicht dreimal zu Gesicht. Sie geriet an Professor Baumeister, der zu allem Überfluß Canetti zum Verwechseln ähnlich sah, wie eine Masochistin, die sich auf die Anzeige eines strengen Dompteurs meldet. Er galt als unberechenbar. Seine Streitigkeiten mit den Kollegen im Seminar waren legendär. Man tuschelte, daß er seinem eigenen Assistenten die Diss vor die Füße geschmissen hätte. Judith zitterte am ganzen Körper, wenn sie mit Baumeister telefonierte und mit kühler Stimme ihre Thesen darlegte. Schriftliche Äußerungen vermied sie. Es schien ihr zu gefährlich, ihm etwas in die Hand zu geben, was er zerreißen oder rot anstreichen konnte.
»Die altmeisterliche Phase bei Otto Dix, das ist ein Thema, über das noch nicht viel geschrieben worden ist. Frau Seysollf, Sie sind doch so gewissenhaft, da machen Sie was draus. Sie wissen, bei mir gibt es keinen Kindergarten. Sie können ja selbständig arbeiten, Ihnen muß man nicht die ganze Zeit das Händchen halten. Nicht mehr als 70 Seiten. Fangen Sie im Kunstgebäude an. Und dann eine kleine Reise auf die Höri, Hemmenhofen. Und am Abend fahren Sie zum Schiener Berg und essen im ›Hirsch‹ ein Felchen in Mandelbutter. Und dazu einen schönen Weißherbst.«
Judith mochte Otto Dix nicht. Die tückischen Fratzen seiner Großstädter schoben sich sogar beim Einkaufen und in der Straßenbahn vor die Gesichter der Passanten. Sie sah Babys in Kinderwagen, die sich plötzlich in bläulichrote Abtreibungsopfer verwandelten. Die Bettler in der Unterführung Keplerstraße grinsten mit verstümmelten Fratzen, die Bonzenfrauen bei Breuninger leuchteten in der teigigen Obszönität von Berliner Nutten. Auch unter den eisklaren Himmeln der altmeisterlichen Landschaften verspürte sie stets ein Frösteln.
In der Staatsgalerie schlich Judith, nachdem sie pflichtbewußt ihre Visite bei den Expressionisten beendet hatte, zu Corinth, Liebermann und Thoma. Sie betrachtete Waldwiesen, kinderreiche Familien, mit den Händen arbeitende Menschen und setzte sich auf eine der mit dunkelgrünem Samt bezogenen Bänke. Sie stützte den Kopf in die Hände und schaute in eine Welt, die es nicht mehr gab und in die sie sich, allem Wissen über den sozioökonomischen Kontext zum Trotz, sofort gestürzt hätte.
Das einzige Dix-Bild, das Judith gefiel, war das der Tänzerin Anita Berber. Sie hing als Poster an ihrem Kleiderschrank in der Hackstraße, im knallroten Kleid, durch das sich Brüste und Scham abzeichneten wie eine Ohrfeige. Eine Hand stützte sich auf der Hüfte, die lackierten Klauen glänzten. Anita zeigte eine arrogante Fresse und war einfach nur cool. »Die würde ich nicht vögeln, da hätte ich zuviel Schiß«, meinte Sören mit einem Kopfschütteln.
In der Dix-Ära begannen die Symptome der Angst unerträglich zu werden. Das Gefühl des Versagens, des totalen Abkackens, wie Sören es nannte, packte sie, schüttelte sie durch und machte es unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Angst, normalerweise nur ein zeitweiliger Gast, begann sich jetzt häuslich niederzulassen und in ihrem Brustkorb festzusetzen. Sie ließ sie nachts wach liegen und begleitete jeden ihrer Schritte, verschaffte ihr einen hohen Ruhepuls und einen unsteten Blick.
Als sie an einem Sommernachmittag nicht mehr in der Lage war, die Bibliothek zu betreten, ging sie von der Uni geradewegs zum Arzt. Sie hatte in großer Runde etwas über Schlaflosigkeit gesagt. Der Name eines Neurologen war gefallen. »Der ist total locker drauf, der schreibt dir auch ein Attest, wenn du im Examen was brauchst oder für ’ne Klausur.« Judith schilderte dem Arzt ihre Ängste und verließ die Praxis mit einem Rezept für Tavor tabs und der Auflage, in einer Woche wiederzukommen. So begann die Zeit der blauen Dose.
