Lord Stonevilles Geheimnis / Hellions of Halstead Hall Bd.1
Roman. Deutsche Erstausgabe
Der Marquess von Stoneville, Oliver Sharpe, wird von einem tragischen Ereignis aus seiner Vergangenheit verfolgt: Er gibt sich die Schuld am Tod seiner Eltern. Sein haltloser Lebensstil sorgt in der vornehmen Gesellschaft für Skandale. Bis seine Großmutter...
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Produktinformationen zu „Lord Stonevilles Geheimnis / Hellions of Halstead Hall Bd.1 “
Klappentext zu „Lord Stonevilles Geheimnis / Hellions of Halstead Hall Bd.1 “
Der Marquess von Stoneville, Oliver Sharpe, wird von einem tragischen Ereignis aus seiner Vergangenheit verfolgt: Er gibt sich die Schuld am Tod seiner Eltern. Sein haltloser Lebensstil sorgt in der vornehmen Gesellschaft für Skandale. Bis seine Großmutter ihn eines Tages vor die Wahl stellt: Entweder Oliver sucht sich eine Frau und heiratet sie, oder er verliert sein Erbe. Kurz darauf begegnet Oliver der Amerikanerin Maria und heckt mit ihr einen Plan aus. Maria soll sich als seine Verlobte ausgeben. Doch Oliver hätte niemals vermutet, dass er sich in die hübsche Maria tatsächlich verlieben könnte ...
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Lord Stonevilles Geheimnis von Sabrina Jeffries2
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Um Himmels willen, Freddy, nun komm schon!«, raunte Maria Butterfield ihrem spindeldürren Vetter zu, während sie die schmutzige Straße entlangeilten. Der Mann vor ihnen legte ein recht flottes Tempo vor. Schlimm genug, dass sie dieses gräss liche englische Wetter ertragen mussten - wenn sie nun aber auch noch den Verdächtigen verlören, hätten sie keine Aussichten mehr, Nathan Hyatt zu finden. Und dieses Risiko wollte sie keinesfalls eingehen, nachdem sie den weiten Weg von Dartmouth, Massachusetts, auf sich genommen hatte, um ihren Verlobten zurückzuholen. »Bist du sicher, dass der Kerl wirklich Nathans Aktentasche unter dem Arm hat?«, fragte Freddy keuchend. »Sie hat eine Prägung auf beiden Seiten, genau wie die, die ich eigens für ihn anfertigen ließ. Und der Mann ist uns nicht weit vom Sitz der London Maritime begegnet, wo Nathan vor drei Monaten zuletzt gesehen wurde. Ich muss sie mir nur einmal aus der Nähe anschauen, um sicher zu sein.« »Wie willst du das anstellen? Glaub nur nicht, dass ich es für dich tue! Ich lege mich nicht mit einem englischen Tunichtgut an, nur aufgrund deiner Vermutung!«
»Ich dachte, du hättest das Schwert mitgenommen, um mich zu beschützen.« Freddy trug das alte Schwert ihres Vaters bei sich, seit sie in London angekommen waren. Es sorgte für Aufsehen, wohin sie auch gingen, denn dieser Tage führte niemand mehr ein Schwert bei sich. »Nein, lediglich zu meinem Schutz«, erwiderte Freddy. »Wie ich hörte, duelliert man sich hier aus Jux und Tollerei. Ich habe die weite Reise nicht gemacht, damit mein Lieblingsschwert im Kampf beschädigt wird.« Maria schnaubte. »Du hast mich auf dieser Reise begleitet, weil deine älteren Brüder Familien haben, um die sie sich kümmern müssen, und Tante Rose dir die Ohren lang gezogen hätte, wenn du nicht mitgekommen wärst.« Als Freddy errötete, schlug sie einen sanfteren Ton an. »Außerdem wird es sicherlich nicht zu einem Duell kommen. Wir werden diesen Mann ganz freundlich bitten, uns einen Blick auf die Tasche zu gewähren. Aber zuerst beobachten wir, wohin er geht. Ich hoffe, er führt uns zu Nathan.« »Ich hoffe, er führt uns zu einem Pastetengeschäft. Unser letztes Essen ist schon fast drei Stunden her!« Wie aufs Stichwort knurrte ihm der Magen. »Mir war nicht klar, dass du mich hier verhungern lassen willst.«
Sie seufzte. Freddy drohte ständig damit, dass er dem Hungertod nahe sei. Tante Rose sagte zwar immer, dass alle einundzwanzigjährigen Männer fraßen wie Stiere, aber Maria wäre es in diesem Augenblick lieber gewesen, sie äßen wie Vögelchen und kämpften wie Stiere. Freddy erwies sich als ein recht kostspieliger Beschützer, denn einen Großteil ihrer Mittel musste sie seiner Verpflegung opfern.
Sie wünschte so sehr, Nathan wäre in Amerika geblieben, wo er hingehörte. Sie wünschte so sehr, ihr Vater wäre nicht ge storben ... Maria machte von Trauer überwältigt einen großen Schritt über eine vereiste Pfütze. Sie konnte es immer noch nicht glauben. Ihr Vater hatte zwar in jüngster Zeit etwas abgebaut, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass er mit fünfundsechzig an plötzlichem Herzversagen in seinem Büro sterben würde. Ihr kam ein beunruhigender Gedanke. Wenn Nathan ihre letzten Briefe nicht bekommen hatte, dann wusste er noch gar nicht, dass Papa tot und er nun - wenn er sie wie geplant zur Frau nahm - der alleinige Leiter von New Bedford Ships war. Und wenn er sie nicht heiraten wollte? War das der Grund, warum sie seit Monaten nichts mehr von ihm gehört hatte? Hatte er etwa die Gelegenheit genutzt, um sich aus dem Staub zu machen?
