Liebste Tess
"Einfach großartig! Fesselnd und zugleich elegant. 'Liebste Tess' bewegt sich in dem seltenen Umfeld, wo Krimi und Literatur sich treffen."
JEFFERY DEAVER
"Liebste Tess", damit beginnt der Brief, den Beatrice an ihre verstorbene...
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Produktinformationen zu „Liebste Tess “
"Einfach großartig! Fesselnd und zugleich elegant. 'Liebste Tess' bewegt sich in dem seltenen Umfeld, wo Krimi und Literatur sich treffen."
JEFFERY DEAVER
"Liebste Tess", damit beginnt der Brief, den Beatrice an ihre verstorbene Schwester richtet. Die Polizei behauptet, Tess habe Selbstmord begangen, aber Beatrice weiß, dass das nicht wahr ist. In ihrem langen, ergreifenden Abschiedsbrief an ihre Schwester schildert Beatrice, wie sie geradezu besessen ermittelt.
Dabei kommt sie der Wahrheit immer näher - bis sie einen großen Fehler macht.
Lese-Probe zu „Liebste Tess “
Liebste Tess von Barbara Christ1
Sonntagabend
Liebste Tess,
ich würde alles tun, um jetzt bei Dir zu sein, in diesem Moment, weil ich dann Deine Hand halten, Dir ins Gesicht blicken, Deine Stimme hören könnte. Wie kann ein Brief die Berührung, das Sehen und Hören ersetzen - all die sensorischen Rezeptoren und Sehnerven und schwingenden Trommelfelle? Aber wir haben es früher schließlich auch geschafft, Worte als Unterhändler einzusetzen, nicht wahr? Früher, als ich im Internat war und Briefe unsere Spiele und das Gelächter und Geflüster ersetzen mussten. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was in meinem ersten Brief stand, nur, dass ich ihn auf einzelne Puzzleteile schrieb, um dem neugierigen Blick meiner Erzieherin zu entgehen. (Ich vermutete richtig, dass sich ihr Puzzle spielendes inneres Kind schon vor Jahren verabschiedet hatte.) Aber ich erinnere mich an jedes Wort, mit dem Du, die Siebenjährige, auf mein bruchstückhaftes Heimweh reagiert hast, und daran, dass die Schrift unsichtbar war, bis ich eine Taschenlampe auf das Papier richtete. Was guttut, duftet seither nach Zitrone.
... mehr
Diese kleine Geschichte würde den Journalisten gefallen, weil sie beweist, dass ich schon als Kind eine Art Zitronensaftdetektivin gewesen bin, und weil sie zeigt, wie nah wir Schwestern uns schon immer standen. Sie belagern nämlich gerade Deine Wohnung und haben Kamerateams und Tontechniker mitgebracht (verschwitzte Gesichter, schmutzige Jacken, Kabel, die die Treppe hinunterkriechen und sich am Geländer verfangen). Ja, das war jetzt ein wenig achtlos dahergesagt, aber wie sonst soll ich Dir davon erzählen?
Ich weiß nicht genau, wie Du es finden würdest, sozusagen berühmt zu sein - eher komisch, nehme ich an. Komisch im Sinne von lustig und im Sinne von seltsam. Ich finde es nur komisch im Sinne von seltsam, aber ich hatte ja auch nie Deinen Sinn für Humor, oder?
»Du musstest nachsitzen, und das ist ernst«, sagte ich. »Beim nächsten Mal fliegst du garantiert von der Schule, und Mum hat schon mehr als genug am Hals.«
Du hattest Dein Kaninchen in die Schule geschmuggelt, und man hatte Dich erwischt. Ich kehrte die große Schwester heraus. »Irgendwie ist es aber auch komisch, oder, Bee?«, hast Du gefragt und eine Schnute gezogen, um nicht loszulachen, was mich an eine Flasche Lucozade erinnerte, in der Kicherbläschen aufstiegen, um oben sprudelnd zu zerplatzen.
Schon der Gedanke an Dein Lachen macht mir Mut, und ich gehe zum Fenster.
Draußen steht ein Nachrichtenreporter von einem Satellitensender, ich kenne ihn. Normalerweise betrachte ich sein zweidimensional verflachtes Gesicht daheim in meiner New Yorker Wohnung auf einem Plasmabildschirm, aber jetzt steht er lebensgroß, dreidimensional und aus Fleisch und Blut in der Chepstow Road und sieht mich durch Dein Souterrainfenster an. Mir juckt der Finger, denn ich würde am liebsten die Austaste an der Fernbedienung drücken - stattdessen ziehe ich den Vorhang zu.
Doch als ich die Reporter noch sehen konnte, war es irgendwie besser. Die Scheinwerfer strahlen ohnehin durch die Gardinen, Geräusche dringen durch Fenster und Wände. Man hat das Gefühl, dass da draußen ein Bulldozer steht, der jeden Moment Dein Wohnzimmer niederwalzen kann. Kein Wunder, dass die Presse Presse heißt, und wenn das noch lange dauert, könnte es sein, dass ich ersticke. Ja, gut, ich dramatisiere ein bisschen, und Du wärst wahrscheinlich längst draußen und würdest ihnen Kaffee anbieten.
Aber wie Du weißt, bin ich ziemlich reizbar und äußerst empfindlich, was meine Privatsphäre betrifft. Am besten gehe ich in die Küche und versuche, die Lage in den Griff zu bekommen.
