Liebesgrüße aus Deutschland
Typisch deutsch und trotzdem lustig
Deutschland hat viel Liebenswertes zu bieten: Sparkassenberater, die von jeder Geldanlage abraten, Zeitungsenten aus Plüsch, ein findiges Finanzamt oder Vegetarier, die gerne Fleisch essen nur...
Deutschland hat viel Liebenswertes zu bieten: Sparkassenberater, die von jeder Geldanlage abraten, Zeitungsenten aus Plüsch, ein findiges Finanzamt oder Vegetarier, die gerne Fleisch essen nur...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Liebesgrüße aus Deutschland “
Typisch deutsch und trotzdem lustig
Deutschland hat viel Liebenswertes zu bieten: Sparkassenberater, die von jeder Geldanlage abraten, Zeitungsenten aus Plüsch, ein findiges Finanzamt oder Vegetarier, die gerne Fleisch essen nur nicht das von Tieren. Außerdem gibt es bei uns die perfekte Form der Schriftgutverwaltung. Schließlich ist ein Land ein schwieriges Unternehmen, und um es in den Griff zu bekommen, braucht man Erfindungsgeist. So erfanden die Amerikaner den Colt, die Russen das Destilliergerät und die Deutschen den Leitz-Ordner.
Wladimir Kaminer sieht seine Wahlheimat mit viel Verständnis für deren Schrullen und Besonderheiten. Und so sind wir am Ende von uns selbst ganz bezaubert. Denn wer hätte gedacht, was für ein lustiges Volk wir im Grunde sind!
Deutschland hat viel Liebenswertes zu bieten: Sparkassenberater, die von jeder Geldanlage abraten, Zeitungsenten aus Plüsch, ein findiges Finanzamt oder Vegetarier, die gerne Fleisch essen nur nicht das von Tieren. Außerdem gibt es bei uns die perfekte Form der Schriftgutverwaltung. Schließlich ist ein Land ein schwieriges Unternehmen, und um es in den Griff zu bekommen, braucht man Erfindungsgeist. So erfanden die Amerikaner den Colt, die Russen das Destilliergerät und die Deutschen den Leitz-Ordner.
Wladimir Kaminer sieht seine Wahlheimat mit viel Verständnis für deren Schrullen und Besonderheiten. Und so sind wir am Ende von uns selbst ganz bezaubert. Denn wer hätte gedacht, was für ein lustiges Volk wir im Grunde sind!
Klappentext zu „Liebesgrüße aus Deutschland “
Typisch deutsch und trotzdem lustig!Deutschland hat viel Liebenswertes zu bieten: Sparkassenberater, die von jeder Geldanlage abraten, Zeitungsenten aus Plüsch oder Vegetarier, die gerne Fleisch essen - nur nicht das von Tieren. Außerdem gibt es bei uns die perfekte Form der Schriftgutverwaltung. Schließlich ist ein Land ein schwieriges Unternehmen, und um es in den Griff zu bekommen, braucht man Erfindungsgeist. So erfanden die Amerikaner den Colt, die Russen das Destilliergerät und die Deutschen den Leitz Ordner. Wladimir Kaminer sieht seine Wahlheimat mit viel Verständnis für deren Schrullen und Besonderheiten. Und so erkennen wir auch selbst, was für ein lustiges Volk wir im Grunde sind!
Lese-Probe zu „Liebesgrüße aus Deutschland “
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Neue Heimat
Wenn man von einem Land in ein anderes zieht, nicht nur, um sich die dortigen Sehenswürdigkeiten anzugucken, sondern mit dem Wunsch, dort ein neues Leben auf unbekanntem Territorium zu beginnen, so ist die tödlichste aller Gefahren der Vergleich. Dessen Verführungskraft ist allerdings sehr stark und hängt mit der Verführung durch den Zweifel zusammen. Kaum einer kann ihr widerstehen, und natürlich muss die neue Heimat den wildesten Erwartungen standhalten. Alles Neue und Ungewohnte wird genauestens bewertet, die Vorzüge und Nachteile abgewogen - die Sitten, die Waren, die Fernsehprogramme, die Architektur ... Und immer fällt die neue Heimat beim Vergleich durch. Nie hält sie, was man sich von ihr versprochen hat.
Ich glaube, dieses Phänomen ist überall auf der Erde gleich, egal ob ein Chinese nach Australien zieht oder ein Kroate nach Finnland. Nur kenne ich viel zu wenig Chinesen und Kroaten, dafür aber sehr viele Russen und Ukrainer in Deutschland. Wenn ein Russe von den Deutschen spricht, dann sagt er, ihnen fehle das Herz. Sie gehen zwar auch gerne saufen, sie sitzen nächtelang in Biergärten oder ziehen mit einem Leiterwagen und Aquavit durch Kohlfelder. Sie sind als Extremtouristen überall auf der Welt bekannt, fahren mit dem Motorrad steile Berge hinauf und hinunter, laufen Marathon durch die Wüste, jagen bei großen Open-Air-Partys Mädels hinterher, doch das alles tun sie ohne Herz, aus bloßem Interesse. Und wenn das Interesse gesättigt ist, hören sie mit ihren Exzessen auf und gehen von neun bis fünf und einer Mittagspause zwischendurch wieder einer abhängigen Beschäftigung nach.