Die blaue Blechdose war ein Mitbringsel aus London. Auf dem Deckel stand ›General Bisquits‹. Darunter waren zwei nackte Engel eingeprägt, die ein Netz in den Händen hielten. Darin zappelte ein dicker Fisch, der trotz seiner prekären Lage ein Schmunzeln um das breite Maul trug. Die Dose steht in der Constantinstraße ganz hinten im Küchenschrank und enthält Ausstecher für Weihnachtsplätzchen. In der Hackstraße hatte sie, für jedermann sichtbar, auf dem Spülkasten der Toilette ihren Platz gehabt. Judith verwahrte ihre Medikamente darin, zunächst nur Kopfschmerztabletten und eine Schachtel Tavor. Das Medikament tauchte Canetti-Baumeister, Dix’ Bilder und Judiths Zukunftsaussichten im Stuttgarter Kunstbetrieb in einen wabernden Nebel, vertrieb die Angst für eine Weile und half auch, die tägliche zermürbende Warterei auf Sörens Anrufe und sein sonstiges Verhalten zu ertragen. Leider reichte die verordnete Dosis nicht aus, um Judith langfristig zu erlösen.
Bald hatte sie außer dem Neurologen an der Uni noch drei weitere Ärzte in verschiedenen Vierteln der Stadt gefunden, die sie regelmäßig aufsuchte. Es war ganz einfach: Sie kam ungeschminkt und ungeduscht, ließ die Worte Examensstreß und Schlaflosigkeit fallen und heulte ein bißchen, was leichtfiel. Sie bekam schnell heraus, bei welchem Apotheken-Nachtdienst der Satz »Der Herr Doktor schreibt mir dieses Medikament immer auf« wirkungsvoll war, wo überlastete Helferinnen hastig unterschriebene Rezepte über den Tresen reichten. Bei akutem Mangel konnte sie auch am Nordeingang des Hauptbahnhofs einen Typen in schwarzem Jogginganzug und einer mit Flammen bestickten Wollmütze aufsuchen. Er hatte alles und leierte die Namen der Medikamente mit leiser Stimme herunter wie einen Psalm: »Valium, Librium, Tranxilium, Adumbran, Halcion, Rohypnol, Tramal, Fortal, Lepinal, Repocal . . .«
Judith trägt das Kaffeegeschirr in die Küche und steckt den Stöpsel in den Ausguß. Sie spritzt Spülmittel darauf und läßt heißes Wasser einlaufen. Aus dem Kinderzimmer tönen leises Gebrabbel und Liedfetzen: Kilian ist noch beschäftigt, und Judith macht sich nicht bemerkbar. Sie wischt den Tisch ab, rückt die Stühle weg und beginnt langsam, den Fußboden zu fegen. Sie konzentriert sich ganz auf die gleichmäßigen Bahnen, in denen sie den Besen über das Parkett führt. Die körperliche Anstrengung, das Bücken und Zusammenkehren mit dem Handfeger, das Verrücken der Möbel, läßt sie schwitzen. Etwas anderes als ihr keuchender Atem und der Rhythmus der sachte über das Holz kratzenden Borsten dringen nicht an ihr Ohr. Im Schädel herrscht eine wohlige Leere. Dumpf wie ein Tiefseefisch läßt sie sich durch den Raum treiben, ungestört von Querschüssen aus der Hirnrinde. Auf diese Weise kommt Judith einem entspannten Zustand so nahe wie möglich.
Die therapeutische Qualität des Putzens hat sie erst kennengelernt, als sie ihren Haushalt mit Ulis Geburt enttechnisierte, Spülmaschine, Mixer und sogar den Staubsauger abschaffte. »Wenn die Kinder zu Haus nur einen brummenden Maschinenpark kennenlernen, der Sauberkeit und Ordnung schafft, aber keine Menschen bei der Arbeit sehen, wie sollen sie dann lernen mitzutun, zu helfen, sich zu entfalten?« hatte der sanfte Herr im Vortragsraum auf der Uhlandshöhe zu bedenken gegeben. Und Judith, die, geleitet von einem pastellfarbenen Faltblatt auf der Theke der Frauenärztin, eher zufällig in die Keimzelle der Waldorfpädagogik geraten war, empfand eine befreiende Freude über die Strenge der dort vorgegebenen Richtlinien. Ihre Entscheidung für die Waldorf- Welt glich einer plötzlichen Erleuchtung, dem Übertritt in einen geistigen Orden. Ein Buch, ein dickleibiger Ratgeber zur Gesundheit und Erziehung, genügte, um sie zu überzeugen. Judith schaffte eine Wiege mit rosa Himmel, Stoffwindeln und ein Schaffell an, hängte Raffaels Madonna an die Wand und fing an zu stricken. Manches würde hart werden, keine Frage. Aber wenn sie sich an all die verheißungsvollen Vorgaben hielt, konnte sie gar nichts falsch machen. Es schien einfach und bestechend: Ihre Kinder würden nicht krank werden, sie konnten zu geradlinigen, phantasievollen und glücklichen Menschen heranwachsen, frei von Süchten, Zweifeln, unvertraut mit Hackstraßenmist und der schneidenden Kälte auf den Gipfeln der Verzweiflung. Sie tauschte Dix gegen Hans Thoma. Wenn sie Ulrich und Kilian in ihrem plastikfreien Kinderzimmer spielen oder in Küche und Garten eifrig ihre eigenen hausfraulichen Tätigkeiten nachahmen sieht, hat sie den Eindruck, noch nie in ihrem bisherigen Leben so erfolgreich gewesen zu sein.
