Leben im Moment?
Soziale Milieus in Brasilien und ihr Umgang mit Zeit. Dissertationsschrift
Die brasilianische Moderne unterscheidet sich grundlegend von den europäischen und nordamerikanischen Sozialformationen. Dies arbeitet Florian Stoll exemplarisch mit einer an Bourdieu angelehnten mehrdimensionalen Analyse der sozialen Milieus in der...
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Produktinformationen zu „Leben im Moment? “
Die brasilianische Moderne unterscheidet sich grundlegend von den europäischen und nordamerikanischen Sozialformationen. Dies arbeitet Florian Stoll exemplarisch mit einer an Bourdieu angelehnten mehrdimensionalen Analyse der sozialen Milieus in der Großstadt Recife heraus. Die Beschreibung der sozialen Schichtung und der Lebensverhältnisse der Milieus ist darüber hinaus ein Beispiel für die theoretische und methodische Ausdehnung sozialwissenschaftlicher Forschung auf außereuropäische Kontexte.
Klappentext zu „Leben im Moment? “
Die brasilianische Moderne unterscheidet sich grundlegend von den europäischen und nordamerikanischen Sozialformationen. Dies arbeitet Florian Stoll exemplarisch mit einer an Bourdieu angelehnten mehrdimensionalen Analyse der sozialen Milieus in der GroßstadtRecife heraus. Die Beschreibung der sozialen Schichtung und der Lebensverhältnisse der Milieus ist darüber hinaus ein Beispiel für die theoretische und methodische Ausdehnung sozialwissenschaftlicher Forschung auf außereuropäische Kontexte.
Lese-Probe zu „Leben im Moment? “
Einleitung Inzwischen hat auch eine breite Öffentlichkeit im deutschsprachigen Raum den wirtschaftlichen Aufschwung Brasiliens bemerkt. Aber immer noch werden in den Medien meist nur einzelne Aspekte des größten Landes Südamerikas aufgegriffen und normalerweise genauso unpassend wie unzusammenhängend nebeneinander gestellt (siehe auch Busch 2010: 13-15): Zwar wird die neue wirtschaftliche Stärke Brasiliens zur Kenntnis genommen, aber trotzdem wird das Land vor allem mit Fußball und mit dem Leben an den Stränden verbunden. Diese Vorstellungen werden in den Medien oft relativ unvermittelt der Armut und der Gewalt in den Favelas gegenübergestellt. Darüber hinaus wird auch noch häufig über die Mega-City São Paulo und über die Abholzung der Regenwälder am Amazonas berichtet. Anhand der genannten Beschreibungen ist es jedoch schwer, sich den Alltag und die Lebensbedingungen der verschiedenen sozialen Milieus in Brasilien zu erschließen.
Alle zuvor genannten Phänomene gibt es tatsächlich. Nur werden diese Ausschnitte der brasilianischen Realität in deutschen Medien meist losgelöst voneinander betrachtet und können daher kaum in einen größeren Kontext eingeordnet werden. Diese isolierte Wahrnehmung einzelner Besonderheiten verhindert aber ein Verständnis von Brasilien als moderner Sozialformation und verrät wenig über die Sozialstruktur oder über den Alltag der Bevölkerung. Jedoch werden die beschriebenen Phänomene nicht zufällig einzeln herausgegriffen und nebeneinander gestellt, denn Brasilien ist tatsächlich viel komplexer und in vielen Hinsichten widersprüchlicher als europäische Staaten oder die USA. Unterschiedlich stark technisch und ökonomisch entwickelte Bereiche existieren in Brasilien oft nebeneinander oder hängen sogar eng zusammen. Schon wegen der enormen regionalen Unterschiede und wegen der von europäischen Staaten oder von den USA abweichenden historischen und kulturellen Einflüsse ist Brasilien nicht so leicht zu fassen wie die genannten Länder. Dazu
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kommen viele ökonomische und politische Veränderungen während der letzten Jahrzehnte. Aber gerade die Besonderheiten Brasiliens würden die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Land interessant machen. Jedoch findet in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften - ähnlich wie im Fall anderer Schwellenländer - keine größere Debatte über Brasilien als 'nichtwestliche' Sozialformation statt.