Dieses Doppelleben ist unter den Einheimischen in Deutschland stark verbreitet. Ihre Leidenschaften bleiben immer Hobbys. Während andere sich an ihren Abenteuern verbrennen, wollen sich die Deutschen eigentlich nur bilden. Deswegen werden hier in den Reisebüros statt erholsamer Sauftouren gerne »Bildungsreisen« angeboten. Die Menschen finden es toll, wenn man im Urlaub nebenbei noch irgendeinen Motorboot-Führerschein bekommen oder Spanisch lernen kann.
Die größte Schwäche seiner neuen Heimat ist aus Sicht des Neuankömmlings natürlich ihre Gastronomie. Hier entdeckt er riesige Defizite. Man kann unendlich lange darüber sinnieren, wie gesund, ökologisch bewusst und vitaminreich sich das Essen in Deutschland präsentiert, Tatsache ist: Nichts schmeckt hier so, wie es schmecken soll. Das fängt mit dem Brot an und endet bei Wassermelonen und Gurken. Diese Produkte sind keine Delikatessen, in Russland weiß jedes Kind, wie eine Gurke oder eine Beere oder eine Wassermelone zu schmecken hat. Ganz sicher nicht nach Zeitungspapier.
Den hiesigen Produkten fehlt es einfach an Geschmack, an Fett und Zucker und anderen Stoffen, die das Essen schmackhaft und die Menschen etwas mollig machen. Abgesehen davon fehlt hierzulande die Kultur der leicht gebeizten Gurke, des Pilzes und des Krauts. Die Deutschen können kein Gemüse richtig einlegen, sie bringen ihre Gurken mit Essig und Chemikalien um, sie trinken den Wodka warm und im Stehen und halten das polnische nastrovje für einen russischen Trinkspruch. Sie werden viel zu schnell betrunken und fallen immer dann um, wenn es am interessantesten wird, wodurch ihnen der unterhaltsame Weg in die Vielfalt der osteuropäischen Gastronomie verwehrt ist.
Ein weiterer großer Mangel und ein nicht weniger großes Problem hierzulande ist die sogenannte Aufklärung, ein Bildungsprozess aus der Vergangenheit, der mit den Deutschen von heute nichts mehr zu tun hat, sie aber im Glauben lässt, sie wären so etwas wie die Kulturavantgarde der Menschheit. Dabei haben sie eine Schwäche für dumme Kabarettistenwitze, schweinische Zeitungsüberschriften, hässliche Einfamilienhäuser und Hunde, die aus großen Büchsen mit vielen Konservierungsstoffen ernährt und dadurch praktisch unsterblich werden.
Ein anderes Thema ist die deutsche »Vergangenheit«. Mit »Vergangenheit« werden hier in der Regel die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Diktatur bezeichnet, die in ihrer Mordlust und Monstrosität alle anderen Epochen und Diktaturen Europas locker übertreffen. Diese deutsche Vergangenheit sorgt bei den Russen oft für Unbehagen, besonders wenn sie auf sehr alte Menschen oder alt aussehende Hunde stoßen, die eigentlich fast immer sympathisch und nett wirken. Viele müssen aber schon als Kleinkind Mitglied der NSDAP gewesen sein. Obwohl der Krieg inzwischen seit mehr als sechzig Jahren vorüber ist, entbrennen in den deutschen Medien noch immer regelmäßig Skandale, weil neue Fakten auftauchen - dass der Schauspieler X oder der Sozialdemokrat Y als Kleinkind bereits bei den Nationalsozialisten mitmachte. Wahrscheinlich hat diese Diktatur in ihrer Agonie oder aus Verzweiflung sogar Föten in die Partei eintreten lassen, um sich auf diese Weise den Zugang zu den deutschen Medien des XXI. Jahrhunderts zu sichern.
Ich habe nur einmal eine Begegnung mit dieser deutschen »Vergangenheit« erlebt. Das war im Juli 1990 in Ostberlin. Damals war die Wiedervereinigung de facto bereits abgehakt, obwohl die DDR de jure noch existierte. Es fühlte sich an, als hätte der Lauf der Geschichte für einen Moment haltgemacht, um Luft zu holen. Die Ostberliner hatten in jenem Sommer die einmalige Gelegenheit, etwas zu erleben, das es so nirgends auf der Welt mehr gab: Sie lebten gleichzeitig im Sozialismus und im Kapitalismus. Sie genossen die Vorzüge beider Systeme, ohne ihre Nachteile zu spüren. Als Wohnungsmiete zahlten sie noch immer 16,50 DM, in den Kaufhallen lagen aber schon Berge von Bananen, und man konnte laut auf Honecker und die Kommunisten schimpfen. Die Polizei hatte Angst, die Punks von der Straße zu verjagen, und die Verkäuferinnen hatten keine Lust, die neuen Produktnamen auswendig zu lernen, jeden Tag kamen neue dazu. Sie antworteten zur Sicherheit: »Ham wa nich«, wenn man Unbekanntes verlangte. Dabei stand schon alles in den Regalen.
In dieser wunderbaren Zeit gingen mein Freund Boris und ich oft und gerne in der nagelneuen Kaisers- Filiale in Prenzlauer Berg einkaufen, die sich in einer leer stehenden DDR-Konsumkaufhalle eingerichtet hatte. Wir waren beide frisch aus der Sowjetunion geflüchtet, unsere alte Heimat befand sich gerade in Auflösung, und beinahe jede Woche ging ihr ein Stück ihrer Identität verloren. Unsere neue Heimat war dagegen gerade im Aufbau - täglich wurden riesige Laster mit Westwaren vor den Hintertüren der Ostkaufhalle ausgeladen.