In der Küche liegt ein orangeroter Kürbis neben einem Bund Karotten auf der Arbeitsplatte: die Zutaten für die Abendsuppe. Sie freut sich an den Farben, muß schnell über die warzige Oberfläche des Kürbisses streichen, mit dem Daumen über eine erdverkrustete Möhre reiben, bis die leuchtende Schale zum Vorschein kommt. Im Frühjahr will sie mit den Kindern zusammen Möhren säen. Sie werden im Gärtle eine Stelle finden, wo das buschige grüne Kraut in die Höhe schießen kann. Sie stellt sich vor, wie die beiden Jungen die fedrigen Pflanzenschöpfe packen und das Gemüse aus dem Boden ziehen, die Erde an der Hose abwischen und sofort zubeißen, im vertrauensvollen Umgang mit der Natur, die ihnen die Nahrung spendet. Kartoffeln zu setzen wäre auch ein schönes Erlebnis, beobachten, wie aus einer Mutterknolle viele kleine Früchte hervorgehen, oben hübsche weiß violette Blüten, unten eßbare Wurzeln. Aber bei einem der letzten Informationsabende im Kindergarten hat Judith von Rudolf Steiners ablehnender Haltung bezüglich der stärkehaltigen Knolle erfahren. Die Referentin, eine anthroposophische Ärztin, war deutlich: »Die Kartoffel wirkt in einseitiger Weise auf die Nervenorgane. Sie schwächt das meditativ-verinnerlichende Denken zugunsten eines verstandesmäßig-reflektierenden. Damit wird ein auf das Materialistische reduziertes Vorstellungsleben gefördert. Sie werden feststellen, daß bereits vier Wochen nach einer Umstellung von Kartoffeln auf Getreide, Wurzeln und andere Gemüse eine zunehmende gedankliche Frische und Beweglichkeit eintritt, und das tut allen gut, Kindern und Eltern.«
Früher hätte Judith solche Aussagen nicht ohne Grinsen hingenommen. Im Studium ging der Zweifel automatisch in jede Lektüre, jede Bildbetrachtung ein. Es schien ein Organ zu geben, das ständig dieses zersetzende Sekret absonderte. Wer nicht kritisierte, dessen Verstand funktionierte nicht. Vertrauensvoll hinnehmen, nicht hinterfragen, mittun und fühlend aufnehmen, diese Maximen der Steinerschen Pädagogik, die Kindern wie Erwachsenen anempfohlen wurden, erscheinen ihr wie ein warmes Bad, in dem sich ihr ausgeleiertes Denkvermögen erholen kann.
Allerdings liest Judith nur widerwillig in Steiners Werken, auch wenn es im Kindergarten gerne gesehen wird, daß die Eltern sich in das Gedankengut des Meisters einarbeiteten. ›Die Philosophie der Freiheit‹ liegt mit ungebrochenem Rücken auf ihrem Nachttisch. Sie blättert darin, wenn sie den Wunsch hat, auf den Endlosspiralen schlecht formulierter, krauser Gedankengänge leichter in den Schlaf zu gleiten. Ihr genügt das Vertrauen auf einen Überbau. Sie weiß wenig über die Akasha-Chronik, Atlantis, über Karma, Elementarwesen und die Temperamentenlehre. Lieber sind ihr die hilfreichen Heftchen aus anthroposophischen Verlagen, in denen man angeleitet wird, womit die Kinder spielen, was sie zu essen bekommen sollen, wie man Jahreszeitentische aufbaut, Haulemännlein strickt und längst vergessene Murmel- und Ballspiele reaktiviert. Wenn sie das liest und befolgt, fühlt sie sich aufgehoben wie in dem wollenen Fäustling, in den die Maus aus dem Bilderbuch schlüpft.
