Land des Feuers, Land der Sehnsucht
Südafrika, 1899. Die burische Farmerstochter Lena van Rissek muss ihren Weg finden: in den politischen und gesellschaftlichen Konflikten ihres Landes, angesichts von Krieg und Bedrohung. Als Lena den britischen Leutnant Lionel Faulkner kennenlernt,...
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Produktinformationen zu „Land des Feuers, Land der Sehnsucht “
Südafrika, 1899. Die burische Farmerstochter Lena van Rissek muss ihren Weg finden: in den politischen und gesellschaftlichen Konflikten ihres Landes, angesichts von Krieg und Bedrohung. Als Lena den britischen Leutnant Lionel Faulkner kennenlernt, werden ihre Gefühle auf eine harte Probe gestellt. Eigentlich müsste sie Lionel verabscheuen, denn er gehört zu den verhassten Engländern, die auch Lenas Familie zwischen die Fronten des grausamen Krieges reißen. Doch Lena fühlt sich immer stärker zu ihm hingezogen.
Eine Geschichte vor atemberaubender afrikanischer Kulisse über eine Liebe, die alles in Frage stellt!
Lese-Probe zu „Land des Feuers, Land der Sehnsucht “
Land des Feuers, Land der Sehnsucht von Rainer M. SchröderTeil I Leeuwenhof
1
Nichts hatte wirklich ein Ende oder einen Anfang. Im Strom der Zeit waren selbst Geburt und Tod nur willkürlich gesetzte Einschnitte, die etwas begrenzen sollten, was doch ewig im Fluss war und sich so wenig fassen ließ wie das gleißende Licht über der schier endlosen Weite Südafrikas. Zu dieser Erkenntnis gelangte Lena van Rissek jedoch erst, als sie selbst schon Mutter erwachsener Kinder war und ihr die Jahre ihrer Jugend auf LEEUWENHOF wie Bilder aus einem fernen Traum erschienen. Damals, in jener Zeit, kurz bevor Julian in ihrer aller Leben trat und sie, Lena, aus dem Dornröschenschlaf ihrer trügerisch heilen Welt ritt, damals waren ihr solche Gedanken noch völlig fremd.
Natürlich hatten die Ereignisse, die sich zu ihrem persönlichen Schicksal verdichteten, nicht mit dem rätselhaften Brief begonnen. Später, im Rückblick, sollte es Lena jedoch so vorkommen, als hätte für sie alles genau da den Anfang genommen - an jenem milden Septembertag im Frühling des Jahres 1896, als Adriaan, ihr ältester Bruder, vom Einkauf in Jonkheersdorp mit einem Brief für ihren Vater nach LEEUWENHOF zurückkehrte.
»Ein Brief für dich, Pa! Aus Kimberley!«, rief Adriaan, bevor er noch die Pferde vor dem Farmhaus zum Halten gebracht hatte, und schwenkte ihn aufgeregt über seinem Kopf.
... mehr
Adriaan, mit siebzehn der älteste von Stefanus van Risseks vier Kindern und fast drei Jahre älter als Lena, neigte sonst gar nicht zu Aufgeregtheiten, ganz gleich welcher Art. Darin sowie in seiner kräftigen Statur war er ganz das Ebenbild ihres Vaters. Doch wenn es schon ein besonderes Ereignis war, zum Einkauf nach Jonkheersdorp fahren zu dürfen, was seit Opa Willems Zeiten höchstens einmal im Monat infrage kam, so war ein Brief eine noch größere Seltenheit.
Lena konnte sich nicht erinnern, dass irgendjemand auf LEEUWENHOF jemals einen Brief erhalten hätte. Wozu auch? Die Welt der van Risseks umschloss die Farm am Vaal River, die Höfe ihrer befreundeten Nachbarn sowie die Siedlung Jonkheersdorp mit der einzigen Kirche im Umkreis. Vereeniging, die nächste Eisenbahnstation und gute vierzig Meilen entfernt, lag schon außerhalb ihrer vertrauten Welt, ganz zu schweigen von Städten wie Johannesburg, dem »Sodom und Gomorra« der raff gierigen uitlanders, wie Opa Willem und Tante Sophie die Stadt der Goldbergwerke und Ausländer stets voller Abscheu zu nennen pflegten.
Nein, die burischen Farmer schrieben sich keine Briefe. Nicht dass sie des Schreibens und Lesens nicht mächtig gewesen wären, wie es die verhassten Engländer ihnen in ihrer heimischen Presse gern unterstellten. Weit gefehlt. Die meesters in den abgelegenen Farmschulen - so armselig diese Lehmhütten auch waren - nahmen ihre Aufgabe als Lehrer ernst und brachten mit jeder neuen Generation ein angemessenes Maß an Bildung in die Farmstuben. Schon die täglichen Lesungen in der Heiligen Schrift, die kein aufrechter boer versäumte, sowie die sonntäglichen Gottesdienste auf der stoep des Farmhauses vor der versammelten Familie und den schwarzen Arbeitern machten diese Kenntnisse notwendig.
Aber zu Feder und Papier zu greifen und einen Brief abzufassen war eine völlig andere Sache. Welchen Sinn hatte es auch, sich Briefe zu schreiben, kam man doch spätestens alle Vierteljahr zum nagmaal, zur Feier des Abendmahls, in Jonkheersdorp zusammen und sah sich darüber hinaus auch noch bei Beerdigungen, Hochzeiten und anderen besonderen Anlässen? Und wenn es außer der Reihe einmal etwas wirklich Wichtiges zu bereden gab, dann schwang man sich eben aufs Pferd und machte einen Besuch bei seinen Nachbarn.
Und nun sprang Adriaan vom Kutschbock, mit einem Brief für seinen Vater in der Hand. Und dieser rätselhafte Brief kam noch nicht einmal aus dem eigenen Land und auch nicht aus der benachbarten zweiten Burenrepublik, dem Oranje-Freistaat, sondern er kam aus Kimberley, und das lag bekanntlich in der britischen Kapkolonie!
Lena war mit ihrer anderthalb Jahre jüngeren Schwester Deleana aus der Küche hinaus auf die stoep, die überdachte Veranda, getreten, als das schwarze Küchenmädchen Sarie die Rückkehr des jungen baas gemeldet hatte. Tante Sophie, eine gedrungene Person von unermüdlichem Arbeitseifer und mit stets korrekt sitzender Haube und gestärkter Schürze, folgte ihnen auf dem Fuß. Als Hanna van Rissek bei der Totgeburt ihres fünften Kindes im Wochenbett gestorben war, war ihre verwitwete, kinderlose Schwester nach LEEUWENHOF gekommen, um ihrem Schwager in seiner Trauer beizustehen und vorübergehend im Haushalt und bei der Erziehung seiner vier halbwüchsigen Kinder zur Hand zu gehen. Das war vor acht Jahren gewesen, und längst war LEEUWENHOF zu ihrem Heim und der Haushalt zu ihrem unumstrittenen Herrschaftsbereich geworden.
»Ein Brief? Wer sollte Pa denn schreiben? Wir kennen niemanden in Kimberley!«, sagte Deleana altklug und tat die Sache damit ab, denn sie interessierte allein, ob Adriaan ihr den geblümten Stoff für ihr neues Sommerkleid mitgebracht hatte, das Pa ihr versprochen hatte.
»Sei nicht so vorlaut!«, wies Tante Sophie sie sofort zurecht und schoss ihr einen jener Blicke zu, der auch bei ihren schwarzen Bediensteten und Farmarbeitern gefürchtet war.
»Hoffentlich hat Adriaan den hellen und nicht den dunklen Stoff genommen!«, raunte Dele ihrer älteren Schwester zu. »Er hat mir jedenfalls versprochen, Pa zu sagen, dass es den dunklen nicht mehr gegeben habe. Tante Sophie wird zwar erst maulen, aber mit Opas Hilfe kriege ich sie schon dazu, dass sie ihn mir lässt und mir ein neues Sommerkleid näht.«
Tante Sophie, die sonst stets an den seltenen Einkaufsfahrten nach Jonkheersdorp teilnahm, schon um ein scharfes Auge darauf zu halten, dass kein unnötiges Geld ausgegeben wurde, hatte sich an diesem Morgen nicht wohl genug gefühlt, um sich die gut zwei Stunden auf holpriger Wegstrecke hin und noch einmal zurück zuzumuten. Und da ihr Vater dringende Arbeiten zu erledigen hatte und Nägel brauchte, war Adriaan diesmal allein gefahren.
»Versprochen hat Adriaan dir das nicht, Dele. Er wollte darüber nachdenken«, stellte Lena klar und wischte sich die Hände an der Küchenschürze trocken. Und wie sie ihren Bruder kannte, der es mit Ehre und Wahrheit sehr genau nahm, glaubte sie kaum, dass ihre Schwester mit dem hellen Stoff rechnen durfte. Um einer zu großen Enttäuschung vorzubeugen, fügte sie deshalb hinzu: »Ich an deiner Stelle hätte mich sowieso für den dunklen entschieden. Erstens wird er nur halb so schnell schmutzig und zweitens steht er dir zu deinem blonden Haar auch entschieden besser.«
»Aber der helle Stoff ist viel hübscher!«, widersprach Dele trotzig.
»Lass das bloß nicht Opa und Tante Sophie hören!«, flüsterte Lena mahnend. »Sie würden dir sonst wegen deiner Eitelkeit eine Strafpredigt halten!« Sie zwinkerte ihrer Schwester zu, um ihren Worten die Schärfe zu nehmen.
»Pah!«, sagte Dele großspurig. »Was versteht Opa denn schon von hübschen Kleidern!« Doch sie senkte dabei nicht nur die Stimme, sondern auch den Kopf. Denn vor Opa Willem hatte man, so alt er auch war, einen Heidenrespekt, wenn man sich das Leben nicht schwerer machen wollte, als es auch so schon war.
Opa Willem war mit seinen dreiundsiebzig Jahren so dürr und hager wie ein Ladestock und von Wind und Wetter gegerbt wie ein langer Streifen biltong, die sonnengetrocknete Fleischdelikatesse der Buren. Er saß nur wenige Schritte von ihnen entfernt in seinem Stuhl auf der Veranda und schmauchte Pfeife. Sein zotteliger grauer Bart war von hässlichen braungelben Flecken gesprenkelt. Das kam vom Pfeifensud und weil Opa Willem sabberte, wie Tante Sophie immer wieder schimpfte, ohne dass er sich jedoch etwas aus ihrem Gezeter machte.
Sein zerknittertes Gesicht, das den stummen Vorwurf erfunden haben konnte, trug wie üblich einen grimmigen Ausdruck, denn sein Sohn Stefanus hatte wieder einmal eine seiner Anweisungen an die Schwarzen rückgängig gemacht und ihnen andere Befehle gegeben. Schon vor über einem Jahrzehnt hatte er die Leitung der Farm an seinen einzigen Sohn abgetreten sehr widerstrebend allerdings. Wenn er nicht den schweren Unfall mit dem Ochsenwagen gehabt und davon einen steifen linken Arm sowie eine Gehbehinderung zurückbehalten hätte, würde er auf LEEUWENHOF das Regiment noch immer in alter Strenge führen. Und in all den Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte er sich noch immer nicht damit abfinden können, dass nun sein Sohn Stefanus das Sagen hatte.
Lena bemerkte, wie ihr Großvater einen Augenblick erstarrte, als er Adriaans Ruf vernahm. Und auch Tante Sophie reagierte äußerst merkwürdig, öffnete sie doch wie in ungläubigem Erschrecken den Mund.
»Ein Brief ...? Aus Kimberley?«, stieß Willem van Rissek aus, und seine grimmige Miene wich einem Ausdruck der Bestürzung. »Gib ihn mir, jong!« Er schoss förmlich aus seinem Stuhl hoch und streckte die Hand fordernd nach dem Brief aus.
»Er ist an Pa gerichtet«, sagte Adriaan.
»Zeig schon her!«, rief Opa Willem ungeduldig.
Tante Sophie gab keinen Ton von sich.
Adriaan blieb zögernd neben dem leichten Zweispänner stehen und blickte zu seinem Vater hinüber.
Stefanus van Rissek kam mit Hendrik, seinem zweitgeborenen Sohn, der von stillem, aber verlässlichem Wesen war, über den Hof. Er war ein stämmiger, breitschultriger Mann in abgewetzter Lederkleidung und mit einem langen pechschwarzen Vollbart.
»Was gibt es, Adriaan?«, rief er schon aus einem Dutzend Schritte Entfernung. »Habe ich richtig gehört? Du bringst einen Brief aus Jonkheersdorp?«
»Ja, Pa. Mijnheer Ohlsson, der Posthalter, ist extra über die Straße zu Cornelius in den Laden gekommen, um ihn mir auszuhändigen. Es wollten natürlich alle wissen, was es damit auf sich hat. Aber ich konnte ihnen nichts sagen, weil auch ich mit dem Absender nichts anzufangen weiß«, antwortete Adriaan und reichte seinem Vater den Brief. »Er kommt aus Kimberley. Absender ist eine gewisse Claire Rounard. Sagt dir der Name etwas, Pa?«
Stefanus van Risseks Hand zuckte bei den Worten »Kimberley « und »Claire Rounard« von dem Brief zurück, als hätte er sich daran verbrannt. Lena sah, wie der Blick ihres Vaters zum Opa hinüberging, dessen Gesicht zu einer finsteren Maske geworden war, und anschließend kurz zu Tante Sophie, um sich dann schnell wieder auf den Brief zu richten.