An einem sonnigen Tag traf uns die deutsche Vergangenheit wie ein schwarzer Schatten, und zwar dort, wo wir sie am wenigsten erwartet hatten - vor der Kaufhalle. Auf dem Bordstein vor der Tür saß ein alter deutscher Schäferhund. Er sonnte sich mit geschlossenen Augen und wirkte überhaupt nicht böse, sondern verschlafen und müde. Boris stellte sich neben den Hund, um sich eine Zigarette zu drehen. Damals war Zigarettendrehen groß in Mode, alle drehten schwarzen Tabak wie verrückt, und manche konnten es sogar mit einer Hand in der Hosentasche. Mein Freund hatte noch keine solche Geschicklichkeit entwickelt, er brauchte ein spezielles Gerät, um Zigaretten zu drehen. Trotzdem fiel sein Tabak immer wieder auf den Asphalt, und Boris schimpfte laut auf Russisch. Zu diesem Zeitpunkt konnte noch keiner von uns Deutsch, unsere Sprachkenntnisse waren auf das Minimum reduziert, das wir aus sowjetischen Kriegsfilmen kannten. In diesen Filmen sprachen russische Schauspieler, die Deutsche spielten, einander gelegentlich auf Deutsch an, um ihrer Rolle mehr Glaubwürdigkeit und Ausdruck zu verleihen. Es waren schlichte Sätze, die man sich leicht merken konnte wie zum Beispiel »Heil Hitler« oder »Feuerzeug kaputt« oder »Sie können gehen, Barbara«. Das war nicht viel, und wir konnten deswegen auf Deutsch keine Unterhaltung führen, wir konnten auch nicht auf Deutsch schimpfen, aber zum Einkaufen reichte es.
Mein Freund stand also in der Sonne, drehte seine Zigarette und schimpfte laut auf Russisch. Plötzlich erwachte der alte Hund. Er drehte seinen Kopf zu Boris, und ohne die Augen zu öffnen, nahm er Boris' Hand ins Maul. Es sah schrecklich aus. Der Hund biss meinen Freund nicht, er hielt seine Hand zwischen seinen scharfen gelben Zähnen, zärtlich, aber fest. Dabei öffnete der Hund die Augen und schaute meinem Freund direkt ins Gesicht. Boris wirkte ziemlich durcheinander. Ihm fiel in dieser Situation nichts Besseres ein, als »Heil Hitler« zu sagen. Sofort machte das Tier sein Maul auf und ließ Boris los. Danach schloss der Hund die Augen wieder und tat so, als würde er im Sitzen schlafen.
Wir gingen sofort weg von der Kaufhalle, ohne ein Wort zu wechseln, aber mein Freund stand noch eine ganze Weile unter Schock. Wir wussten natürlich nicht, wie dieser schreckliche Hund reagiert hätte, wenn wir zu ihm »Feuerzeug kaputt« gesagt hätten oder »Sie können gehen, Barbara«. Doch wir beide waren überzeugt, dass dieser Hund ein Nazi war. Das Ganze ist nun schon zwanzig Jahre her, der Hund ist hoffentlich längst tot (sie sind zäh wie Leder), und mein Freund Boris ist vor zwölf Jahren nach Amerika emigriert. Er studierte dort Grafikdesign und schleppt als staatlich geprüfter Fremdenführer in New York russische Touristengruppen durch die Gegend.
Goldfieber
»Lassen Sie uns über das Leben philosophieren, Herr Kaminer! «, sagte mein Sparkassenberater und bestellte uns erst einmal zwei Bier. Dafür schätze ich den Mann: Wenn wir uns treffen, dann nicht in der Sparkasse zu Keksen und Kaffee, sondern in einer Kneipe mit Raucherecke. Wenn er über seine Finanzprodukte spricht, sagt er jedes Mal: »Allerdings würde ich Ihnen aus persönlicher Erfahrung von dieser Anlagemöglichkeit abraten.«
Das klingt vertrauenswürdig. Mein Sparkassenberater ist eigentlich gar kein Berater, sondern ein Abrater. Er sieht auch anders aus als die meisten seiner Kollegen. Im Normalfall müssen Sparkassenberater doch glatt rasiert und akkurat gekämmt sein, einen weichen Händedruck haben und eine Väterlichkeit gleichzeitig mit einer Prise Mütterlichkeit ausstrahlen, um an das Geld ihrer Kunden zu kommen, es irgendwo in Teufelsaktien anzulegen und dann mal zu sehen, was passiert. Mein Sparkassenberater ist da anders. Er hat einen sehr festen Händedruck und sieht aus wie ein normaler Mensch, also wenig vertrauensvoll. Und er philosophiert gerne.
