Machandels Gabe
Die sonderbare Geschichte vom Winzling Machandel, der auszog, der Welt das Geschenk des feinen Geschmacks zu machen. So wort- wie bildgewaltig erzählt Ulf Geyersbach vom armen Schäferjungen, der Ende des 18. Jhs. zum berühmtesten Koch seiner Zeit wurde.
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Produktinformationen zu „Machandels Gabe “
Die sonderbare Geschichte vom Winzling Machandel, der auszog, der Welt das Geschenk des feinen Geschmacks zu machen. So wort- wie bildgewaltig erzählt Ulf Geyersbach vom armen Schäferjungen, der Ende des 18. Jhs. zum berühmtesten Koch seiner Zeit wurde.
Klappentext zu „Machandels Gabe “
Die sonderbare Geschichte vom Winzling Machandel, der auszog, der Welt das Geschenk des feinen Geschmacks zu machenMachandels Gabe ist ein ungeheuerliches Romandebüt. So wort- und bildgewaltig, so spannend und verführerisch wie Ulf Geyersbach hat lange keiner mehr erzählt. Die Entdeckung dieses Autors ist ein Glücksfall für die Leser und für die deutsche Literatur.Zur Vigilfeier des Jahres 1769 erblickt in einer Schäferhütte in der Niederlausitz ein Kind namens Ignatz Machandel das Licht einer Welt, die vor Dreck nur so starrt und durchweht ist von üblen Gerüchen. Sobald Machandel krabbeln kann, probiert er, was ihm in die Finger kommt: Er belutscht Grauplinge, kaut Spinnenbeine und Nachtfalterflügel, leckt an Lederriemen und Eisenpfannen, schmeckt Stroh, Ruß, Rinde und Erde. So gehen sieben Jahre ins Land, sieben Jahre, in denen sich Machandel Abertausende von Aromen einprägt.Dann hört er auf zu wachsen und beginnt zu kochen. Und schon bald ist von Cottbus bis Lübben, von der Elbe bis zum Rhein die Rede von dem sonderbaren Winzling, der es wie kein anderer versteht, die erstaunlichsten Speisen zuzubereiten. Als ein harscher Winter eine Hungersnot bringt und Machandels Mutter ins Siechenhaus verbracht wird, kommt der Knabe in ein Kloster. Dort erfährt er von dem berühmten Pariser Koch Baffour, der Gesellen sucht. Machandel macht sich auf die Reise, um an der Seine die Aromen der Liebe, des Ruhms und des Verrats zu schmecken - und um ein bahnbrechendes Buch zu verfassen, von dem noch heute ein Exemplar in der Berliner Staatsbibliothek steht.
Lese-Probe zu „Machandels Gabe “
Machandels Gabe von Ulf Geyersbach16
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Das vorläufige Meisterwerk des Machandelschen Gaumens rauschte am Erntedankfest des Jahres 1785 durch den Schlot. Es war ein ungewöhnlich windiger Tag; der Wind riß an Dachziegeln und durchkämmte das Wasser des Sees; der Wind riß die ersten Blätter von den Ebereschen und Ulmen. Die zum Kloster strömenden Männer und Weiber hielten sich eng beisammen, allein war gegen diesen Wind kein Ankommen - sie dachten sich wohl, das sei ein sonderbares Wetter, und sie hatten recht damit, nur ahnten sie nicht, daß der Wind aus dem Schornstein brauste: aus dem Schlot der Klosterküche, vor dessen Glutrohr ein Zwerg fuhrwerkte: Ignaz Machandel.
Sein Feuer brannte für tausend andere Feuer. Es brannte, als speise es sich aus Klaftern von Holz - was den Tatsachen entsprach, denn das Feuer mußte ja Hunderte Mäuler sättigen. Es war schließlich ein Fest, mit dem der ganze Landstrich die üppige Ernte feierte. Alle waren eingeladen. Von überall strömten Bauern, Flößer, Bettler, Handwerker, fahrendes Volk, Kinder und Mägde herbei. Hatten sie die Schlaube erreicht, strömten alle ins Innere der Stiftskirche. Selten waren solche Massen an Pater Gabriels Nase vorübergehinkt, vorübergekrochen, vorübergeschlichen, jeder in seinem Tempo. Es eilte ja nicht, dachten sie. Nur Johannes - er hatte seinen großen Zwerg allein in der Küche zurückgelassen, er mußte ja beten - ahnte, daß etwas Besonderes in der Luft lag.