Jeder Mann wäre es wohl irgendwann leid geworden, sich wie Nathan unentwegt die Forderungen ihres Vaters anzuhören, er müsse sich der Leitung des Unternehmens erst würdig erweisen, bevor er die Frau heiratete, die die Hälfte davon erben sollte. Aufgrund dieses Anspruchs war Nathan nach England gereist, um mit London Maritime einen lukrativen Vertrag über den Verkauf mehrerer Klipper abzuschließen. Vielleicht hatte er es sich mit der Verlobung anders überlegt, als er einmal in England angekommen war.
Maria stiegen die Tränen in die Augen. Nein, das würde er nicht tun. Er war ein ehrenhafter Mann. Ihre Beziehung war vielleicht weniger leidenschaftlich als die mancher anderer verlobter Paare, aber er war ihr ganz gewiss ebenso zugetan wie sie ihm. Etwas Schreckliches musste passiert sein, sonst würde er sich niemals seiner Verantwortung entziehen. Sie musste ihn finden. Ihn durfte sie nicht auch noch verlieren, nachdem gerade erst ihr Vater verstorben war. Doch dass sich Nathans Tasche im Besitz eines anderen Mannes befand, verhieß nichts Gutes. Nathan hätte sie niemals freiwillig jemandem überlassen. Der Mann musste sie ihm gestohlen haben. Ihr Herz schlug im Takt mit ihren immer schneller werdenden Schritten. Nathan lag wahrscheinlich tot auf irgendeiner Wiese, umgebracht von einem dieser heimtückischen Engländer. Und wenn er ...
Sie durfte gar nicht daran denken, sonst verlor sie vollends die Fassung. »Mopsy ...«, meldete sich Freddy mit gedämpfter Stimme zu Wort. »Du sollst mich doch nicht so nennen! Wir sind keine Kinder mehr.« Außerdem war Nathan der Ansicht, ein solcher Spitzname zieme sich nicht für eine Dame. Er achtete sehr auf solche Dinge, denn er war schließlich in der High Society von Baltimore aufgewachsen. Erst vor sechs Jahren war er ins kleine Dartmouth gekommen, um Papas Partner zu werden. »Entschuldige, Mop... äh, Maria«, entgegnete Freddy leise. »Ich vergesse es immer wieder.« Dann rückte er näher an sie heran. »Aber ich glaube, wir sollten im Dunkeln nicht mehr hier draußen umherlaufen. Dieser Stadtteil macht keinen sehr freundlichen Eindruck. Und die Damen dort oben sind ein wenig zu ... na ja, nackt.« Maria hatte sich so darauf konzentriert, den Mann vor ihnen nicht aus den Augen zu verlieren, dass sie die Umgebung gar nicht wahrgenommen hatte. Doch als sie sich nun umsah, blieb ihr fast das Herz stehen. Über ihnen lehnten sich spärlich bekleidete Frauen aus den Fenstern, deren Brüste aus ihren Miedern hervorquollen. Ihnen musste bitterkalt sein, doch das war für sie offensichtlich nicht von Belang. Die plötzliche Erinnerung daran, wie sie ihren Vater aus solchen Etablissements hatte herausholen müssen, wenn sich kein anderer dafür fand, ließ sie vor Schreck erstarren. »Kommen Sie, Sir!«, rief eine der Frauen Freddy zu, und ihr Atem stieg als weiße Dunstwolke in die Nacht. »Bei meiner Buschimuschi kriegen Sie im Nu einen Ständer!« »Meine Möse kannst du schon für ein halbes Pfund probieren, Schätzchen!«, bot ihm eine andere an. Maria verstand nicht alle Wörter, aber da sich Freddys sommersprossiges Gesicht knallrot färbte, waren sie offenbar äußerst ... obszön. »Komm, wir gehen zurück in unser Quartier«, sagte er.