»Claire Rounard. Ja, das tut er ... in der Tat«, murmelte Stefanus mit merkwürdig rauer Stimme und nahm das Schreiben mit deutlichem Zögern an sich. Einen Moment stand er reglos da, dann steckte er den Brief scheinbar gleichgültig in seine Hosentasche und wechselte das Thema, indem er fragte: »Hast du die Nägel und die Quasten bekommen?«
Adriaan sah ihn verständnislos an. »Ja, natürlich, ich habe alles bekommen, was auf der Liste stand ... Aber sag mal, willst du denn nicht lesen, was diese Claire Rounard dir da aus Kimberley geschrieben hat?«
»Sicher, zu seiner Zeit«, antwortete Stefanus knapp, und in einem barschen Ton, der sonst so gar nicht seine Art war, fügte er hinzu: »Wir haben noch zwei Stunden Tageslicht und jede Menge Arbeit. Also stehlt nicht Gott die Zeit mit neugierigen Fragen und untätigem Herumstehen, sondern geht gefälligst wieder an die Arbeit. Adriaan, spann die Pferde aus und sieh zu, dass sie gut abgerieben werden. Hendrik, wir machen drüben im kraal weiter!« Damit drehte er sich abrupt um und ging mit schnellen Schritten, die etwas Überstürztes an sich hatten, über den Hof zurück zum großen Ochsengehege.
Alle vier Geschwister blickten ihrem Vater nach, verwundert über sein merkwürdiges Benehmen. Hendrik zuckte mit den Schultern und beeilte sich dann seinem Vater zu folgen.
»Kimberley! Ein noch größerer Sündenpfuhl als Johannesburg! Soll der Teufel beide holen!«, schnaubte Opa Willem verächtlich und machte eine Handbewegung, als wollte er die Diamantenstadt in der Halbwüste wegwischen wie eine lästige Schmeißfliege. Mit finsterer Miene sackte er wieder in seinen Lehnstuhl und biss auf den Pfeifenstiel, dass es knackte.
Schweigend, ohne ein Wort der Ermahnung an Lena und Deleana, wandte sich Tante Sophie um und verschwand im Haus.
Deleana überwand die Verblüffung als Erste. Sie lief zu ihrem Bruder. »Hast du den hellen Stoff gekauft?«, fragte sie ihn mit einem erwartungsvollen Glänzen in den Augen.
Adriaan sah an seiner Schwester vorbei. »Nein, ich habe den dunklen genommen. Oder hast du wirklich erwartet, dass ich lüge, nur um deine kindliche Eitelkeit zu befriedigen?«
Deleana machte ein langes Gesicht. »Du hattest es mir aber versprochen!«
»Komm mir nicht damit, Dele! Das hast du dir bloß eingeredet! « Er klang nun ärgerlich. »Du solltest dankbar sein, dass Pa und Tante Sophie dir überhaupt ein neues Kleid erlaubt haben, nachdem du doch erst letztes Jahr das gestreifte bekommen hast.«
»Das war ein altes, abgetragenes von Lena, nur ein bisschen umgenäht!«
»Ach was, Lena gibt viel zu sehr Acht auf ihre Sachen, als dass sie abgetragen wären, wenn sie aus ihnen herausgewachsen ist. Und jetzt lass mich damit zufrieden«, sagte er ungehalten, schob seine Schwester beiseite und spannte zusammen mit Tambu, dem schwarzen Stallknecht vom Stamm der Khoikhoi, die Pferde aus.
An diesem Abend herrschte eine seltsame Atmosphäre beim Essen. Adriaan erzählte von dem Klatsch und den politischen Nachrichten, die er in Jonkheersdorp erfahren hatte. Doch diesmal schien sich niemand dafür zu interessieren. Ihr Vater hörte überhaupt nicht hin und rührte sein Essen kaum an. Mit abwesendem Blick saß er am Tisch. Auch Tante Sophie und Opa Willem schien der Appetit vergangen zu sein, denn sie stocherten ebenfalls auf ihren Tellern herum. Lena und ihre Geschwister wussten, dass das sonderbare Verhalten der Erwachsenen mit dem Brief zusammenhängen musste. Aber niemand von ihnen traut sich auch nur eine vage Frage in dieser Richtung zu stellen.
Wie jeden Abend wurde aus der Bibel vorgelesen, und als es allmählich Zeit war, zu Bett zu gehen, begab sich Lena mit der großen Kanne zum Brunnen, um frisches Wasser für ihre Waschkrüge zu schöpfen.
Zwischen den Rundhütten der Schwarzen mit ihren Wellblechdächern, die sich etwas abseits des Farmhauses hinter den Viehkraals zusammendrängten, flackerte das unruhige Licht eines offenen Feuers. Die Nacht war klar und kühl nach der Wärme des Frühlingstages.
Lena hatte die Kanne gefüllt, als die erregte Stimme ihres Großvaters an ihr Ohr drang, gefolgt von einer scharfen Antwort ihres Vaters. Sie blieb stehen und sah zum schweren Ochsenwagen hinüber, der voll beladen ein sechzehnköpfiges Gespann benötigte. Der achtzehn Fuß lange Planwagen stammte aus der legendären Zeit des Großen Trecks, den Opa Willem noch als Halbwüchsiger miterlebt hatte und von dem er stundenlang fesselnd zu erzählen wusste.
Doch an diesem Abend stand Opa Willem nicht dort auf der anderen Seite des Wagens und unterhielt sich mit ihrem Vater über den Exodus der Buren aus der britischen Kronkolonie vor gut sechzig Jahren. Sie stritten sich, und ihr Streit hing mit dem Brief zusammen, den Adriaan am späten Nachmittag gebracht hatte, daran hegte Lena nicht den geringsten Zweifel.
Unwillkürlich ging sie einige Schritte auf den Wagen zu, der sich als schwarze Silhouette vor dem Nachthimmel abhob, um vielleicht das eine oder andere Wort aufzuschnappen. Es war nicht recht, zu lauschen, aber ihre Neugier war stärker als ihre Gewissensbisse.
»... diese unselige Frau!«, schimpfte Opa Willem.
»Rede von ihr nicht ständig als ›diese Frau‹, als hätte sie keinen Namen und kein Gesicht!«, entgegnete ihr Vater. »Sie hat einen Namen, und der ist Claire!«
»Magtig! Ob nun Claire oder ›diese Frau‹, sie ist tot. Punktum! Und damit sollte dieses unerfreuliche Kapitel in deinem Leben, nein, in unser aller Leben ein für alle Mal abgeschlossen und vergessen sein!«
Lena hörte ihren Vater bitter auflachen. »Oh ja, du und Mutter, ihr habt es euch schon immer sehr leicht damit gemacht. Du willst nicht daran erinnert werden, ich weiß, aber ich habe diese Frau Claire geliebt!«
»Dummes Zeug!« Opa ging schroff über den Einwand hinweg. »Dieses Weib hatte dir den Kopf verdreht, weiter nichts. Geliebt hast du allein Hanna, die Mutter deiner Kinder, und erzähl mir nichts anderes!«
»Ja, ich habe Hanna geliebt«, gab ihr Vater mit belegter Stimme zu, »aber anders ... nicht so wie Claire.«
»Ich will ihren Namen nicht mehr hören!«, herrschte Opa ihn an. »Sie ist tot. Meinetwegen pflege du deine lächerlichen Erinnerungen an die Torheiten deiner Jugend, aber lass uns und LEEUWENHOF aus dem Spiel.«
»Du vergisst Julian!«
»Ich will nichts mehr hören!« Opa Willem schrie fast.
»Warte!«, rief ihr Vater. »Die Zeiten, da ich mich deinem Willen zu beugen hatte, sind schon seit einigen Jahren vorbei. Ich verlange ...«
Lena bekam nicht mehr mit, was ihr Vater verlangte, denn sie eilte hastig zum Farmhaus zurück, weil sie fürchtete bemerkt zu werden, wenn Opa Willem wutentbrannt hinter dem Wagen hervorstürzte.
»Wo bist du bloß so lange gewesen?«, fragte Deleana, mit der Lena eine kleine Kammer teilte.
»Ich habe mir die Sterne angeschaut«, log Lena und schämte sich dafür.
Ihre Schwester verdrehte die Augen. »Manchmal bist du richtig komisch, fast so wie Pa und Opa und Tante Sophie!«
»Danke, wie nett von dir«, sagte Lena, ohne jedoch ernstlich böse zu sein, kannte sie doch die Launen und die Sprunghaftigkeit ihrer Schwester.
»Ich möchte zu gern wissen, warum sie sich wegen dieses blöden Briefes so seltsam anstellen«, überlegte Deleana laut. Doch derlei Dinge beschäftigten sie nicht wirklich, jedenfalls nicht länger, als ein Schmetterling brauchte, um von einer hübschen Blüte zur anderen zu flattern. »Aber eigentlich soll es uns ja egal sein. Was interessiert es uns auch? Sag mal, glaubst du, Tante Sophie lässt diesmal einen kleinen weißen Rüschensaum am Kragen meines neuen Kleides zu?«
»Wenn du einen guten Augenblick bei ihr erwischst ...« Lena zwinkerte und meinte dann: »Komm, lass uns beten. Es ist schon spät.«
Sie sagten ihr Nachtgebet, und Lena fügte den vertrauten Worten hinterher noch in Gedanken die Bitte um Vergebung für ihr Lauschen und ihre Lüge mit den Sternen hinzu, bevor sie das Licht löschte und in ihr Bett schlüpfte.
Dele redete noch eine Weile leise über ihr Kleid und welchen Schnitt sie sich wünschte, ohne dass sie eine Entgegnung von ihrer Schwester erwartete.
Lena war froh darüber, dass Dele ihr eigenes Geplapper genügte, denn ihr stand der Sinn wahrlich nicht danach, sich mit ihr über Schnittvorlagen, Rüschensäume und gebauschte Ärmel zu unterhalten. Ihre Gedanken kamen nicht von dem los, was sie auf dem Hof von dem Wortwechsel zwischen ihrem Vater und Opa Willem aufgeschnappt hatte, und sie wusste, dass sie in dieser Nacht noch lange wach liegen würde. Dass ihr Vater noch eine andere Frau als ihre Mutter geliebt hatte, war für sich schon aufregend genug. Doch wer war diese mysteriöse Claire Rounard, und wie konnte eine Tote ihrem Vater einen Brief aus Kimberley schreiben?
Und vor allem: Wer war Julian?
2
Als ihr Vater den Brief am nächsten Morgen nicht mit einem einzigen Wort erwähnte und sich auch in den folgenden Tagen darüber ausschwieg, nahmen Lenas Geschwister das zwar mit Verwunderung zur Kenntnis, doch diese Verwunderung war von sehr flüchtiger Natur. Die brennende Neugier, die Lena insgeheim empfand, fehlte ihnen völlig.
»Pa wird schon wissen, warum er sich nicht über den Brief auslässt«, meinte Adriaan, als sie im Geschwisterkreis einmal darüber redeten.
Hendrik nickte auf seine bedächtige Art. »Es wird etwas sehr Persönliches gewesen sein«, sagte er bedeutsam, als wäre er nach intensivem Nachdenken zu einer gewichtigen Erkenntnis gelangt.
Dass Hendrik etwas langsam und von schlichtem Gemüt war, hatte Lena an ihrem Bruder nie als Mangel empfunden und würde es auch zukünftig nicht tun. Seine Warmherzigkeit und seine Sanftmut wogen in ihren Augen mehr als reichlich auf, was ihm an Geistesgaben fehlen mochte. Sie hing sehr an Hendrik, mehr noch als an Adriaan, der sie häufig wie ein kleines Kind behandelte und alles abtat, was sie sagte. Doch in diesem Fall wünschte sie, dass Hendrik mehr Interesse und so etwas wie Spekulationsfreude gezeigt hätte.
»Also ich hätte schon gern gewusst, was es mit dieser Claire Rounard aus Kimberley auf sich hat«, warf Lena vorsichtig und in der Hoffnung ein, das Gespräch über den mysteriösen Brief am Leben zu erhalten.
Ihre Schwester zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Was kümmert uns eine Person, von der wir nie gehört haben und die zudem in Kimberley lebt.« Sie hatte für nichts anderes als für ihr neues Kleid Gedanken und wann sie es wohl zu welcher Gelegenheit zum ersten Mal tragen und zur Schau stellen konnte.
