Laqua - Der Fluch der schwarzen Gondel
„Hunderte von Jahren hatte er auf dem Grund des Wassers
gewartet, eingesponnen in die Strömung und die treibenden
Algen. Doch jetzt erwacht er. Wasser verwirbelte, als er mit
seiner Gondel nach oben stieg und die Oberfläche...
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Produktinformationen zu „Laqua - Der Fluch der schwarzen Gondel “
„Hunderte von Jahren hatte er auf dem Grund des Wassers
gewartet, eingesponnen in die Strömung und die treibenden
Algen. Doch jetzt erwacht er. Wasser verwirbelte, als er mit
seiner Gondel nach oben stieg und die Oberfläche durchstieß …“
Mara und Jan sind nicht begeistert, dass sie ihre Ferien bei Verwandten in einem alten, verfallenen Palazzo in Venedig verbringen sollen. Und schon kurz nach der Ankunft merken sie, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht. Seltsame Schattenwesen ziehen die beiden in ihren Sog und in eine Welt der Geister- und Spiegelwesen – faszinierend, schön und todbringend.
„Fantasy vom Feinsten!“ (Münchner Abendzeitung)
„Nina Blazon schreibt betörend schön, raumgreifend poetisch, manchmal geradezu cineastisch.“ (Mittelhaardter Rundschau)
Ab 10 Jahren
Lese-Probe zu „Laqua - Der Fluch der schwarzen Gondel “
Laqua - Der Fluch der schwarzen Gondel von Nina BlazonDER DUNKLE
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Hunderte von Jahren hatte er auf dem Grund des Wassers gewartet, eingesponnen in die Strömung und die treibenden Algen. Doch jetzt erwachte er. Wasser verwirbelte, als er mit seiner Gondel nach oben stieg und die Oberfläche durchstieß. Bäche strömten aus den Lecks seines morschen Bootes, aber trotzdem schwamm das magische Gefährt.
Der Dunkle stand auf, streckte sich, knochige Finger knackten. Dann griff er nach dem langen Stab, Riemen genannt, mit dem das Boot gerudert wurde. Regen fegte ihm ins Gesicht. Der Sturmwind ließ seinen langen, zerlumpten Mantel flattern.
Er wandte den Kopf und betrachtete ein schlankes, hohes Gebäude am Ufer des Canal Grande. Es war rot gestrichen und hatte hohe schmale Bogenfenster. In früheren Jahrhunderten war das Gebäude ein prächtiger Palast gewesen. Könige waren darin zu Gast gewesen. Prinzessinnen hatten auf den Marmorböden lachend ihre Schuhe durchgetanzt.
Heute prangte über der Eingangstür der Schriftzug Hotel Dandolo. Die meisten Fenster waren dunkel, nur im dritten Stock schimmerte Licht. Hinter violetten Vorhängen flackerte so etwas wie Kerzenschein. Und jetzt sah der Dunkle auch einen Schatten hinter der Gardine. Eine Frau trat ans Fenster und zog den Vorhang auf. Im Gegenlicht war nur ihr Umriss zu sehen: wilde, kinnlange Locken, ein schlanker Hals, eine zierliche, aber kräftige Gestalt.
Der Dunkle lächelte boshaft. Er spürte es genau: Das war SIE, auf die er Hunderte von Jahren ungeduldig gewartet hatte und deren Ankunft ihn nun aus seinem Schlaf erweckt hatte. Sie würde ihm nicht entkommen. Er musste seine Diener zusammenrufen, dann würde die Stadt bald ihm allein gehören. Endlich. Das heisere Gelächter, das er nun ausstieß, kräuselte das Wasser, als würde der Canal Grande eine Gänsehaut bekommen.
DER ROTE PALAZZO
»SARAI KOMM ENDLICH vom Fenster weg und setz dich zu uns an den Tisch«, sagte Nonna streng.
Sara zögerte zwar, aber schließlich gehorchte sie ihrer Großmutter. Das war wirklich erstaunlich, fand Kristina. Normalerweise ließ ihre Tante Sara sich von niemandem etwas sagen. Aber wenn die Großmutter - »Nonna«, wie sie auf Italienisch hieß - etwas befahl, dann traute sich offenbar niemand zu widersprechen.