Eine Auseinandersetzung mit Brasilien lohnt sich auch wegen der gestiegenen Bedeutung des Landes im internationalen Kontext: Die von Goldman Sachs als BRIC-Staaten bezeichneten Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien und China werden in naher Zukunft eine noch wichtigere Rolle in der Weltwirtschaft spielen. Aus dieser Gruppe dürfte Brasilien trotz riesiger Unterschiede zu Europa und zu den USA das Land sein, das dem 'Westen' in vielen Hinsichten am ähnlichsten oder zumindest kulturell am leichtesten zugänglich ist.
Auch die Sozialwissenschaften im deutschsprachigen Raum vergeben vielversprechende Möglichkeiten, solange die Beschäftigung mit Brasilien auf einen kleinen Kreis von ExpertInnen begrenzt bleibt: Einerseits kann so der Global Player Brasilien nur von außen und vor allem fast nur auf Grundlage quantitativer Daten beurteilt werden, anhand derer die Unterschiede in Sozialstruktur, Kultur und in anderen Bereichen meist nur oberflächlich beschrieben werden können. Andererseits wird durch die Ignoranz gegenüber Brasilien und gegenüber anderen Schwellenländern auch die Chance vergeben, die Besonderheiten der europäischen Moderne und Entwicklungen in 'westlichen' Ländern aus einer anderen Perspektive zu reflektieren. Eine sozialwissenschaftliche Analyse von Brasilien als eine unter anderen Voraussetzungen entstandene, aber auch entwickelte Form von Moderne könnte in vielen Fällen als Vergleichsmodell für bestimmte Veränderungen in europäischen und nordamerikanischen Ländern dienen.
Wie ein Blick auf das moderne Brasilien auch die Wahrnehmung 'westlicher' Staaten schärfen könnte, hat Ulrich Beck bereits im Jahr 1999 gezeigt, als er den Begriff Brasilianisierung (1999) in die deutschsprachigen Sozialwissenschaften einführte. Für Beck ist Brasilianisierung der "Einbruch des Prekären, Diskontinuierlichen, Flockigen, Informellen in die westlichen Bastionen der Vollbeschäftigungsgesellschaft." (1999: 8) Beck beschreibt eine wichtige Entwicklung in den europäischen Wohlfahrtsstaaten, da befristete Arbeitsverhältnisse, Zeitarbeit und eine Kultur des Jobbens in den letzten zwei Jahrzehnten stark zugenommen haben: "Damit breitet sich im Zentrum des Westens der sozialstrukturelle Flickenteppich aus, will sagen: die Vielfalt, Unübersichtlichkeit und Unsicherheit von Arbeits-, Biographie- und Lebensformen des Südens." (ebd.) Beck gelingt es, den hohen Anteil informeller Arbeit in Brasilien theoretisch zu fassen und so mit einem zentralen Moment der brasilianischen Sozialstruktur neue Entwicklungen in Europa zu reflektieren. Damit geht er einen entscheidenden Schritt über die oft klischeebeladene Darstellung Brasiliens in den Medien hinaus und beschäftigt sich ernsthaft mit dem Land als entwickelter Sozialformation. Aber auch Beck vertieft seine Analyse brasilianischer Besonderheiten leider nicht weiter, da er mit Brasilianisierung nur eine Tendenz in europäischen Ländern illustrieren will.
Genau an dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit an und versucht, ein komplexes Bild der brasilianischen Sozialformation zu zeichnen: Welche sozialen Milieus gibt es in Brasilien - genauer: in Recife im Bundesstaat Pernambuco? Welche Lebensbedingungen bestimmen den Alltag jedes Milieus? Welchen Einfluss besitzen Arbeitsteilung, Sozialstruktur und weitere Dimensionen? Was sind wichtige ökonomische, historische und kulturelle Elemente jedes Milieus? Welche Bedeutung besitzen die hohe Ungleichheit und die Tatsache, dass Brasilien als letztes Land in Europa und in den Amerikas die Sklaverei erst im Jahr 1888 abschaffte? Welche Milieus sind wie in die von Beck als "politische Ökonomie der Unsicherheit" (ebd.) bezeichneten Arbeitsverhältnisse eingebunden? Auf diese und weitere Fragen will die vorliegende Studie zumindest einen Ausblick geben.