»Ja, wenn Pa nicht darüber reden will, dann geht sie uns auch nichts an!«, bekräftigte Adriaan, und sein bestimmter Ton ließ keinen Widerspruch zu. »Und deshalb werden wir ihm auch keine Fragen danach stellen.« Damit war die Angelegenheit für ihn, Hendrik und Deleana erledigt.
Nicht jedoch für Lena. Wenn sie sich auch an Adriaans Anordnung hielt, ihren Vater nicht mit Fragen zu belästigen, so konnte sie den Brief und was sie von Opa Willem und ihrem Vater zufällig auf ihrem nächtlichen Gang zum Brunnen gehört hatte doch nicht aus ihren Gedanken verbannen.
Darüber nachzusinnen und sich aus den wenigen Bruchstücken eine spannende Geschichte zu schaffen war ihr eine willkommene Ablenkung bei den Pflichten, mit denen Tante Sophie sie im Haushalt betraut hatte. Auch wenn sie mal eine Stunde ganz für sich hatte und hinunter zum Vaal River zu ihrem Lieblingsplatz unter den Weiden lief, sann sie darüber nach - während sie die Libellen beobachtete, die dicht über der Wasseroberfläche tanzten, und dem Treibholz in den schlammigen braunen Fluten des breiten Flusses nachsah. Oft las sie hier auch in Van Dykes Enzyklopädie der Weltgeschichte, dem einzigen Buch, das ganz allein ihr gehörte und das sie wie einen Schatz hütete, obwohl der feste Einband fehlte und es schon sehr zerfleddert war. Die Geschichten, die da über unvorstellbar ferne Kulturen aufgezeichnet waren, faszinierten sie, auch wenn sie vieles nicht verstand. Leider ging das Buch nur bis zum Buchstaben K, und sie hätte gern gewusst, was unter den anderen Buchstaben Weltgeschichte gemacht hatte. Aber als sie einmal zaghaft die Frage geäußert hatte, ob es nicht möglich sei, irgendwo den zweiten Band zu erstehen, da hatte Tante Sophie auf ihr Ansinnen mit scharfer Missbilligung reagiert und erklärt, dass alles, was ein rechtschaffener Mensch aus einem Buch zu erfahren habe, in der Bibel zu finden sei.
»Ich wünschte, Rachel wäre hier. Mit ihr könnte ich sprechen«, seufzte sie eines Nachmittags vor sich hin, als sie wieder einmal im Schatten ihrer Lieblingsweide am Flussufer saß. Rachel Boshof war ihre beste Freundin und genauso alt wie sie. Sie lebte mit ihren Eltern und Geschwistern auf GROEN VELD, einer der benachbarten Farmen. Mit Rachel konnte sie über alles reden, und vor ihr hatte sie keine Geheimnisse, ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester, die einfach nichts für sich behalten konnte.
Wie schade, dass Rachel und sie sich nur so selten sahen. Was hätte sie ihr jetzt nicht alles zu erzählen!
Über zwei Wochen waren seit dem Eintreffen des Briefes auf LEEUWENHOF vergangen, und der Frühling neigte sich merklich den heißen Monaten des Sommers zu. Lena hatte den Rock ihres wollenen Kleides so weit hochgeschoben, dass ihre Beine über die Knie hinaus entblößt waren. Sie liebte es so, wenn der warme Wind über ihre nackte Haut strich! Lena lachte kurz auf. »Tante Sophie würde der Schlag treffen, wenn sie mich so erwischen würde!«, rief sie einem Blaureiher zu, der oberhalb von ihr am Ufer entlangstolzierte und im Röhricht nach Beute Ausschau hielt, die er mit seinem langen Schnabel aufpicken konnte.
Sie zupfte ihren Rock wieder eine Handbreit herunter und dachte über die letzten zweieinhalb Wochen nach. Auf der Farm ging scheinbar alles seinen normalen Gang, was zu dieser Jahreszeit bedeutete, dass die Arbeit kein Ende nahm. Die mielies, die Maispflanzen, schossen kräftig aus dem Boden und verlangten die ganze Aufmerksamkeit der schwarzen Farmarbeiter, die über die Felder gingen, den Boden lockerten, Käfer vernichteten und das hartnäckig nachwachsende Unkraut ausmachten. Die Obstbäume standen in voller Blütenpracht und wurden umsummt von den Bienenschwärmen aus den eigenen Bienenstöcken, um die sich allein Opa Willem kümmerte. Die Imkerei auf LEEUWENHOF war das Einzige, wo ihm niemand hineinredete und wo allein er bestimmte, was getan wurde.
Schaf- und Rinderherden machten in diesen Wochen ebenfalls viel Arbeit, weil - wie in jedem Jahr - gefährlichen Krankheiten vorzubeugen war. Zwei trächtige Stuten brachten zudem durch komplizierte Geburten, bei denen ein Fohlen tot zur Welt kam, die Männer mehrfach um den Schlaf; allein Opa Willem ließ sich nicht um seine Bettruhe bringen.
»Ich habe genug Nächte gewacht!«, prahlte er. »Aber da ging es nicht um eine Stute, die nicht weiß, wie sie ihr erstes Fohlen zu kriegen hat, sondern darum, wann die Xhosas oder Zulus ihren nächsten Angriff unternehmen und ob wir beim kommenden Sonnenaufgang noch leben! Also macht mal nicht so viel Worte um die paar schlaflosen Nächte!«
Ja, und Dele lag Tante Sophie so lange in den Ohren, bis die an die Arbeit des Zuschneidens und Nähens ging. Den Saum aus weißer Rüsche oder Spitze am Kragen gestand sie ihrer Nichte jedoch nicht zu.
»Dafür bist du noch mindestens drei Jahre zu jung, Kind!«, erklärte Tante Sophie, als Dele wieder einmal nachbohrte. »Weiße Rüschen- oder Spitzenkragen sind etwas für junge Frauen, die alt genug sind, dass ein Mann ihnen den Hof machen darf.«
»Ja, und du bist noch nicht einmal alt genug, um dir einen ordentlichen Zopf zu flechten oder eine Schleife zu binden, die nicht ständig aufgeht«, warf Adriaan spöttisch ein und spielte damit auf Deles Nachlässigkeit und mangelnde Ausdauer an.
Dele maulte über Tante Sophies Unnachgiebigkeit, schoss Adriaan einen wütenden Blick zu und streckte ihm hinter seinem Rücken die Zunge heraus.
Ja, das Leben auf LEEUWENHOF schien in seinen vertrauten Bahnen zu verlaufen. Doch Lena spürte nicht nur, sondern wusste, dass der Schein trog. Was ihre Geschwister übersahen oder anders interpretierten, sprach für sie eine deutliche Sprache: dass Opa Willem in den ersten Tagen nach dem Eintreffen des Briefes kein Wort mit Pa redete; dass Tante Sophie ihrem Schwager sichtlich aus dem Weg ging und die abendliche Bibellesung ungewöhnlich kurz hielt, als könnte sie nicht schnell genug in ihre Kammer kommen, wo sie dann laut und wie beschwörend die Psalmen betete; dass Pa einen in sich gekehrten und oftmals abwesenden Eindruck machte. All das verriet Lena, dass die Angelegenheit mit dem Brief und mit jenem geheimnisvollen Julian immer unter der Oberfläche scheinbarer Normalität gegenwärtig war.
Am Ende der ersten Woche beobachtete Lena, wie ihr Vater und Opa Willem sich wieder einmal stritten. Ihren heftigen Gesten nach zu urteilen, schienen sie sich ordentlich in die Haare geraten zu sein. Doch hören konnte sie kein Wort, denn die beiden Männer standen weit draußen auf dem veld. Wenige Tage später kam es im Haus zu einer erneuten Auseinandersetzung zwischen ihnen. Tante Sophie schickte sie sofort nach draußen, kaum dass Opa Willem die Stimme erhoben hatte.
»... mir nicht ins Haus«, hörte Lena ihren Großvater aufgebracht sagen. »Nur über meine Leiche!«
»Ich bin hier der baas! Finde dich endlich damit ab. Ich habe mich lange genug von dir kommandieren lassen. Damit ist es ein für alle Mal vorbei!«, entgegnete ihr Vater. »Und in diesem Fall werde ich um keinen Preis nachgeben. Um keinen Preis, hast du mich verstanden? Das bin ich mir schuldig - und nicht nur mir! Ich lasse mich nicht noch einmal von dir erpressen!«
Was der Opa ihm darauf antwortete, bekam Lena nicht mehr mit, denn Tante Sophie schubste sie aus der Tür ins Freie. »Und komm erst gar nicht auf den sündigen Gedanken, irgendwo am Fenster lauschen zu wollen!«, warnte sie.
Nach diesem Streit war Opa Willem tagelang geradezu unausstehlich. An allem und jedem hatte er etwas auszusetzen und zu nörgeln. Sogar mit Tante Sophie, mit der er sich sonst so gut verstand, legte er sich an, und einmal hörte Lena ihren Großvater wütend zu ihr sagen: »Du hast ein Rückgrat aus Maisbrei, Sophie! Aber was kann man schon von Weibern erwarten!« Und damit knallte er die Tür zu seiner Kammer zu.
Danach gab es keine Streitereien mehr. Lena reimte sich zusammen, dass Opa Willem sich schließlich damit abgefunden hatte, seinen Willen nicht durchsetzen zu können, worum auch immer es bei dem Streit mit ihrem Pa gegangen war. Irgendwie hatte sie den Eindruck, als machte sich ihr Vater aber noch immer Sorgen. Manchmal beobachtete sie ihn dabei, wie er mit bedrückter Miene in die Ferne schaute. Dann spürte sie ganz stark den Wunsch, ihm zu helfen. Doch sie wusste nicht, wie.
In der letzten Oktoberwoche fuhr ihr Vater nach Jonkheersdorp, und Lena war froh, dass sie ihn begleiten durfte. Er schwieg auf der ganzen Fahrt, aber das machte ihr nichts aus. Aus einem ihr selbst unerfindlichen Grund fühlte sie sich ihrem Vater so nahe wie nie zuvor.
Jonkheersdorp bestand in seinem Kern aus nicht mehr als fünf Dutzend Häusern an zwei staubigen Straßen, die sich auf dem großen Marktplatz kreuzten. Hier war die Kirche und auch der outspan für die schweren Ochsenfuhrwerke der Farmer aus der Umgebung.
Lena wunderte sich nicht, als ihr Vater den Posthalter aufsuchte und einen Brief aufgab. Sie stellte keine Fragen, doch dass er an eine Adresse in Kimberley gerichtet war, darauf hätte sie sogar ihr kostbares Silbermedaillon verwettet, das einmal ihrer Mutter gehört und das Pa ihr zu ihrem vierzehnten Geburtstag geschenkt hatte.
Sie blieben nicht lange in Jonkheersdorp, denn es gab eigentlich auch nichts, was sie besorgen mussten. Die wenigen Sachen, die sie in RYKLOFF WAGENAARS WINKEL einkauften, sollten Lena wohl nur darüber hinwegtäuschen, dass in Wirklichkeit der Brief der Anlass für diese Fahrt gewesen war.
Nach dem kurzen Einkauf suchten sie die Kirche auf, wo ihr Vater in einem langen, stummen Gebet in der Bank verharrte. Dann fuhren sie zurück nach LEEUWENHOF.
»Du bist so bedrückt, Pa«, rutschte es Lena heraus, als sie sein trauriges Gesicht sah. »Schon seit vielen Tagen. Ich wünschte, ich könnte etwas tun, damit du nicht mehr so traurig bist.«
Berührt und betroffen zugleich, warf er einen Blick auf seine älteste Tochter. »Sieht man es mir so deutlich an, mein tiere?«
Sie nickte. »Seit der Brief gekommen ist.«
Er schwieg einen langen Moment, dann seufzte er und sagte etwas, das sie erst viel später verstehen sollte: »Nichts hat wirklich einen Anfang oder ein Ende, Lena.«
»Wie meinst du das, Pa?«
»Dinge, die man längst für abgeschlossen und für vergessen gehalten hat, hat man in Wirklichkeit Jahre, ja Jahrzehnte immer mit sich getragen«, sagte er, ohne dass es damit mehr Sinn für Lena ergab.
»Und deshalb bist du so bedrückt?«, fragte Lena, der es eigentlich egal war, dass sie nicht verstand, was er damit meinte. Es reichte ihr und erfüllte sie mit einem warmen Gefühl der Zuneigung, dass er überhaupt mit ihr über seinen Kummer redete.
»Ja, das bin ich«, gab er zu und lachte dann unsicher auf. »Aber andererseits bin ich auch ... nun ja, freudig aufgeregt. Alle Dinge haben nun mal zwei Seiten.«
»Bist du aufgeregt wegen ...« Sie stockte und fasste sich dann ein Herz. »... wegen Julian?«
Ihr Vater sah sie überrascht an. »Woher hast du diesen Namen?«
Lena erzählte es ihm.