Eine Weile ist Judith damit beschäftigt, das Gemüse zu putzen. Der Kürbis leistet viel Widerstand, seine Schale ist hart und brüchig. Sie hebelt Stück um Stück herunter. Sie ist gerne in der Küche. Es gefällt ihr, die gefüllten Regale zu sehen, die Schraubgläser mit Dinkel, Weizenschrot, Haferflocken, die bunten Blechdosen der Kräutertees, das irdene Geschirr, die gebügelten Trockentücher an ihren Haken. Es ist ein Ort, an dem sie Entspannung fühlt. Mit Abscheu denkt sie an die winzige dunkle Kochnische in der Hackstraße. Es gab keinen richtigen Herd, nur zwei elektrische Platten, verkrustet vom Dreck des Vormieters, auf denen sie nie etwas anderes kochte als Kaffeewasser und Fertiggerichte. Beim Essen las sie Zeitung, telefonierte, rauchte und tippte manchmal am Computer Seminararbeiten, auf die Tastatur kleckernd und mit Magenkrämpfen bei der Vorstellung, wie Baumeister ihre Deutungsversuche des Dixschen Werks beurteilen würde. Das Bild der verdreckten Kochgelegenheit bleibt nicht lange allein, weitere folgen und entfalten sich klar, grell und so schmerzhaft vor ihr, daß sie das Gesicht verzieht: die morgendlichen Straßenbahnfahrten zur Uni, quer durch den Stuttgarter Osten, vorbei am Gaskessel, der wie ein riesiges Michelinmännchen aus schwarzen Scheiben zusammengesetzt im Talkessel hockte, umgeben von den Baukastenelementen der Industrieanlagen. Jeden Morgen fuhr Judith vom Schlachthof bis zur Keplerstraße, vorbei an Saunapuffs, türkischen Gemüse- und Juweliergeschäften, dem Karl-Olga-Krankenhaus. Sie passierte den Bergfriedhof im Schutz grau verputzter Mauern, hinter denen dunkle Bäume emporragten wie auf einem Böcklin-Gemälde, kroatische, griechische und serbische Restaurants, Tanzschuppen und Änderungsschneidereien, das Arbeitsamt am Stöckach, Tankstellen, Discounter und die lange Schräge der Werastraße, die aus diesen Niederungen ins Gerichtsviertel hinaufführt.
Dann sieht sie sich selbst, mit verschmierter Wimperntusche, eine ihrer riesigen Silbercreolen in der aufgelösten Frisur verhakt, heftig hustend. Der Husten kam von ihrem Versuch, Sörens Penis bis zum Schaft zu schlucken. Sie würgte, drehte den Kopf stumm zur Seite. »Nicht auf meine Jacke, Mensch«, brüllte er und riß ihr das Kleidungsstück, eine alte Pilotenjacke der U.S. Army, förmlich unter dem Hintern weg. Sören studierte Medizin in Tübingen und kam nur am Wochenende nach Stuttgart. Er war groß, blaß und blond. Sein Gesicht mit der Hakennase, dem vollen Mund und den kalten blauen Augen hinter der Stahlbrille hatte einen abschätzigen Ausdruck, den es selbst im Schlaf nicht verlor. Gewöhnlich kippte Judith ein paar Kurze, bevor sie ihre abendlichen Partytouren begann, um jene Gleichgültigkeit zu erlangen, die man ihrer Ansicht nach brauchte, um mit Männern ins Gespräch zu kommen. »Du siehst aus wie ein Nazi-Offizier«, hatte sie zu Sören gesagt. Sie nahm ihn mit in die Hackstraße und erschrak darüber, wie sehr sie sich wünschte, etwas Verbindliches von ihm zu hören, als er am nächsten Morgen in seine Jeans stieg. Aber Sören ließ sich nicht festlegen. Er kam, wann es ihm paßte, rief an, wenn er in der Stadt war, oder zitierte Judith nach Tübingen in sein Wohnheim. Er sprach ganz offen von seinen anderen Beziehungen, es mußten mindestens zwei sein. Judith verbat sich nähere Informationen. Natürlich hätte sie gerne jedes Detail erfragt, aber sie wollte nicht aus der Rolle fallen. Einmal klingelte er mitten in der Nacht bei ihr, blutüberströmt und nach Bier stinkend, und nähte sich in ihrem fensterlosen, immer nach Ausguß riechenden Bad selbst die lange Platzwunde über der Stirn, ohne eine Erklärung. Er schrieb seine Diss über Penicillin und schwärmte ständig von der Wunderkraft der Antibiotika. Aber Sören brachte ihr auch Champagner und küßte sie auf dem Balkon des Verbindungshauses, während verschiedene blonde Frauen wütend zusahen. Seine harten Finger hatten sich mit den ihren verschränkt, während die sonnendurchwärmten Säulen der Sandsteinbalustrade gegen ihren Rücken drückten wie die Rippenbögen eines riesigen Urzeit-Lebewesens. Sörens Gesicht war ganz nah, die Brille spiegelte vor seinen Augen. Sie nahm sie vorsichtig ab und steckte sie ein. Er war stark kurzsichtig, und den Rest des Abends mußte er an ihrer Hand gehen.