Irrwitzige Mengen Feuerholz hatte Machandel herbeigeschafft, bis an den Dachfirst stapelten sich die Scheite. Er hatte heimlich solche Mengen Brot und Reis und Käse und Gemüse und Fisch beschafft, daß man meinen konnte, da danke ein Königreich für die Ernte.
Am Ende der mächtigen Kirchenhalle, direkt unterhalb des Chores, saßen die Mönche auf ihren Bänken, reglos saßen sie da, steingewordene Inkarnationen des Glaubens, und sie alle erhoben sich, als Robertus in die Stiftskirche trat, Platz nahm und sein Haupt so weit herabsenkte, daß seine Abtsmitra auf den Boden fiel. Er begrüßte die Ratsherren und dankte den Professoren und Doktoren, begrüßte die Bauern und Mönche, lobte die außerordentliche Ernte, dann erklang die mächtige Orgel, selten wurden die Hymnen mit solcher Inbrunst gesungen wie an diesem Tag.
Während in der Kapelle gesungen wurde, wankten die
Tischdiener, allein das Versprechen und somit die Ahnung dieses Essens hatte ihre Sinne betört, ihren Verstand benebelt, und was nun als Duft hinauswolkte, das war ja nur der kleinste Teil dessen, was an diesem Tag aufgetischt würde, es war nur die erste Strophe eines großen Hymnus, der all dem huldigte, was in den Kellern und auf den Feldern und in den Gewächshäusern gereift war.
Ja, es kam einem so vor, als sei all das in Jahren und Jahrhunderten zusammengerafft worden, um an diesem einen Tag als Lobpreis der Vergänglichkeit in die Herzen der Menschen zu schießen - denn das war die überwältigende Wirkung der Ignazschen Komposition: daß die Seelen, denen von klein auf die Lehre von der Flüchtigkeit allen Lebens eingepflanzt worden war, daß sie an diesem Tag endlich erfahren sollten, was das nun meinte: Vergänglichkeit.
Es kam den Tischdienern, Feuerknechten, Bratern, Suppenköchen und erst den Abwäschern so vor, als sei es eine besondere Auszeichnung, nicht in der Kapelle zu hocken. Wo ja nichts geschah als an anderen Tagen auch. Sie hingegen waren Zeuge eines Wunders - des in Dörrpflaume und Limette gereiften Poulet à la poire des Ignaz Machandel. Des Birnenhuhns, vollkommener als jeder Ton, den die Orgel aus ihren Pfeifen preßte.
Nie hatte ein Mensch den mächtigen und betagten Herd ähnlich tanzen lassen, es war, als dirigiere dieser Winzling ein schnaubendes Ungeheuer mit den Schwüngen seines Löffels. Das Feuer lohte aus Luken und Löchern, es fauchte und zischte, daß der Herd zu bersten drohte - und neben ihm, an mehreren anderen Feuerstellen, wirkten Gehilfen. Ein noch so begnadeter Geist konnte all das nicht mit seinen beiden Händen vollbringen. Wo sonst Chaos herrschte, wirkte nun einer für den anderen.
Bald wäre es vollbracht. Machandel hatte den Preis der Liebe in seine Schöpfung gewoben - nun mußte er seine allerletzte Kraft zusammenraufen, er sank auf die Knie und betete, um kurz vor dem Ziel nicht kraftlos in den Staub zu sinken. Raffte sich wieder in die Höhe - so gut es eben ging für einen Kurzwüchsigen - atmete tief durch, glitt mit dem Löffel über seine Stirn, und noch während das »Danket dem Herrn« angestimmt wurde, setzte er zu einem gewaltigen Fortissimo an.
Der Zwerg flehte, er flüsterte dem Feuer zu, lenkte es mit jeder Geste seines Körpers, befahl mit dem Löffel, stieß mit der gewaltigen Kraft seines gespannten Körpers ein ungeheuerliches Qualmgebrause auf, größer als die Herbstfeuer. Mit nahezu unmöglicher Geschwindigkeit fegte er an Tiegeln und Sieben entlang, riß Kasserollen vom ächzenden Feuer, auch Pfannen, und zog eine vielfach fondierte Essenz aus dem Sud des Huhnes.