»Ich wollte nur sehen, ob die Fenster fest verschlossen sind«, murmelte Tante Sara und setzte sich wieder an den Tisch. »Bei dem Sturm muss man ja Angst haben, dass die Scheiben davonfliegen.«
Das stimmte. An diesem Winterabend schneite es nicht in Venedig, es gewitterte und stürmte, dass die Fensterscheiben nur so zitterten. Und auch sonst war es das gruseligste Weihnachten aller Zeiten. Das Hotel Dandolo war bis zum Januar geschlossen. Die zwölf Gästezimmer standen also leer, was den alten Palazzo wie ein Spukhaus wirken ließ. Sara hatte sich zwar alle Mühe gegeben, Nonnas Wohnzimmer im dritten Stock in aller Eile festlich herzurichten, aber hier nützte auch kein Weihnachtsschmuck.
»Es sieht trotzdem aus wie in Draculas Gruft«, hatte Jan Kristina heimlich zugeflüstert. Und ausnahmsweise war Kristina mit ihrem jüngeren Bruder einer Meinung. In dem alten Gemäuer zog es, dass die Kerzenflammen flackerten und die lila Vorhänge sich leicht bewegten. Nonna hatte jeden einzelnen Fenstergriff im Hotel mit Silberkordeln umwickelt, an denen Glasperlen aufgefädelt waren. Die losen Enden dieser Kordeln schwangen in der Zugluft sacht hin und her, als würden Geisterkatzen vorsichtig mit ihnen spielen. Im Hintergrund schmetterte ein altes Radio italienische Schlager und neben dem Tisch erhob sich ein giftgrüner Weihnachtsbaum aus Plastik. Die Lichterkette, die ihn umschlang, erinnerte an eine leuchtende Schlange, die den armen Plastikbaum erwürgen wollte. Sie hatte einen Wackelkontakt und flackerte, und das machte jedes Mal: dzzzzd, dzzzd, dzzzd.
»Na dann, Buon Natale«, sagte Nonna und hob ihr Glas. Es klang genauso fröhlich, als würde sie einer Beerdigung beiwohnen.
»Frohe Weihnachten«, antworteten Sara, Jan und Kristina brav wie aus einem Mund. Sara bemühte sich sogar um ein Lächeln, was ihr nicht gut gelang. Kristina wusste nicht, was los war, aber Tante Sara war schon seit ihrem Wiedersehen vor zwei Tagen blass und niedergeschlagen. Auch jetzt waren ihre Augen gerötet und ein wenig verschwollen, als hätte sie heimlich geweint.
Kristina nahm einen Schluck von dem Orangensaft und beobachtete über den Rand ihres Glases, wie ihre Urgroßmutter an dem Wein nippte. Mit ihrer spitzen Nase, dem dünnen Hals und ihren flinken Bewegungen erinnerte die kleine alte Dame ein bisschen an einen Vogel. Dazu passten auch das violette Strickkleid und der fedrig-flauschige Schal - ebenfalls lila. Sogar die weißen Haare hatten einen fliederfarbenen Schimmer. Sie sah genauso aus wie auf den Fotos im Familienalbum zu Hause.
Sara dagegen sah sich heute gar nicht ähnlich. Kristina und Jan hatten ihre Tante in den letzten sechs Jahren, seit sie bei ihnen ausgezogen war, meist nur noch auf Fotos gesehen, die sie aus allen Ecken der Welt schickte. Auf den Fotos trug Sara stets einen orangefarbenen Overall und eine Schwimmweste. Mit zerzaustem Haar, einem breiten Lächeln und kämpferisch funkelnden Augen saß sie in irgendeinem Schlauchboot, um die Wale zu retten. Und wenn sie nicht mit Greenpeace unterwegs war, sondern auf Stippvisite bei ihrem großen Bruder Flavio - Kristinas Vater -, sah man sie nur in Jeans, Sneakers und zu großen Schlabberpullis. Für etwas anderes hatte sie ohnehin keinen Platz, sie besaß in ihrer WG in Berlin keinen Kleiderschrank, sondern nur einen großen Koffer.
Kristina kam sie gar nicht vor wie eine Tante - eher wie eine ältere Schwester. Und das lag nicht nur daran, dass Sara erst zweiundzwanzig war. Schließlich hatte Sara seit dem Unfalltod ihrer Eltern vor zwölf Jahren bei ihrem erwachsenen Bruder in Deutschland gelebt, bis sie dann noch sehr jung dort ausgezogen war. Zu diesem Zeitpunkt waren Kristina fünf und ihr Bruder Jan drei Jahre alt gewesen.
