Madeleine
Das Verschwinden unserer Tocher und die lange Suche nach ihr
Madeleines Mutter erzählt ihre Sicht der Dinge und wehrt sich gegen das Bild, sie sei gefühllos.
"Wie bei allem, was wir in den letzten vier Jahren getan haben, geht es letztlich auch bei diesem Buch darum, ob es uns dabei...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Madeleine “
Madeleines Mutter erzählt ihre Sicht der Dinge und wehrt sich gegen das Bild, sie sei gefühllos.
"Wie bei allem, was wir in den letzten vier Jahren getan haben, geht es letztlich auch bei diesem Buch darum, ob es uns dabei helfen kann, Madeleine zu finden. Nichts ist wichtiger für uns, als unser kleines Mädchen zu finden."
Kate McCann
Anhand ihrer Tagebücher berichtet Kate McCann in ihrem Buch nicht nur über die dramatischen Ereignisse im Mai 2007 und die verzweifelten Aktionen danach, sondern beschreibt auch ihre Gefühle und Ängste. Und sie äußert ihre unerschütterliche Hoffnung, Maddie lebend zu finden: "Vielleicht liest jemand dieses Buch, der wichtige Informationen hat", - damit das Rätsel gelöst wird.
Hintergründe zum Fall "Maddie"
Praia de Luz, Portugal, am Abend des 3. Mai 2007: Die 3-jährige Madeleine McCann verschwindet spurlos aus dem Ferienappartement ihrer Eltern - und ist bis heute nicht wieder aufgetaucht.
Immer noch ist unklar, wo Madeleine ist - und ob sie überhaupt noch lebt. Nach dem Verschwinden ihrer Tochter startet das englische Ärzte-Ehepaar McCann eine weltweite, beispiellose Kampagne, um auf den Fall aufmerksam zu machen. U.a. richten sie dabei einen Spendenfond ein - und werden sogar vom Papst empfangen, der ein Bild von Maddie segnet.
Privatdetektive ermitteln
Die McCanns engagieren Privatdetektive, die Hunderte von Zeugen intensiv befragen, mehr als 1.000 Anrufe tätigen und rund 15.000 E-Mails erhalten - ohne dass dies neue Erkenntnisse bringt.
Ermittlungen ohne Ergebnisse - und Eltern, die die Hoffnung nicht aufgeben
Immer neue Schlagzeilen
Die britische Presse stürzt sich förmlich auf den Fall Maddie. "Sie tobt sich aus auf dem Spielfeld der Halbwahrheiten, Vermutungen und Gerüchte - und produziert immer neue Schlagzeilen." (spiegel.de, im Mai 2008)
Doch auch weltweit genießt Maddies mysteriöses Verschwinden höchstes Medieninteresse.
Die Mutter gerät in Verdacht
Dann wird die 43-jährige Mutter Kate selbst Tatverdächtige der portugiesischen Polizei, die ihre erfolglosen Ermittlungen mit einer seltsamen Geheimniskrämerei durchführt und überzeugt ist, Madeleine sei tot.
Zweifel bleiben bestehen
Der Verdacht, Mrs. McCann habe selbst etwas mit dem Verschwinden ihrer Tochter zu tun, wird zwar von den Behörden wieder fallen gelassen, aber immer noch glauben nicht wenige Menschen, Kate und ihr Mann Gerry hätten ihre Tochter Maddie selbst getötet und irgendwie verschwinden lassen.
Die offiziellen Ermittlungen werden eingestellt
Im Sommer 2008 stellt die portugiesische Polizei offiziell ihre Ermittlungen im Fall McCann ein. Im Mai 2011 gibt der britische Premier David Cameron bekannt,
dass die Ermittlungsakten zum Fall Maddie erneut überprüft werden sollen - von britischen Polizisten. Damit reagiert der britische Regierungschef auf eine öffentliche Bitte der Familie McCann.