Er lächelte nachsichtig, als sie beteuerte, diese Wortfetzen nur zufällig aufgeschnappt zu haben. »Ja, es stimmt. Es ist wegen Julian.« Er legte eine nachdenkliche Pause ein und fragte dann: »Und jetzt möchtest du wissen, wer dieser Julian ist und worum es bei der ganzen Aufregung geht, nicht wahr?«
Lena brannte darauf, genau das zu erfahren, erinnerte sich jedoch der Worte ihrer Brüder. Und deshalb antwortete sie mit artiger Zurückhaltung: »Du wirst es uns schon sagen, wenn du meinst, dass wir es wissen sollen ... und wenn der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist, Pa.«
Liebevoll tätschelte er ihren Arm. Doch sein Lächeln hatte etwas Gequältes, als er mit einem schweren Seufzer erwiderte: »Ja, der richtige Zeitpunkt ... Wann ist er gekommen? Allzu oft weiß man das erst hinterher, wenn man ihn verpasst hat.«
Lena erwartete, dass ihr Vater sie nun in das Geheimnis um Julian und diese Claire Rounard einweihen würde. Doch stattdessen fiel er in ein tiefes, brütendes Schweigen, das den ganzen restlichen Weg zurück nach LEEUWENHOF anhielt.
Erst war sie enttäuscht, tröstete sich dann jedoch damit, dass zwischen ihr und ihrem Vater in dieser geheimnisvollen Sache ja doch eine stillschweigende Übereinkunft entstanden war, von der weder ihre Geschwister noch sonst jemand auf der Farm wusste.
Lena fasste sich in Geduld, sagte ihr doch ihr Gefühl, dass er nicht mehr fern sein konnte: der richtige Zeitpunkt.
3
Zwei Wochen nach der Schafschur stattete Simon Ohlsson LEEUWENHOF einen überraschenden Besuch ab. Der grauhaarige Ohlsson führte in Jonkheersdorp zusammen mit seiner verwitweten Schwester Ester ein kleines Geschäft für Kurzwaren, das nicht genug zum Leben und doch zu viel zum Sterben abwarf. Deshalb hatte er den Postdienst im Dorf übernommen, um sich dadurch noch ein bescheidenes Zubrot zu verdienen. Angeblich hatte er die lange Fahrt auf sich genommen, weil er einige Lämmer kaufen und dieses Geschäft gern mit Stefanus machen wollte. Doch Lena ahnte, dass dies nur ein Vorwand war. Ihr Vater hatte Antwort auf seinen Brief bekommen, und dies sollte geheim bleiben.
An jenem Tag waren zufällig auch ihr Nachbar Hennig Bloem und sein Sohn Fabricius, mit sechzehn das älteste seiner Kinder, mit einem Fuhrwerk neuer Fässer von BLOEMHOF herübergekommen. Stefanus van Rissek und Hennig Bloem waren schon in ihrer Jugend Freunde gewesen und gemeinsam stolz darauf, dass unter ihrer Leitung ihre beiden Farmen mit Abstand zu den am besten bewirtschafteten und ertragreichsten im Bezirk von Jonkheersdorp geworden waren.
BLOEMHOF hatte mit Bonga, der vom Stamm der Griquas war, den fähigsten Fassbinder weit und breit. Dafür konnte es niemand auch nur annähernd mit der Schmiedekunst von Titus aufnehmen, einem baumlangen Zulu mit dem Kreuz eines Ochsen, der vor vier Jahrzehnten als Hirtenjunge nach LEEUWENHOF gekommen war und ganz zufällig seine Begabung im Umgang mit Hammer und Amboss entdeckt hatte. Wenn es etwas Besonderes zu schmieden gab, kam Hennig Bloem damit nach LEEUWENHOF, wo Titus sich der Sache annahm. Dafür belieferte er seinen Freund und Nachbarn regelmäßig mit Fässern aus Bongas Fassbinderwerkstatt.
Fabricius, ein schlaksiger Bursche mit den kantigen Gesichtszügen seines Vaters, nutzte die Gelegenheit, um Adriaan und Hendrik mit seinem neuen Gewehr zu beeindrucken, das er von seinem Vater zu seinem sechzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte.
»Ein 7-mm-Mauser-Karabiner aus Deutschland!«, erklärte er stolz und warf Lena einen erwartungsvollen Blick zu, als erhoffte er, dass ihr nun vor maßloser Bewunderung der Unterkiefer herunterfiel.
»Was du nicht sagst«, meinte Adriaan mit einem Anflug von Neid, denn er besaß nur ein älteres Lee-Enfield-Gewehr. Dass es sich um einen deutschen Mauser-Karabiner handelte, den Fabricius da vom Wagen geholt hatte, dafür hatte es bei ihm und Hendrik nur eines einzigen Blickes bedurft. Sie waren wie fast alle männlichen Buren mit einer Flinte in der Hand groß geworden. Mit dem Sattel eines Pferdes verwachsen zu sein und eine fast traumwandlerische Treffsicherheit mit dem Gewehr zu haben, das war seit über zwei Jahrhunderten eine aus dem Überlebenskampf geborene burische Tradition.
»Ich habe auch einen neuen Patronengurt für die Mauser- Ladestreifen bekommen«, fuhr Fabricius fort. »Fünf Patronen passen in so einen Streifen, die damit alle auf einmal geladen werden. Bei der neuen Lee-Metford, dem besten Gewehr der Engländer, müssen die Patronen dagegen immer noch einzeln geladen werden.«
Adriaan hätte sonst was dafür gegeben, um so ein modernes Gewehr zu besitzen. Doch eher hätte er sich die Zunge abgebissen, als das jetzt vor Fabricius einzugestehen.
Auch Hendrik zeigte sich nicht beeindruckt, empfand im Gegensatz zu seinem älteren Bruder aber auch keinen versteckten Neid. Der Gedanke, sich so einen Mauser-Karabiner zu wünschen, kam ihm gar nicht. Er war mit seiner alten Tower-Flinte vollauf zufrieden. Erst neulich hatte er eine Antilope auf zweihundert Yard mit einem sauberen Schuss erlegt, und das bei nicht ganz idealen Lichtverhältnissen. Ein neues, schneller schießendes Gewehr machte niemand zu einem besseren Schützen. Es verleitete höchstens dazu, mehr Munition zu vergeuden.
Lena wusste mit einem Gewehr umzugehen, interessierte sich jedoch nicht für technische Details.
Dele war von ihnen die Einzige, die Fabricius den Respekt zollte und ihm die Bewunderung schenkte, die er als stolzer Besitzer des Mauser-Karabiners erwartete. Sie machte ihm wegen dieses wunderbaren Geschenkes die gebührenden Komplimente und fragte ihn nach diesem und jenem.
Fabricius tat es sichtlich wohl. »Ja, es gibt nichts Besseres als das!«, beteuerte er und strich fast liebevoll über den Lauf des Karabiners. Das wollte Adriaan so nicht hinnehmen. »Kann schon sein, dass man damit beim Laden Zeit spart. Aber ob du mich damit ausstichst, steht auf einem ganz anderen Blatt. Ich hol dir mit meiner Lee-Enfield jeden Vogel genauso schnell vom Himmel wie du mit deiner Mauser, und Hendrik sticht dich sogar noch mit seiner alten Tower aus!«
»Wenn man gleich beim ersten Mal trifft, braucht man gar keinen zweiten Schuss ... schon gar nicht fünf«, fügte Hendrik trocken hinzu.
Fabricius grinste breit, hatte er doch nur darauf gewartet, herausgefordert zu werden. So gut ihr Verhältnis sonst auch war, was ihre Reit- und Schießkünste betraf, bestand seit vielen Jahren eine Rivalität zwischen den Jungen, besonders zwischen Adriaan und ihm. Jeder wollte der Beste sein. Doch wer von ihnen der Beste war, hatte bisher nie abschließend geklärt werden können.
Nun war also das erhoffte Stichwort gefallen. Fabricius warf sich in die Brust und fragte fast gönnerhaft: »Und du glaubst wirklich, mir mit deinem alten Prügel das Wasser reichen zu können? Bist du bereit, das auch unter Beweis zu stellen, oder willst du es bloß bei Worten belassen, Adriaan?«
»Such dir aus, wann du die Niederlage einstecken willst!«, forderte Adriaan ihn auf, das breite Grinsen erwidernd.
»Warum klären wir das nicht gleich hier und jetzt?«, schlug Fabricius vor.
Adriaan zuckte mit den Schultern. »Von mir aus. Ich hätte dir die bittere Enttäuschung zwar gern noch etwas erspart.«
»Nimm Abschied von deinen Träumen«, erwiderte Fabricius schlagfertig.
»Ihr macht ein Wettschießen?«, stieß Dele aufgeregt aus.
Adriaan warf ihr einen leicht herablassenden Blick zu. »Haben wir uns vielleicht so angehört, als ginge es ums Einsammeln von Ochsendung?« Er wandte sich wieder dem Nachbarssohn zu. »Also gut, schießen wir es aus. Aber stehend freihändig und auf bewegliche Ziele.«
»Einverstanden.«
»Nun, dann lasst uns am besten runter zum Vaal gehen.«
»Ich hol schnell unsere Gewehre und Munition!«, bot Hendrik sich an.
»Darf ich mit, Adriaan?«
»Dele und Lena können meinetwegen ruhig zusehen«, kam Fabricius Adriaan bevor. »Oder hast du vielleicht Angst, dich vor deinen Schwestern zu blamieren?«
»Pah!«, wehrte Adriaan ab. »Ich habe bloß nicht gewusst, dass du Zuschauer brauchst, um einen einigermaßen sauberen Schuss zustande zu bringen. Aber wenn du Dele und Lena unbedingt dabeihaben willst, soll es mir recht sein.«
Fabricius warf Dele und Lena einen Blick zu, als erwartete er so etwas wie ein Lächeln des Dankes, dass sie mitgehen und bei dem Wettkampf dabei sein durften. Lena war nicht halb so versessen darauf wie ihre Schwester, die aus ihrer Freude keinen Hehl machte. Sie zog die friedvolle Stille und den Blumenduft des Vaal krachenden Schüssen und beißendem Pulverdampf allemal vor. Aber weil sie Fabricius' Gefühle nicht verletzen wollte, behielt sie das für sich.
In diesem Augenblick kam der Einspänner von Simon Ohlsson in Sicht. Und als wenig später Tante Sophie nach Lena rief, damit sie ihr bei der Bewirtung der Gäste gefälligst zur Hand ging, da ärgerte sie sich diesmal nicht darüber, dass dieser Tadel immer nur ihr galt und dass Dele stets mit Nachsicht rechnen konnte. Sollte Dele nur ihr Vergnügen mit Fabricius, Adriaan und Hendrik unten am Fluss haben und ihnen mit ihrem oberflächlichen Geplapper auf die Nerven fallen. Kein Wettschießen konnte auch nur annähernd so spannend sein wie das Geheimnis um Julian und Claire Rounard, das ihr schon seit Wochen keine Ruhe mehr ließ - und das nun kurz davor stand, gelüftet zu werden. Jedenfalls hoffte sie, dass mit dem unerwarteten Besuch des Posthalters der »richtige Zeitpunkt« in unmittelbare Nähe gerückt war.
Lena versorgte die Männer, die auf der schattigen Veranda Platz genommen hatten, mit frischem Kaff ee sowie Ingwerplätzchen und Honigbrot. Wie immer, wenn Buren in diesen unruhigen Zeiten zusammenkamen, wandte sich das Gespräch rasch der Politik zu und da insbesondere der aggressiven Politik der britischen Krone. England setzte die freien Burenrepubliken unter immer stärkeren politischen Druck. Das Ziel war allen klar: Das britische Empire, unersättlich in seiner imperialistischen Expansion, streckte seine Hände nach dem Oranje-Freistaat und dem Transvaal aus, um sie seinem Kolonialreich einzuverleiben.
»1806 sind sie mit ihrer Flotte in Kapstadt gelandet und haben uns, nachdem wir dort schon hundertfünfzig Jahre gesiedelt hatten, um unser Land gebracht und uns kurzerhand zu britischen Untertanen erklärt!«, wetterte Hennig Bloem. »Kraft ihrer Kanonen!«
»Der Teufel hole die Engländer!« Opa Willem spuckte treffsicher von der Veranda in den Sand des Hofes.
»Dann haben sie uns jahrelang geknechtet und uns die blutigen Grenzkriege mit den Xhosas am Great Fish River ausbaden lassen«, fuhr Hennig Bloem grimmig fort. »Sie haben es so schlimm getrieben, dass uns gar nichts anderes übrig geblieben ist, als unsere Heimat und die unserer Vorfahren aufzugeben, jenseits der Grenzen der Kapkolonie eine neue Heimat zu suchen und Wildnis urbar zu machen.«
»Ha, der große Exodus unseres Volkes in den Dreißiger- und Vierzigerjahren!«, rief Opa Willem. »Den legendären Großen Treck, ich habe ihn noch erlebt! Wie Gottes erwähltes Volk aus der Gefangenschaft der Ägypter ins Gelobte Land gezogen ist, so haben wir damals die Fesseln unserer britischen Knechtschaft abgeworfen. Wir sind mit gerade geborenen Babys und Alten auf unsere veldschoner gestiegen und haben nach Jahren des Treckens endlich unser gelobtes, uns von Gott vorbestimmtes Land gefunden! «
Simon Ohlsson nickte zustimmend. »Ja, das haben wir. Und dem Allmächtigen sei Dank für seine Vorbestimmung und Führung «, sagte er, schien aber nicht so recht bei der Sache zu sein.