Man mußte all das mit eigenen Augen gesehen haben, dieses wütende, dieses bestialisch feurige Tun - und wo die Feuerburschen kaum genügend Holz herbeischaffen konnten, da war der Schöpfer dieser gewaltigen Symphonie allein mit sich und seinem Werk. Stand doch einmal ein Feuerknecht für einen Augenblick neben dem Herd, rann der Schweiß von seinen Wangen, nicht wenig Angstschweiß mischte sich hinein.
Aus dem Herd drang ein säuselndes Locken. Ja, es kam sogar dem Abt so vor, als risse ihn dieses Säuseln aus dem Gebet, und mit einem Mal hielt es keinen Mönch, keinen Professor und keinen Doktor und keine Magd und keinen
Schmied und keinen Schäfer mehr auf seiner Bank in der Kirche. Mitten im Hymnus riß es sie in die Höhe, der Gesang erstarb, und es drängte sie hinaus und zu dieser Verheißung hin.
Nur Johannes ahnte, woher das Summen tönte. Nicht die Orgel, sein Herd war das Zentrum all der Töne, die in sämtliche Ecken der Stiftskirche sickerten. Alles, selbst die Bodenplatte vor dem Herd war von tränendicken Tropfen verklebt - das Huhn hatte sich am Aroma der Birne fettgesogen. Es war soweit.
Ohne zu zögern waren die Mönche und Professoren in den Speisesaal geeilt, doch weil es die Menschen in unvorstellbaren Mengen herbeigezogen hatte, ließ Robertus auch im Kreuzgang und im Brunnenhaus Stühle und Bänke aufstellen - jeder durfte in die heiligen Winkel vorstoßen, es gab kein Trennendes mehr, kein Innen. Kein Außen.
Machandel trug gebackene Rosen auf, Lilien.
Die Mönche stemmten die Ellbogen auf die Tische. Verheißungsvoll stieg der Duft in alle Winkel. Der Duft stieg in den Kreuzgang und bis in die Scheunen, er legte sich über den Teich - noch Bruder Gabriel soff im Pforten-haus den Duft mit seiner merklich erregten Nase.
Hier und da erklang ein Lied, und wer in das Antlitz eines Weibes schaute, der meinte ein blühend schönes Mädchen zu sehen, das auf den Namen Amelia getauft sein mußte. Es konnte nicht anders sein.
Was war nun das? Nie zuvor hatte es das gegeben, weil es das nicht geben konnte, denn der Schöpfer dieses Wunders hatte nichts anderes getan, als sich zu erinnern, folglich ließ er eine Sehnsucht lebendig werden, die allein in seiner Brust existiert hatte. Nur dort allein.
Dieser Zwerg hatte nicht einfach gekocht, er hatte fürs erste Mal in seinem Leben gepredigt. Von Liebe hatte dieser Künstler gepredigt, von Nachsicht, vom Ewigen Leben - allein dieser Duft war so betörend, daß Robertus die Tischlesung vergaß. Mit einem Mal wütete in seinem greisen Bauch ein bestialischer Hunger. Er sehnte sich förmlich nach diesem Huhn. Am Ende seines tadellosen Lebens hätte er einen Mord verübt, um davon zu kosten. Jetzt gleich. Und weil es naturgemäß viel zu lange dauerte, bis Ignaz zu ihm vordringen würde, pflügte er sich durch diesen Menschenacker - und stand mit einem Mal vor diesem Koch, der ihn seligsprach mit seinem Löffel.
Keine Predigt hatte sein Herz je so gerührt. Es war, als bisse man dem Jesuskind in den süßen prallen Zeh. Es war diesseitig wie eine Todsünde. Herrlich wie das Jüngste Gericht. Es war der vollkommenste Lobpreis, der je aus dem Kloster in die Welt geklungen.