Aber heute Abend sah ihre junge Tante ausnahmsweise einmal richtig erwachsen aus. Sie trug eine goldbraune Seidenbluse zu einem feinen Samtrock und hatte sogar versucht, ihre störrischen dunklen Locken zu einer hübschen Frisur zu kämmen. Eine Silberspange, die Nonna ihr geschenkt hatte, hielt ihr eine Locke aus der Stirn. Nonna hatte darauf bestanden, dass sie alle am Festabend »anständig aussahen«. Für Kristina hatte sie deshalb aus irgendeinem Schrank ein altmodisches lila Kleid mit einem weißen Spitzenkragen und einer Silberbrosche hervorgezerrt. Es war ein bisschen zu groß, und es roch nach Lavendel, aber es war immer noch besser als Jans Verkleidung.
Nonna setzte ihr Glas hart auf dem Tisch auf. »Ach ja, Sara, wann, sagtest du doch gleich, reist du mit den beiden wieder zurück nach Deutschland?«
Jan hätte sich fast an seinem Orangensaft verschluckt. »Wir sind nicht taub«, meldete Kristina sich zu Wort. »Außerdem verstehen wir ganz gut Italienisch. Papa hat es uns beigebracht. Und wir haben es uns nicht ausgesucht, über Weihnachten herzukommen.«
»Genau!«, ereiferte sich Jan trotzig. »Das war ganz allein Tante Saras Idee. Von mir aus können wir gleich wieder zurückfahren. Und es ist fies, dass ich hier nicht Skateboard fahren darf!«
Nonna sah die Geschwister so verwundert an, als wären sie zwei Hauskatzen, die überraschenderweise zu sprechen begonnen hatten.
»So, so, aha«, sagte sie mürrisch. »Na, von ordentlichem Italienisch seid ihr aber noch ein gutes Stück entfernt.« Und, an Sara gewandt, fügte sie hinzu: »Was denkst du dir eigentlich? Jahrelang weigerst du dich, nach Venedig zu kommen und jetzt platzt du hier aus heiterem Himmel mit zwei Kindern rein. Noch dazu wie ein Überfallkommando am Weihnachtstag.«
»Wir fahren zurück, sobald in Flavios Wohnung der Wasserrohrbruch repariert ist und die Böden wieder trocken sind«, antwortete Sara. »In ein oder zwei Wochen.«
»Ein oder zwei Wochen?«, rief Nonna entsetzt aus. »Warum hast du sie nicht zu dir nach Berlin mitgenommen?«
Sara zuckte zusammen und schluckte. »Weil das in der WG eben nicht ging«, murmelte sie.
»So, so«, schnappte Nonna. »Und was ist mit den Verwandten ihrer Mutter? Haben die kein Herz für Halbwaisen?«
Kristina starrte Nonna nur fassungslos an. Ihre Mutter war bei Jans Geburt gestorben. Neun Jahre war das nun her. Aber trotzdem traf das Wort Halbwaise sie immer noch wie ein Schlag. Wie konnte ihre Urgroßmutter nur so gemein sein? Andererseits war die alte Frau offenbar einfach herzlos: Als Sara mit elf Jahren zur Waise geworden war, hatte Nonna sie nicht zu sich genommen, sondern sie schlichtweg zu deren erwachsenem Bruder Flavio - Jans und Kristinas Vater - nach Deutschland abgeschoben.
Jetzt bekam auch Tante Sara rote Flecken auf den Wangen. Ein sicheres Zeichen, dass sie wütend wurde.
»Die Verwandtschaft ihrer Mutter lebt nun mal sehr weit weg in Schweden«, erklärte sie mit mühsamer Beherrschung. »Wir hätten fliegen müssen und Kristina hat Höhenangst. Außerdem haben sie die Kinder seit Jahren nicht gesehen.«
»Aber ich, was?«, grummelte Nonna. »Und warum sind sie nicht bei ihrem Vater?«
Sara schnaubte. »Das habe ich dir doch schon erklärt. Flavio ist bis Mitte Februar auf Geschäftsreise in Afrika. Es ist ein sehr wichtiger Auftrag, er konnte die beiden nicht mitnehmen. Und bis er zurückkommt, kümmere ich mich um sie.« Sie seufzte, als wäre das eine Strafe. Was es für sie vermutlich auch war. Aber als ihr Bruder, der immer für sie da gewesen war, sie gebeten hatte, sich um ihre Nichte und ihren Neffen zu kümmern, hatte sie nicht Nein sagen können. »Und außerdem«, setzte Sara spitz hinzu, »du bist die Urgroßmutter der Kinder. Andere Nonnas würden sich freuen, ihre Familie endlich einmal an Weihnachten um sich zu haben!«
Nonna verzog den Mund, als hätte sie Zahnschmerzen, aber sie sagte nichts mehr. Sara hatte gewonnen. Aus dem Augenwinkel konnte Kristina erkennen, dass Jan schief grinste. Aber sie traute sich immer noch nicht, ihren Bruder direkt anzuschauen. Sonst, das wusste sie ganz sicher, würde sie trotz allem losplatzen und nicht mehr aufhören zu lachen. Und Sara hatte ihnen eingeschärft, ihre bärbeißige Urgroßmutter nicht durch Herumgetobe oder lautes Gelächter noch mehr zu reizen.