Hier ist es friedlicher, und ich kann in Ruhe nachdenken. Komisch, was mich inzwischen alles überrascht; oft sind es wirklich Kleinigkeiten. Gestern stand zum Beispiel in der Zeitung, wie nahe wir uns als Schwestern gestanden haben, ohne dass von unserem Altersunterschied die Rede gewesen wäre. Vielleicht spielt er jetzt, wo wir erwachsen sind, gar keine Rolle mehr, aber in unserer Kindheit war er entscheidend. »Fünf Jahre sind eine große Lücke ...?«, sagten Leute, die nicht Bescheid wussten, und hoben am Ende des Satzes ein bisschen die Stimme, um eine Frage daraus zu machen. Und dann dachten wir beide an Leo und an die Lücke, die er hinterlassen hatte, wobei gähnende Leere wohl treffender wäre, aber das haben wir nie gesagt, nicht wahr?
Ich höre, dass eine Journalistin vor der Hintertür telefoniert. Anscheinend diktiert sie jemand etwas, und mein eigener Name springt mich an: »Arabella Beatrice Hemming«. Mum sagt, dass mich nie jemand bei meinem ersten Vornamen genannt hat, also gehe ich davon aus, dass ich schon als Baby keine Arabella war, ein Name, den man in Schönschrift mit schwarzer Tinte und Schleifen und Schnörkeln schreibt, ein Name, hinter dem sich Mädchen verbergen, die dann Bella oder Bells oder Belle gerufen werden - so viele hübsche Möglichkeiten. Nein, ich war von Anfang an eindeutig eine Beatrice, denn das schreibt man sachlich und schmucklos in Times New Roman, und niemand verbirgt sich dahinter. Dad hatte den Namen Arabella vor meiner Geburt ausgesucht. Die Realität muss enttäuschend gewesen sein.
Jetzt ist die Journalistin wieder in Hörweite, wahrscheinlich führt sie ein neues Gespräch, denn sie entschuldigt sich, weil sie länger arbeiten muss. Es dauert einen Moment, bis mir klar wird, dass ich, Arabella Beatrice Hemming, der Grund dafür bin. Am liebsten würde ich nach draußen gehen und ihr sagen, dass es mir leidtut, Du kennst mich ja - ich war immer die Erste, die auf der Stelle in die Küche eilte, wenn Mum mit den Pfannen klapperte und so ihr wütendes Trommelsignal erschallen ließ. Die Journalistin geht weg. Ich kann nicht verstehen, was sie sagt, aber ich höre ihren beruhigenden, leicht defensiven, behutsamen Ton. Plötzlich verändert sich ihre Stimme. Bestimmt spricht sie mit ihrem Kind. Der Klang dringt durch die Tür und die Fenster und wärmt Deine Wohnung.
Vielleicht sollte ich so aufmerksam sein, ihr zu sagen, dass sie nach Hause gehen soll. Dein Fall ist noch nicht abgeschlossen, also darf ich ihnen vor der Verhandlung ohnehin nichts sagen. Doch das weiß sie, und die anderen wissen es auch. Sie wollen ja auch keine Tatsachen, sondern Emotionen. Ich soll die Hände ringen und ihnen weiße Knöchel in Großaufnahme bieten. Ich soll ein paar Tränen vergießen, die mir wie Schnecken über die Wangen kriechen und schwarze Mascaraspuren hinterlassen. Also bleibe ich im Haus.
Als die Reporter und ihr Technikergefolge endlich weg sind, hinterlassen sie auf der Treppe, die zu Deiner Wohnung hinunterführt, eine Art Hochwassermarke aus Zigarettenasche und Kippen, die in Deinen Blumentöpfen mit den Narzissen stecken. Morgen stelle ich ihnen Aschenbecher hin. Doch einige habe ich auch falsch eingeschätzt. Sie haben sich für die Störung entschuldigt, und ein Kameramann hat mir sogar Chrysanthemen aus dem Laden an der Ecke geschenkt. Ich weiß, dass Du die nie mochtest.
»Die sind rotbraun wie die Schuluniform, oder herbstbraun, sogar im Frühling«, sagtest Du lächelnd und zogst mich auf, weil ich eine Blume dafür schätzte, dass sie so ordentlich aussah und so langlebig war.
»Oft haben sie aber richtig leuchtende Farben«, sagte ich und lächelte nicht zurück.
»Knallig. Die werden gezüchtet, damit sie dann vor irgendwelchen Garagen quadratkilometerweise Beton verzieren.«
Doch ich fand es sehr aufmerksam von ihm, dass er mir diese welkenden Stängel brachte - einen Strauß Mitgefühl, der mich überraschte wie Schlüsselblumen auf dem Seitenstreifen der Autobahn.
Der Kameramann mit den Chrysanthemen hat mir erzählt, dass heute Abend in den Zehn-Uhr-Nachrichten ein »Sonderbeitrag« über unsere Geschichte kommt. Gerade habe ich Mum angerufen, um es ihr zu erzählen. Ich glaube, auf eine seltsame, für sie aber typische Art ist sie irgendwie stolz darauf, dass Du so viel Aufmerksamkeit bekommst. Und es wird wohl noch mehr. Wenn man einem der Tontechniker glauben will, werden morgen sogar Medienleute aus dem Ausland eintreffen. Es ist schon komisch - komisch im Sinne von seltsam -, dass mir niemand zuhören wollte, als ich vor ein paar Monaten versuchte, es den Leuten zu erzählen.
Montagnachmittag
Jetzt hören mir offenbar alle zu, die Presse, die Polizei, Juristen - Stifte kritzeln, Köpfe recken sich, Bandgeräte summen. Heute Nachmittag mache ich vor einem Beamten der Strafverfolgungsbehörde Criminal Prosecution Service, kurz CPS, meine Zeugenaussage, die in vier Monaten bei dem Prozess verwendet werden wird. Es hieß, dass meine Aussage entscheidend für die Anklage ist, denn ich bin die einzige Person, die die ganze Geschichte kennt.