Buch wird angekündigt
Am 12. Mai 2011, dem achten Geburtstag von Maddie, kündigt Kate McCann die Veröffentlichung ihres Buches an (die englische Originalausgabe). Auf der speziellen Madeleine-Web-Seite weist Kate dann darauf hin, dass die Veröffentlichung eine äußerst schwere Entscheidung für sie sei, dass ihr jedoch keine andere Wahl bliebe. Als Grund nennt sie zur Neige gehende Mittel für den Madeleine-Fond - schließlich müsse die kostspielige Suchaktion ja weiter bezahlt werden.
Das Prinzip Hoffnung
Im Vowort des Buches von Kate McCann ist zu lesen: "Jeden Penny, den wir mit dem Verkauf dieses Buches verdienen, werden wir für unsere Suche nach Madeleine ausgeben." Auch nach über vier Jahren gilt für das Ärzteehepaar aus dem englischen Rothley immer noch das Prinzip Hoffung. Irgendjemand habe ja vielleicht das entscheidende Stück zu diesem Puzzle, macht sich Kate Mut, ihre älteste Tochter wieder in die Arme schließen zu können.
Klappentext zu „Madeleine “
Madeleine wurde am Donnerstag, den 3. Mai 2007, in Praia da Luz, Portugal, entführt. Sämtliche polizeilichen Ermittlungen wurden im Laufe des Jahres 2008 eingestellt, doch die Eltern gaben die Hoffnung niemals auf. Sämtliche Autorenhonorare gehen an Madeleine s Fund "Die Niederschrift dieses Buches war eine zeitraubende und zuweilen herzzerreißende Erfahrung, aber sie wurde mir dadurch erleichtert, dass ich seit Mai 2007 täglich Tagebuch geführt habe. Dabei wäre mir das von
allein gar nicht in den Sinn gekommen, es war der Vorschlag eines der vielen Experten, die uns in jenem Monat über das Minenfeld aus Emotionen und praktischen Erfordernissen hinweghalfen. Ich stehe für immer in seiner Schuld für diesen
großartigen Rat. Anfangs erschien es mir wie eine gute Möglichkeit, für Madeleine aufzuzeichnen, was in den Tagen seit ihrem Verschwinden passiert ist, aber alles aufzuschreiben erwies sich als ungeheuer therapeutisch für mich. Die
täglichen Notizen boten mir ein Ventil für meine Gedanken und extremen Gefühle. Sie waren für mich der Raum, in dem ich hinausschreien konnte, was ich nicht von den Dächern schreien durfte. Und sie gaben mir die Möglichkeit, mich Madeleine
nahe zu fühlen."
Lese-Probe zu „Madeleine “
Madeleine - Das Verschwinden unserer Tochter und die lange Suche nach ihr von Kate McCannVORWORT
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Die Entscheidung, dieses Buch zu schreiben, ist uns alles andere als leichtgefallen, und wir haben sie nur schweren Herzens getroffen. Ehe wir uns entschlossen, unsere Geschichte zu erzählen, mussten mein Mann Gerry und ich eine ganze Reihe von Fragen und Problemen bedenken, darunter nicht zuletzt den Einfluss, den die Veröffentlichung auf das Leben unserer drei Kinder haben würde.
Mein Grund, dieses Buch zu schreiben, ist einfach: Ich will die Wahrheit erzählen. Es war schon lange meine Absicht, einen vollständigen Bericht dessen zu geben, was unserer Familie zugestoßen ist, vor allem für unsere Kinder Madeleine, Sean und Amelie, damit sie irgendwann nachlesen können, wie es wirklich gewesen ist. Ich wollte sicherstellen, dass sie immer Zugang zu einer schriftlichen Chronik der tatsächlichen Ereignisse haben, ganz gleich, wie viele Jahre vergangen sein mögen. Sie haben schon so viel erlebt, und die Zukunft wird weitere Herausforderungen für sie bereithalten. Wenn sie verstehen, welche Torturen wir durchgemacht haben, werden sie die denkbar besten Chancen haben, mit allen Herausforderungen des Lebens fertig zu werden.