Es blitzte. Die unzähligen alten Spiegel in dem Raum wurden für einen Augenblick ganz hell, als wären es riesige, zwinkernde Augen. Dann gab es einen so lauten Donnerschlag, dass Kristina beinahe das Glas aus der Hand gefallen wäre. Fensterscheiben zitterten.
Selbst ihre unerschütterliche Urgroßmutter schaute besorgt zum Fenster, als würde sie irgendetwas Schlimmes befürchten. Dort wo Kristina saß, konnte sie in einem ovalen Silberspiegel das hohe Bogenfenster sehen, an dem Sara eben noch gestanden hatte. Da war nichts Ungewöhnliches. Nur der Regen klatschte gegen die Scheiben und die Perlenkordel schaukelte hin und her.
Alle zuckten zusammen, als noch ein Donnerschlag ertönte - doch diesmal kam er aus dem Hotel. Eine Tür war mit lautem Knall zugefallen. Und jetzt hörte man schlurfende, schwere Schritte und ein seltsam dumpfes Ächzen. Kristina schluckte. Jetzt bekam sie doch Herzklopfen. Jan duckte sich sofort unter den Tisch. Seit ihrer Ankunft behauptete er steif und fest, dass es in dem Hotel Gespenster gäbe, die in den Ecken flüsterten. Kristina glaubte nicht an so etwas, aber plötzlich war sie sich nicht mehr so sicher.
Die Klinke wurde heruntergedrückt und schnappte wieder nach oben, dann rumste es, als würde jemand mit einer Schuhspitze gegen Holz treten. »Tür auf, Cecilia!«, brummte eine tiefe, freundliche Stimme. »Oder willst du, dass dein Besuch an Weihnachten verhungert?«
Etwas Erstaunliches geschah: Nonnas finstere Miene hellte sich auf. »Oh, er ist schon hier«, rief sie und gab Kristina einen Wink. »Na los, Mädchen, lass ihn rein!«
Das ließ sich Kristina nicht zweimal sagen. Sie rannte zu der schweren Flügeltür, riss sie auf - und sah sich einem Riesen gegenüber, der eine große Plastikkiste in den Händen hielt. Darauf prangte das Logo eines Restaurants: eine Meerjungfrau, die Messer und Gabel in den Händen hatte, und dazu die Aufschrift La Sirena Affamata - Zur hungrigen Meerjungfrau. Als der Mann eintrat, tropfte das Wasser von seiner Regenjacke auf den Boden.
»Brrr! Was für ein Hundewetter«, rief er und schüttelte sich. Tropfen spritzten nach allen Seiten, dann rutschte die Kapuze der Regenjacke in seinen Nacken. Zum Vorschein kam ein rundes, gutmütiges Gesicht mit wasserblauen Augen. Graues Haar stand wirr vom Kopf ab. »Hallo, du musst Kristina sein!«, sagte der alte Mann. Kristina konnte gar nicht anders, als ihn anzulächeln, so nett wirkte er. »Na, du siehst deinem Vater aber ähnlich«, staunte der Fremde. »Als Flavio in deinem Alter war, ist er nachmittags gerne in meine kleine osteria gekommen und hat dort Kellner gespielt. Du hast dasselbe dunkle Haar und seine braunen Augen, eine richtige Venezianerin!« Mit diesen Worten stellte er die Kiste auf den Boden. »Und wo ist meine kleine Sara?«
»Cesare!« Sara rannte herbei und umarmte den Alten, ohne darauf zu achten, dass sie dabei nass wurde.