Opa Willem deutete mit seiner Pfeife in die Runde, so als wollte er jedem Einzelnen mit dem langen Stiel vor die Brust pochen. »Ja, ich war dabei, kaum älter als Lena. Aber ich habe die Arbeit eines Mannes getan auf diesem Treck - und gekämpft wie ein solcher gegen bis an die Zähne bewaffnete Zulukrieger ...«
»Lass mal gut sein, Vater«, fuhr Stefanus ihm sanft ins Wort. »Wir alle kennen sowohl die Geschichte unseres Volkes im Allgemeinen als auch deine Geschichten im Besonderen.«
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Adriaan, mit siebzehn der älteste von Stefanus van Risseks vier Kindern und fast drei Jahre älter als Lena, neigte sonst gar nicht zu Aufgeregtheiten, ganz gleich welcher Art. Darin sowie in seiner kräftigen Statur war er ganz das Ebenbild ihres Vaters. Doch wenn es schon ein besonderes Ereignis war, zum Einkauf nach Jonkheersdorp fahren zu dürfen, was seit Opa Willems Zeiten höchstens einmal im Monat infrage kam, so war ein Brief eine noch größere Seltenheit.
Lena konnte sich nicht erinnern, dass irgendjemand auf LEEUWENHOF jemals einen Brief erhalten hätte. Wozu auch? Die Welt der van Risseks umschloss die Farm am Vaal River, die Höfe ihrer befreundeten Nachbarn sowie die Siedlung Jonkheersdorp mit der einzigen Kirche im Umkreis. Vereeniging, die nächste Eisenbahnstation und gute vierzig Meilen entfernt, lag schon außerhalb ihrer vertrauten Welt, ganz zu schweigen von Städten wie Johannesburg, dem »Sodom und Gomorra« der raff gierigen uitlanders, wie Opa Willem und Tante Sophie die Stadt der Goldbergwerke und Ausländer stets voller Abscheu zu nennen pflegten.
Nein, die burischen Farmer schrieben sich keine Briefe. Nicht dass sie des Schreibens und Lesens nicht mächtig gewesen wären, wie es die verhassten Engländer ihnen in ihrer heimischen Presse gern unterstellten. Weit gefehlt. Die meesters in den abgelegenen Farmschulen - so armselig diese Lehmhütten auch waren - nahmen ihre Aufgabe als Lehrer ernst und brachten mit jeder neuen Generation ein angemessenes Maß an Bildung in die Farmstuben. Schon die täglichen Lesungen in der Heiligen Schrift, die kein aufrechter boer versäumte, sowie die sonntäglichen Gottesdienste auf der stoep des Farmhauses vor der versammelten Familie und den schwarzen Arbeitern machten diese Kenntnisse notwendig.
Aber zu Feder und Papier zu greifen und einen Brief abzufassen war eine völlig andere Sache. Welchen Sinn hatte es auch, sich Briefe zu schreiben, kam man doch spätestens alle Vierteljahr zum nagmaal, zur Feier des Abendmahls, in Jonkheersdorp zusammen und sah sich darüber hinaus auch noch bei Beerdigungen, Hochzeiten und anderen besonderen Anlässen? Und wenn es außer der Reihe einmal etwas wirklich Wichtiges zu bereden gab, dann schwang man sich eben aufs Pferd und machte einen Besuch bei seinen Nachbarn.
Und nun sprang Adriaan vom Kutschbock, mit einem Brief für seinen Vater in der Hand. Und dieser rätselhafte Brief kam noch nicht einmal aus dem eigenen Land und auch nicht aus der benachbarten zweiten Burenrepublik, dem Oranje-Freistaat, sondern er kam aus Kimberley, und das lag bekanntlich in der britischen Kapkolonie!
Lena war mit ihrer anderthalb Jahre jüngeren Schwester Deleana aus der Küche hinaus auf die stoep, die überdachte Veranda, getreten, als das schwarze Küchenmädchen Sarie die Rückkehr des jungen baas gemeldet hatte. Tante Sophie, eine gedrungene Person von unermüdlichem Arbeitseifer und mit stets korrekt sitzender Haube und gestärkter Schürze, folgte ihnen auf dem Fuß. Als Hanna van Rissek bei der Totgeburt ihres fünften Kindes im Wochenbett gestorben war, war ihre verwitwete, kinderlose Schwester nach LEEUWENHOF gekommen, um ihrem Schwager in seiner Trauer beizustehen und vorübergehend im Haushalt und bei der Erziehung seiner vier halbwüchsigen Kinder zur Hand zu gehen. Das war vor acht Jahren gewesen, und längst war LEEUWENHOF zu ihrem Heim und der Haushalt zu ihrem unumstrittenen Herrschaftsbereich geworden.
»Ein Brief? Wer sollte Pa denn schreiben? Wir kennen niemanden in Kimberley!«, sagte Deleana altklug und tat die Sache damit ab, denn sie interessierte allein, ob Adriaan ihr den geblümten Stoff für ihr neues Sommerkleid mitgebracht hatte, das Pa ihr versprochen hatte.
»Sei nicht so vorlaut!«, wies Tante Sophie sie sofort zurecht und schoss ihr einen jener Blicke zu, der auch bei ihren schwarzen Bediensteten und Farmarbeitern gefürchtet war.
»Hoffentlich hat Adriaan den hellen und nicht den dunklen Stoff genommen!«, raunte Dele ihrer älteren Schwester zu. »Er hat mir jedenfalls versprochen, Pa zu sagen, dass es den dunklen nicht mehr gegeben habe. Tante Sophie wird zwar erst maulen, aber mit Opas Hilfe kriege ich sie schon dazu, dass sie ihn mir lässt und mir ein neues Sommerkleid näht.«
Tante Sophie, die sonst stets an den seltenen Einkaufsfahrten nach Jonkheersdorp teilnahm, schon um ein scharfes Auge darauf zu halten, dass kein unnötiges Geld ausgegeben wurde, hatte sich an diesem Morgen nicht wohl genug gefühlt, um sich die gut zwei Stunden auf holpriger Wegstrecke hin und noch einmal zurück zuzumuten. Und da ihr Vater dringende Arbeiten zu erledigen hatte und Nägel brauchte, war Adriaan diesmal allein gefahren.
»Versprochen hat Adriaan dir das nicht, Dele. Er wollte darüber nachdenken«, stellte Lena klar und wischte sich die Hände an der Küchenschürze trocken. Und wie sie ihren Bruder kannte, der es mit Ehre und Wahrheit sehr genau nahm, glaubte sie kaum, dass ihre Schwester mit dem hellen Stoff rechnen durfte. Um einer zu großen Enttäuschung vorzubeugen, fügte sie deshalb hinzu: »Ich an deiner Stelle hätte mich sowieso für den dunklen entschieden. Erstens wird er nur halb so schnell schmutzig und zweitens steht er dir zu deinem blonden Haar auch entschieden besser.«
»Aber der helle Stoff ist viel hübscher!«, widersprach Dele trotzig.
»Lass das bloß nicht Opa und Tante Sophie hören!«, flüsterte Lena mahnend. »Sie würden dir sonst wegen deiner Eitelkeit eine Strafpredigt halten!« Sie zwinkerte ihrer Schwester zu, um ihren Worten die Schärfe zu nehmen.
»Pah!«, sagte Dele großspurig. »Was versteht Opa denn schon von hübschen Kleidern!« Doch sie senkte dabei nicht nur die Stimme, sondern auch den Kopf. Denn vor Opa Willem hatte man, so alt er auch war, einen Heidenrespekt, wenn man sich das Leben nicht schwerer machen wollte, als es auch so schon war.
Opa Willem war mit seinen dreiundsiebzig Jahren so dürr und hager wie ein Ladestock und von Wind und Wetter gegerbt wie ein langer Streifen biltong, die sonnengetrocknete Fleischdelikatesse der Buren. Er saß nur wenige Schritte von ihnen entfernt in seinem Stuhl auf der Veranda und schmauchte Pfeife. Sein zotteliger grauer Bart war von hässlichen braungelben Flecken gesprenkelt. Das kam vom Pfeifensud und weil Opa Willem sabberte, wie Tante Sophie immer wieder schimpfte, ohne dass er sich jedoch etwas aus ihrem Gezeter machte.
Sein zerknittertes Gesicht, das den stummen Vorwurf erfunden haben konnte, trug wie üblich einen grimmigen Ausdruck, denn sein Sohn Stefanus hatte wieder einmal eine seiner Anweisungen an die Schwarzen rückgängig gemacht und ihnen andere Befehle gegeben. Schon vor über einem Jahrzehnt hatte er die Leitung der Farm an seinen einzigen Sohn abgetreten sehr widerstrebend allerdings. Wenn er nicht den schweren Unfall mit dem Ochsenwagen gehabt und davon einen steifen linken Arm sowie eine Gehbehinderung zurückbehalten hätte, würde er auf LEEUWENHOF das Regiment noch immer in alter Strenge führen. Und in all den Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte er sich noch immer nicht damit abfinden können, dass nun sein Sohn Stefanus das Sagen hatte.
Lena bemerkte, wie ihr Großvater einen Augenblick erstarrte, als er Adriaans Ruf vernahm. Und auch Tante Sophie reagierte äußerst merkwürdig, öffnete sie doch wie in ungläubigem Erschrecken den Mund.
»Ein Brief ...? Aus Kimberley?«, stieß Willem van Rissek aus, und seine grimmige Miene wich einem Ausdruck der Bestürzung. »Gib ihn mir, jong!« Er schoss förmlich aus seinem Stuhl hoch und streckte die Hand fordernd nach dem Brief aus.
»Er ist an Pa gerichtet«, sagte Adriaan.
»Zeig schon her!«, rief Opa Willem ungeduldig.
Tante Sophie gab keinen Ton von sich.
Adriaan blieb zögernd neben dem leichten Zweispänner stehen und blickte zu seinem Vater hinüber.
Stefanus van Rissek kam mit Hendrik, seinem zweitgeborenen Sohn, der von stillem, aber verlässlichem Wesen war, über den Hof. Er war ein stämmiger, breitschultriger Mann in abgewetzter Lederkleidung und mit einem langen pechschwarzen Vollbart.
»Was gibt es, Adriaan?«, rief er schon aus einem Dutzend Schritte Entfernung. »Habe ich richtig gehört? Du bringst einen Brief aus Jonkheersdorp?«
»Ja, Pa. Mijnheer Ohlsson, der Posthalter, ist extra über die Straße zu Cornelius in den Laden gekommen, um ihn mir auszuhändigen. Es wollten natürlich alle wissen, was es damit auf sich hat. Aber ich konnte ihnen nichts sagen, weil auch ich mit dem Absender nichts anzufangen weiß«, antwortete Adriaan und reichte seinem Vater den Brief. »Er kommt aus Kimberley. Absender ist eine gewisse Claire Rounard. Sagt dir der Name etwas, Pa?«
Stefanus van Risseks Hand zuckte bei den Worten »Kimberley « und »Claire Rounard« von dem Brief zurück, als hätte er sich daran verbrannt. Lena sah, wie der Blick ihres Vaters zum Opa hinüberging, dessen Gesicht zu einer finsteren Maske geworden war, und anschließend kurz zu Tante Sophie, um sich dann schnell wieder auf den Brief zu richten.
»Claire Rounard. Ja, das tut er ... in der Tat«, murmelte Stefanus mit merkwürdig rauer Stimme und nahm das Schreiben mit deutlichem Zögern an sich. Einen Moment stand er reglos da, dann steckte er den Brief scheinbar gleichgültig in seine Hosentasche und wechselte das Thema, indem er fragte: »Hast du die Nägel und die Quasten bekommen?«
Adriaan sah ihn verständnislos an. »Ja, natürlich, ich habe alles bekommen, was auf der Liste stand ... Aber sag mal, willst du denn nicht lesen, was diese Claire Rounard dir da aus Kimberley geschrieben hat?«
»Sicher, zu seiner Zeit«, antwortete Stefanus knapp, und in einem barschen Ton, der sonst so gar nicht seine Art war, fügte er hinzu: »Wir haben noch zwei Stunden Tageslicht und jede Menge Arbeit. Also stehlt nicht Gott die Zeit mit neugierigen Fragen und untätigem Herumstehen, sondern geht gefälligst wieder an die Arbeit. Adriaan, spann die Pferde aus und sieh zu, dass sie gut abgerieben werden. Hendrik, wir machen drüben im kraal weiter!« Damit drehte er sich abrupt um und ging mit schnellen Schritten, die etwas Überstürztes an sich hatten, über den Hof zurück zum großen Ochsengehege.