»Nicht wir stellen die Regeln auf, wir regen uns nur darüber auf«, sagte er das letzte Mal tiefsinnig und zündete sich eine Zigarette an, als ich ihn nach den Auswirkungen der Finanzkrise auf seine Sparkassenfiliale fragte. »Geld war schon immer ein schnell verderbliches Gut, das man am liebsten sofort verbrauchen soll. Geld ist wie Bier. Wenn wir unsere Biere hier stehen lassen«, er zeigte auf unsere Biergläser, die fast leer waren, »wenn wir also diese Biere hier stehen lassen, weggehen und in zwei Wochen wieder zurückkommen würden, was meinen Sie, Herr Kaminer, wird das Bier noch immer auf uns warten?«
»Nein?«, antwortete ich vorsichtig.
»Es wird ganz sicher nicht mehr da sein!«, unterstützte mich mein Sparkassenberater. »Genauso ist es mit dem Geld«, philosophierte er weiter. »Kaum lässt man es irgendwo anlegen, geht kurz weg und kommt zurück, ist es weg. Natürlich haben wir auch in dieser schwierigen Zeit etliche Angebote parat, aber ich würde Ihnen aus persönlicher Erfahrung nicht zu diesen Angeboten raten. Für die meisten Kunden bleibt nach wie vor das Schließfach die sicherste Form der Geldanlage. Bei uns in der Filiale sind alle belegt, und die meisten werden auf Jahrzehnte vermietet und beinahe täglich betreut.«
Mich erinnerte seine Geschichte sofort an einen Bekannten aus alten Zeiten. Anfang der Neunzigerjahre lernte ich in Berlin einen Mann kennen, der sein gesamtes Vermögen in Goldbarren in einem Schließfach am Bahnhof Lichtenberg deponiert hatte und sehr darunter litt. Er war ein Punk-Musiker, der gegen das Schweinesystem sang. Nach der Wende schloss er im wiedervereinigten Deutschland einen günstigen Plattenvertrag ab und bekam viel Geld. Einerseits war er dank dieses Vertrags mit der Plattenfirma in dem von ihm gehassten Schweinesystem angekommen, andererseits aber nicht ganz. Er konnte trotzdem kein Vertrauen in das kapitalistische Bankwesen entwickeln. Eine bürgerliche Investition kam für ihn nicht in Frage. Nachdem er einen Teil seines Gewinns in Drogen und einen weiteren in ein Wohnmobil - seinen Kindheitstraum - investiert hatte, kaufte er für den Rest des Geldes Goldbarren und deponierte sie am Bahnhof Lichtenberg in einem Schließfach.
Diese kurzsichtige Geldanlage veränderte sein Leben. Ursprünglich hatte er vor, mit seinem Wohnmobil auf Weltreise zu gehen, nun konnte er aber Berlin nicht mehr verlassen: Er musste alle vierundzwanzig Stunden zum Bahnhof Lichtenberg, um neue Münzen in das Schließfach zu werfen. Sein Wohnmobil parkte er neben der Bahnhofshalle, er fuhr damit nirgendwohin. Fünf Jahre später starb er in seinem Wohnmobil unter ungeklärten Umständen. Sein Gold bekam wahrscheinlich zuletzt die Deutsche Bahn und hat dafür später einen tollen neuen Bahnhof gebaut. Eine traurige Geschichte.
Mein Sparkassenberater hörte mir aufmerksam zu, zündete eine neue Zigarette an und sagte, er kenne eine ähnliche Geschichte, die noch trauriger sei. Ich bat ihn, sie mir zu erzählen.
»Oft sind es sehr alte Menschen, die Schließfächer in der Sparkassenfiliale besitzen, sie haben keine Kraft mehr, ihre Fächer auf- bzw. zuzuschließen. Ein sehr alter Mann kam trotzdem jeden Tag sein Schließfach besuchen«, erzählte mein Berater. »Einmal bat er mich, ihm zu helfen, seine Wertschatulle herauszunehmen, er konnte sie selbst nicht mehr herausheben, so schwer war sie. Ich ging mit ihm in den Tresorraum, holte seine Schatulle unter großer Anstrengung heraus - sie war tatsächlich verdammt schwer -, stellte sie auf den Tisch und wollte den Tresorraum wieder verlassen, wie es sich in einer Bank gehört. Doch der Kunde hielt mich am Ärmel zurück.
›Bitte bleiben Sie‹, flüsterte er. ›Machen Sie mir die Freude - ich möchte, dass Sie in meine Schatulle reinschauen.‹
Er öffnete die Kiste. Sie war mit südafrikanischen Goldmünzen gefüllt, Sie wissen schon, diese Krügerrandmünzen. Ein toller Anblick, so viel Gold. Ich gratulierte ihm zu seinem Gold und wollte erneut gehen. Der Alte ließ mich aber immer noch nicht los.
›Nehmen Sie eine‹, forderte er mich auf, ›bitte, bitte!‹
Was sollte ich machen? Ich nahm eine seiner Münzen in die Hand: Es war eine Schokoladenmünze. Der Kunde hatte sein Schließfach mit Schokolade von Aldi gefüllt, unter die Schokolade eine Stahlplatte gelegt, um das Ganze schwerer zu machen, und freute sich nun fürchterlich über meinen Gesichtsausdruck. Ich war fassungslos und sagte nichts. Seine beiden Söhne kämen ihn nicht einmal besuchen, erzählte er mir. Der eine Sohn unterrichte irgendetwas in England, der andere sei vor langer Zeit mit seiner Freundin nach Stuttgart gezogen. Sie schrieben ihm nicht einmal Postkarten zu Weihnachten, beschwerte er sich. Er wisse überhaupt nicht, ob er Enkelkinder habe. Dafür stelle er sich jede Nacht vor dem Einschlafen vor, wie seine beiden Söhne nach seinem Tod hierherkämen, um ihre Erbschaft anzutreten, die dicke Schatulle aus dem Tresor holten, sie nach oben schleppten und die Aldi- Schokolade darin entdeckten. Allein dieser Gedanke gäbe ihm den Mut weiterzuleben und lasse ihn glücklich einschlafen. Jede Nacht träume er davon, und bestimmt werden seine Söhne noch dämlicher aus der Wäsche gucken, als ich es gerade getan habe.