»Noch nicht! Wir müssen uns erst die Tasche genauer ansehen. Der Mann will anscheinend da vorn einkehren. So eine Gelegenheit bekommen wir nicht noch einmal.« Sie warteten kurz, bis der Mann das Haus betreten hatte, dann gingen sie rasch darauf zu. Ausgelassenes Gelächter und fröhliche Geigenklänge waren bis auf die Straße zu hören. Durch die offene Tür konnte Maria Paare sehen, die miteinander tanzten und ... unanständige Dinge taten. Während die Laternenanzünder mit ihren Fackeln an ihnen vorbeitrotteten, studierte Freddy eingehend das Gebäude. »Da kannst du nicht hinein! Das ist kein Ort für ehrbare Frauen.« »Das sehe ich.« Maria fröstelte in ihrer schwarzen Redingote, als ein kalter Windstoß durch die Straße fegte. »Allem Anschein nach handelt es sich um ein Bordell.« »Mopsy!« Freddys Wangen leuchteten so rot wie sein völlig zerzaustes Haar. »Du darfst solche Worte nicht in den Mund nehmen!« »Warum? Wir wissen doch beide, dass Papa jeden Samstagabend in ein derartiges Etablissement gegangen ist.« Sie wendete sich ihm zu. »Warum gehst du nicht hinein? Ein Mann fällt dort nicht auf. Such einfach die Tasche, und sieh nach, ob es Nathans ist.« »Und wenn ja, was mache ich dann?« »Dann lockst du den Mann unter einem Vorwand hierher, damit ich mit ihm reden kann. Sag ihm, seine Mutter wartet draußen, und wenn er nicht herauskommt, kommt sie hinein. Das würde keinem jungen Mann gefallen.« Als Freddy sie skeptisch ansah, seufzte sie. »Wenn du tust, was ich sage, kaufe ich dir so viele Pasteten, wie du willst.« »Na gut.« Er zog sein Schwert aus der Scheide und gab es ihr. »Am besten behältst du es solange. Du solltest nicht wehrlos auf der Straße herumstehen.« Dass er sein heiß geliebtes Schwert auch nur für einen Augenblick aus der Hand gab, rührte Maria. »Vielen Dank.« Sie gab ihm einen Schubs. »Und nun finde schnell heraus, ob es Nathans Tasche ist!«
Freddy ging seufzend die Stufen zum Eingang hoch. Um nicht aufzufallen, versteckte sich Maria in einer dunklen Ecke. Als sie Freddy zögern sah, bevor er das Haus betrat, hätte sie beinahe gelacht. Jeder andere Kerl in seinem Alter brannte vermutlich darauf, einmal ein Bordell zu besuchen, aber Freddy hatte nichts anderes im Kopf als Essen. Doch wie viel er auch in sich hineinstopfte, er blieb dünn wie eine Bohnenstange. Wenn sie hingegen ihren Tee auch nur eine Woche lang mit Zucker trank, drohte sie gleich, aus ihrem Mieder zu platzen. Es war ungerecht! Aber das Leben war Frauen gegenüber generell ungerecht. Wäre sie ein Mann, hätte ihr Vater ihr das ganze Unternehmen vermacht, und er hätte niemanden von außerhalb hinzuholen müssen.
Nicht dass sie Nathan nicht mochte. Er war gescheit und sah gut aus, und um einen Ehemann wie ihn zu ergattern, wären die meisten Frauen wohl über glühende Kohlen gelaufen. Außerdem hatte sie kaum Aussichten, einen anderen guten Mann in Dartmouth zu finden. In dem kleinen Fischerstädtchen gab es nur eine Handvoll gebildete ledige Männer, und Papas Herkunft und seine bewegte Vergangenheit machten es ihr unmöglich, einen echten Gentleman zu ehelichen.
Manchmal fragte sie sich, ob Nathan es überhaupt in Erwägung gezogen hätte, sie zur Frau zu nehmen, wenn sie nicht die Tochter des Eigentümers von New Bedford Ships wäre.
Nein, das war ungerecht. Nathan hatte sich ihr gegenüber immer äußerst liebenswürdig verhalten. Er konnte nichts dafür, dass die wenigen Küsse, die sie bisher getauscht hatten, alles andere als überwältigend gewesen waren. Sie hatte bestimmt etwas falsch gemacht - oder zu viel erwartet. Vielleicht hatte Papa recht. Vermutlich las sie tatsächlich zu viele Schauerromane von Minerva Sharpe. Im Grunde genommen konnte kein Mann so charmant sein wie Graf Churchgrove oder so heldenhaft wie der Herzog von Wolfplain. Und schon gar nicht so faszinierend wie der niederträchtige Marquess von Rockton.
Sie runzelte die Stirn. Wie konnte sie nur in einer solchen Situation an Rockton denken? Schlimm genug, dass sie sich insgeheim gefreut hatte, als er der Gerichtsbarkeit am Ende des Romans entkommen war. Dass ihr ein gefährlicher Schurke wie er in den Sinn kam, obwohl sie an nichts anderes denken sollte als an Nathan, war äußerst beunruhigend.
Vielleicht war sie keine normale Frau. Sie hatte auf jeden Fall eine sehr viel direktere und resolutere Art als die meisten Frauen, die sie kannte. Und sie las schrecklich gern Geschichten über Mord und Totschlag. Das sei unnatürlich, hatte Papa immer gesagt.
Ihr entfuhr ein Seufzer. Es stimmte schon, dass andere Damen sich weitaus weniger für die Geschichten der Männer aus dem Unabhängigkeitskrieg interessierten und nicht jeden Zeitungsartikel über finstere Verbrechen so eifrig studierten, wie sie es tat. Im Unterschied zu ihr träumten sie nicht davon, einmal einen geheimnisvollen Mord aufzuklären.
Als plötzlich jemand »Achtung! Haltet den Dieb!« rief, schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Oh nein, Freddy hatte doch wohl nicht ...? Aber natürlich hatte er. Er dachte nämlich nie nach. Maria eilte mit dem Schwert in der Hand los, und als sie zur Tür hereinstürzte, sah sie, wie Freddy gerade die Treppe vom ersten Stock herunterkam und von einem Mann aufgehalten wurde, der sich ihm in den Weg stellte. Freddy hielt die Tasche an seine Brust gedrückt wie einen Schutzschild. »Der Dieb ist gefasst!«, sagte der Mann. Maria blieb fast das Herz stehen. Einige Stufen über Freddy stand mit hochrotem Gesicht und halb nackt der Mann, den sie verfolgt hatten, und zahlreiche andere Männer scharten sich neugierig um die Treppe. Mehr oder weniger spärlich bekleidete Frauen kamen herbeigelaufen. »Polly, hol den Constable!«, rief der Mann einer der Frauen zu.