Während alle fraßen und den Herrn lobten, lauerte der Schöpfer dieses Konzerts am Türpfosten zur Küche. Sie spülten obszöne Mengen dieses Huhnes und dieser Brühe in ihre Mägen - was natürlich nur ihrer Wahrnehmung entsprach. Ihrem Bild von dem, was hier geschah. In Wirklichkeit tranken sie kaum mehr als eine Pfütze und aßen kaum mehr als eine Faser, während das Schwelgen zu einem wilden, orgiastischen Grölen wuchs.
Bald suhlten sie sich unter freiem Himmel, eng gedrängt hockten sie beisammen, Weiber und Mönche brannten darauf, die Schenkel aneinander zu reiben. Hier und da starrte ein geil aufragendes Glied aus einem Winkel, die Mägde rissen ihre Brusttücher auf und beträufelten Brüste und Brustwarzen mit der Ahnung dieses Aromas, von dem
sie gekostet hatten. Es gab keine Grenze mehr, alles drängte zusammen, der Ratsherr zur Magd, der Abtpräses zum Waisenknaben. Es gab kein Halten mehr. Da rieb ein Doktor der Philosophie seine Schenkel an den Lenden einer achtzigjährigen Vettel. Ein frisch verheirateter Müller hatte kein Auge mehr für sein Weib, er ließ sich von einer reichen Witwe in einen Winkel zerren. Einbeinige kopulierten mit Dicken, gedankenschwere Naturen mit Lebegeistern, Greise sabberten an den Brüsten jungfräulicher Melkerinnen.
Fackeln warfen Glutflecken auf Decke und Wände, eine Böe peitschte durchs Refektorium. In den vor Schreck geweiteten Pupillen der Menge spiegelte sich das Feuer. Die Leuchter fluchten, das Wachs kochte, eine Kerze sackte um und drohte einen Teppich zu fressen ... Da hielt der Sturm inne, als hätte selbst den Wind das Aroma besänftigt. Es war, als hielte sogar der Wind den Atem an vor diesem Geschöpf und seiner Kreation. Der Mond, rot flammend, leuchtete in einem milchbleichen Lichtkreis. Dunkelheit senkte sich über das Kloster, und als einzig sichtbares Zeichen stieg aus dem Kamin des Küchenherdes ein Rest Rauch auf.
Er allein hatte es vollbracht! Er hatte die Küche des Klosters befreit; hatte das Feuer gelehrt, dem Geschmack zu dienen. Er hatte seine Botschaft hinausgetrieben in die Welt, um all den anderen den Fluch der Freiheit zu schenken.
Ignaz stürmte ins Dormitorium hinauf und packte den Reisesack. Schlag Mitternacht schlüpfte er durch die Seitentür jenes Pfortenhauses, das ihn vor sechs Jahren, drei Monaten und zwölf Tagen eingelassen hatte. Ein sanfter Mondstrahl sackte zwischen langsam aufziehenden Wolkenbändern hindurch. Er strich die Locken aus seinem Gesicht, und als er loseilte, streckte er beide Arme in die Höhe. In der linken Hand hielt er seinen Löffel aus Vogelbeerholz, und wann immer er ihn an Nase und Zunge vorbeistreichen ließ, wußte er, daß er mit seiner Hilfe Großes vollbracht hatte und Größeres vollbringen würde.
Als er von einer Hügelkuppe hinab ein letztes Mal aufs Kloster starrte, stieg ein Wirbel schwarzgrauen Rauches auf, ein Band Funken mit sich reißend. Er wies ihm den Weg Richtung Westen.
© Arche Verlag
Das vorläufige Meisterwerk des Machandelschen Gaumens rauschte am Erntedankfest des Jahres 1785 durch den Schlot. Es war ein ungewöhnlich windiger Tag; der Wind riß an Dachziegeln und durchkämmte das Wasser des Sees; der Wind riß die ersten Blätter von den Ebereschen und Ulmen. Die zum Kloster strömenden Männer und Weiber hielten sich eng beisammen, allein war gegen diesen Wind kein Ankommen - sie dachten sich wohl, das sei ein sonderbares Wetter, und sie hatten recht damit, nur ahnten sie nicht, daß der Wind aus dem Schornstein brauste: aus dem Schlot der Klosterküche, vor dessen Glutrohr ein Zwerg fuhrwerkte: Ignaz Machandel.