Ungefähr ein Jahr danach starb der Kunde. Seine Söhne kamen nicht. Der Erbschaftsverwalter untersuchte das Schließfach, entsorgte die Stahlplatte und ließ die Schokolade in der Filiale in einer Ecke liegen. Sie wurde schnell aufgegessen. Niemand hat sich groß über die Schokolade gewundert, am wenigsten der Erbschaftsverwalter, als hätte er genau das erwartet.
Ich kann nicht ausschließen, dass die meisten Schließfächer in Deutschland mit Aldi-Schokolade gefüllt sind«, beendete der Sparkassenberater seine Erzählung. »Allerdings kann ich Ihnen aus persönlicher Erfahrung von dieser Anlagemöglichkeit nur abraten«, fügte er nach einer Pause hinzu.
Copyright © der Originalausgabe 2011 by Wladimir Kamine
Neue Heimat
Wenn man von einem Land in ein anderes zieht, nicht nur, um sich die dortigen Sehenswürdigkeiten anzugucken, sondern mit dem Wunsch, dort ein neues Leben auf unbekanntem Territorium zu beginnen, so ist die tödlichste aller Gefahren der Vergleich. Dessen Verführungskraft ist allerdings sehr stark und hängt mit der Verführung durch den Zweifel zusammen. Kaum einer kann ihr widerstehen, und natürlich muss die neue Heimat den wildesten Erwartungen standhalten. Alles Neue und Ungewohnte wird genauestens bewertet, die Vorzüge und Nachteile abgewogen - die Sitten, die Waren, die Fernsehprogramme, die Architektur ... Und immer fällt die neue Heimat beim Vergleich durch. Nie hält sie, was man sich von ihr versprochen hat.
Ich glaube, dieses Phänomen ist überall auf der Erde gleich, egal ob ein Chinese nach Australien zieht oder ein Kroate nach Finnland. Nur kenne ich viel zu wenig Chinesen und Kroaten, dafür aber sehr viele Russen und Ukrainer in Deutschland. Wenn ein Russe von den Deutschen spricht, dann sagt er, ihnen fehle das Herz. Sie gehen zwar auch gerne saufen, sie sitzen nächtelang in Biergärten oder ziehen mit einem Leiterwagen und Aquavit durch Kohlfelder. Sie sind als Extremtouristen überall auf der Welt bekannt, fahren mit dem Motorrad steile Berge hinauf und hinunter, laufen Marathon durch die Wüste, jagen bei großen Open-Air-Partys Mädels hinterher, doch das alles tun sie ohne Herz, aus bloßem Interesse. Und wenn das Interesse gesättigt ist, hören sie mit ihren Exzessen auf und gehen von neun bis fünf und einer Mittagspause zwischendurch wieder einer abhängigen Beschäftigung nach.
Dieses Doppelleben ist unter den Einheimischen in Deutschland stark verbreitet. Ihre Leidenschaften bleiben immer Hobbys. Während andere sich an ihren Abenteuern verbrennen, wollen sich die Deutschen eigentlich nur bilden. Deswegen werden hier in den Reisebüros statt erholsamer Sauftouren gerne »Bildungsreisen« angeboten. Die Menschen finden es toll, wenn man im Urlaub nebenbei noch irgendeinen Motorboot-Führerschein bekommen oder Spanisch lernen kann.
Die größte Schwäche seiner neuen Heimat ist aus Sicht des Neuankömmlings natürlich ihre Gastronomie. Hier entdeckt er riesige Defizite. Man kann unendlich lange darüber sinnieren, wie gesund, ökologisch bewusst und vitaminreich sich das Essen in Deutschland präsentiert, Tatsache ist: Nichts schmeckt hier so, wie es schmecken soll. Das fängt mit dem Brot an und endet bei Wassermelonen und Gurken. Diese Produkte sind keine Delikatessen, in Russland weiß jedes Kind, wie eine Gurke oder eine Beere oder eine Wassermelone zu schmecken hat. Ganz sicher nicht nach Zeitungspapier.
Den hiesigen Produkten fehlt es einfach an Geschmack, an Fett und Zucker und anderen Stoffen, die das Essen schmackhaft und die Menschen etwas mollig machen. Abgesehen davon fehlt hierzulande die Kultur der leicht gebeizten Gurke, des Pilzes und des Krauts. Die Deutschen können kein Gemüse richtig einlegen, sie bringen ihre Gurken mit Essig und Chemikalien um, sie trinken den Wodka warm und im Stehen und halten das polnische nastrovje für einen russischen Trinkspruch. Sie werden viel zu schnell betrunken und fallen immer dann um, wenn es am interessantesten wird, wodurch ihnen der unterhaltsame Weg in die Vielfalt der osteuropäischen Gastronomie verwehrt ist.