Mr Wright, der Beamte der Strafverfolgungsbehörde, sitzt mir gegenüber und nimmt meine Aussage auf. Ich schätze ihn auf Ende dreißig, aber vielleicht ist er auch jünger und sein Gesicht war nur mit zu vielen Geschichten wie meiner konfrontiert. Er wirkt wachsam und beugt sich ein wenig zu mir hin, denn er will, dass ich ihm etwas anvertraue. Ein guter Zuhörer, denke ich, aber was für ein Typ Mann?
»Wenn Sie einverstanden sind«, sagt er, »dann hätte ich gern, dass Sie mir alles erzählen, von Anfang an, und ich entscheide dann später, was relevant ist.«
Ich nicke. »Ich weiß nicht genau, wo der Anfang ist.«
»Vielleicht da, wo Ihnen erstmals klar wurde, dass etwas nicht stimmte?«
Mir fällt auf, dass er ein schönes italienisches Leinenhemd und eine hässliche, bedruckte Polyesterkrawatte trägt - unmöglich, dass ein und derselbe Mensch beide Kleidungsstücke ausgesucht hat. Eins davon war ganz sicher ein Geschenk. Wenn die Krawatte das Geschenk war und er sie trägt, dann ist er ein netter Mensch. Ich weiß nicht genau, ob ich Dir das schon erzählt habe, aber mein Geist driftet seit neuestem gern ab, wenn er nicht über das nachdenken will, was gerade Thema ist.
Ich blicke auf und sehe ihm in die Augen.
»Das war nach dem Anruf von meiner Mutter, als sie sagte, dass sie verschwunden ist.«
Als Mum anrief, hatten wir gerade Gäste zu einem sonntäglichen Lunch. Unser Deli nebenan hatte ein Essen geliefert, das New York sehr entsprach - stilvoll und unpersönlich. Dasselbe galt für unsere Wohnung, unsere Möbel und unsere Beziehung - nichts war hausgemacht. Ein Big Apple ohne Kerngehäuse. Diese Kehrtwendung irritiert Dich, ich weiß, doch über mein Leben in New York können wir uns später unterhalten.
Wir waren am selben Vormittag von einer »Romantischen Auszeit im Schnee« in einer Blockhütte in Maine zurückgekehrt, wo wir meine Beförderung zur Abteilungsleiterin gefeiert hatten. Todd fand großen Spaß daran, die Partygäste mit dem Reinfall aufzuheitern, den wir dort erlebt hatten.
»Einen Whirlpool haben wir ja nicht erwartet, aber eine heiße Dusche wäre ganz nett gewesen, und ein Festnetztelefon hätte auch nicht geschadet. Unsere Handys haben ebenfalls nicht funktioniert, weil unser Provider da draußen keinen Mast stehen hat.«
»Seid ihr denn spontan losgefahren?«, fragte Sarah ungläubig.
Wie Du weißt, waren Todd und ich nicht gerade berühmt für unsere Spontaneität. Sarahs Mann Mark funkelte sie über den Tisch hinweg an. »Liebling.«
Sie erwiderte seinen Blick. »Ich hasse es, wenn Du mich ›Liebling‹ nennst. Das ist der Code für ›Halt verdammt noch mal die Klappe‹, stimmt's?«
Sarah würde Dir gefallen. Vielleicht sind wir deswegen befreundet - weil sie mich sofort an Dich erinnert hat. Sarah wandte sich an Todd. »Wann hattet ihr zwei das letzte Mal Krach, du und Beatrice?«
»Wir sind beide nicht besonders theatralisch veranlagt«, antwortete Todd, ein selbstgerechter Versuch, sie auflaufen zu lassen.
Doch Sarah lässt sich nicht so leicht verunsichern. »Dann seid ihr auch gleichgültig.«
Darauf folgte betretenes Schweigen, das anhielt, bis ich es höflich durchbrach: »Jemand Kaffee oder Kräutertee?«
In der Küche füllte ich Kaffeebohnen in die Mühle - das Einzige, was ich zur Zubereitung der Mahlzeit beitrug. Sarah folgte mir zerknirscht. »Tut mir leid, Beatrice.«
»Kein Problem.« Ich war die perfekte Gastgeberin, lächelte, wiegelte ab und machte Kaffee. »Trinkt Mark ihn schwarz oder mit Milch?«
»Mit Milch. Bei uns wird auch nicht mehr gelacht«, sagte sie, stemmte sich auf den Tresen hoch und ließ die Beine baumeln. »Und was Sex betrifft ...«
Ich schaltete die Mühle an und hoffte, der Lärm würde sie zum
Schweigen bringen. Aber sie rief: »Was ist mit dir und Todd?« »Uns geht es gut, danke«, antwortete ich und gab die gemahlenen Bohnen in unsere Siebenhundert-Dollar-Espressomaschine. »Also wird noch gelacht und gevögelt?«, fragte sie.
Ich klappte ein Etui mit Kaffeelöffeln aus den dreißiger Jahren auf, die in verschiedenen Farben emailliert waren und wie geschmolzene Bonbons aussahen. »Die haben wir letzten Sonntagmorgen auf dem Antikmarkt gekauft.«
»Du weichst vom Thema ab, Beatrice.«
Aber Du hast schon mitbekommen, dass ich das nicht tat; dass Todd und ich sonntagmorgens, wenn andere Paare im Bett blieben und sich liebten, unterwegs waren und Antiquitäten kauften. Zusammen einkaufen konnten wir immer besser als uns im Bett vergnügen. Ich glaubte, dass wir uns eine gemeinsame Zukunft schufen, wenn wir unsere Wohnung mit Dingen einrichteten, die wir gemeinsam ausgesucht hatten. Ich höre förmlich, wie Du mich damit aufziehst, dass Sex nicht einmal durch eine Clarice-Cliff-Teekanne zu ersetzen ist, aber mir gab Letztere ein wesentlich größeres Gefühl von Sicherheit.