Der Entschluss, diese persönlichen Aufzeichnungen auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, fiel mir schon bedeutend schwerer. Natürlich wollen wir, dass die Wahrheit erzählt wird. Während der vergangenen vier Jahre war es eine große Qual, mit anzuhören, wie allerlei Geschichten über Madeleines Verschwinden und über Gerry, mich und unsere Familie in Umlauf gebracht wurden. Die Presse veröffentlichte Berge von Artikeln, oft ohne die Fakten zu kennen, oft wohl auch, ohne sich darum zu kümmern, ob auch nur ein Körnchen Wahrheit in diesen Geschichten
steckte. Unserer Familie ist dadurch großes Leid zugefügt worden, aber vor allem wurde die Suche nach Madeleine dadurch behindert. Andere ergriffen die Gelegenheit, von unserer Qual zu profitieren, und schrieben Bücher über unsere Tochter, wobei mehrere Autoren behaupteten, sie würden »die tatsächlichen Ereignisse« enthüllen. Was bemerkenswert ist, wenn man bedenkt, dass der einzige Mensch, der die tatsächlichen Ereignisse kennt, derjenige ist, der Madeleine am 3. Mai 2007 entführt hat. Viele Autoren haben keinerlei Kenntnisse aus erster Hand und stützen ihre Theorien auf die Halbwahrheiten, die Spekulationen und die ausgewachsenen Lügen, die in den Medien und im Internet verbreitet werden.
Der Umgang mit Madeleines Verschwinden hat uns fast völlig mit Beschlag belegt, sodass wir wenig Zeit und Kraft hatten, Stellung zu diesen zusätzlichen Verbrechen gegen unsere Familie zu beziehen. Der grauenvolle Verlust unserer Tochter war schlimm genug, alles andere, wie gewichtig auch immer, musste an die zweite Stelle rücken. Jeder Mensch kann nur eine gewisse Menge Schmerz auf einmal ertragen. Was nicht bedeutet, dass die Ungerechtigkeiten weniger wehtun.
Im Großen und Ganzen ist es Gerry und mir gelungen, einfach weiterzumachen und unser Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, so groß die Versuchung auch war, die Wahrheit laut von den Dächern zu schreien. Viele Male habe ich mich bemüht, die Fassung zu bewahren und zu begreifen, wie derartige Ungerechtigkeiten immer wieder verbreitet werden durften, ohne dass irgendjemand etwas dagegen unternahm. Immer wieder musste ich mir sagen: Ich kenne die Wahrheit, wir kennen die Wahrheit, und Gott kennt die Wahrheit. Und eines Tages kommt sie ans Licht.
Doch die Veröffentlichung der Wahrheit birgt große Risiken für unsere Familie. Zum einen macht sie uns anfälliger für weitere Kritik. Wir haben erlebt, dass es in unserer Gesellschaft Menschen gibt, die ständig etwas zu kritisieren haben. Es spielt keine Rolle, wer man ist, was man tut oder weshalb man es tut. Wir kennen die Beweggründe dieser Leute nicht (auch wenn ich da ein paar Theorien habe). In den Anfangsmonaten fand ich solche Kritik unglaublich verstörend. Unsere geliebte Tochter war uns geraubt worden, wir litten entsetzlich, und ich hatte keine Ahnung, wieso es Leute gab, die unser Leid noch verschlimmern wollten. Mit der Zeit fiel es mir etwas leichter, damit umzugehen, sei es, weil ich die Gründe besser verstand, oder sei es, weil es mir gelang, es schlicht und einfach zu ignorieren. Diesen Leuten ging es gar nicht um Madeleine, sie war ihnen vollkommen gleichgültig; weshalb sollte ich mich also damit quälen, ihnen zuzuhören? Irgendwann erklärten uns kluge Menschen, wie wichtig es sei, sich nicht vom Weg abbringen zu lassen. Das hat sich als guter Rat erwiesen.