Ein weiterer großer Mangel und ein nicht weniger großes Problem hierzulande ist die sogenannte Aufklärung, ein Bildungsprozess aus der Vergangenheit, der mit den Deutschen von heute nichts mehr zu tun hat, sie aber im Glauben lässt, sie wären so etwas wie die Kulturavantgarde der Menschheit. Dabei haben sie eine Schwäche für dumme Kabarettistenwitze, schweinische Zeitungsüberschriften, hässliche Einfamilienhäuser und Hunde, die aus großen Büchsen mit vielen Konservierungsstoffen ernährt und dadurch praktisch unsterblich werden.
Ein anderes Thema ist die deutsche »Vergangenheit«. Mit »Vergangenheit« werden hier in der Regel die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Diktatur bezeichnet, die in ihrer Mordlust und Monstrosität alle anderen Epochen und Diktaturen Europas locker übertreffen. Diese deutsche Vergangenheit sorgt bei den Russen oft für Unbehagen, besonders wenn sie auf sehr alte Menschen oder alt aussehende Hunde stoßen, die eigentlich fast immer sympathisch und nett wirken. Viele müssen aber schon als Kleinkind Mitglied der NSDAP gewesen sein. Obwohl der Krieg inzwischen seit mehr als sechzig Jahren vorüber ist, entbrennen in den deutschen Medien noch immer regelmäßig Skandale, weil neue Fakten auftauchen - dass der Schauspieler X oder der Sozialdemokrat Y als Kleinkind bereits bei den Nationalsozialisten mitmachte. Wahrscheinlich hat diese Diktatur in ihrer Agonie oder aus Verzweiflung sogar Föten in die Partei eintreten lassen, um sich auf diese Weise den Zugang zu den deutschen Medien des XXI. Jahrhunderts zu sichern.
Ich habe nur einmal eine Begegnung mit dieser deutschen »Vergangenheit« erlebt. Das war im Juli 1990 in Ostberlin. Damals war die Wiedervereinigung de facto bereits abgehakt, obwohl die DDR de jure noch existierte. Es fühlte sich an, als hätte der Lauf der Geschichte für einen Moment haltgemacht, um Luft zu holen. Die Ostberliner hatten in jenem Sommer die einmalige Gelegenheit, etwas zu erleben, das es so nirgends auf der Welt mehr gab: Sie lebten gleichzeitig im Sozialismus und im Kapitalismus. Sie genossen die Vorzüge beider Systeme, ohne ihre Nachteile zu spüren. Als Wohnungsmiete zahlten sie noch immer 16,50 DM, in den Kaufhallen lagen aber schon Berge von Bananen, und man konnte laut auf Honecker und die Kommunisten schimpfen. Die Polizei hatte Angst, die Punks von der Straße zu verjagen, und die Verkäuferinnen hatten keine Lust, die neuen Produktnamen auswendig zu lernen, jeden Tag kamen neue dazu. Sie antworteten zur Sicherheit: »Ham wa nich«, wenn man Unbekanntes verlangte. Dabei stand schon alles in den Regalen.
In dieser wunderbaren Zeit gingen mein Freund Boris und ich oft und gerne in der nagelneuen Kaisers- Filiale in Prenzlauer Berg einkaufen, die sich in einer leer stehenden DDR-Konsumkaufhalle eingerichtet hatte. Wir waren beide frisch aus der Sowjetunion geflüchtet, unsere alte Heimat befand sich gerade in Auflösung, und beinahe jede Woche ging ihr ein Stück ihrer Identität verloren. Unsere neue Heimat war dagegen gerade im Aufbau - täglich wurden riesige Laster mit Westwaren vor den Hintertüren der Ostkaufhalle ausgeladen.
An einem sonnigen Tag traf uns die deutsche Vergangenheit wie ein schwarzer Schatten, und zwar dort, wo wir sie am wenigsten erwartet hatten - vor der Kaufhalle. Auf dem Bordstein vor der Tür saß ein alter deutscher Schäferhund. Er sonnte sich mit geschlossenen Augen und wirkte überhaupt nicht böse, sondern verschlafen und müde. Boris stellte sich neben den Hund, um sich eine Zigarette zu drehen. Damals war Zigarettendrehen groß in Mode, alle drehten schwarzen Tabak wie verrückt, und manche konnten es sogar mit einer Hand in der Hosentasche. Mein Freund hatte noch keine solche Geschicklichkeit entwickelt, er brauchte ein spezielles Gerät, um Zigaretten zu drehen. Trotzdem fiel sein Tabak immer wieder auf den Asphalt, und Boris schimpfte laut auf Russisch. Zu diesem Zeitpunkt konnte noch keiner von uns Deutsch, unsere Sprachkenntnisse waren auf das Minimum reduziert, das wir aus sowjetischen Kriegsfilmen kannten. In diesen Filmen sprachen russische Schauspieler, die Deutsche spielten, einander gelegentlich auf Deutsch an, um ihrer Rolle mehr Glaubwürdigkeit und Ausdruck zu verleihen. Es waren schlichte Sätze, die man sich leicht merken konnte wie zum Beispiel »Heil Hitler« oder »Feuerzeug kaputt« oder »Sie können gehen, Barbara«. Das war nicht viel, und wir konnten deswegen auf Deutsch keine Unterhaltung führen, wir konnten auch nicht auf Deutsch schimpfen, aber zum Einkaufen reichte es.