Das Telefon klingelte. Sarah ließ sich davon nicht stören. »Sex und Lachen. Herz und Lunge einer Beziehung.«
»Ich muss ans Telefon.«
»Was meinst du, wann ist es an der Zeit, die lebenserhaltende Apparatur abzuschalten?«
»Ich muss da wirklich rangehen.«
»Wann stellt man besser die gemeinsame Hypothek und das gemeinsame Konto und die gemeinsamen Freunde ab?«
Ich war froh, dieses Gespräch unterbrechen zu können, und nahm den Hörer. »Hallo?«
»Beatrice, hier ist Mummy.«
Du warst seit vier Tagen verschwunden.
Ich kann mich nicht mehr ans Packen erinnern, weiß aber noch, dass Todd hereinkam, als ich den Koffer schloss. Ich drehte mich zu ihm um. »Wann geht mein Flug?«
»Es gibt erst morgen wieder welche.«
»Aber ich muss jetzt los.«
Du warst seit dem vorherigen Sonntag nicht zur Arbeit erschienen. Deine Chefin hatte versucht, Dich anzurufen, aber nur den Anrufbeantworter erreicht. Sie war zu Deiner Wohnung gefahren, aber dort warst Du nicht. Niemand wusste, wo Du sein mochtest. Mittlerweile suchte die Polizei nach Dir.
»Kannst du mich zum Flughafen fahren? Ich nehme den ersten freien Platz.«
»Ich rufe ein Taxi«, antwortete er. Er hatte zwei Gläser Wein getrunken. Ich hatte seine Vorsicht immer geschätzt.
Davon erzähle ich Mr Wright natürlich nichts. Ich erzähle ihm nur, dass Mum am 26. Januar um fünfzehn Uhr dreißig New Yorker Zeit angerufen und gesagt hat, dass Du verschwunden bist. Wie Du interessiert sich Mr Wright für das große Ganze und nicht für kleine Details. Du hast schon als Kind eher ausladende Bilder gemalt, die über den Seitenrand hinausquollen, während ich bei meinen Zeichnungen ganz vorsichtig mit Bleistift, Lineal und Radierer arbeitete. Und später haben Deine abstrakten Ölgemälde große Wahrheiten in kühnen Strichen und lebhaften Farben ausgedrückt, während ich jeder Farbe dieser Welt eine Pantone-Nummer zuordnen konnte und somit für meinen Job im Corporate Design perfekt geeignet war. Weil ich nicht wie Du mit breiten Pinselstrichen umgehen kann, werde ich Dir diese Geschichte in akkurat hingetupften Details erzählen. Ich hoffe, dass sich die Tupfen wie bei einem pointillistischen Gemälde zum Bild verdichten werden und dass wir - wenn es erst einmal fertig ist - verstehen, was geschehen ist und warum.
»Bis Ihre Mutter anrief, hatten Sie also keine Ahnung von irgendeinem Problem?«, fragt Mr Wright.
Mich überkommt die vertraute, Übelkeit erregende Welle des Schuldgefühls. »Nein. Nichts, was mir aufgefallen wäre.«
Ich flog First Class, weil kein anderer Platz verfügbar war. Als wir das wolkige Niemandsland durchflogen, stellte ich mir vor, wie ich Dich ausschimpfen würde, weil ich Deinetwegen so etwas durchmachen musste. Ich nahm Dir das Versprechen ab, nie wieder so etwas Verrücktes zu tun. Ich erinnerte Dich daran, dass Du bald Mutter werden würdest und dass Du Dich endlich wie ein erwachsener Mensch benehmen solltest.
»›Große Schwester‹ ist nicht zwingend eine Berufsbezeichnung, Bee.«
Worüber hatte ich Dir damals einen Vortrag gehalten? Es hätte alles Mögliche sein können; der Punkt ist aber, dass ich es immer als meinen Beruf angesehen habe, die große Schwester zu sein, ein Job, für den ich ideal geeignet war. Und als ich im Flugzeug saß, um Dich zu finden - denn ich würde Dich finden, weil ein wesentlicher Bestandteil meiner Jobbeschreibung war, auf Dich aufzupassen -, tröstete mich das vertraute Szenario, die überlegene, reife große Schwester zu spielen, die das kapriziöse, unverantwortliche junge Mädchen ausschimpft, das es mittlerweile besser wissen sollte.
Das Flugzeug setzte zum Anflug auf Heathrow an. West London lag unter uns, zart verschleiert von Schnee. Als das Zeichen für die Sicherheitsgurte aufleuchtete, schloss ich einen Handel mit Gott: Ich würde alles tun, wenn man Dich fände und Du in Sicherheit wärst. Ich hätte auch einen Handel mit dem Teufel geschlossen, hätte er mir ein Angebot gemacht.
Als das Flugzeug rumpelnd auf der Landebahn aufsetzte, verwandelte sich der Ärger, den ich mir ausgemalt hatte, in unerträgliche Sorge. Gott wurde zum Helden eines Kindermärchens. Meine Kräfte als große Schwester schrumpften, bis ich reglos und machtlos war. Tief drinnen erinnerte ich mich an Leos Tod. Ich würgte vor Trauer, als hätte ich Innereien verschluckt. Ich durfte Dich nicht auch noch verlieren.