Oh nein! Was für eine Katastrophe! Die beiden Männer auf der Treppe kamen Freddy immer näher, während er in einem fort stammelte, er habe »doch nur einen Blick darauf werfen wollen, mehr nicht«. Maria richtete das Schwert drohend auf den Kerl am unteren Ende der Treppe. »Lassen Sie ihn gehen! Sonst schneide ich Sie durch wie eine Orange!«
»Wie eine Orange? Das klingt ja furchterregend, meine Verehrteste«, ließ sich jemand zu ihrer Rechten vernehmen. Als Maria den groß gewachsenen Mann erblickte, der aus einem Nebenzimmer gekommen war, geriet sie in Panik. Er trug weder Mantel noch Weste, die Schleife fehlte, und sein Hemd war bis zur Brustmitte aufgeknöpft, aber sein gebieterisches Auftreten verriet, dass er stets Herr der Lage war, ganz gleich, was er trug oder nicht trug. Und er kam ihr viel zu nah. »Treten Sie zurück!« Sie richtete das Schwert auf ihn und hoffte inständig, dass sie das verfluchte Ding auch richtig zum Einsatz bringen konnte. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie schwer so ein Schwert war. »Ich will nur meinen Vetter, Sir, dann gehen wir.« »Ihr ›Vetter‹ hat versucht, mir meine Aktentasche zu stehlen, Eure Lordschaft!«, rief der Rotgesichtige. Eure Lordschaft? Maria stockte das Herz. Der große Kerl sah nicht so aus, wie sie sich die eleganten Männer in Miss Sharpes Romanen vorgestellt hatte, obwohl er ebenso arrogant zu sein schien wie sie. Aber seine Haut war dunkler, als Maria es bei einem englischen Adeligen erwartet hätte, und in seinen Augen lag ein unheimliches Funkeln, das ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. Wenn er tatsächlich ein Lord war, dann waren sie und Freddy in noch größeren Schwierigkeiten. »Kümmern Sie sich um die Frau, Lord Stoneville«, sagte der andere Mann, »und wir schnappen uns den Jungen. Wir halten die Diebe fest, bis der Constable da ist.« »Wir sind keine Diebe!« Maria schwang das Schwert zwischen den beiden Männern hin und her, und ihr Arm begann allmählich zu schmerzen, weil es so schwer war. Sie starrte den Mann am oberen Ende der Treppe wütend an. »Sie sind hier der Dieb, Sir! Diese Tasche gehört meinem Verlobten. Nicht wahr, Freddy?« »Ich bin mir nicht sicher«, krächzte Freddy eingeschüchtert. »Ich musste sie in den Korridor tragen, um sie mir richtig ansehen zu können, und dann hat dieser Mann da angefangen herumzubrüllen, und ich wusste nicht, was ich tun sollte, und bin weggerannt.«
»Das klingt ja sehr glaubwürdig«, spottete der Rotgesichtige. »Hören Sie, Tate«, sagte Lord Stoneville, »wenn Miss ...«
Als er sie fragend ansah, sagte sie ohne nachzudenken: »Butterfield. Maria Butterfield.«
»Wenn Miss Butterfield mir das Schwert aushändigt, werde ich diesen kleinen Streit zur Zufriedenheit aller schlichten, das verspreche ich Ihnen.« Als könnte man sich darauf verlassen, dass ein halb nackter Lord in einem Bordell irgendetwas gerecht und korrekt regelte! In der Literatur teilten sich die englischen Lords in zwei Kategorien auf: in ehrenhafte Gentlemen und verkommene Schurken. Dieser Mann hier schien eher zu den Schurken zu gehören, und Maria war nicht so dumm, einem solchen Mann zu vertrauen. »Ich habe einen besseren Vorschlag.« Mit heftig pochendem Herzen stürzte sie auf ihn zu und drückte die Schwertspitze gegen seine Kehle. »Entweder sagen Sie den Männern, sie sollen meinen Vetter gehen lassen, oder ich durchbohre Ihren Hals!« Er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Mit einem unverschämten Grinsen schloss er seine Hand um die Schwertklinge. »Das halte ich für ausgeschlossen, meine Liebe.« Aus Angst, ihm in die Finger zu schneiden, erstarrte Maria. »Hören Sie mir gut zu, Miss Butterfield«, fuhr der Lord mit einer beängstigenden Ruhe fort. »Sie werden des versuchten Diebstahls beschuldigt, und soeben haben Sie auch noch einen Edelmann angegriffen. Beide Vergehen werden mit dem Strick bestraft. Was den Angriff angeht, lasse ich mit mir reden, aber nur wenn Sie das Schwert loslassen. Dann gestatte ich Ihnen, sich und Ihren ›Vetter‹ in Bezug auf den Diebstahl zu verteidigen.« Er sprach das Wort »Vetter« mit skeptischem Sarkasmus aus. »Wir werden die Angelegenheit klären, und wenn ich davon überzeugt bin, dass Sie nicht des Diebstahls schuldig sind, dürfen Sie und Ihr Begleiter gehen. Einverstanden?«
Nun hatte er sie, und das wusste er natürlich. Wenn sie ihn verletzte, war ihr Leben für diese Leute keinen Pfifferling mehr wert. Bemüht, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen, fragte sie: »Würden Sie bei Ihrer Ehre als Gentleman schwören, dass Sie uns gehen lassen, wenn wir alles aufgeklärt haben?« Wenn er bereit war, mit sich reden zu lassen, war er möglicherweise kein gemeiner Schurke. Abgesehen davon ließ er ihr kaum eine andere Wahl. Er lächelte kaum merklich. »Ich schwöre es. Bei meiner Ehre als Gentleman.«