Mein Freund stand also in der Sonne, drehte seine Zigarette und schimpfte laut auf Russisch. Plötzlich erwachte der alte Hund. Er drehte seinen Kopf zu Boris, und ohne die Augen zu öffnen, nahm er Boris' Hand ins Maul. Es sah schrecklich aus. Der Hund biss meinen Freund nicht, er hielt seine Hand zwischen seinen scharfen gelben Zähnen, zärtlich, aber fest. Dabei öffnete der Hund die Augen und schaute meinem Freund direkt ins Gesicht. Boris wirkte ziemlich durcheinander. Ihm fiel in dieser Situation nichts Besseres ein, als »Heil Hitler« zu sagen. Sofort machte das Tier sein Maul auf und ließ Boris los. Danach schloss der Hund die Augen wieder und tat so, als würde er im Sitzen schlafen.
Wir gingen sofort weg von der Kaufhalle, ohne ein Wort zu wechseln, aber mein Freund stand noch eine ganze Weile unter Schock. Wir wussten natürlich nicht, wie dieser schreckliche Hund reagiert hätte, wenn wir zu ihm »Feuerzeug kaputt« gesagt hätten oder »Sie können gehen, Barbara«. Doch wir beide waren überzeugt, dass dieser Hund ein Nazi war. Das Ganze ist nun schon zwanzig Jahre her, der Hund ist hoffentlich längst tot (sie sind zäh wie Leder), und mein Freund Boris ist vor zwölf Jahren nach Amerika emigriert. Er studierte dort Grafikdesign und schleppt als staatlich geprüfter Fremdenführer in New York russische Touristengruppen durch die Gegend.
Goldfieber
»Lassen Sie uns über das Leben philosophieren, Herr Kaminer! «, sagte mein Sparkassenberater und bestellte uns erst einmal zwei Bier. Dafür schätze ich den Mann: Wenn wir uns treffen, dann nicht in der Sparkasse zu Keksen und Kaffee, sondern in einer Kneipe mit Raucherecke. Wenn er über seine Finanzprodukte spricht, sagt er jedes Mal: »Allerdings würde ich Ihnen aus persönlicher Erfahrung von dieser Anlagemöglichkeit abraten.«
Das klingt vertrauenswürdig. Mein Sparkassenberater ist eigentlich gar kein Berater, sondern ein Abrater. Er sieht auch anders aus als die meisten seiner Kollegen. Im Normalfall müssen Sparkassenberater doch glatt rasiert und akkurat gekämmt sein, einen weichen Händedruck haben und eine Väterlichkeit gleichzeitig mit einer Prise Mütterlichkeit ausstrahlen, um an das Geld ihrer Kunden zu kommen, es irgendwo in Teufelsaktien anzulegen und dann mal zu sehen, was passiert. Mein Sparkassenberater ist da anders. Er hat einen sehr festen Händedruck und sieht aus wie ein normaler Mensch, also wenig vertrauensvoll. Und er philosophiert gerne.
»Nicht wir stellen die Regeln auf, wir regen uns nur darüber auf«, sagte er das letzte Mal tiefsinnig und zündete sich eine Zigarette an, als ich ihn nach den Auswirkungen der Finanzkrise auf seine Sparkassenfiliale fragte. »Geld war schon immer ein schnell verderbliches Gut, das man am liebsten sofort verbrauchen soll. Geld ist wie Bier. Wenn wir unsere Biere hier stehen lassen«, er zeigte auf unsere Biergläser, die fast leer waren, »wenn wir also diese Biere hier stehen lassen, weggehen und in zwei Wochen wieder zurückkommen würden, was meinen Sie, Herr Kaminer, wird das Bier noch immer auf uns warten?«
»Nein?«, antwortete ich vorsichtig.
»Es wird ganz sicher nicht mehr da sein!«, unterstützte mich mein Sparkassenberater. »Genauso ist es mit dem Geld«, philosophierte er weiter. »Kaum lässt man es irgendwo anlegen, geht kurz weg und kommt zurück, ist es weg. Natürlich haben wir auch in dieser schwierigen Zeit etliche Angebote parat, aber ich würde Ihnen aus persönlicher Erfahrung nicht zu diesen Angeboten raten. Für die meisten Kunden bleibt nach wie vor das Schließfach die sicherste Form der Geldanlage. Bei uns in der Filiale sind alle belegt, und die meisten werden auf Jahrzehnte vermietet und beinahe täglich betreut.«
Mich erinnerte seine Geschichte sofort an einen Bekannten aus alten Zeiten. Anfang der Neunzigerjahre lernte ich in Berlin einen Mann kennen, der sein gesamtes Vermögen in Goldbarren in einem Schließfach am Bahnhof Lichtenberg deponiert hatte und sehr darunter litt. Er war ein Punk-Musiker, der gegen das Schweinesystem sang. Nach der Wende schloss er im wiedervereinigten Deutschland einen günstigen Plattenvertrag ab und bekam viel Geld. Einerseits war er dank dieses Vertrags mit der Plattenfirma in dem von ihm gehassten Schweinesystem angekommen, andererseits aber nicht ganz. Er konnte trotzdem kein Vertrauen in das kapitalistische Bankwesen entwickeln. Eine bürgerliche Investition kam für ihn nicht in Frage. Nachdem er einen Teil seines Gewinns in Drogen und einen weiteren in ein Wohnmobil - seinen Kindheitstraum - investiert hatte, kaufte er für den Rest des Geldes Goldbarren und deponierte sie am Bahnhof Lichtenberg in einem Schließfach.