Das Fenster ist für ein Büro erstaunlich groß, und die Frühlingssonne flutet herein.
»Also haben Sie zwischen Tess' Verschwinden und Leos Tod eine Verbindung hergestellt?«, fragt Mr Wright.
»Nein.«
»Sie sagten aber, Sie dachten an Leo?«
»Ich denke ständig an Leo. Er war mein Bruder.« Ich bin es leid, das immer wieder durchzugehen. »Leo ist mit acht an Mukoviszidose gestorben. Tess und ich haben es nicht geerbt, wir kamen vollkommen gesund zur Welt.«
Mr Wright versucht, das grelle Deckenlicht auszuschalten, aber irgendwie geht das nicht. Er zuckt bedauernd mit den Schultern und setzt sich wieder hin.
»Und was geschah dann?«, fragt er.
»Mum hat mich abgeholt, und ich bin zur Polizei gefahren.« »Können Sie mir davon erzählen?«
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Diese kleine Geschichte würde den Journalisten gefallen, weil sie beweist, dass ich schon als Kind eine Art Zitronensaftdetektivin gewesen bin, und weil sie zeigt, wie nah wir Schwestern uns schon immer standen. Sie belagern nämlich gerade Deine Wohnung und haben Kamerateams und Tontechniker mitgebracht (verschwitzte Gesichter, schmutzige Jacken, Kabel, die die Treppe hinunterkriechen und sich am Geländer verfangen). Ja, das war jetzt ein wenig achtlos dahergesagt, aber wie sonst soll ich Dir davon erzählen?
Ich weiß nicht genau, wie Du es finden würdest, sozusagen berühmt zu sein - eher komisch, nehme ich an. Komisch im Sinne von lustig und im Sinne von seltsam. Ich finde es nur komisch im Sinne von seltsam, aber ich hatte ja auch nie Deinen Sinn für Humor, oder?
»Du musstest nachsitzen, und das ist ernst«, sagte ich. »Beim nächsten Mal fliegst du garantiert von der Schule, und Mum hat schon mehr als genug am Hals.«
Du hattest Dein Kaninchen in die Schule geschmuggelt, und man hatte Dich erwischt. Ich kehrte die große Schwester heraus. »Irgendwie ist es aber auch komisch, oder, Bee?«, hast Du gefragt und eine Schnute gezogen, um nicht loszulachen, was mich an eine Flasche Lucozade erinnerte, in der Kicherbläschen aufstiegen, um oben sprudelnd zu zerplatzen.
Schon der Gedanke an Dein Lachen macht mir Mut, und ich gehe zum Fenster.
Draußen steht ein Nachrichtenreporter von einem Satellitensender, ich kenne ihn. Normalerweise betrachte ich sein zweidimensional verflachtes Gesicht daheim in meiner New Yorker Wohnung auf einem Plasmabildschirm, aber jetzt steht er lebensgroß, dreidimensional und aus Fleisch und Blut in der Chepstow Road und sieht mich durch Dein Souterrainfenster an. Mir juckt der Finger, denn ich würde am liebsten die Austaste an der Fernbedienung drücken - stattdessen ziehe ich den Vorhang zu.
Doch als ich die Reporter noch sehen konnte, war es irgendwie besser. Die Scheinwerfer strahlen ohnehin durch die Gardinen, Geräusche dringen durch Fenster und Wände. Man hat das Gefühl, dass da draußen ein Bulldozer steht, der jeden Moment Dein Wohnzimmer niederwalzen kann. Kein Wunder, dass die Presse Presse heißt, und wenn das noch lange dauert, könnte es sein, dass ich ersticke. Ja, gut, ich dramatisiere ein bisschen, und Du wärst wahrscheinlich längst draußen und würdest ihnen Kaffee anbieten.
Aber wie Du weißt, bin ich ziemlich reizbar und äußerst empfindlich, was meine Privatsphäre betrifft. Am besten gehe ich in die Küche und versuche, die Lage in den Griff zu bekommen.
Hier ist es friedlicher, und ich kann in Ruhe nachdenken. Komisch, was mich inzwischen alles überrascht; oft sind es wirklich Kleinigkeiten. Gestern stand zum Beispiel in der Zeitung, wie nahe wir uns als Schwestern gestanden haben, ohne dass von unserem Altersunterschied die Rede gewesen wäre. Vielleicht spielt er jetzt, wo wir erwachsen sind, gar keine Rolle mehr, aber in unserer Kindheit war er entscheidend. »Fünf Jahre sind eine große Lücke ...?«, sagten Leute, die nicht Bescheid wussten, und hoben am Ende des Satzes ein bisschen die Stimme, um eine Frage daraus zu machen. Und dann dachten wir beide an Leo und an die Lücke, die er hinterlassen hatte, wobei gähnende Leere wohl treffender wäre, aber das haben wir nie gesagt, nicht wahr?
Ich höre, dass eine Journalistin vor der Hintertür telefoniert. Anscheinend diktiert sie jemand etwas, und mein eigener Name springt mich an: »Arabella Beatrice Hemming«. Mum sagt, dass mich nie jemand bei meinem ersten Vornamen genannt hat, also gehe ich davon aus, dass ich schon als Baby keine Arabella war, ein Name, den man in Schönschrift mit schwarzer Tinte und Schleifen und Schnörkeln schreibt, ein Name, hinter dem sich Mädchen verbergen, die dann Bella oder Bells oder Belle gerufen werden - so viele hübsche Möglichkeiten. Nein, ich war von Anfang an eindeutig eine Beatrice, denn das schreibt man sachlich und schmucklos in Times New Roman, und niemand verbirgt sich dahinter. Dad hatte den Namen Arabella vor meiner Geburt ausgesucht. Die Realität muss enttäuschend gewesen sein.