Maria schaute zu Freddy, der aussah, als fiele er jeden Moment in Ohnmacht. Dann sah sie Lord Stoneville in die Augen. »Also gut. Wir haben eine Abmachung.«
© 2012 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Um Himmels willen, Freddy, nun komm schon!«, raunte Maria Butterfield ihrem spindeldürren Vetter zu, während sie die schmutzige Straße entlangeilten. Der Mann vor ihnen legte ein recht flottes Tempo vor. Schlimm genug, dass sie dieses gräss liche englische Wetter ertragen mussten - wenn sie nun aber auch noch den Verdächtigen verlören, hätten sie keine Aussichten mehr, Nathan Hyatt zu finden. Und dieses Risiko wollte sie keinesfalls eingehen, nachdem sie den weiten Weg von Dartmouth, Massachusetts, auf sich genommen hatte, um ihren Verlobten zurückzuholen. »Bist du sicher, dass der Kerl wirklich Nathans Aktentasche unter dem Arm hat?«, fragte Freddy keuchend. »Sie hat eine Prägung auf beiden Seiten, genau wie die, die ich eigens für ihn anfertigen ließ. Und der Mann ist uns nicht weit vom Sitz der London Maritime begegnet, wo Nathan vor drei Monaten zuletzt gesehen wurde. Ich muss sie mir nur einmal aus der Nähe anschauen, um sicher zu sein.« »Wie willst du das anstellen? Glaub nur nicht, dass ich es für dich tue! Ich lege mich nicht mit einem englischen Tunichtgut an, nur aufgrund deiner Vermutung!«
»Ich dachte, du hättest das Schwert mitgenommen, um mich zu beschützen.« Freddy trug das alte Schwert ihres Vaters bei sich, seit sie in London angekommen waren. Es sorgte für Aufsehen, wohin sie auch gingen, denn dieser Tage führte niemand mehr ein Schwert bei sich. »Nein, lediglich zu meinem Schutz«, erwiderte Freddy. »Wie ich hörte, duelliert man sich hier aus Jux und Tollerei. Ich habe die weite Reise nicht gemacht, damit mein Lieblingsschwert im Kampf beschädigt wird.« Maria schnaubte. »Du hast mich auf dieser Reise begleitet, weil deine älteren Brüder Familien haben, um die sie sich kümmern müssen, und Tante Rose dir die Ohren lang gezogen hätte, wenn du nicht mitgekommen wärst.« Als Freddy errötete, schlug sie einen sanfteren Ton an. »Außerdem wird es sicherlich nicht zu einem Duell kommen. Wir werden diesen Mann ganz freundlich bitten, uns einen Blick auf die Tasche zu gewähren. Aber zuerst beobachten wir, wohin er geht. Ich hoffe, er führt uns zu Nathan.« »Ich hoffe, er führt uns zu einem Pastetengeschäft. Unser letztes Essen ist schon fast drei Stunden her!« Wie aufs Stichwort knurrte ihm der Magen. »Mir war nicht klar, dass du mich hier verhungern lassen willst.«
Sie seufzte. Freddy drohte ständig damit, dass er dem Hungertod nahe sei. Tante Rose sagte zwar immer, dass alle einundzwanzigjährigen Männer fraßen wie Stiere, aber Maria wäre es in diesem Augenblick lieber gewesen, sie äßen wie Vögelchen und kämpften wie Stiere. Freddy erwies sich als ein recht kostspieliger Beschützer, denn einen Großteil ihrer Mittel musste sie seiner Verpflegung opfern.
Sie wünschte so sehr, Nathan wäre in Amerika geblieben, wo er hingehörte. Sie wünschte so sehr, ihr Vater wäre nicht ge storben ... Maria machte von Trauer überwältigt einen großen Schritt über eine vereiste Pfütze. Sie konnte es immer noch nicht glauben. Ihr Vater hatte zwar in jüngster Zeit etwas abgebaut, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass er mit fünfundsechzig an plötzlichem Herzversagen in seinem Büro sterben würde. Ihr kam ein beunruhigender Gedanke. Wenn Nathan ihre letzten Briefe nicht bekommen hatte, dann wusste er noch gar nicht, dass Papa tot und er nun - wenn er sie wie geplant zur Frau nahm - der alleinige Leiter von New Bedford Ships war. Und wenn er sie nicht heiraten wollte? War das der Grund, warum sie seit Monaten nichts mehr von ihm gehört hatte? Hatte er etwa die Gelegenheit genutzt, um sich aus dem Staub zu machen?
Jeder Mann wäre es wohl irgendwann leid geworden, sich wie Nathan unentwegt die Forderungen ihres Vaters anzuhören, er müsse sich der Leitung des Unternehmens erst würdig erweisen, bevor er die Frau heiratete, die die Hälfte davon erben sollte. Aufgrund dieses Anspruchs war Nathan nach England gereist, um mit London Maritime einen lukrativen Vertrag über den Verkauf mehrerer Klipper abzuschließen. Vielleicht hatte er es sich mit der Verlobung anders überlegt, als er einmal in England angekommen war.