Diese kurzsichtige Geldanlage veränderte sein Leben. Ursprünglich hatte er vor, mit seinem Wohnmobil auf Weltreise zu gehen, nun konnte er aber Berlin nicht mehr verlassen: Er musste alle vierundzwanzig Stunden zum Bahnhof Lichtenberg, um neue Münzen in das Schließfach zu werfen. Sein Wohnmobil parkte er neben der Bahnhofshalle, er fuhr damit nirgendwohin. Fünf Jahre später starb er in seinem Wohnmobil unter ungeklärten Umständen. Sein Gold bekam wahrscheinlich zuletzt die Deutsche Bahn und hat dafür später einen tollen neuen Bahnhof gebaut. Eine traurige Geschichte.
Mein Sparkassenberater hörte mir aufmerksam zu, zündete eine neue Zigarette an und sagte, er kenne eine ähnliche Geschichte, die noch trauriger sei. Ich bat ihn, sie mir zu erzählen.
»Oft sind es sehr alte Menschen, die Schließfächer in der Sparkassenfiliale besitzen, sie haben keine Kraft mehr, ihre Fächer auf- bzw. zuzuschließen. Ein sehr alter Mann kam trotzdem jeden Tag sein Schließfach besuchen«, erzählte mein Berater. »Einmal bat er mich, ihm zu helfen, seine Wertschatulle herauszunehmen, er konnte sie selbst nicht mehr herausheben, so schwer war sie. Ich ging mit ihm in den Tresorraum, holte seine Schatulle unter großer Anstrengung heraus - sie war tatsächlich verdammt schwer -, stellte sie auf den Tisch und wollte den Tresorraum wieder verlassen, wie es sich in einer Bank gehört. Doch der Kunde hielt mich am Ärmel zurück.
›Bitte bleiben Sie‹, flüsterte er. ›Machen Sie mir die Freude - ich möchte, dass Sie in meine Schatulle reinschauen.‹
Er öffnete die Kiste. Sie war mit südafrikanischen Goldmünzen gefüllt, Sie wissen schon, diese Krügerrandmünzen. Ein toller Anblick, so viel Gold. Ich gratulierte ihm zu seinem Gold und wollte erneut gehen. Der Alte ließ mich aber immer noch nicht los.
›Nehmen Sie eine‹, forderte er mich auf, ›bitte, bitte!‹
Was sollte ich machen? Ich nahm eine seiner Münzen in die Hand: Es war eine Schokoladenmünze. Der Kunde hatte sein Schließfach mit Schokolade von Aldi gefüllt, unter die Schokolade eine Stahlplatte gelegt, um das Ganze schwerer zu machen, und freute sich nun fürchterlich über meinen Gesichtsausdruck. Ich war fassungslos und sagte nichts. Seine beiden Söhne kämen ihn nicht einmal besuchen, erzählte er mir. Der eine Sohn unterrichte irgendetwas in England, der andere sei vor langer Zeit mit seiner Freundin nach Stuttgart gezogen. Sie schrieben ihm nicht einmal Postkarten zu Weihnachten, beschwerte er sich. Er wisse überhaupt nicht, ob er Enkelkinder habe. Dafür stelle er sich jede Nacht vor dem Einschlafen vor, wie seine beiden Söhne nach seinem Tod hierherkämen, um ihre Erbschaft anzutreten, die dicke Schatulle aus dem Tresor holten, sie nach oben schleppten und die Aldi- Schokolade darin entdeckten. Allein dieser Gedanke gäbe ihm den Mut weiterzuleben und lasse ihn glücklich einschlafen. Jede Nacht träume er davon, und bestimmt werden seine Söhne noch dämlicher aus der Wäsche gucken, als ich es gerade getan habe.
Ungefähr ein Jahr danach starb der Kunde. Seine Söhne kamen nicht. Der Erbschaftsverwalter untersuchte das Schließfach, entsorgte die Stahlplatte und ließ die Schokolade in der Filiale in einer Ecke liegen. Sie wurde schnell aufgegessen. Niemand hat sich groß über die Schokolade gewundert, am wenigsten der Erbschaftsverwalter, als hätte er genau das erwartet.
Ich kann nicht ausschließen, dass die meisten Schließfächer in Deutschland mit Aldi-Schokolade gefüllt sind«, beendete der Sparkassenberater seine Erzählung. »Allerdings kann ich Ihnen aus persönlicher Erfahrung von dieser Anlagemöglichkeit nur abraten«, fügte er nach einer Pause hinzu.
Copyright © der Originalausgabe 2011 by Wladimir Kamine
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Autoren-Porträt von Wladimir Kaminer
Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Mit seiner Erzählsammlung »Russendisko« sowie zahlreichen weiteren Bestsellern avancierte er zu einem der beliebtesten und gefragtesten Autoren Deutschlands.
Bibliographische Angaben
- Autor: Wladimir Kaminer
- 2013, 288 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442473659
- ISBN-13: 9783442473656
- Erscheinungsdatum: 14.03.2013
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