Eine Auseinandersetzung mit Brasilien lohnt sich auch wegen der gestiegenen Bedeutung des Landes im internationalen Kontext: Die von Goldman Sachs als BRIC-Staaten bezeichneten Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien und China werden in naher Zukunft eine noch wichtigere Rolle in der Weltwirtschaft spielen. Aus dieser Gruppe dürfte Brasilien trotz riesiger Unterschiede zu Europa und zu den USA das Land sein, das dem 'Westen' in vielen Hinsichten am ähnlichsten oder zumindest kulturell am leichtesten zugänglich ist.
Auch die Sozialwissenschaften im deutschsprachigen Raum vergeben vielversprechende Möglichkeiten, solange die Beschäftigung mit Brasilien auf einen kleinen Kreis von ExpertInnen begrenzt bleibt: Einerseits kann so der Global Player Brasilien nur von außen und vor allem fast nur auf Grundlage quantitativer Daten beurteilt werden, anhand derer die Unterschiede in Sozialstruktur, Kultur und in anderen Bereichen meist nur oberflächlich beschrieben werden können. Andererseits wird durch die Ignoranz gegenüber Brasilien und gegenüber anderen Schwellenländern auch die Chance vergeben, die Besonderheiten der europäischen Moderne und Entwicklungen in 'westlichen' Ländern aus einer anderen Perspektive zu reflektieren. Eine sozialwissenschaftliche Analyse von Brasilien als eine unter anderen Voraussetzungen entstandene, aber auch entwickelte Form von Moderne könnte in vielen Fällen als Vergleichsmodell für bestimmte Veränderungen in europäischen und nordamerikanischen Ländern dienen.
Wie ein Blick auf das moderne Brasilien auch die Wahrnehmung 'westlicher' Staaten schärfen könnte, hat Ulrich Beck bereits im Jahr 1999 gezeigt, als er den Begriff Brasilianisierung (1999) in die deutschsprachigen Sozialwissenschaften einführte. Für Beck ist Brasilianisierung der "Einbruch des Prekären, Diskontinuierlichen, Flockigen, Informellen in die westlichen Bastionen der Vollbeschäftigungsgesellschaft." (1999: 8) Beck beschreibt eine wichtige Entwicklung in den europäischen Wohlfahrtsstaaten, da befristete Arbeitsverhältnisse, Zeitarbeit und eine Kultur des Jobbens in den letzten zwei Jahrzehnten stark zugenommen haben: "Damit breitet sich im Zentrum des Westens der sozialstrukturelle Flickenteppich aus, will sagen: die Vielfalt, Unübersichtlichkeit und Unsicherheit von Arbeits-, Biographie- und Lebensformen des Südens." (ebd.) Beck gelingt es, den hohen Anteil informeller Arbeit in Brasilien theoretisch zu fassen und so mit einem zentralen Moment der brasilianischen Sozialstruktur neue Entwicklungen in Europa zu reflektieren. Damit geht er einen entscheidenden Schritt über die oft klischeebeladene Darstellung Brasiliens in den Medien hinaus und beschäftigt sich ernsthaft mit dem Land als entwickelter Sozialformation. Aber auch Beck vertieft seine Analyse brasilianischer Besonderheiten leider nicht weiter, da er mit Brasilianisierung nur eine Tendenz in europäischen Ländern illustrieren will.
Genau an dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit an und versucht, ein komplexes Bild der brasilianischen Sozialformation zu zeichnen: Welche sozialen Milieus gibt es in Brasilien - genauer: in Recife im Bundesstaat Pernambuco? Welche Lebensbedingungen bestimmen den Alltag jedes Milieus? Welchen Einfluss besitzen Arbeitsteilung, Sozialstruktur und weitere Dimensionen? Was sind wichtige ökonomische, historische und kulturelle Elemente jedes Milieus? Welche Bedeutung besitzen die hohe Ungleichheit und die Tatsache, dass Brasilien als letztes Land in Europa und in den Amerikas die Sklaverei erst im Jahr 1888 abschaffte? Welche Milieus sind wie in die von Beck als "politische Ökonomie der Unsicherheit" (ebd.) bezeichneten Arbeitsverhältnisse eingebunden? Auf diese und weitere Fragen will die vorliegende Studie zumindest einen Ausblick geben.