Sein Feuer brannte für tausend andere Feuer. Es brannte, als speise es sich aus Klaftern von Holz - was den Tatsachen entsprach, denn das Feuer mußte ja Hunderte Mäuler sättigen. Es war schließlich ein Fest, mit dem der ganze Landstrich die üppige Ernte feierte. Alle waren eingeladen. Von überall strömten Bauern, Flößer, Bettler, Handwerker, fahrendes Volk, Kinder und Mägde herbei. Hatten sie die Schlaube erreicht, strömten alle ins Innere der Stiftskirche. Selten waren solche Massen an Pater Gabriels Nase vorübergehinkt, vorübergekrochen, vorübergeschlichen, jeder in seinem Tempo. Es eilte ja nicht, dachten sie. Nur Johannes - er hatte seinen großen Zwerg allein in der Küche zurückgelassen, er mußte ja beten - ahnte, daß etwas Besonderes in der Luft lag.
Irrwitzige Mengen Feuerholz hatte Machandel herbeigeschafft, bis an den Dachfirst stapelten sich die Scheite. Er hatte heimlich solche Mengen Brot und Reis und Käse und Gemüse und Fisch beschafft, daß man meinen konnte, da danke ein Königreich für die Ernte.
Am Ende der mächtigen Kirchenhalle, direkt unterhalb des Chores, saßen die Mönche auf ihren Bänken, reglos saßen sie da, steingewordene Inkarnationen des Glaubens, und sie alle erhoben sich, als Robertus in die Stiftskirche trat, Platz nahm und sein Haupt so weit herabsenkte, daß seine Abtsmitra auf den Boden fiel. Er begrüßte die Ratsherren und dankte den Professoren und Doktoren, begrüßte die Bauern und Mönche, lobte die außerordentliche Ernte, dann erklang die mächtige Orgel, selten wurden die Hymnen mit solcher Inbrunst gesungen wie an diesem Tag.
Während in der Kapelle gesungen wurde, wankten die
Tischdiener, allein das Versprechen und somit die Ahnung dieses Essens hatte ihre Sinne betört, ihren Verstand benebelt, und was nun als Duft hinauswolkte, das war ja nur der kleinste Teil dessen, was an diesem Tag aufgetischt würde, es war nur die erste Strophe eines großen Hymnus, der all dem huldigte, was in den Kellern und auf den Feldern und in den Gewächshäusern gereift war.
Ja, es kam einem so vor, als sei all das in Jahren und Jahrhunderten zusammengerafft worden, um an diesem einen Tag als Lobpreis der Vergänglichkeit in die Herzen der Menschen zu schießen - denn das war die überwältigende Wirkung der Ignazschen Komposition: daß die Seelen, denen von klein auf die Lehre von der Flüchtigkeit allen Lebens eingepflanzt worden war, daß sie an diesem Tag endlich erfahren sollten, was das nun meinte: Vergänglichkeit.
Es kam den Tischdienern, Feuerknechten, Bratern, Suppenköchen und erst den Abwäschern so vor, als sei es eine besondere Auszeichnung, nicht in der Kapelle zu hocken. Wo ja nichts geschah als an anderen Tagen auch. Sie hingegen waren Zeuge eines Wunders - des in Dörrpflaume und Limette gereiften Poulet à la poire des Ignaz Machandel. Des Birnenhuhns, vollkommener als jeder Ton, den die Orgel aus ihren Pfeifen preßte.
Nie hatte ein Mensch den mächtigen und betagten Herd ähnlich tanzen lassen, es war, als dirigiere dieser Winzling ein schnaubendes Ungeheuer mit den Schwüngen seines Löffels. Das Feuer lohte aus Luken und Löchern, es fauchte und zischte, daß der Herd zu bersten drohte - und neben ihm, an mehreren anderen Feuerstellen, wirkten Gehilfen. Ein noch so begnadeter Geist konnte all das nicht mit seinen beiden Händen vollbringen. Wo sonst Chaos herrschte, wirkte nun einer für den anderen.
Bald wäre es vollbracht. Machandel hatte den Preis der Liebe in seine Schöpfung gewoben - nun mußte er seine allerletzte Kraft zusammenraufen, er sank auf die Knie und betete, um kurz vor dem Ziel nicht kraftlos in den Staub zu sinken. Raffte sich wieder in die Höhe - so gut es eben ging für einen Kurzwüchsigen - atmete tief durch, glitt mit dem Löffel über seine Stirn, und noch während das »Danket dem Herrn« angestimmt wurde, setzte er zu einem gewaltigen Fortissimo an.