Jetzt ist die Journalistin wieder in Hörweite, wahrscheinlich führt sie ein neues Gespräch, denn sie entschuldigt sich, weil sie länger arbeiten muss. Es dauert einen Moment, bis mir klar wird, dass ich, Arabella Beatrice Hemming, der Grund dafür bin. Am liebsten würde ich nach draußen gehen und ihr sagen, dass es mir leidtut, Du kennst mich ja - ich war immer die Erste, die auf der Stelle in die Küche eilte, wenn Mum mit den Pfannen klapperte und so ihr wütendes Trommelsignal erschallen ließ. Die Journalistin geht weg. Ich kann nicht verstehen, was sie sagt, aber ich höre ihren beruhigenden, leicht defensiven, behutsamen Ton. Plötzlich verändert sich ihre Stimme. Bestimmt spricht sie mit ihrem Kind. Der Klang dringt durch die Tür und die Fenster und wärmt Deine Wohnung.
Vielleicht sollte ich so aufmerksam sein, ihr zu sagen, dass sie nach Hause gehen soll. Dein Fall ist noch nicht abgeschlossen, also darf ich ihnen vor der Verhandlung ohnehin nichts sagen. Doch das weiß sie, und die anderen wissen es auch. Sie wollen ja auch keine Tatsachen, sondern Emotionen. Ich soll die Hände ringen und ihnen weiße Knöchel in Großaufnahme bieten. Ich soll ein paar Tränen vergießen, die mir wie Schnecken über die Wangen kriechen und schwarze Mascaraspuren hinterlassen. Also bleibe ich im Haus.
Als die Reporter und ihr Technikergefolge endlich weg sind, hinterlassen sie auf der Treppe, die zu Deiner Wohnung hinunterführt, eine Art Hochwassermarke aus Zigarettenasche und Kippen, die in Deinen Blumentöpfen mit den Narzissen stecken. Morgen stelle ich ihnen Aschenbecher hin. Doch einige habe ich auch falsch eingeschätzt. Sie haben sich für die Störung entschuldigt, und ein Kameramann hat mir sogar Chrysanthemen aus dem Laden an der Ecke geschenkt. Ich weiß, dass Du die nie mochtest.
»Die sind rotbraun wie die Schuluniform, oder herbstbraun, sogar im Frühling«, sagtest Du lächelnd und zogst mich auf, weil ich eine Blume dafür schätzte, dass sie so ordentlich aussah und so langlebig war.
»Oft haben sie aber richtig leuchtende Farben«, sagte ich und lächelte nicht zurück.
»Knallig. Die werden gezüchtet, damit sie dann vor irgendwelchen Garagen quadratkilometerweise Beton verzieren.«
Doch ich fand es sehr aufmerksam von ihm, dass er mir diese welkenden Stängel brachte - einen Strauß Mitgefühl, der mich überraschte wie Schlüsselblumen auf dem Seitenstreifen der Autobahn.
Der Kameramann mit den Chrysanthemen hat mir erzählt, dass heute Abend in den Zehn-Uhr-Nachrichten ein »Sonderbeitrag« über unsere Geschichte kommt. Gerade habe ich Mum angerufen, um es ihr zu erzählen. Ich glaube, auf eine seltsame, für sie aber typische Art ist sie irgendwie stolz darauf, dass Du so viel Aufmerksamkeit bekommst. Und es wird wohl noch mehr. Wenn man einem der Tontechniker glauben will, werden morgen sogar Medienleute aus dem Ausland eintreffen. Es ist schon komisch - komisch im Sinne von seltsam -, dass mir niemand zuhören wollte, als ich vor ein paar Monaten versuchte, es den Leuten zu erzählen.
Montagnachmittag
Jetzt hören mir offenbar alle zu, die Presse, die Polizei, Juristen - Stifte kritzeln, Köpfe recken sich, Bandgeräte summen. Heute Nachmittag mache ich vor einem Beamten der Strafverfolgungsbehörde Criminal Prosecution Service, kurz CPS, meine Zeugenaussage, die in vier Monaten bei dem Prozess verwendet werden wird. Es hieß, dass meine Aussage entscheidend für die Anklage ist, denn ich bin die einzige Person, die die ganze Geschichte kennt.
Mr Wright, der Beamte der Strafverfolgungsbehörde, sitzt mir gegenüber und nimmt meine Aussage auf. Ich schätze ihn auf Ende dreißig, aber vielleicht ist er auch jünger und sein Gesicht war nur mit zu vielen Geschichten wie meiner konfrontiert. Er wirkt wachsam und beugt sich ein wenig zu mir hin, denn er will, dass ich ihm etwas anvertraue. Ein guter Zuhörer, denke ich, aber was für ein Typ Mann?
»Wenn Sie einverstanden sind«, sagt er, »dann hätte ich gern, dass Sie mir alles erzählen, von Anfang an, und ich entscheide dann später, was relevant ist.«
Ich nicke. »Ich weiß nicht genau, wo der Anfang ist.«
»Vielleicht da, wo Ihnen erstmals klar wurde, dass etwas nicht stimmte?«
Mir fällt auf, dass er ein schönes italienisches Leinenhemd und eine hässliche, bedruckte Polyesterkrawatte trägt - unmöglich, dass ein und derselbe Mensch beide Kleidungsstücke ausgesucht hat. Eins davon war ganz sicher ein Geschenk. Wenn die Krawatte das Geschenk war und er sie trägt, dann ist er ein netter Mensch. Ich weiß nicht genau, ob ich Dir das schon erzählt habe, aber mein Geist driftet seit neuestem gern ab, wenn er nicht über das nachdenken will, was gerade Thema ist.