Maria stiegen die Tränen in die Augen. Nein, das würde er nicht tun. Er war ein ehrenhafter Mann. Ihre Beziehung war vielleicht weniger leidenschaftlich als die mancher anderer verlobter Paare, aber er war ihr ganz gewiss ebenso zugetan wie sie ihm. Etwas Schreckliches musste passiert sein, sonst würde er sich niemals seiner Verantwortung entziehen. Sie musste ihn finden. Ihn durfte sie nicht auch noch verlieren, nachdem gerade erst ihr Vater verstorben war. Doch dass sich Nathans Tasche im Besitz eines anderen Mannes befand, verhieß nichts Gutes. Nathan hätte sie niemals freiwillig jemandem überlassen. Der Mann musste sie ihm gestohlen haben. Ihr Herz schlug im Takt mit ihren immer schneller werdenden Schritten. Nathan lag wahrscheinlich tot auf irgendeiner Wiese, umgebracht von einem dieser heimtückischen Engländer. Und wenn er ...
Sie durfte gar nicht daran denken, sonst verlor sie vollends die Fassung. »Mopsy ...«, meldete sich Freddy mit gedämpfter Stimme zu Wort. »Du sollst mich doch nicht so nennen! Wir sind keine Kinder mehr.« Außerdem war Nathan der Ansicht, ein solcher Spitzname zieme sich nicht für eine Dame. Er achtete sehr auf solche Dinge, denn er war schließlich in der High Society von Baltimore aufgewachsen. Erst vor sechs Jahren war er ins kleine Dartmouth gekommen, um Papas Partner zu werden. »Entschuldige, Mop... äh, Maria«, entgegnete Freddy leise. »Ich vergesse es immer wieder.« Dann rückte er näher an sie heran. »Aber ich glaube, wir sollten im Dunkeln nicht mehr hier draußen umherlaufen. Dieser Stadtteil macht keinen sehr freundlichen Eindruck. Und die Damen dort oben sind ein wenig zu ... na ja, nackt.« Maria hatte sich so darauf konzentriert, den Mann vor ihnen nicht aus den Augen zu verlieren, dass sie die Umgebung gar nicht wahrgenommen hatte. Doch als sie sich nun umsah, blieb ihr fast das Herz stehen. Über ihnen lehnten sich spärlich bekleidete Frauen aus den Fenstern, deren Brüste aus ihren Miedern hervorquollen. Ihnen musste bitterkalt sein, doch das war für sie offensichtlich nicht von Belang. Die plötzliche Erinnerung daran, wie sie ihren Vater aus solchen Etablissements hatte herausholen müssen, wenn sich kein anderer dafür fand, ließ sie vor Schreck erstarren. »Kommen Sie, Sir!«, rief eine der Frauen Freddy zu, und ihr Atem stieg als weiße Dunstwolke in die Nacht. »Bei meiner Buschimuschi kriegen Sie im Nu einen Ständer!« »Meine Möse kannst du schon für ein halbes Pfund probieren, Schätzchen!«, bot ihm eine andere an. Maria verstand nicht alle Wörter, aber da sich Freddys sommersprossiges Gesicht knallrot färbte, waren sie offenbar äußerst ... obszön. »Komm, wir gehen zurück in unser Quartier«, sagte er.
»Noch nicht! Wir müssen uns erst die Tasche genauer ansehen. Der Mann will anscheinend da vorn einkehren. So eine Gelegenheit bekommen wir nicht noch einmal.« Sie warteten kurz, bis der Mann das Haus betreten hatte, dann gingen sie rasch darauf zu. Ausgelassenes Gelächter und fröhliche Geigenklänge waren bis auf die Straße zu hören. Durch die offene Tür konnte Maria Paare sehen, die miteinander tanzten und ... unanständige Dinge taten. Während die Laternenanzünder mit ihren Fackeln an ihnen vorbeitrotteten, studierte Freddy eingehend das Gebäude. »Da kannst du nicht hinein! Das ist kein Ort für ehrbare Frauen.« »Das sehe ich.« Maria fröstelte in ihrer schwarzen Redingote, als ein kalter Windstoß durch die Straße fegte. »Allem Anschein nach handelt es sich um ein Bordell.« »Mopsy!« Freddys Wangen leuchteten so rot wie sein völlig zerzaustes Haar. »Du darfst solche Worte nicht in den Mund nehmen!« »Warum? Wir wissen doch beide, dass Papa jeden Samstagabend in ein derartiges Etablissement gegangen ist.« Sie wendete sich ihm zu. »Warum gehst du nicht hinein? Ein Mann fällt dort nicht auf. Such einfach die Tasche, und sieh nach, ob es Nathans ist.« »Und wenn ja, was mache ich dann?« »Dann lockst du den Mann unter einem Vorwand hierher, damit ich mit ihm reden kann. Sag ihm, seine Mutter wartet draußen, und wenn er nicht herauskommt, kommt sie hinein. Das würde keinem jungen Mann gefallen.« Als Freddy sie skeptisch ansah, seufzte sie. »Wenn du tust, was ich sage, kaufe ich dir so viele Pasteten, wie du willst.« »Na gut.« Er zog sein Schwert aus der Scheide und gab es ihr. »Am besten behältst du es solange. Du solltest nicht wehrlos auf der Straße herumstehen.« Dass er sein heiß geliebtes Schwert auch nur für einen Augenblick aus der Hand gab, rührte Maria. »Vielen Dank.« Sie gab ihm einen Schubs. »Und nun finde schnell heraus, ob es Nathans Tasche ist!«
Freddy ging seufzend die Stufen zum Eingang hoch. Um nicht aufzufallen, versteckte sich Maria in einer dunklen Ecke. Als sie Freddy zögern sah, bevor er das Haus betrat, hätte sie beinahe gelacht. Jeder andere Kerl in seinem Alter brannte vermutlich darauf, einmal ein Bordell zu besuchen, aber Freddy hatte nichts anderes im Kopf als Essen. Doch wie viel er auch in sich hineinstopfte, er blieb dünn wie eine Bohnenstange. Wenn sie hingegen ihren Tee auch nur eine Woche lang mit Zucker trank, drohte sie gleich, aus ihrem Mieder zu platzen. Es war ungerecht! Aber das Leben war Frauen gegenüber generell ungerecht. Wäre sie ein Mann, hätte ihr Vater ihr das ganze Unternehmen vermacht, und er hätte niemanden von außerhalb hinzuholen müssen.