Der Zwerg flehte, er flüsterte dem Feuer zu, lenkte es mit jeder Geste seines Körpers, befahl mit dem Löffel, stieß mit der gewaltigen Kraft seines gespannten Körpers ein ungeheuerliches Qualmgebrause auf, größer als die Herbstfeuer. Mit nahezu unmöglicher Geschwindigkeit fegte er an Tiegeln und Sieben entlang, riß Kasserollen vom ächzenden Feuer, auch Pfannen, und zog eine vielfach fondierte Essenz aus dem Sud des Huhnes.
Man mußte all das mit eigenen Augen gesehen haben, dieses wütende, dieses bestialisch feurige Tun - und wo die Feuerburschen kaum genügend Holz herbeischaffen konnten, da war der Schöpfer dieser gewaltigen Symphonie allein mit sich und seinem Werk. Stand doch einmal ein Feuerknecht für einen Augenblick neben dem Herd, rann der Schweiß von seinen Wangen, nicht wenig Angstschweiß mischte sich hinein.
Aus dem Herd drang ein säuselndes Locken. Ja, es kam sogar dem Abt so vor, als risse ihn dieses Säuseln aus dem Gebet, und mit einem Mal hielt es keinen Mönch, keinen Professor und keinen Doktor und keine Magd und keinen
Schmied und keinen Schäfer mehr auf seiner Bank in der Kirche. Mitten im Hymnus riß es sie in die Höhe, der Gesang erstarb, und es drängte sie hinaus und zu dieser Verheißung hin.
Nur Johannes ahnte, woher das Summen tönte. Nicht die Orgel, sein Herd war das Zentrum all der Töne, die in sämtliche Ecken der Stiftskirche sickerten. Alles, selbst die Bodenplatte vor dem Herd war von tränendicken Tropfen verklebt - das Huhn hatte sich am Aroma der Birne fettgesogen. Es war soweit.
Ohne zu zögern waren die Mönche und Professoren in den Speisesaal geeilt, doch weil es die Menschen in unvorstellbaren Mengen herbeigezogen hatte, ließ Robertus auch im Kreuzgang und im Brunnenhaus Stühle und Bänke aufstellen - jeder durfte in die heiligen Winkel vorstoßen, es gab kein Trennendes mehr, kein Innen. Kein Außen.
Machandel trug gebackene Rosen auf, Lilien.
Die Mönche stemmten die Ellbogen auf die Tische. Verheißungsvoll stieg der Duft in alle Winkel. Der Duft stieg in den Kreuzgang und bis in die Scheunen, er legte sich über den Teich - noch Bruder Gabriel soff im Pforten-haus den Duft mit seiner merklich erregten Nase.
Hier und da erklang ein Lied, und wer in das Antlitz eines Weibes schaute, der meinte ein blühend schönes Mädchen zu sehen, das auf den Namen Amelia getauft sein mußte. Es konnte nicht anders sein.
Was war nun das? Nie zuvor hatte es das gegeben, weil es das nicht geben konnte, denn der Schöpfer dieses Wunders hatte nichts anderes getan, als sich zu erinnern, folglich ließ er eine Sehnsucht lebendig werden, die allein in seiner Brust existiert hatte. Nur dort allein.
Dieser Zwerg hatte nicht einfach gekocht, er hatte fürs erste Mal in seinem Leben gepredigt. Von Liebe hatte dieser Künstler gepredigt, von Nachsicht, vom Ewigen Leben - allein dieser Duft war so betörend, daß Robertus die Tischlesung vergaß. Mit einem Mal wütete in seinem greisen Bauch ein bestialischer Hunger. Er sehnte sich förmlich nach diesem Huhn. Am Ende seines tadellosen Lebens hätte er einen Mord verübt, um davon zu kosten. Jetzt gleich. Und weil es naturgemäß viel zu lange dauerte, bis Ignaz zu ihm vordringen würde, pflügte er sich durch diesen Menschenacker - und stand mit einem Mal vor diesem Koch, der ihn seligsprach mit seinem Löffel.