Ich blicke auf und sehe ihm in die Augen.
»Das war nach dem Anruf von meiner Mutter, als sie sagte, dass sie verschwunden ist.«
Als Mum anrief, hatten wir gerade Gäste zu einem sonntäglichen Lunch. Unser Deli nebenan hatte ein Essen geliefert, das New York sehr entsprach - stilvoll und unpersönlich. Dasselbe galt für unsere Wohnung, unsere Möbel und unsere Beziehung - nichts war hausgemacht. Ein Big Apple ohne Kerngehäuse. Diese Kehrtwendung irritiert Dich, ich weiß, doch über mein Leben in New York können wir uns später unterhalten.
Wir waren am selben Vormittag von einer »Romantischen Auszeit im Schnee« in einer Blockhütte in Maine zurückgekehrt, wo wir meine Beförderung zur Abteilungsleiterin gefeiert hatten. Todd fand großen Spaß daran, die Partygäste mit dem Reinfall aufzuheitern, den wir dort erlebt hatten.
»Einen Whirlpool haben wir ja nicht erwartet, aber eine heiße Dusche wäre ganz nett gewesen, und ein Festnetztelefon hätte auch nicht geschadet. Unsere Handys haben ebenfalls nicht funktioniert, weil unser Provider da draußen keinen Mast stehen hat.«
»Seid ihr denn spontan losgefahren?«, fragte Sarah ungläubig.
Wie Du weißt, waren Todd und ich nicht gerade berühmt für unsere Spontaneität. Sarahs Mann Mark funkelte sie über den Tisch hinweg an. »Liebling.«
Sie erwiderte seinen Blick. »Ich hasse es, wenn Du mich ›Liebling‹ nennst. Das ist der Code für ›Halt verdammt noch mal die Klappe‹, stimmt's?«
Sarah würde Dir gefallen. Vielleicht sind wir deswegen befreundet - weil sie mich sofort an Dich erinnert hat. Sarah wandte sich an Todd. »Wann hattet ihr zwei das letzte Mal Krach, du und Beatrice?«
»Wir sind beide nicht besonders theatralisch veranlagt«, antwortete Todd, ein selbstgerechter Versuch, sie auflaufen zu lassen.
Doch Sarah lässt sich nicht so leicht verunsichern. »Dann seid ihr auch gleichgültig.«
Darauf folgte betretenes Schweigen, das anhielt, bis ich es höflich durchbrach: »Jemand Kaffee oder Kräutertee?«
In der Küche füllte ich Kaffeebohnen in die Mühle - das Einzige, was ich zur Zubereitung der Mahlzeit beitrug. Sarah folgte mir zerknirscht. »Tut mir leid, Beatrice.«
»Kein Problem.« Ich war die perfekte Gastgeberin, lächelte, wiegelte ab und machte Kaffee. »Trinkt Mark ihn schwarz oder mit Milch?«
»Mit Milch. Bei uns wird auch nicht mehr gelacht«, sagte sie, stemmte sich auf den Tresen hoch und ließ die Beine baumeln. »Und was Sex betrifft ...«
Ich schaltete die Mühle an und hoffte, der Lärm würde sie zum
Schweigen bringen. Aber sie rief: »Was ist mit dir und Todd?« »Uns geht es gut, danke«, antwortete ich und gab die gemahlenen Bohnen in unsere Siebenhundert-Dollar-Espressomaschine. »Also wird noch gelacht und gevögelt?«, fragte sie.
Ich klappte ein Etui mit Kaffeelöffeln aus den dreißiger Jahren auf, die in verschiedenen Farben emailliert waren und wie geschmolzene Bonbons aussahen. »Die haben wir letzten Sonntagmorgen auf dem Antikmarkt gekauft.«
»Du weichst vom Thema ab, Beatrice.«
Aber Du hast schon mitbekommen, dass ich das nicht tat; dass Todd und ich sonntagmorgens, wenn andere Paare im Bett blieben und sich liebten, unterwegs waren und Antiquitäten kauften. Zusammen einkaufen konnten wir immer besser als uns im Bett vergnügen. Ich glaubte, dass wir uns eine gemeinsame Zukunft schufen, wenn wir unsere Wohnung mit Dingen einrichteten, die wir gemeinsam ausgesucht hatten. Ich höre förmlich, wie Du mich damit aufziehst, dass Sex nicht einmal durch eine Clarice-Cliff-Teekanne zu ersetzen ist, aber mir gab Letztere ein wesentlich größeres Gefühl von Sicherheit.
Das Telefon klingelte. Sarah ließ sich davon nicht stören. »Sex und Lachen. Herz und Lunge einer Beziehung.«
»Ich muss ans Telefon.«
»Was meinst du, wann ist es an der Zeit, die lebenserhaltende Apparatur abzuschalten?«
»Ich muss da wirklich rangehen.«
»Wann stellt man besser die gemeinsame Hypothek und das gemeinsame Konto und die gemeinsamen Freunde ab?«
Ich war froh, dieses Gespräch unterbrechen zu können, und nahm den Hörer. »Hallo?«
»Beatrice, hier ist Mummy.«
Du warst seit vier Tagen verschwunden.