Alle vier Geschwister blickten ihrem Vater nach, verwundert über sein merkwürdiges Benehmen. Hendrik zuckte mit den Schultern und beeilte sich dann seinem Vater zu folgen.
»Kimberley! Ein noch größerer Sündenpfuhl als Johannesburg! Soll der Teufel beide holen!«, schnaubte Opa Willem verächtlich und machte eine Handbewegung, als wollte er die Diamantenstadt in der Halbwüste wegwischen wie eine lästige Schmeißfliege. Mit finsterer Miene sackte er wieder in seinen Lehnstuhl und biss auf den Pfeifenstiel, dass es knackte.
Schweigend, ohne ein Wort der Ermahnung an Lena und Deleana, wandte sich Tante Sophie um und verschwand im Haus.
Deleana überwand die Verblüffung als Erste. Sie lief zu ihrem Bruder. »Hast du den hellen Stoff gekauft?«, fragte sie ihn mit einem erwartungsvollen Glänzen in den Augen.
Adriaan sah an seiner Schwester vorbei. »Nein, ich habe den dunklen genommen. Oder hast du wirklich erwartet, dass ich lüge, nur um deine kindliche Eitelkeit zu befriedigen?«
Deleana machte ein langes Gesicht. »Du hattest es mir aber versprochen!«
»Komm mir nicht damit, Dele! Das hast du dir bloß eingeredet! « Er klang nun ärgerlich. »Du solltest dankbar sein, dass Pa und Tante Sophie dir überhaupt ein neues Kleid erlaubt haben, nachdem du doch erst letztes Jahr das gestreifte bekommen hast.«
»Das war ein altes, abgetragenes von Lena, nur ein bisschen umgenäht!«
»Ach was, Lena gibt viel zu sehr Acht auf ihre Sachen, als dass sie abgetragen wären, wenn sie aus ihnen herausgewachsen ist. Und jetzt lass mich damit zufrieden«, sagte er ungehalten, schob seine Schwester beiseite und spannte zusammen mit Tambu, dem schwarzen Stallknecht vom Stamm der Khoikhoi, die Pferde aus.
An diesem Abend herrschte eine seltsame Atmosphäre beim Essen. Adriaan erzählte von dem Klatsch und den politischen Nachrichten, die er in Jonkheersdorp erfahren hatte. Doch diesmal schien sich niemand dafür zu interessieren. Ihr Vater hörte überhaupt nicht hin und rührte sein Essen kaum an. Mit abwesendem Blick saß er am Tisch. Auch Tante Sophie und Opa Willem schien der Appetit vergangen zu sein, denn sie stocherten ebenfalls auf ihren Tellern herum. Lena und ihre Geschwister wussten, dass das sonderbare Verhalten der Erwachsenen mit dem Brief zusammenhängen musste. Aber niemand von ihnen traut sich auch nur eine vage Frage in dieser Richtung zu stellen.
Wie jeden Abend wurde aus der Bibel vorgelesen, und als es allmählich Zeit war, zu Bett zu gehen, begab sich Lena mit der großen Kanne zum Brunnen, um frisches Wasser für ihre Waschkrüge zu schöpfen.
Zwischen den Rundhütten der Schwarzen mit ihren Wellblechdächern, die sich etwas abseits des Farmhauses hinter den Viehkraals zusammendrängten, flackerte das unruhige Licht eines offenen Feuers. Die Nacht war klar und kühl nach der Wärme des Frühlingstages.
Lena hatte die Kanne gefüllt, als die erregte Stimme ihres Großvaters an ihr Ohr drang, gefolgt von einer scharfen Antwort ihres Vaters. Sie blieb stehen und sah zum schweren Ochsenwagen hinüber, der voll beladen ein sechzehnköpfiges Gespann benötigte. Der achtzehn Fuß lange Planwagen stammte aus der legendären Zeit des Großen Trecks, den Opa Willem noch als Halbwüchsiger miterlebt hatte und von dem er stundenlang fesselnd zu erzählen wusste.
Doch an diesem Abend stand Opa Willem nicht dort auf der anderen Seite des Wagens und unterhielt sich mit ihrem Vater über den Exodus der Buren aus der britischen Kronkolonie vor gut sechzig Jahren. Sie stritten sich, und ihr Streit hing mit dem Brief zusammen, den Adriaan am späten Nachmittag gebracht hatte, daran hegte Lena nicht den geringsten Zweifel.
Unwillkürlich ging sie einige Schritte auf den Wagen zu, der sich als schwarze Silhouette vor dem Nachthimmel abhob, um vielleicht das eine oder andere Wort aufzuschnappen. Es war nicht recht, zu lauschen, aber ihre Neugier war stärker als ihre Gewissensbisse.
»... diese unselige Frau!«, schimpfte Opa Willem.
»Rede von ihr nicht ständig als ›diese Frau‹, als hätte sie keinen Namen und kein Gesicht!«, entgegnete ihr Vater. »Sie hat einen Namen, und der ist Claire!«
»Magtig! Ob nun Claire oder ›diese Frau‹, sie ist tot. Punktum! Und damit sollte dieses unerfreuliche Kapitel in deinem Leben, nein, in unser aller Leben ein für alle Mal abgeschlossen und vergessen sein!«
Lena hörte ihren Vater bitter auflachen. »Oh ja, du und Mutter, ihr habt es euch schon immer sehr leicht damit gemacht. Du willst nicht daran erinnert werden, ich weiß, aber ich habe diese Frau Claire geliebt!«
»Dummes Zeug!« Opa ging schroff über den Einwand hinweg. »Dieses Weib hatte dir den Kopf verdreht, weiter nichts. Geliebt hast du allein Hanna, die Mutter deiner Kinder, und erzähl mir nichts anderes!«
»Ja, ich habe Hanna geliebt«, gab ihr Vater mit belegter Stimme zu, »aber anders ... nicht so wie Claire.«
»Ich will ihren Namen nicht mehr hören!«, herrschte Opa ihn an. »Sie ist tot. Meinetwegen pflege du deine lächerlichen Erinnerungen an die Torheiten deiner Jugend, aber lass uns und LEEUWENHOF aus dem Spiel.«
»Du vergisst Julian!«
»Ich will nichts mehr hören!« Opa Willem schrie fast.
»Warte!«, rief ihr Vater. »Die Zeiten, da ich mich deinem Willen zu beugen hatte, sind schon seit einigen Jahren vorbei. Ich verlange ...«
Lena bekam nicht mehr mit, was ihr Vater verlangte, denn sie eilte hastig zum Farmhaus zurück, weil sie fürchtete bemerkt zu werden, wenn Opa Willem wutentbrannt hinter dem Wagen hervorstürzte.
»Wo bist du bloß so lange gewesen?«, fragte Deleana, mit der Lena eine kleine Kammer teilte.
»Ich habe mir die Sterne angeschaut«, log Lena und schämte sich dafür.
Ihre Schwester verdrehte die Augen. »Manchmal bist du richtig komisch, fast so wie Pa und Opa und Tante Sophie!«
»Danke, wie nett von dir«, sagte Lena, ohne jedoch ernstlich böse zu sein, kannte sie doch die Launen und die Sprunghaftigkeit ihrer Schwester.
»Ich möchte zu gern wissen, warum sie sich wegen dieses blöden Briefes so seltsam anstellen«, überlegte Deleana laut. Doch derlei Dinge beschäftigten sie nicht wirklich, jedenfalls nicht länger, als ein Schmetterling brauchte, um von einer hübschen Blüte zur anderen zu flattern. »Aber eigentlich soll es uns ja egal sein. Was interessiert es uns auch? Sag mal, glaubst du, Tante Sophie lässt diesmal einen kleinen weißen Rüschensaum am Kragen meines neuen Kleides zu?«
»Wenn du einen guten Augenblick bei ihr erwischst ...« Lena zwinkerte und meinte dann: »Komm, lass uns beten. Es ist schon spät.«
Sie sagten ihr Nachtgebet, und Lena fügte den vertrauten Worten hinterher noch in Gedanken die Bitte um Vergebung für ihr Lauschen und ihre Lüge mit den Sternen hinzu, bevor sie das Licht löschte und in ihr Bett schlüpfte.
Dele redete noch eine Weile leise über ihr Kleid und welchen Schnitt sie sich wünschte, ohne dass sie eine Entgegnung von ihrer Schwester erwartete.
Lena war froh darüber, dass Dele ihr eigenes Geplapper genügte, denn ihr stand der Sinn wahrlich nicht danach, sich mit ihr über Schnittvorlagen, Rüschensäume und gebauschte Ärmel zu unterhalten. Ihre Gedanken kamen nicht von dem los, was sie auf dem Hof von dem Wortwechsel zwischen ihrem Vater und Opa Willem aufgeschnappt hatte, und sie wusste, dass sie in dieser Nacht noch lange wach liegen würde. Dass ihr Vater noch eine andere Frau als ihre Mutter geliebt hatte, war für sich schon aufregend genug. Doch wer war diese mysteriöse Claire Rounard, und wie konnte eine Tote ihrem Vater einen Brief aus Kimberley schreiben?
Und vor allem: Wer war Julian?
2
Als ihr Vater den Brief am nächsten Morgen nicht mit einem einzigen Wort erwähnte und sich auch in den folgenden Tagen darüber ausschwieg, nahmen Lenas Geschwister das zwar mit Verwunderung zur Kenntnis, doch diese Verwunderung war von sehr flüchtiger Natur. Die brennende Neugier, die Lena insgeheim empfand, fehlte ihnen völlig.
»Pa wird schon wissen, warum er sich nicht über den Brief auslässt«, meinte Adriaan, als sie im Geschwisterkreis einmal darüber redeten.
Hendrik nickte auf seine bedächtige Art. »Es wird etwas sehr Persönliches gewesen sein«, sagte er bedeutsam, als wäre er nach intensivem Nachdenken zu einer gewichtigen Erkenntnis gelangt.
Dass Hendrik etwas langsam und von schlichtem Gemüt war, hatte Lena an ihrem Bruder nie als Mangel empfunden und würde es auch zukünftig nicht tun. Seine Warmherzigkeit und seine Sanftmut wogen in ihren Augen mehr als reichlich auf, was ihm an Geistesgaben fehlen mochte. Sie hing sehr an Hendrik, mehr noch als an Adriaan, der sie häufig wie ein kleines Kind behandelte und alles abtat, was sie sagte. Doch in diesem Fall wünschte sie, dass Hendrik mehr Interesse und so etwas wie Spekulationsfreude gezeigt hätte.
»Also ich hätte schon gern gewusst, was es mit dieser Claire Rounard aus Kimberley auf sich hat«, warf Lena vorsichtig und in der Hoffnung ein, das Gespräch über den mysteriösen Brief am Leben zu erhalten.
Ihre Schwester zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Was kümmert uns eine Person, von der wir nie gehört haben und die zudem in Kimberley lebt.« Sie hatte für nichts anderes als für ihr neues Kleid Gedanken und wann sie es wohl zu welcher Gelegenheit zum ersten Mal tragen und zur Schau stellen konnte.
»Ja, wenn Pa nicht darüber reden will, dann geht sie uns auch nichts an!«, bekräftigte Adriaan, und sein bestimmter Ton ließ keinen Widerspruch zu. »Und deshalb werden wir ihm auch keine Fragen danach stellen.« Damit war die Angelegenheit für ihn, Hendrik und Deleana erledigt.
Nicht jedoch für Lena. Wenn sie sich auch an Adriaans Anordnung hielt, ihren Vater nicht mit Fragen zu belästigen, so konnte sie den Brief und was sie von Opa Willem und ihrem Vater zufällig auf ihrem nächtlichen Gang zum Brunnen gehört hatte doch nicht aus ihren Gedanken verbannen.
Darüber nachzusinnen und sich aus den wenigen Bruchstücken eine spannende Geschichte zu schaffen war ihr eine willkommene Ablenkung bei den Pflichten, mit denen Tante Sophie sie im Haushalt betraut hatte. Auch wenn sie mal eine Stunde ganz für sich hatte und hinunter zum Vaal River zu ihrem Lieblingsplatz unter den Weiden lief, sann sie darüber nach - während sie die Libellen beobachtete, die dicht über der Wasseroberfläche tanzten, und dem Treibholz in den schlammigen braunen Fluten des breiten Flusses nachsah. Oft las sie hier auch in Van Dykes Enzyklopädie der Weltgeschichte, dem einzigen Buch, das ganz allein ihr gehörte und das sie wie einen Schatz hütete, obwohl der feste Einband fehlte und es schon sehr zerfleddert war. Die Geschichten, die da über unvorstellbar ferne Kulturen aufgezeichnet waren, faszinierten sie, auch wenn sie vieles nicht verstand. Leider ging das Buch nur bis zum Buchstaben K, und sie hätte gern gewusst, was unter den anderen Buchstaben Weltgeschichte gemacht hatte. Aber als sie einmal zaghaft die Frage geäußert hatte, ob es nicht möglich sei, irgendwo den zweiten Band zu erstehen, da hatte Tante Sophie auf ihr Ansinnen mit scharfer Missbilligung reagiert und erklärt, dass alles, was ein rechtschaffener Mensch aus einem Buch zu erfahren habe, in der Bibel zu finden sei.