Inzwischen haben wir begriffen, dass Madeleines Entführung für alle Eltern schwer zu ertragen ist. Dieses Verbrechen hat bei allen die Wahrnehmung dafür geschärft, wie verletzlich unsere Kinder sind und wie zerbrechlich unser Leben ist. So handeln manche Kritiker wohl aus reinem Selbstschutz. Wenn sie uns auf irgendeine Weise eine Mitschuld zusprechen, haben sie das Gefühl, ihre eigenen Kinder seien besser geschützt. Wie hätten wir wohl reagiert, wenn diese Geschichte einer anderen Familie zugestoßen wäre und wir hätten von außen zugesehen?
Doch was auch immer hinter diesen negativen Reaktionen steckt, sie haben uns doch nie daran gehindert, zu tun, was unserer Meinung nach das Beste für Madeleine ist, und das wird auch so bleiben. Solange wir im Interesse unserer Tochter handeln, werden wir jedem Angriff trotzen.
Dass wir unsere Privatsphäre opfern, ist eine weitere Sorge. Hätten wir die Wahl, würden wir am liebsten wieder in der Anonymität verschwinden, die bis zum 3. Mai 2007 so selbstverständlich für uns war. Doch diese Anonymität gibt es ohnehin nicht mehr; wir müssen ständig unseren Wunsch nach Privatsphäre abwägen gegen die Notwendigkeit, unsere Suche nach Madeleine im Blick der Öffentlichkeit zu halten. Ich habe mich gefragt, ob wir der Welt nicht ohnehin schon zu viel von uns und unserer Familie offenbart haben. Wohl fühlen wir uns dabei nicht, aber unsere widerstreitenden Bedürfnisse sind einfach unvereinbar. Das Schreiben
dieses Erinnerungsbuches brachte es mit sich, dass ich einige sehr persönliche, intime und emotionale Aspekte unseres Lebens aufzeichnen musste. Diese Dinge mit Fremden zu teilen fällt mir nicht leicht, doch ich wollte ein abgerundetes Gesamtbild zeigen, und das wäre anders nicht möglich gewesen. Wie bei allem, was wir in den letzten vier Jahren getan haben, geht es letztlich auch bei diesem Buch darum, ob es uns dabei helfen kann, Madeleine zu finden. Lautet die Antwort auf diese Frage »Ja«, oder auch nur »Vielleicht«, dann kann unsere Familie alles ertragen.
Meine größte Sorge kreist freilich um die Privatsphäre meiner Kinder. Mein Bericht gibt sie in gewisser Weise der Öffentlichkeit preis, wie es auch bei Gerry und mir der Fall ist. Wenn sie älter sind, werden sie womöglich denken, dass sie manche Informationen lieber für sich behalten hätten. Mein Gefühl sagt mir jedoch, dass es für Sean und Amelie weit wichtiger sein wird zu sehen, dass ihre Eltern nichts unversucht gelassen haben, um ihre große Schwester zu finden. Und wenn zu diesen Bemühungen das Veröffentlichen eines Buches gehört, dann werden sie das sicher verstehen. Ich habe keinerlei Zweifel, dass auch Madeleine das so sehen würde.
Was bei unserer Entscheidung schließlich den Ausschlag gab, ist die Tatsache, dass wir ständig Geld brauchen, um die Suche nach Madeleine fortzusetzen. Solange sie vermisst wird, haben wir die Aufgabe, nach ihr zu suchen, da gegenwärtig keine einzige Polizeibehörde mehr aktiv mit der Untersuchung ihres Verschwindens beschäftigt ist. Nachforschungen und Kampagnen kosten Geld, und dieses Geld müssen wir selbst aufbringen. Es ist nach wie vor schwer für mich, über das Morgen hinauszusehen. Jeden Tag wache ich in der Hoffnung auf, dass dies der Tag sein möge, an dem wir Madeleine finden. Aber nach vier schmerzlichen Jahren ohne meine geliebte Tochter bin ich zögernd und gegen meinen erklärten Willen zu der Erkenntnis gekommen, dass unsere Suche noch Wochen, Monate oder Jahre dauern kann. Und dafür brauchen wir ausreichende finanzielle Reserven. Jeden Penny, den wir mit dem Verkauf dieses Buches verdienen, werden wir für unsere Suche nach Madeleine ausgeben. Nichts ist wichtiger für uns, als unser kleines Mädchen zu finden.