»Oh, aber klein bist du ja nun wirklich nicht mehr«, lachte Cesare. »Wie die Zeit verflogen ist. Ich sehe dich noch vor mir, wie du als Kind den Sohn des Bürgermeisters in den Kanal geschubst hast, weil er einen Stein nach einer Katze geworfen hatte. Seitdem haben dich die Leute la paladina degli gatti - die Katzenbeschützerin - genannt.«
Sara schmunzelte. »Das ist lange her.«
»Mir kommt es vor wie gestern«, antwortete Cesare und zwinkerte ihr zu. Dann holte er Schüsseln voller Essen aus der Kiste und rief munter: »So, ich habe Leckereien mitgebracht. Ich hoffe, ihr habt Hunger!«
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© 2012 cbj, München
Hunderte von Jahren hatte er auf dem Grund des Wassers gewartet, eingesponnen in die Strömung und die treibenden Algen. Doch jetzt erwachte er. Wasser verwirbelte, als er mit seiner Gondel nach oben stieg und die Oberfläche durchstieß. Bäche strömten aus den Lecks seines morschen Bootes, aber trotzdem schwamm das magische Gefährt.
Der Dunkle stand auf, streckte sich, knochige Finger knackten. Dann griff er nach dem langen Stab, Riemen genannt, mit dem das Boot gerudert wurde. Regen fegte ihm ins Gesicht. Der Sturmwind ließ seinen langen, zerlumpten Mantel flattern.
Er wandte den Kopf und betrachtete ein schlankes, hohes Gebäude am Ufer des Canal Grande. Es war rot gestrichen und hatte hohe schmale Bogenfenster. In früheren Jahrhunderten war das Gebäude ein prächtiger Palast gewesen. Könige waren darin zu Gast gewesen. Prinzessinnen hatten auf den Marmorböden lachend ihre Schuhe durchgetanzt.
Heute prangte über der Eingangstür der Schriftzug Hotel Dandolo. Die meisten Fenster waren dunkel, nur im dritten Stock schimmerte Licht. Hinter violetten Vorhängen flackerte so etwas wie Kerzenschein. Und jetzt sah der Dunkle auch einen Schatten hinter der Gardine. Eine Frau trat ans Fenster und zog den Vorhang auf. Im Gegenlicht war nur ihr Umriss zu sehen: wilde, kinnlange Locken, ein schlanker Hals, eine zierliche, aber kräftige Gestalt.
Der Dunkle lächelte boshaft. Er spürte es genau: Das war SIE, auf die er Hunderte von Jahren ungeduldig gewartet hatte und deren Ankunft ihn nun aus seinem Schlaf erweckt hatte. Sie würde ihm nicht entkommen. Er musste seine Diener zusammenrufen, dann würde die Stadt bald ihm allein gehören. Endlich. Das heisere Gelächter, das er nun ausstieß, kräuselte das Wasser, als würde der Canal Grande eine Gänsehaut bekommen.
DER ROTE PALAZZO
»SARAI KOMM ENDLICH vom Fenster weg und setz dich zu uns an den Tisch«, sagte Nonna streng.
Sara zögerte zwar, aber schließlich gehorchte sie ihrer Großmutter. Das war wirklich erstaunlich, fand Kristina. Normalerweise ließ ihre Tante Sara sich von niemandem etwas sagen. Aber wenn die Großmutter - »Nonna«, wie sie auf Italienisch hieß - etwas befahl, dann traute sich offenbar niemand zu widersprechen.
»Ich wollte nur sehen, ob die Fenster fest verschlossen sind«, murmelte Tante Sara und setzte sich wieder an den Tisch. »Bei dem Sturm muss man ja Angst haben, dass die Scheiben davonfliegen.«
Das stimmte. An diesem Winterabend schneite es nicht in Venedig, es gewitterte und stürmte, dass die Fensterscheiben nur so zitterten. Und auch sonst war es das gruseligste Weihnachten aller Zeiten. Das Hotel Dandolo war bis zum Januar geschlossen. Die zwölf Gästezimmer standen also leer, was den alten Palazzo wie ein Spukhaus wirken ließ. Sara hatte sich zwar alle Mühe gegeben, Nonnas Wohnzimmer im dritten Stock in aller Eile festlich herzurichten, aber hier nützte auch kein Weihnachtsschmuck.
»Es sieht trotzdem aus wie in Draculas Gruft«, hatte Jan Kristina heimlich zugeflüstert. Und ausnahmsweise war Kristina mit ihrem jüngeren Bruder einer Meinung. In dem alten Gemäuer zog es, dass die Kerzenflammen flackerten und die lila Vorhänge sich leicht bewegten. Nonna hatte jeden einzelnen Fenstergriff im Hotel mit Silberkordeln umwickelt, an denen Glasperlen aufgefädelt waren. Die losen Enden dieser Kordeln schwangen in der Zugluft sacht hin und her, als würden Geisterkatzen vorsichtig mit ihnen spielen. Im Hintergrund schmetterte ein altes Radio italienische Schlager und neben dem Tisch erhob sich ein giftgrüner Weihnachtsbaum aus Plastik. Die Lichterkette, die ihn umschlang, erinnerte an eine leuchtende Schlange, die den armen Plastikbaum erwürgen wollte. Sie hatte einen Wackelkontakt und flackerte, und das machte jedes Mal: dzzzzd, dzzzd, dzzzd.