»Ich wünschte, Rachel wäre hier. Mit ihr könnte ich sprechen«, seufzte sie eines Nachmittags vor sich hin, als sie wieder einmal im Schatten ihrer Lieblingsweide am Flussufer saß. Rachel Boshof war ihre beste Freundin und genauso alt wie sie. Sie lebte mit ihren Eltern und Geschwistern auf GROEN VELD, einer der benachbarten Farmen. Mit Rachel konnte sie über alles reden, und vor ihr hatte sie keine Geheimnisse, ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester, die einfach nichts für sich behalten konnte.
Wie schade, dass Rachel und sie sich nur so selten sahen. Was hätte sie ihr jetzt nicht alles zu erzählen!
Über zwei Wochen waren seit dem Eintreffen des Briefes auf LEEUWENHOF vergangen, und der Frühling neigte sich merklich den heißen Monaten des Sommers zu. Lena hatte den Rock ihres wollenen Kleides so weit hochgeschoben, dass ihre Beine über die Knie hinaus entblößt waren. Sie liebte es so, wenn der warme Wind über ihre nackte Haut strich! Lena lachte kurz auf. »Tante Sophie würde der Schlag treffen, wenn sie mich so erwischen würde!«, rief sie einem Blaureiher zu, der oberhalb von ihr am Ufer entlangstolzierte und im Röhricht nach Beute Ausschau hielt, die er mit seinem langen Schnabel aufpicken konnte.
Sie zupfte ihren Rock wieder eine Handbreit herunter und dachte über die letzten zweieinhalb Wochen nach. Auf der Farm ging scheinbar alles seinen normalen Gang, was zu dieser Jahreszeit bedeutete, dass die Arbeit kein Ende nahm. Die mielies, die Maispflanzen, schossen kräftig aus dem Boden und verlangten die ganze Aufmerksamkeit der schwarzen Farmarbeiter, die über die Felder gingen, den Boden lockerten, Käfer vernichteten und das hartnäckig nachwachsende Unkraut ausmachten. Die Obstbäume standen in voller Blütenpracht und wurden umsummt von den Bienenschwärmen aus den eigenen Bienenstöcken, um die sich allein Opa Willem kümmerte. Die Imkerei auf LEEUWENHOF war das Einzige, wo ihm niemand hineinredete und wo allein er bestimmte, was getan wurde.
Schaf- und Rinderherden machten in diesen Wochen ebenfalls viel Arbeit, weil - wie in jedem Jahr - gefährlichen Krankheiten vorzubeugen war. Zwei trächtige Stuten brachten zudem durch komplizierte Geburten, bei denen ein Fohlen tot zur Welt kam, die Männer mehrfach um den Schlaf; allein Opa Willem ließ sich nicht um seine Bettruhe bringen.
»Ich habe genug Nächte gewacht!«, prahlte er. »Aber da ging es nicht um eine Stute, die nicht weiß, wie sie ihr erstes Fohlen zu kriegen hat, sondern darum, wann die Xhosas oder Zulus ihren nächsten Angriff unternehmen und ob wir beim kommenden Sonnenaufgang noch leben! Also macht mal nicht so viel Worte um die paar schlaflosen Nächte!«
Ja, und Dele lag Tante Sophie so lange in den Ohren, bis die an die Arbeit des Zuschneidens und Nähens ging. Den Saum aus weißer Rüsche oder Spitze am Kragen gestand sie ihrer Nichte jedoch nicht zu.
»Dafür bist du noch mindestens drei Jahre zu jung, Kind!«, erklärte Tante Sophie, als Dele wieder einmal nachbohrte. »Weiße Rüschen- oder Spitzenkragen sind etwas für junge Frauen, die alt genug sind, dass ein Mann ihnen den Hof machen darf.«
»Ja, und du bist noch nicht einmal alt genug, um dir einen ordentlichen Zopf zu flechten oder eine Schleife zu binden, die nicht ständig aufgeht«, warf Adriaan spöttisch ein und spielte damit auf Deles Nachlässigkeit und mangelnde Ausdauer an.
Dele maulte über Tante Sophies Unnachgiebigkeit, schoss Adriaan einen wütenden Blick zu und streckte ihm hinter seinem Rücken die Zunge heraus.
Ja, das Leben auf LEEUWENHOF schien in seinen vertrauten Bahnen zu verlaufen. Doch Lena spürte nicht nur, sondern wusste, dass der Schein trog. Was ihre Geschwister übersahen oder anders interpretierten, sprach für sie eine deutliche Sprache: dass Opa Willem in den ersten Tagen nach dem Eintreffen des Briefes kein Wort mit Pa redete; dass Tante Sophie ihrem Schwager sichtlich aus dem Weg ging und die abendliche Bibellesung ungewöhnlich kurz hielt, als könnte sie nicht schnell genug in ihre Kammer kommen, wo sie dann laut und wie beschwörend die Psalmen betete; dass Pa einen in sich gekehrten und oftmals abwesenden Eindruck machte. All das verriet Lena, dass die Angelegenheit mit dem Brief und mit jenem geheimnisvollen Julian immer unter der Oberfläche scheinbarer Normalität gegenwärtig war.
Am Ende der ersten Woche beobachtete Lena, wie ihr Vater und Opa Willem sich wieder einmal stritten. Ihren heftigen Gesten nach zu urteilen, schienen sie sich ordentlich in die Haare geraten zu sein. Doch hören konnte sie kein Wort, denn die beiden Männer standen weit draußen auf dem veld. Wenige Tage später kam es im Haus zu einer erneuten Auseinandersetzung zwischen ihnen. Tante Sophie schickte sie sofort nach draußen, kaum dass Opa Willem die Stimme erhoben hatte.
»... mir nicht ins Haus«, hörte Lena ihren Großvater aufgebracht sagen. »Nur über meine Leiche!«
»Ich bin hier der baas! Finde dich endlich damit ab. Ich habe mich lange genug von dir kommandieren lassen. Damit ist es ein für alle Mal vorbei!«, entgegnete ihr Vater. »Und in diesem Fall werde ich um keinen Preis nachgeben. Um keinen Preis, hast du mich verstanden? Das bin ich mir schuldig - und nicht nur mir! Ich lasse mich nicht noch einmal von dir erpressen!«
Was der Opa ihm darauf antwortete, bekam Lena nicht mehr mit, denn Tante Sophie schubste sie aus der Tür ins Freie. »Und komm erst gar nicht auf den sündigen Gedanken, irgendwo am Fenster lauschen zu wollen!«, warnte sie.
Nach diesem Streit war Opa Willem tagelang geradezu unausstehlich. An allem und jedem hatte er etwas auszusetzen und zu nörgeln. Sogar mit Tante Sophie, mit der er sich sonst so gut verstand, legte er sich an, und einmal hörte Lena ihren Großvater wütend zu ihr sagen: »Du hast ein Rückgrat aus Maisbrei, Sophie! Aber was kann man schon von Weibern erwarten!« Und damit knallte er die Tür zu seiner Kammer zu.
Danach gab es keine Streitereien mehr. Lena reimte sich zusammen, dass Opa Willem sich schließlich damit abgefunden hatte, seinen Willen nicht durchsetzen zu können, worum auch immer es bei dem Streit mit ihrem Pa gegangen war. Irgendwie hatte sie den Eindruck, als machte sich ihr Vater aber noch immer Sorgen. Manchmal beobachtete sie ihn dabei, wie er mit bedrückter Miene in die Ferne schaute. Dann spürte sie ganz stark den Wunsch, ihm zu helfen. Doch sie wusste nicht, wie.
In der letzten Oktoberwoche fuhr ihr Vater nach Jonkheersdorp, und Lena war froh, dass sie ihn begleiten durfte. Er schwieg auf der ganzen Fahrt, aber das machte ihr nichts aus. Aus einem ihr selbst unerfindlichen Grund fühlte sie sich ihrem Vater so nahe wie nie zuvor.
Jonkheersdorp bestand in seinem Kern aus nicht mehr als fünf Dutzend Häusern an zwei staubigen Straßen, die sich auf dem großen Marktplatz kreuzten. Hier war die Kirche und auch der outspan für die schweren Ochsenfuhrwerke der Farmer aus der Umgebung.
Lena wunderte sich nicht, als ihr Vater den Posthalter aufsuchte und einen Brief aufgab. Sie stellte keine Fragen, doch dass er an eine Adresse in Kimberley gerichtet war, darauf hätte sie sogar ihr kostbares Silbermedaillon verwettet, das einmal ihrer Mutter gehört und das Pa ihr zu ihrem vierzehnten Geburtstag geschenkt hatte.
Sie blieben nicht lange in Jonkheersdorp, denn es gab eigentlich auch nichts, was sie besorgen mussten. Die wenigen Sachen, die sie in RYKLOFF WAGENAARS WINKEL einkauften, sollten Lena wohl nur darüber hinwegtäuschen, dass in Wirklichkeit der Brief der Anlass für diese Fahrt gewesen war.
Nach dem kurzen Einkauf suchten sie die Kirche auf, wo ihr Vater in einem langen, stummen Gebet in der Bank verharrte. Dann fuhren sie zurück nach LEEUWENHOF.
»Du bist so bedrückt, Pa«, rutschte es Lena heraus, als sie sein trauriges Gesicht sah. »Schon seit vielen Tagen. Ich wünschte, ich könnte etwas tun, damit du nicht mehr so traurig bist.«
Berührt und betroffen zugleich, warf er einen Blick auf seine älteste Tochter. »Sieht man es mir so deutlich an, mein tiere?«
Sie nickte. »Seit der Brief gekommen ist.«
Er schwieg einen langen Moment, dann seufzte er und sagte etwas, das sie erst viel später verstehen sollte: »Nichts hat wirklich einen Anfang oder ein Ende, Lena.«
»Wie meinst du das, Pa?«
»Dinge, die man längst für abgeschlossen und für vergessen gehalten hat, hat man in Wirklichkeit Jahre, ja Jahrzehnte immer mit sich getragen«, sagte er, ohne dass es damit mehr Sinn für Lena ergab.
»Und deshalb bist du so bedrückt?«, fragte Lena, der es eigentlich egal war, dass sie nicht verstand, was er damit meinte. Es reichte ihr und erfüllte sie mit einem warmen Gefühl der Zuneigung, dass er überhaupt mit ihr über seinen Kummer redete.
»Ja, das bin ich«, gab er zu und lachte dann unsicher auf. »Aber andererseits bin ich auch ... nun ja, freudig aufgeregt. Alle Dinge haben nun mal zwei Seiten.«
»Bist du aufgeregt wegen ...« Sie stockte und fasste sich dann ein Herz. »... wegen Julian?«
Ihr Vater sah sie überrascht an. »Woher hast du diesen Namen?«
Lena erzählte es ihm.
Er lächelte nachsichtig, als sie beteuerte, diese Wortfetzen nur zufällig aufgeschnappt zu haben. »Ja, es stimmt. Es ist wegen Julian.« Er legte eine nachdenkliche Pause ein und fragte dann: »Und jetzt möchtest du wissen, wer dieser Julian ist und worum es bei der ganzen Aufregung geht, nicht wahr?«
Lena brannte darauf, genau das zu erfahren, erinnerte sich jedoch der Worte ihrer Brüder. Und deshalb antwortete sie mit artiger Zurückhaltung: »Du wirst es uns schon sagen, wenn du meinst, dass wir es wissen sollen ... und wenn der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist, Pa.«
Liebevoll tätschelte er ihren Arm. Doch sein Lächeln hatte etwas Gequältes, als er mit einem schweren Seufzer erwiderte: »Ja, der richtige Zeitpunkt ... Wann ist er gekommen? Allzu oft weiß man das erst hinterher, wenn man ihn verpasst hat.«
Lena erwartete, dass ihr Vater sie nun in das Geheimnis um Julian und diese Claire Rounard einweihen würde. Doch stattdessen fiel er in ein tiefes, brütendes Schweigen, das den ganzen restlichen Weg zurück nach LEEUWENHOF anhielt.
Erst war sie enttäuscht, tröstete sich dann jedoch damit, dass zwischen ihr und ihrem Vater in dieser geheimnisvollen Sache ja doch eine stillschweigende Übereinkunft entstanden war, von der weder ihre Geschwister noch sonst jemand auf der Farm wusste.
Lena fasste sich in Geduld, sagte ihr doch ihr Gefühl, dass er nicht mehr fern sein konnte: der richtige Zeitpunkt.