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Inhaltsverzeichnis zu „Leben im Moment? “
InhaltVorwort8Einleitung 91. Theoretischer Rahmen und Methode211.1 Anpassung der Soziologie Bourdieus211.2 Der zeitliche Habitus in Anschluss an Bourdieu291.3 Aspekte des Umgangs mit Zeit in Brasilien412. Historischer und soziokultureller Kontext532.1 Historische Phasen Brasiliens532.2 Besondere Merkmale des modernen Brasilien662.3 Recife im brasilianischen und im regionalen Kontext863. Die sozialen Milieus993.1 Zur Methodologie der Milieubildung993.2 Zur Geschichte der oberen, mittleren und unteren Milieus1183.3 Zusammenfassung von Kapitel 4 bis 91374. Oberschicht: Beschleunigtes Leben mit wenig Freizeit1494.1 Die Position der Oberschicht in der Sozialstruktur1514.2 Die Stellung in der Arbeits- und Tätigkeitsteilung1574.3 Luxuriöser Lebensstil und distinguierter Habitus1604.4 Soziokulturelle Einflüsse auf die Oberschicht1664.5 Zeitlicher Habitus: Beschleunigtes Leben 1704.6 Der zeitliche Habitus der Untergruppen1755. Obere Mittelschicht: Führungskräfte mit Balance aus Arbeit undFreizeit1835.1 Die Position in der Sozialstruktur1845.2 Arbeitsformen und Tätigkeiten der oberen Mittelschicht1885.3 Merkmale von Habitus, Lebensstil und Kultur1915.4 Soziokulturelle Einflüsse1975.5 Zum zeitlichen Habitus: Balance aus Arbeit und Freizeit 1995.6 Zeitlicher Habitus der Untergruppen2056. Mittlere Mittelschicht: Langfristige Perspektive (aber Krise seit den 1980er Jahren)2106.1 Die mittlere Mittelschicht in der Sozialstruktur2116.2 Zur Stellung in der Arbeits- und Tätigkeitsteilung2186.3 Habitus, Lebensstil und Kultur2196.4 Soziokulturelle Einflüsse2256.5 Zeitlicher Habitus: Zwischen Langfristigkeit und Krise 2316.6 Der zeitliche Habitus der Untergruppen2397. Untere Mittelschicht: Relative Stabilität2457.1 Mittelschicht oder mittleres Einkommen?2477.2 Arbeitsformen und Tätigkeiten2527.3 Merkmale von Habitus, Lebensstil und Kultur2547.4 Die untere Mittelschicht als Schnittpunkt von Auf- und Abstieg2607.5 Formen des zeitlichen Habitus: Relative Stabilität2637.6 Der zeitliche
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Habitus der Untergruppen2668. ArbeiterInnen: Vorrang der Ereigniszeit2758.1 Die schlechte sozialstrukturelle Position der ArbeiterInnen2778.2 Zur Stellung in der Arbeits- und Tätigkeitsteilung2828.3 Aspekte von Habitus und Lebensstil der ArbeiterInnen2848.4 Soziokulturelle Einflüsse2908.5 Formen des zeitlichen Habitus: Vorrang der Ereigniszeit 2948.6 Der zeitliche Habitus der Untergruppen3039. Marginalisierte: Gefangen im Moment3119.1 Die extrem schlechte Situation der Marginalisierten3139.2 Die Stellung in der Arbeits- und Tätigkeitsverteilung3179.3 Merkmale von Habitus, Lebensstil und Kultur3199.4 Historische Einflüsse auf die Marginalisierten3259.5 Formen des zeitlichen Habitus: Gefangen im Moment3299.6 Der zeitliche Habitus der Untergruppen335Schlussbetrachtungen350Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen355Literaturverzeichnis356Anhang: Der Interview-Leitfaden364
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Autoren-Porträt von Florian Stoll
Florian Stoll, Dr. phil., ist Postdoc-Mitarbeiter an der TU Darmstadt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Florian Stoll
- 2012, 366 Seiten, Maße: 14,6 x 22,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: CAMPUS VERLAG
- ISBN-10: 3593397641
- ISBN-13: 9783593397641
- Erscheinungsdatum: 08.10.2012
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