»Na dann, Buon Natale«, sagte Nonna und hob ihr Glas. Es klang genauso fröhlich, als würde sie einer Beerdigung beiwohnen.
»Frohe Weihnachten«, antworteten Sara, Jan und Kristina brav wie aus einem Mund. Sara bemühte sich sogar um ein Lächeln, was ihr nicht gut gelang. Kristina wusste nicht, was los war, aber Tante Sara war schon seit ihrem Wiedersehen vor zwei Tagen blass und niedergeschlagen. Auch jetzt waren ihre Augen gerötet und ein wenig verschwollen, als hätte sie heimlich geweint.
Kristina nahm einen Schluck von dem Orangensaft und beobachtete über den Rand ihres Glases, wie ihre Urgroßmutter an dem Wein nippte. Mit ihrer spitzen Nase, dem dünnen Hals und ihren flinken Bewegungen erinnerte die kleine alte Dame ein bisschen an einen Vogel. Dazu passten auch das violette Strickkleid und der fedrig-flauschige Schal - ebenfalls lila. Sogar die weißen Haare hatten einen fliederfarbenen Schimmer. Sie sah genauso aus wie auf den Fotos im Familienalbum zu Hause.
Sara dagegen sah sich heute gar nicht ähnlich. Kristina und Jan hatten ihre Tante in den letzten sechs Jahren, seit sie bei ihnen ausgezogen war, meist nur noch auf Fotos gesehen, die sie aus allen Ecken der Welt schickte. Auf den Fotos trug Sara stets einen orangefarbenen Overall und eine Schwimmweste. Mit zerzaustem Haar, einem breiten Lächeln und kämpferisch funkelnden Augen saß sie in irgendeinem Schlauchboot, um die Wale zu retten. Und wenn sie nicht mit Greenpeace unterwegs war, sondern auf Stippvisite bei ihrem großen Bruder Flavio - Kristinas Vater -, sah man sie nur in Jeans, Sneakers und zu großen Schlabberpullis. Für etwas anderes hatte sie ohnehin keinen Platz, sie besaß in ihrer WG in Berlin keinen Kleiderschrank, sondern nur einen großen Koffer.
Kristina kam sie gar nicht vor wie eine Tante - eher wie eine ältere Schwester. Und das lag nicht nur daran, dass Sara erst zweiundzwanzig war. Schließlich hatte Sara seit dem Unfalltod ihrer Eltern vor zwölf Jahren bei ihrem erwachsenen Bruder in Deutschland gelebt, bis sie dann noch sehr jung dort ausgezogen war. Zu diesem Zeitpunkt waren Kristina fünf und ihr Bruder Jan drei Jahre alt gewesen.
Aber heute Abend sah ihre junge Tante ausnahmsweise einmal richtig erwachsen aus. Sie trug eine goldbraune Seidenbluse zu einem feinen Samtrock und hatte sogar versucht, ihre störrischen dunklen Locken zu einer hübschen Frisur zu kämmen. Eine Silberspange, die Nonna ihr geschenkt hatte, hielt ihr eine Locke aus der Stirn. Nonna hatte darauf bestanden, dass sie alle am Festabend »anständig aussahen«. Für Kristina hatte sie deshalb aus irgendeinem Schrank ein altmodisches lila Kleid mit einem weißen Spitzenkragen und einer Silberbrosche hervorgezerrt. Es war ein bisschen zu groß, und es roch nach Lavendel, aber es war immer noch besser als Jans Verkleidung.
Nonna setzte ihr Glas hart auf dem Tisch auf. »Ach ja, Sara, wann, sagtest du doch gleich, reist du mit den beiden wieder zurück nach Deutschland?«
Jan hätte sich fast an seinem Orangensaft verschluckt. »Wir sind nicht taub«, meldete Kristina sich zu Wort. »Außerdem verstehen wir ganz gut Italienisch. Papa hat es uns beigebracht. Und wir haben es uns nicht ausgesucht, über Weihnachten herzukommen.«
»Genau!«, ereiferte sich Jan trotzig. »Das war ganz allein Tante Saras Idee. Von mir aus können wir gleich wieder zurückfahren. Und es ist fies, dass ich hier nicht Skateboard fahren darf!«
Nonna sah die Geschwister so verwundert an, als wären sie zwei Hauskatzen, die überraschenderweise zu sprechen begonnen hatten.