Keine Predigt hatte sein Herz je so gerührt. Es war, als bisse man dem Jesuskind in den süßen prallen Zeh. Es war diesseitig wie eine Todsünde. Herrlich wie das Jüngste Gericht. Es war der vollkommenste Lobpreis, der je aus dem Kloster in die Welt geklungen.
Während alle fraßen und den Herrn lobten, lauerte der Schöpfer dieses Konzerts am Türpfosten zur Küche. Sie spülten obszöne Mengen dieses Huhnes und dieser Brühe in ihre Mägen - was natürlich nur ihrer Wahrnehmung entsprach. Ihrem Bild von dem, was hier geschah. In Wirklichkeit tranken sie kaum mehr als eine Pfütze und aßen kaum mehr als eine Faser, während das Schwelgen zu einem wilden, orgiastischen Grölen wuchs.
Bald suhlten sie sich unter freiem Himmel, eng gedrängt hockten sie beisammen, Weiber und Mönche brannten darauf, die Schenkel aneinander zu reiben. Hier und da starrte ein geil aufragendes Glied aus einem Winkel, die Mägde rissen ihre Brusttücher auf und beträufelten Brüste und Brustwarzen mit der Ahnung dieses Aromas, von dem
sie gekostet hatten. Es gab keine Grenze mehr, alles drängte zusammen, der Ratsherr zur Magd, der Abtpräses zum Waisenknaben. Es gab kein Halten mehr. Da rieb ein Doktor der Philosophie seine Schenkel an den Lenden einer achtzigjährigen Vettel. Ein frisch verheirateter Müller hatte kein Auge mehr für sein Weib, er ließ sich von einer reichen Witwe in einen Winkel zerren. Einbeinige kopulierten mit Dicken, gedankenschwere Naturen mit Lebegeistern, Greise sabberten an den Brüsten jungfräulicher Melkerinnen.
Fackeln warfen Glutflecken auf Decke und Wände, eine Böe peitschte durchs Refektorium. In den vor Schreck geweiteten Pupillen der Menge spiegelte sich das Feuer. Die Leuchter fluchten, das Wachs kochte, eine Kerze sackte um und drohte einen Teppich zu fressen ... Da hielt der Sturm inne, als hätte selbst den Wind das Aroma besänftigt. Es war, als hielte sogar der Wind den Atem an vor diesem Geschöpf und seiner Kreation. Der Mond, rot flammend, leuchtete in einem milchbleichen Lichtkreis. Dunkelheit senkte sich über das Kloster, und als einzig sichtbares Zeichen stieg aus dem Kamin des Küchenherdes ein Rest Rauch auf.
Er allein hatte es vollbracht! Er hatte die Küche des Klosters befreit; hatte das Feuer gelehrt, dem Geschmack zu dienen. Er hatte seine Botschaft hinausgetrieben in die Welt, um all den anderen den Fluch der Freiheit zu schenken.
Ignaz stürmte ins Dormitorium hinauf und packte den Reisesack. Schlag Mitternacht schlüpfte er durch die Seitentür jenes Pfortenhauses, das ihn vor sechs Jahren, drei Monaten und zwölf Tagen eingelassen hatte. Ein sanfter Mondstrahl sackte zwischen langsam aufziehenden Wolkenbändern hindurch. Er strich die Locken aus seinem Gesicht, und als er loseilte, streckte er beide Arme in die Höhe. In der linken Hand hielt er seinen Löffel aus Vogelbeerholz, und wann immer er ihn an Nase und Zunge vorbeistreichen ließ, wußte er, daß er mit seiner Hilfe Großes vollbracht hatte und Größeres vollbringen würde.
Als er von einer Hügelkuppe hinab ein letztes Mal aufs Kloster starrte, stieg ein Wirbel schwarzgrauen Rauches auf, ein Band Funken mit sich reißend. Er wies ihm den Weg Richtung Westen.
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Autoren-Porträt von Ulf Geyersbach
Ulf Geyersbach lebt als freier Autor in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ulf Geyersbach
- 2010, 1, 283 Seiten, Maße: 13 x 20,7 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: ARCHE VERLAG
- ISBN-10: 3716026484
- ISBN-13: 9783716026489
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