Nicht dass sie Nathan nicht mochte. Er war gescheit und sah gut aus, und um einen Ehemann wie ihn zu ergattern, wären die meisten Frauen wohl über glühende Kohlen gelaufen. Außerdem hatte sie kaum Aussichten, einen anderen guten Mann in Dartmouth zu finden. In dem kleinen Fischerstädtchen gab es nur eine Handvoll gebildete ledige Männer, und Papas Herkunft und seine bewegte Vergangenheit machten es ihr unmöglich, einen echten Gentleman zu ehelichen.
Manchmal fragte sie sich, ob Nathan es überhaupt in Erwägung gezogen hätte, sie zur Frau zu nehmen, wenn sie nicht die Tochter des Eigentümers von New Bedford Ships wäre.
Nein, das war ungerecht. Nathan hatte sich ihr gegenüber immer äußerst liebenswürdig verhalten. Er konnte nichts dafür, dass die wenigen Küsse, die sie bisher getauscht hatten, alles andere als überwältigend gewesen waren. Sie hatte bestimmt etwas falsch gemacht - oder zu viel erwartet. Vielleicht hatte Papa recht. Vermutlich las sie tatsächlich zu viele Schauerromane von Minerva Sharpe. Im Grunde genommen konnte kein Mann so charmant sein wie Graf Churchgrove oder so heldenhaft wie der Herzog von Wolfplain. Und schon gar nicht so faszinierend wie der niederträchtige Marquess von Rockton.
Sie runzelte die Stirn. Wie konnte sie nur in einer solchen Situation an Rockton denken? Schlimm genug, dass sie sich insgeheim gefreut hatte, als er der Gerichtsbarkeit am Ende des Romans entkommen war. Dass ihr ein gefährlicher Schurke wie er in den Sinn kam, obwohl sie an nichts anderes denken sollte als an Nathan, war äußerst beunruhigend.
Vielleicht war sie keine normale Frau. Sie hatte auf jeden Fall eine sehr viel direktere und resolutere Art als die meisten Frauen, die sie kannte. Und sie las schrecklich gern Geschichten über Mord und Totschlag. Das sei unnatürlich, hatte Papa immer gesagt.
Ihr entfuhr ein Seufzer. Es stimmte schon, dass andere Damen sich weitaus weniger für die Geschichten der Männer aus dem Unabhängigkeitskrieg interessierten und nicht jeden Zeitungsartikel über finstere Verbrechen so eifrig studierten, wie sie es tat. Im Unterschied zu ihr träumten sie nicht davon, einmal einen geheimnisvollen Mord aufzuklären.
Als plötzlich jemand »Achtung! Haltet den Dieb!« rief, schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Oh nein, Freddy hatte doch wohl nicht ...? Aber natürlich hatte er. Er dachte nämlich nie nach. Maria eilte mit dem Schwert in der Hand los, und als sie zur Tür hereinstürzte, sah sie, wie Freddy gerade die Treppe vom ersten Stock herunterkam und von einem Mann aufgehalten wurde, der sich ihm in den Weg stellte. Freddy hielt die Tasche an seine Brust gedrückt wie einen Schutzschild. »Der Dieb ist gefasst!«, sagte der Mann. Maria blieb fast das Herz stehen. Einige Stufen über Freddy stand mit hochrotem Gesicht und halb nackt der Mann, den sie verfolgt hatten, und zahlreiche andere Männer scharten sich neugierig um die Treppe. Mehr oder weniger spärlich bekleidete Frauen kamen herbeigelaufen. »Polly, hol den Constable!«, rief der Mann einer der Frauen zu.