»So, so, aha«, sagte sie mürrisch. »Na, von ordentlichem Italienisch seid ihr aber noch ein gutes Stück entfernt.« Und, an Sara gewandt, fügte sie hinzu: »Was denkst du dir eigentlich? Jahrelang weigerst du dich, nach Venedig zu kommen und jetzt platzt du hier aus heiterem Himmel mit zwei Kindern rein. Noch dazu wie ein Überfallkommando am Weihnachtstag.«
»Wir fahren zurück, sobald in Flavios Wohnung der Wasserrohrbruch repariert ist und die Böden wieder trocken sind«, antwortete Sara. »In ein oder zwei Wochen.«
»Ein oder zwei Wochen?«, rief Nonna entsetzt aus. »Warum hast du sie nicht zu dir nach Berlin mitgenommen?«
Sara zuckte zusammen und schluckte. »Weil das in der WG eben nicht ging«, murmelte sie.
»So, so«, schnappte Nonna. »Und was ist mit den Verwandten ihrer Mutter? Haben die kein Herz für Halbwaisen?«
Kristina starrte Nonna nur fassungslos an. Ihre Mutter war bei Jans Geburt gestorben. Neun Jahre war das nun her. Aber trotzdem traf das Wort Halbwaise sie immer noch wie ein Schlag. Wie konnte ihre Urgroßmutter nur so gemein sein? Andererseits war die alte Frau offenbar einfach herzlos: Als Sara mit elf Jahren zur Waise geworden war, hatte Nonna sie nicht zu sich genommen, sondern sie schlichtweg zu deren erwachsenem Bruder Flavio - Jans und Kristinas Vater - nach Deutschland abgeschoben.
Jetzt bekam auch Tante Sara rote Flecken auf den Wangen. Ein sicheres Zeichen, dass sie wütend wurde.
»Die Verwandtschaft ihrer Mutter lebt nun mal sehr weit weg in Schweden«, erklärte sie mit mühsamer Beherrschung. »Wir hätten fliegen müssen und Kristina hat Höhenangst. Außerdem haben sie die Kinder seit Jahren nicht gesehen.«
»Aber ich, was?«, grummelte Nonna. »Und warum sind sie nicht bei ihrem Vater?«
Sara schnaubte. »Das habe ich dir doch schon erklärt. Flavio ist bis Mitte Februar auf Geschäftsreise in Afrika. Es ist ein sehr wichtiger Auftrag, er konnte die beiden nicht mitnehmen. Und bis er zurückkommt, kümmere ich mich um sie.« Sie seufzte, als wäre das eine Strafe. Was es für sie vermutlich auch war. Aber als ihr Bruder, der immer für sie da gewesen war, sie gebeten hatte, sich um ihre Nichte und ihren Neffen zu kümmern, hatte sie nicht Nein sagen können. »Und außerdem«, setzte Sara spitz hinzu, »du bist die Urgroßmutter der Kinder. Andere Nonnas würden sich freuen, ihre Familie endlich einmal an Weihnachten um sich zu haben!«
Nonna verzog den Mund, als hätte sie Zahnschmerzen, aber sie sagte nichts mehr. Sara hatte gewonnen. Aus dem Augenwinkel konnte Kristina erkennen, dass Jan schief grinste. Aber sie traute sich immer noch nicht, ihren Bruder direkt anzuschauen. Sonst, das wusste sie ganz sicher, würde sie trotz allem losplatzen und nicht mehr aufhören zu lachen. Und Sara hatte ihnen eingeschärft, ihre bärbeißige Urgroßmutter nicht durch Herumgetobe oder lautes Gelächter noch mehr zu reizen.
Es blitzte. Die unzähligen alten Spiegel in dem Raum wurden für einen Augenblick ganz hell, als wären es riesige, zwinkernde Augen. Dann gab es einen so lauten Donnerschlag, dass Kristina beinahe das Glas aus der Hand gefallen wäre. Fensterscheiben zitterten.
Selbst ihre unerschütterliche Urgroßmutter schaute besorgt zum Fenster, als würde sie irgendetwas Schlimmes befürchten. Dort wo Kristina saß, konnte sie in einem ovalen Silberspiegel das hohe Bogenfenster sehen, an dem Sara eben noch gestanden hatte. Da war nichts Ungewöhnliches. Nur der Regen klatschte gegen die Scheiben und die Perlenkordel schaukelte hin und her.