Und natürlich haben wir die Hoffnung, dass dieses Buch den Nachforschungen auch in anderer Hinsicht helfen könnte. Vielleicht liest jemand dieses Buch, der wichtige Informationen hat, womöglich ohne es bisher gewusst zu haben. Vielleicht meldet er sich bei uns und unserem Team. Irgendjemand da draußen hält das entscheidende fehlende Puzzleteil in der Hand. Indirekt könnte das Buch unserer Suche auch schlicht und einfach dadurch neuen Schwung geben, dass diejenigen umdenken, die, aus welchem Grund auch immer, überzeugt sind, Madeleine sei nicht mehr am Leben oder es könne nichts mehr für ihr Auffinden getan werden. Und wir hoffen inständig, dass das Buch einigen Märchen und Legenden ein Ende bereiten wird, die sich mittlerweile um Madeleines Entführung ranken. Wie aus den folgenden Seiten hervorgehen wird, gibt es keinerlei Beleg dafür, dass Madeleine ernsthaft zu Schaden gekommen ist, auch wenn wir immer noch nicht wissen, was mit ihr geschehen ist.
Das Schreiben dieses Buches war eine zeitraubende und immer wieder herzzerreißende Erfahrung, aber sie wurde mir dadurch erleichtert, dass ich seit Ende Mai 2007 täglich Tagebuch geführt habe. Dabei wäre mir das von allein gar nicht in den Sinn gekommen, es war der Vorschlag eines der vielen Experten, die uns in jenem Monat über das Minenfeld aus Emotionen und praktischen Erfordernissen hinweghalfen. Ich stehe für immer in seiner Schuld für diesen großartigen Rat. Anfangs schien es mir eine gute Möglichkeit, für Madeleine aufzuzeichnen, was in den Tagen seit ihrem Verschwinden passiert war, aber dann erwies es sich auch als eine gute Therapie für mich. Die täglichen Notizen boten mir ein Ventil für meine Gedanken und extremen Gefühle. Sie waren für mich der Raum, in dem ich hinausschreien konnte, was ich nicht von den Dächern rufen durfte. Und sie gaben mir die Möglichkeit der Kommunikation mit Madeleine.
Dieses Tagebuch sollte sich später auch als unschätzbar nützlich erweisen, als Gerry und ich alle möglichen falschen Behauptungen über unseren Verbleib und unser Tun zu verschiedenen Zeiten entkräften mussten. Und nun leistet es noch einmal wertvolle Dienste als Grundlage für große Teile dieses Buches. Es gibt mir die Möglichkeit, mich in vollster Klarheit an meine innersten Gedanken in einer Zeit zu erinnern, in der mein ganzes Leben von Verzweiflung überschattet war. Außerdem kann ich mit seiner Hilfe auch nach vier Jahren noch ganz genau Auskunft über den Zeitablauf verschiedener Ereignisse geben.
Was nun folgt, ist ein äußerst persönlicher Bericht, und dafür will ich mich nicht rechtfertigen. Seit dem 3. Mai 2007 ist zweifellos vieles im Hintergrund geschehen, von dem wir nichts wissen und wohl auch nie wissen werden. Ich äußere mich so offen wie nur möglich über alle Personen, die mit dieser Geschichte zu tun haben. Da unsere Nachforschungen noch andauern, aber auch aus juristischen Überlegungen, kann ich über einige meiner Ansichten und einige Episoden nicht sprechen, solange Madeleine nicht gefunden ist. Ich hoffe, die Leser dieses Buches werden das verstehen und den Bericht deshalb nicht zu streng beurteilen.