3
Zwei Wochen nach der Schafschur stattete Simon Ohlsson LEEUWENHOF einen überraschenden Besuch ab. Der grauhaarige Ohlsson führte in Jonkheersdorp zusammen mit seiner verwitweten Schwester Ester ein kleines Geschäft für Kurzwaren, das nicht genug zum Leben und doch zu viel zum Sterben abwarf. Deshalb hatte er den Postdienst im Dorf übernommen, um sich dadurch noch ein bescheidenes Zubrot zu verdienen. Angeblich hatte er die lange Fahrt auf sich genommen, weil er einige Lämmer kaufen und dieses Geschäft gern mit Stefanus machen wollte. Doch Lena ahnte, dass dies nur ein Vorwand war. Ihr Vater hatte Antwort auf seinen Brief bekommen, und dies sollte geheim bleiben.
An jenem Tag waren zufällig auch ihr Nachbar Hennig Bloem und sein Sohn Fabricius, mit sechzehn das älteste seiner Kinder, mit einem Fuhrwerk neuer Fässer von BLOEMHOF herübergekommen. Stefanus van Rissek und Hennig Bloem waren schon in ihrer Jugend Freunde gewesen und gemeinsam stolz darauf, dass unter ihrer Leitung ihre beiden Farmen mit Abstand zu den am besten bewirtschafteten und ertragreichsten im Bezirk von Jonkheersdorp geworden waren.
BLOEMHOF hatte mit Bonga, der vom Stamm der Griquas war, den fähigsten Fassbinder weit und breit. Dafür konnte es niemand auch nur annähernd mit der Schmiedekunst von Titus aufnehmen, einem baumlangen Zulu mit dem Kreuz eines Ochsen, der vor vier Jahrzehnten als Hirtenjunge nach LEEUWENHOF gekommen war und ganz zufällig seine Begabung im Umgang mit Hammer und Amboss entdeckt hatte. Wenn es etwas Besonderes zu schmieden gab, kam Hennig Bloem damit nach LEEUWENHOF, wo Titus sich der Sache annahm. Dafür belieferte er seinen Freund und Nachbarn regelmäßig mit Fässern aus Bongas Fassbinderwerkstatt.
Fabricius, ein schlaksiger Bursche mit den kantigen Gesichtszügen seines Vaters, nutzte die Gelegenheit, um Adriaan und Hendrik mit seinem neuen Gewehr zu beeindrucken, das er von seinem Vater zu seinem sechzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte.
»Ein 7-mm-Mauser-Karabiner aus Deutschland!«, erklärte er stolz und warf Lena einen erwartungsvollen Blick zu, als erhoffte er, dass ihr nun vor maßloser Bewunderung der Unterkiefer herunterfiel.
»Was du nicht sagst«, meinte Adriaan mit einem Anflug von Neid, denn er besaß nur ein älteres Lee-Enfield-Gewehr. Dass es sich um einen deutschen Mauser-Karabiner handelte, den Fabricius da vom Wagen geholt hatte, dafür hatte es bei ihm und Hendrik nur eines einzigen Blickes bedurft. Sie waren wie fast alle männlichen Buren mit einer Flinte in der Hand groß geworden. Mit dem Sattel eines Pferdes verwachsen zu sein und eine fast traumwandlerische Treffsicherheit mit dem Gewehr zu haben, das war seit über zwei Jahrhunderten eine aus dem Überlebenskampf geborene burische Tradition.
»Ich habe auch einen neuen Patronengurt für die Mauser- Ladestreifen bekommen«, fuhr Fabricius fort. »Fünf Patronen passen in so einen Streifen, die damit alle auf einmal geladen werden. Bei der neuen Lee-Metford, dem besten Gewehr der Engländer, müssen die Patronen dagegen immer noch einzeln geladen werden.«
Adriaan hätte sonst was dafür gegeben, um so ein modernes Gewehr zu besitzen. Doch eher hätte er sich die Zunge abgebissen, als das jetzt vor Fabricius einzugestehen.
Auch Hendrik zeigte sich nicht beeindruckt, empfand im Gegensatz zu seinem älteren Bruder aber auch keinen versteckten Neid. Der Gedanke, sich so einen Mauser-Karabiner zu wünschen, kam ihm gar nicht. Er war mit seiner alten Tower-Flinte vollauf zufrieden. Erst neulich hatte er eine Antilope auf zweihundert Yard mit einem sauberen Schuss erlegt, und das bei nicht ganz idealen Lichtverhältnissen. Ein neues, schneller schießendes Gewehr machte niemand zu einem besseren Schützen. Es verleitete höchstens dazu, mehr Munition zu vergeuden.
Lena wusste mit einem Gewehr umzugehen, interessierte sich jedoch nicht für technische Details.
Dele war von ihnen die Einzige, die Fabricius den Respekt zollte und ihm die Bewunderung schenkte, die er als stolzer Besitzer des Mauser-Karabiners erwartete. Sie machte ihm wegen dieses wunderbaren Geschenkes die gebührenden Komplimente und fragte ihn nach diesem und jenem.
Fabricius tat es sichtlich wohl. »Ja, es gibt nichts Besseres als das!«, beteuerte er und strich fast liebevoll über den Lauf des Karabiners. Das wollte Adriaan so nicht hinnehmen. »Kann schon sein, dass man damit beim Laden Zeit spart. Aber ob du mich damit ausstichst, steht auf einem ganz anderen Blatt. Ich hol dir mit meiner Lee-Enfield jeden Vogel genauso schnell vom Himmel wie du mit deiner Mauser, und Hendrik sticht dich sogar noch mit seiner alten Tower aus!«
»Wenn man gleich beim ersten Mal trifft, braucht man gar keinen zweiten Schuss ... schon gar nicht fünf«, fügte Hendrik trocken hinzu.
Fabricius grinste breit, hatte er doch nur darauf gewartet, herausgefordert zu werden. So gut ihr Verhältnis sonst auch war, was ihre Reit- und Schießkünste betraf, bestand seit vielen Jahren eine Rivalität zwischen den Jungen, besonders zwischen Adriaan und ihm. Jeder wollte der Beste sein. Doch wer von ihnen der Beste war, hatte bisher nie abschließend geklärt werden können.
Nun war also das erhoffte Stichwort gefallen. Fabricius warf sich in die Brust und fragte fast gönnerhaft: »Und du glaubst wirklich, mir mit deinem alten Prügel das Wasser reichen zu können? Bist du bereit, das auch unter Beweis zu stellen, oder willst du es bloß bei Worten belassen, Adriaan?«
»Such dir aus, wann du die Niederlage einstecken willst!«, forderte Adriaan ihn auf, das breite Grinsen erwidernd.
»Warum klären wir das nicht gleich hier und jetzt?«, schlug Fabricius vor.
Adriaan zuckte mit den Schultern. »Von mir aus. Ich hätte dir die bittere Enttäuschung zwar gern noch etwas erspart.«
»Nimm Abschied von deinen Träumen«, erwiderte Fabricius schlagfertig.
»Ihr macht ein Wettschießen?«, stieß Dele aufgeregt aus.
Adriaan warf ihr einen leicht herablassenden Blick zu. »Haben wir uns vielleicht so angehört, als ginge es ums Einsammeln von Ochsendung?« Er wandte sich wieder dem Nachbarssohn zu. »Also gut, schießen wir es aus. Aber stehend freihändig und auf bewegliche Ziele.«
»Einverstanden.«
»Nun, dann lasst uns am besten runter zum Vaal gehen.«
»Ich hol schnell unsere Gewehre und Munition!«, bot Hendrik sich an.
»Darf ich mit, Adriaan?«
»Dele und Lena können meinetwegen ruhig zusehen«, kam Fabricius Adriaan bevor. »Oder hast du vielleicht Angst, dich vor deinen Schwestern zu blamieren?«
»Pah!«, wehrte Adriaan ab. »Ich habe bloß nicht gewusst, dass du Zuschauer brauchst, um einen einigermaßen sauberen Schuss zustande zu bringen. Aber wenn du Dele und Lena unbedingt dabeihaben willst, soll es mir recht sein.«
Fabricius warf Dele und Lena einen Blick zu, als erwartete er so etwas wie ein Lächeln des Dankes, dass sie mitgehen und bei dem Wettkampf dabei sein durften. Lena war nicht halb so versessen darauf wie ihre Schwester, die aus ihrer Freude keinen Hehl machte. Sie zog die friedvolle Stille und den Blumenduft des Vaal krachenden Schüssen und beißendem Pulverdampf allemal vor. Aber weil sie Fabricius' Gefühle nicht verletzen wollte, behielt sie das für sich.
In diesem Augenblick kam der Einspänner von Simon Ohlsson in Sicht. Und als wenig später Tante Sophie nach Lena rief, damit sie ihr bei der Bewirtung der Gäste gefälligst zur Hand ging, da ärgerte sie sich diesmal nicht darüber, dass dieser Tadel immer nur ihr galt und dass Dele stets mit Nachsicht rechnen konnte. Sollte Dele nur ihr Vergnügen mit Fabricius, Adriaan und Hendrik unten am Fluss haben und ihnen mit ihrem oberflächlichen Geplapper auf die Nerven fallen. Kein Wettschießen konnte auch nur annähernd so spannend sein wie das Geheimnis um Julian und Claire Rounard, das ihr schon seit Wochen keine Ruhe mehr ließ - und das nun kurz davor stand, gelüftet zu werden. Jedenfalls hoffte sie, dass mit dem unerwarteten Besuch des Posthalters der »richtige Zeitpunkt« in unmittelbare Nähe gerückt war.
Lena versorgte die Männer, die auf der schattigen Veranda Platz genommen hatten, mit frischem Kaff ee sowie Ingwerplätzchen und Honigbrot. Wie immer, wenn Buren in diesen unruhigen Zeiten zusammenkamen, wandte sich das Gespräch rasch der Politik zu und da insbesondere der aggressiven Politik der britischen Krone. England setzte die freien Burenrepubliken unter immer stärkeren politischen Druck. Das Ziel war allen klar: Das britische Empire, unersättlich in seiner imperialistischen Expansion, streckte seine Hände nach dem Oranje-Freistaat und dem Transvaal aus, um sie seinem Kolonialreich einzuverleiben.
»1806 sind sie mit ihrer Flotte in Kapstadt gelandet und haben uns, nachdem wir dort schon hundertfünfzig Jahre gesiedelt hatten, um unser Land gebracht und uns kurzerhand zu britischen Untertanen erklärt!«, wetterte Hennig Bloem. »Kraft ihrer Kanonen!«
»Der Teufel hole die Engländer!« Opa Willem spuckte treffsicher von der Veranda in den Sand des Hofes.
»Dann haben sie uns jahrelang geknechtet und uns die blutigen Grenzkriege mit den Xhosas am Great Fish River ausbaden lassen«, fuhr Hennig Bloem grimmig fort. »Sie haben es so schlimm getrieben, dass uns gar nichts anderes übrig geblieben ist, als unsere Heimat und die unserer Vorfahren aufzugeben, jenseits der Grenzen der Kapkolonie eine neue Heimat zu suchen und Wildnis urbar zu machen.«
»Ha, der große Exodus unseres Volkes in den Dreißiger- und Vierzigerjahren!«, rief Opa Willem. »Den legendären Großen Treck, ich habe ihn noch erlebt! Wie Gottes erwähltes Volk aus der Gefangenschaft der Ägypter ins Gelobte Land gezogen ist, so haben wir damals die Fesseln unserer britischen Knechtschaft abgeworfen. Wir sind mit gerade geborenen Babys und Alten auf unsere veldschoner gestiegen und haben nach Jahren des Treckens endlich unser gelobtes, uns von Gott vorbestimmtes Land gefunden! «
Simon Ohlsson nickte zustimmend. »Ja, das haben wir. Und dem Allmächtigen sei Dank für seine Vorbestimmung und Führung «, sagte er, schien aber nicht so recht bei der Sache zu sein.
Opa Willem deutete mit seiner Pfeife in die Runde, so als wollte er jedem Einzelnen mit dem langen Stiel vor die Brust pochen. »Ja, ich war dabei, kaum älter als Lena. Aber ich habe die Arbeit eines Mannes getan auf diesem Treck - und gekämpft wie ein solcher gegen bis an die Zähne bewaffnete Zulukrieger ...«
»Lass mal gut sein, Vater«, fuhr Stefanus ihm sanft ins Wort. »Wir alle kennen sowohl die Geschichte unseres Volkes im Allgemeinen als auch deine Geschichten im Besonderen.«
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Autoren-Porträt von Rainer M. Schröder
Rainer M. Schröder, Jahrgang 1951, lebt nach vielseitigen Studien und Tätigkeiten in mehreren Berufen seit 1977 als freischaffender Schriftsteller in Deutschland und Amerika. Seine großen Reisen haben ihn in viele Teile der Welt geführt. Dank seiner mitreißenden Romane ist er einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren.www.rainermschroeder.com
Bibliographische Angaben
- Autor: Rainer M. Schröder
- 432 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009787
- ISBN-13: 9783868009781
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