Ich kann mich nicht mehr ans Packen erinnern, weiß aber noch, dass Todd hereinkam, als ich den Koffer schloss. Ich drehte mich zu ihm um. »Wann geht mein Flug?«
»Es gibt erst morgen wieder welche.«
»Aber ich muss jetzt los.«
Du warst seit dem vorherigen Sonntag nicht zur Arbeit erschienen. Deine Chefin hatte versucht, Dich anzurufen, aber nur den Anrufbeantworter erreicht. Sie war zu Deiner Wohnung gefahren, aber dort warst Du nicht. Niemand wusste, wo Du sein mochtest. Mittlerweile suchte die Polizei nach Dir.
»Kannst du mich zum Flughafen fahren? Ich nehme den ersten freien Platz.«
»Ich rufe ein Taxi«, antwortete er. Er hatte zwei Gläser Wein getrunken. Ich hatte seine Vorsicht immer geschätzt.
Davon erzähle ich Mr Wright natürlich nichts. Ich erzähle ihm nur, dass Mum am 26. Januar um fünfzehn Uhr dreißig New Yorker Zeit angerufen und gesagt hat, dass Du verschwunden bist. Wie Du interessiert sich Mr Wright für das große Ganze und nicht für kleine Details. Du hast schon als Kind eher ausladende Bilder gemalt, die über den Seitenrand hinausquollen, während ich bei meinen Zeichnungen ganz vorsichtig mit Bleistift, Lineal und Radierer arbeitete. Und später haben Deine abstrakten Ölgemälde große Wahrheiten in kühnen Strichen und lebhaften Farben ausgedrückt, während ich jeder Farbe dieser Welt eine Pantone-Nummer zuordnen konnte und somit für meinen Job im Corporate Design perfekt geeignet war. Weil ich nicht wie Du mit breiten Pinselstrichen umgehen kann, werde ich Dir diese Geschichte in akkurat hingetupften Details erzählen. Ich hoffe, dass sich die Tupfen wie bei einem pointillistischen Gemälde zum Bild verdichten werden und dass wir - wenn es erst einmal fertig ist - verstehen, was geschehen ist und warum.
»Bis Ihre Mutter anrief, hatten Sie also keine Ahnung von irgendeinem Problem?«, fragt Mr Wright.
Mich überkommt die vertraute, Übelkeit erregende Welle des Schuldgefühls. »Nein. Nichts, was mir aufgefallen wäre.«
Ich flog First Class, weil kein anderer Platz verfügbar war. Als wir das wolkige Niemandsland durchflogen, stellte ich mir vor, wie ich Dich ausschimpfen würde, weil ich Deinetwegen so etwas durchmachen musste. Ich nahm Dir das Versprechen ab, nie wieder so etwas Verrücktes zu tun. Ich erinnerte Dich daran, dass Du bald Mutter werden würdest und dass Du Dich endlich wie ein erwachsener Mensch benehmen solltest.
»›Große Schwester‹ ist nicht zwingend eine Berufsbezeichnung, Bee.«
Worüber hatte ich Dir damals einen Vortrag gehalten? Es hätte alles Mögliche sein können; der Punkt ist aber, dass ich es immer als meinen Beruf angesehen habe, die große Schwester zu sein, ein Job, für den ich ideal geeignet war. Und als ich im Flugzeug saß, um Dich zu finden - denn ich würde Dich finden, weil ein wesentlicher Bestandteil meiner Jobbeschreibung war, auf Dich aufzupassen -, tröstete mich das vertraute Szenario, die überlegene, reife große Schwester zu spielen, die das kapriziöse, unverantwortliche junge Mädchen ausschimpft, das es mittlerweile besser wissen sollte.
Das Flugzeug setzte zum Anflug auf Heathrow an. West London lag unter uns, zart verschleiert von Schnee. Als das Zeichen für die Sicherheitsgurte aufleuchtete, schloss ich einen Handel mit Gott: Ich würde alles tun, wenn man Dich fände und Du in Sicherheit wärst. Ich hätte auch einen Handel mit dem Teufel geschlossen, hätte er mir ein Angebot gemacht.
Als das Flugzeug rumpelnd auf der Landebahn aufsetzte, verwandelte sich der Ärger, den ich mir ausgemalt hatte, in unerträgliche Sorge. Gott wurde zum Helden eines Kindermärchens. Meine Kräfte als große Schwester schrumpften, bis ich reglos und machtlos war. Tief drinnen erinnerte ich mich an Leos Tod. Ich würgte vor Trauer, als hätte ich Innereien verschluckt. Ich durfte Dich nicht auch noch verlieren.
Das Fenster ist für ein Büro erstaunlich groß, und die Frühlingssonne flutet herein.
»Also haben Sie zwischen Tess' Verschwinden und Leos Tod eine Verbindung hergestellt?«, fragt Mr Wright.
»Nein.«
»Sie sagten aber, Sie dachten an Leo?«
»Ich denke ständig an Leo. Er war mein Bruder.« Ich bin es leid, das immer wieder durchzugehen. »Leo ist mit acht an Mukoviszidose gestorben. Tess und ich haben es nicht geerbt, wir kamen vollkommen gesund zur Welt.«
Mr Wright versucht, das grelle Deckenlicht auszuschalten, aber irgendwie geht das nicht. Er zuckt bedauernd mit den Schultern und setzt sich wieder hin.
»Und was geschah dann?«, fragt er.
»Mum hat mich abgeholt, und ich bin zur Polizei gefahren.« »Können Sie mir davon erzählen?«
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von Rosamund Lupton
Rosamund Lupton studierte in Cambridge und arbeitete als Werbetexterin sowie Rezensentin für die Literary Review. Sie schrieb zahlreiche Drehbücher für Film und Fernsehen. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in London.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rosamund Lupton
- 2011, 1, 383 Seiten, Maße: 13,6 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009361
- ISBN-13: 9783868009361
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