Alle zuckten zusammen, als noch ein Donnerschlag ertönte - doch diesmal kam er aus dem Hotel. Eine Tür war mit lautem Knall zugefallen. Und jetzt hörte man schlurfende, schwere Schritte und ein seltsam dumpfes Ächzen. Kristina schluckte. Jetzt bekam sie doch Herzklopfen. Jan duckte sich sofort unter den Tisch. Seit ihrer Ankunft behauptete er steif und fest, dass es in dem Hotel Gespenster gäbe, die in den Ecken flüsterten. Kristina glaubte nicht an so etwas, aber plötzlich war sie sich nicht mehr so sicher.
Die Klinke wurde heruntergedrückt und schnappte wieder nach oben, dann rumste es, als würde jemand mit einer Schuhspitze gegen Holz treten. »Tür auf, Cecilia!«, brummte eine tiefe, freundliche Stimme. »Oder willst du, dass dein Besuch an Weihnachten verhungert?«
Etwas Erstaunliches geschah: Nonnas finstere Miene hellte sich auf. »Oh, er ist schon hier«, rief sie und gab Kristina einen Wink. »Na los, Mädchen, lass ihn rein!«
Das ließ sich Kristina nicht zweimal sagen. Sie rannte zu der schweren Flügeltür, riss sie auf - und sah sich einem Riesen gegenüber, der eine große Plastikkiste in den Händen hielt. Darauf prangte das Logo eines Restaurants: eine Meerjungfrau, die Messer und Gabel in den Händen hatte, und dazu die Aufschrift La Sirena Affamata - Zur hungrigen Meerjungfrau. Als der Mann eintrat, tropfte das Wasser von seiner Regenjacke auf den Boden.
»Brrr! Was für ein Hundewetter«, rief er und schüttelte sich. Tropfen spritzten nach allen Seiten, dann rutschte die Kapuze der Regenjacke in seinen Nacken. Zum Vorschein kam ein rundes, gutmütiges Gesicht mit wasserblauen Augen. Graues Haar stand wirr vom Kopf ab. »Hallo, du musst Kristina sein!«, sagte der alte Mann. Kristina konnte gar nicht anders, als ihn anzulächeln, so nett wirkte er. »Na, du siehst deinem Vater aber ähnlich«, staunte der Fremde. »Als Flavio in deinem Alter war, ist er nachmittags gerne in meine kleine osteria gekommen und hat dort Kellner gespielt. Du hast dasselbe dunkle Haar und seine braunen Augen, eine richtige Venezianerin!« Mit diesen Worten stellte er die Kiste auf den Boden. »Und wo ist meine kleine Sara?«
»Cesare!« Sara rannte herbei und umarmte den Alten, ohne darauf zu achten, dass sie dabei nass wurde.
»Oh, aber klein bist du ja nun wirklich nicht mehr«, lachte Cesare. »Wie die Zeit verflogen ist. Ich sehe dich noch vor mir, wie du als Kind den Sohn des Bürgermeisters in den Kanal geschubst hast, weil er einen Stein nach einer Katze geworfen hatte. Seitdem haben dich die Leute la paladina degli gatti - die Katzenbeschützerin - genannt.«
Sara schmunzelte. »Das ist lange her.«
»Mir kommt es vor wie gestern«, antwortete Cesare und zwinkerte ihr zu. Dann holte er Schüsseln voller Essen aus der Kiste und rief munter: »So, ich habe Leckereien mitgebracht. Ich hoffe, ihr habt Hunger!«
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Autoren-Porträt von Nina Blazon
Nina Blazon, geboren 1969 in Koper, wuchs in Neu-Ulm auf und studierte in Würzburg Slavistik und Germanistik. Schon als Jugendliche las sie mit Begeisterung, vor allem Fantasy-Literatur. Selbst zu schreiben begann sie während des Studiums - Theaterstücke und Kurzgeschichten, bevor sie den Fantasy-Jugendroman "Im Bann des Fluchträgers" schrieb, der 2003 mit dem Wolfgang-Hohlbein-Preis ausgezeichnet wurde. Sie lebt in Stuttgart, wo sie als Journalistin, Übersetzerin und Werbetexterin arbeitet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nina Blazon
- Altersempfehlung: 10 - 12 Jahre
- 2012, 2, 384 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: cbj
- ISBN-10: 3570154750
- ISBN-13: 9783570154755
Rezension zu „Laqua - Der Fluch der schwarzen Gondel “
"Total spannend und das perfekte Buch für Harry Potter-Fans". Annika im ZDF Morgenmagazin
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