Judith kneift die Augen zusammen, schüttelt sich, um den Film abreißen zu lassen. Sie zwingt sich, an Kilians Imbiß zu denken, bis zum Abendessen dauert es noch. Nach dem Abschied von Vater und Bruder hat sich der Dreijährige ins Kinderzimmer zurückgezogen. Er kann sich lange allein beschäftigen und ist, im Gegensatz zu dem redseligen Uli, nicht ständig auf ein Gegenüber angewiesen.
Sie füllt getrocknete Apfelringe und Rosinen in eine kleine Schüssel, löffelt Kräutertee in das porzellanene Ei mit Vergißmeinnichtmuster, dreht den Wasserhahn auf, hält den Kessel darunter, reißt ein Streichholz an – in der Hackstraße gab es ein Feuerzeug in Knallpink mit dem Aufdruck eines Pizzaservices. Sie entzündet das Gas. Das Wasser kocht schnell. Das Pfeifen des Kessels, das Versinken des Eis, das beim Eintauchen eine Schnur silbriger Blasen hinter sich herzieht, der Geruch nach Minze und Melisse, das alles ist wie jeden Tag. Die Ordnung der Dinge wird von ihr und der Waldorfpädagogik bestimmt: keine Aufregungen, kein Fernsehen, nicht zuviel Besuch, ein durchritualisierter Alltag, geregelt nach dem Kreislauf der Natur. Es ist ein vorhersehbares Leben, zu Hause genauso wie im Kindergarten: montags Müsli, dienstags Schrotbrei, mittwochs Wasserfarben, donnerstags Plastizieren, wochenlang wird dasselbe Märchen erzählt. Das Gehetze ist aus ihrem Leben verschwunden. Sie fährt oft aus der Stadt hinaus, über Degerloch hinauf in die eingemeindeten Dörfer auf den Fildern. Dort hält sie Ausschau nach Schildern: Blumen zum Selbstschneiden. Sie schleppt sie büschelweise nach Hause: Pfingstrosen, Gladiolen und Sonnenblumen, im Herbst Astern, Efeuranken, Tannenzweige und schließlich Christrosen, grünlichbleich mit wächsernen Blütenblättern voller Frostkristalle. Im Wohnzimmer steht der Jahreszeitentisch mit den kleinen Filzfiguren der Naturgeister, die sie alle selbst hergestellt hat, immer wieder staunend, daß ihre Hände so etwas fertigbringen. So schwingt sie mit ihrer Familie im großen Rhythmus im Inneren einer riesigen Glocke, in der sie alle den Lauf der Zeit durchmessen, hin- und hergewiegt, vom Winter in den Frühling, vom Frühling in den Sommer, den Herbst, durch die Adventszeit, in ständiger, beruhigender Wiederholung.
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 2009
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Autoren-Porträt von Anna Katharina Hahn
Anna Katharina Hahn, geboren 1970, lebt in Stuttgart. 2009 erschien ihr Longseller Kürzere Tage. Ihr zweiter Roman Am Schwarzen Berg stand auf Platz 1 der SWR-Bestenliste. Mit Das Kleid meiner Mutter hat sie 2016, wie der Kritiker Denis Scheck feststellte, ein »großes europäisches Tableau« entworfen. Die Recherchen für Aus und davon führten sie in die USA und nach Mainz, wo sie 2018 die renommierte Stelle als Stadtschreiberin innehatte. Aus und davon stand mehrfach auf der Spiegel-Bestsellerliste. 2020 erhielt sie den Preis der Stiftung Ravensburger Verlag.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anna Katharina Hahn
- 2009, 7. Aufl., 223 Seiten, Maße: 13 x 20,7 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Suhrkamp
- ISBN-10: 3518420577
- ISBN-13: 9783518420577
- Erscheinungsdatum: 09.03.2009
Rezension zu „Kürzere Tage “
»Die Topographie erfrischt den Blick, sie verbietet die Einengung auf ein Milieu oder auf einen Kiez.«Frankfurter Allgemeine Zeitung
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