Oh nein! Was für eine Katastrophe! Die beiden Männer auf der Treppe kamen Freddy immer näher, während er in einem fort stammelte, er habe »doch nur einen Blick darauf werfen wollen, mehr nicht«. Maria richtete das Schwert drohend auf den Kerl am unteren Ende der Treppe. »Lassen Sie ihn gehen! Sonst schneide ich Sie durch wie eine Orange!«
»Wie eine Orange? Das klingt ja furchterregend, meine Verehrteste«, ließ sich jemand zu ihrer Rechten vernehmen. Als Maria den groß gewachsenen Mann erblickte, der aus einem Nebenzimmer gekommen war, geriet sie in Panik. Er trug weder Mantel noch Weste, die Schleife fehlte, und sein Hemd war bis zur Brustmitte aufgeknöpft, aber sein gebieterisches Auftreten verriet, dass er stets Herr der Lage war, ganz gleich, was er trug oder nicht trug. Und er kam ihr viel zu nah. »Treten Sie zurück!« Sie richtete das Schwert auf ihn und hoffte inständig, dass sie das verfluchte Ding auch richtig zum Einsatz bringen konnte. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie schwer so ein Schwert war. »Ich will nur meinen Vetter, Sir, dann gehen wir.« »Ihr ›Vetter‹ hat versucht, mir meine Aktentasche zu stehlen, Eure Lordschaft!«, rief der Rotgesichtige. Eure Lordschaft? Maria stockte das Herz. Der große Kerl sah nicht so aus, wie sie sich die eleganten Männer in Miss Sharpes Romanen vorgestellt hatte, obwohl er ebenso arrogant zu sein schien wie sie. Aber seine Haut war dunkler, als Maria es bei einem englischen Adeligen erwartet hätte, und in seinen Augen lag ein unheimliches Funkeln, das ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. Wenn er tatsächlich ein Lord war, dann waren sie und Freddy in noch größeren Schwierigkeiten. »Kümmern Sie sich um die Frau, Lord Stoneville«, sagte der andere Mann, »und wir schnappen uns den Jungen. Wir halten die Diebe fest, bis der Constable da ist.« »Wir sind keine Diebe!« Maria schwang das Schwert zwischen den beiden Männern hin und her, und ihr Arm begann allmählich zu schmerzen, weil es so schwer war. Sie starrte den Mann am oberen Ende der Treppe wütend an. »Sie sind hier der Dieb, Sir! Diese Tasche gehört meinem Verlobten. Nicht wahr, Freddy?« »Ich bin mir nicht sicher«, krächzte Freddy eingeschüchtert. »Ich musste sie in den Korridor tragen, um sie mir richtig ansehen zu können, und dann hat dieser Mann da angefangen herumzubrüllen, und ich wusste nicht, was ich tun sollte, und bin weggerannt.«
»Das klingt ja sehr glaubwürdig«, spottete der Rotgesichtige. »Hören Sie, Tate«, sagte Lord Stoneville, »wenn Miss ...«
Als er sie fragend ansah, sagte sie ohne nachzudenken: »Butterfield. Maria Butterfield.«
»Wenn Miss Butterfield mir das Schwert aushändigt, werde ich diesen kleinen Streit zur Zufriedenheit aller schlichten, das verspreche ich Ihnen.« Als könnte man sich darauf verlassen, dass ein halb nackter Lord in einem Bordell irgendetwas gerecht und korrekt regelte! In der Literatur teilten sich die englischen Lords in zwei Kategorien auf: in ehrenhafte Gentlemen und verkommene Schurken. Dieser Mann hier schien eher zu den Schurken zu gehören, und Maria war nicht so dumm, einem solchen Mann zu vertrauen. »Ich habe einen besseren Vorschlag.« Mit heftig pochendem Herzen stürzte sie auf ihn zu und drückte die Schwertspitze gegen seine Kehle. »Entweder sagen Sie den Männern, sie sollen meinen Vetter gehen lassen, oder ich durchbohre Ihren Hals!« Er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Mit einem unverschämten Grinsen schloss er seine Hand um die Schwertklinge. »Das halte ich für ausgeschlossen, meine Liebe.« Aus Angst, ihm in die Finger zu schneiden, erstarrte Maria. »Hören Sie mir gut zu, Miss Butterfield«, fuhr der Lord mit einer beängstigenden Ruhe fort. »Sie werden des versuchten Diebstahls beschuldigt, und soeben haben Sie auch noch einen Edelmann angegriffen. Beide Vergehen werden mit dem Strick bestraft. Was den Angriff angeht, lasse ich mit mir reden, aber nur wenn Sie das Schwert loslassen. Dann gestatte ich Ihnen, sich und Ihren ›Vetter‹ in Bezug auf den Diebstahl zu verteidigen.« Er sprach das Wort »Vetter« mit skeptischem Sarkasmus aus. »Wir werden die Angelegenheit klären, und wenn ich davon überzeugt bin, dass Sie nicht des Diebstahls schuldig sind, dürfen Sie und Ihr Begleiter gehen. Einverstanden?«
Nun hatte er sie, und das wusste er natürlich. Wenn sie ihn verletzte, war ihr Leben für diese Leute keinen Pfifferling mehr wert. Bemüht, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen, fragte sie: »Würden Sie bei Ihrer Ehre als Gentleman schwören, dass Sie uns gehen lassen, wenn wir alles aufgeklärt haben?« Wenn er bereit war, mit sich reden zu lassen, war er möglicherweise kein gemeiner Schurke. Abgesehen davon ließ er ihr kaum eine andere Wahl. Er lächelte kaum merklich. »Ich schwöre es. Bei meiner Ehre als Gentleman.«
Maria schaute zu Freddy, der aussah, als fiele er jeden Moment in Ohnmacht. Dann sah sie Lord Stoneville in die Augen. »Also gut. Wir haben eine Abmachung.«
© 2012 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
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Autoren-Porträt von Sabrina Jeffries
Sabrina Jeffries ist in den USA geboren und in Thailand aufgewachsen. Sie ist begeisterte Jane-Austen-Leserin und besitzt einen Doktortitel in englischer Literatur. Mit ihren Liebesromanen gelangt sie regelmäßig auf die amerikanische Bestsellerliste.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sabrina Jeffries
- 2012, 2. Aufl., 400 Seiten, Maße: 12,4 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Antje Görnig
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802586735
- ISBN-13: 9783802586736
- Erscheinungsdatum: 08.05.2012
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