Danke, dass Sie dieses Buch gekauft haben und lesen. Sie unterstützen damit die Suche nach unserer Tochter.
I GERRY
Vor dem 3. Mai 2007 war ich Kate Healy, Allgemeinmedizinerin, verheiratet mit einem Facharzt für Kardiologie und Mutter dreier Kinder. Wir waren eine vollkommen normale Familie. Eine langweilige Familie, würde ich sagen. Seit wir beschlossen hatten, Kinder zu haben und uns auf unsere Familie zu konzentrieren, waren Gerry und ich der Schnelllebigkeit der Welt so sehr entwachsen, dass manche Freunde gutmütig über uns spotteten.
Für mich fing alles in Liverpool an, wo ich 1968 zur Welt kam -am ersten Tag eines elfwöchigen Busfahrerstreiks, so erzählt es jedenfalls meine Mutter. Auch meine Eltern stammten aus Liverpool; allerdings kommt die Familie meines Vaters ursprünglich aus Irland und die Mutter meiner Mutter aus der Grafschaft Durham. Mein Vater Brian Healy war Schreiner und arbeitete anfangs bei dem Schiffbauunternehmen Cammell Laird. Meine Mutter Susan machte eine Lehrerausbildung, als ich klein war - wohl kein ganz einfaches Unterfangen -, landete dann aber schließlich im Staatsdienst. Ich war ein Einzelkind, was viele Leute zu der völlig irrigen Ansicht verleitet, ich müsse entweder verwöhnt oder introvertiert sein - oder beides. Zwar fehlte es mir nie an Nahrung oder Kleidung oder Liebe, aber in materiellen Dingen war ich nicht verwöhnt. Und ich war vielleicht ein bisschen schüchtern, aber ich kann mich nicht erinnern, je einsam gewesen zu sein.
Bis zu meinem fünften Lebensjahr wohnten wir in einer Sackgasse im Stadtteil Huyton im Osten der Stadt. Dort wohnten auch viele Großfamilien, und meine frühesten Erinnerungen drehen sich um Spaß und Spiel draußen auf der Straße mit den Nachbarskindern. Nach unserem Wegzug von Huyton kam ich
noch oft zurück und machte mit beim Dosenkicken und anderen Spielen. Ganz sicher genossen das die Anwohner längst nicht so wie wir, und sollte jemand dort draußen sein, der keine ungetrübten Erinnerungen daran hat, so bitte ich um Entschuldigung. Besser spät als nie.
Einige Jahre nach dem Tod meiner Großmutter mütterlicherseits, die nicht einmal sechzig wurde, zogen wir zu meinem Großvater nach Anfield. Zu diesem Zeitpunkt war er schon pensioniert; zuvor war er leitender Angestellter in einer Firma gewesen, die Nüsse und Trockenobst importierte. Er war ein ausgezeichneter Buchhalter, aber wie viele Männer seiner Generation hatte er keinen blassen Schimmer von Hausarbeit oder vom Kochen, und das Leben ohne meine Großmutter fiel ihm entsetzlich schwer. Doch ich weiß noch, er war immer gut gekleidet, und für den täglichen Kirchgang zog er sich Hemd, Krawatte und Weste an. Auch ich ging regelmäßig in die Kirche. Ich wurde katholisch getauft und bin im katholischen Glauben erzogen worden; ich ging auf katholische Schulen und sonntags in die Messe. Das erwartete man von mir, das war ich gewöhnt.
Meine Zugehörigkeit zur katholischen Kirche und mein Glaube an Gott gehörten zu den Grundprinzipien meines Lebens, die ich nicht ernsthaft in Frage stellte. Es gab Krisenmomente, wenn ich im Stillen mit den großen Fragen des Lebens rang - Gott, dem Universum, meinem eigenen Dasein -, aber meist war ich zufrieden mit dem, woran ich seit meiner Kinderzeit glaubte und was ich von den Menschen gelernt hatte, die mir wichtig waren. Ich habe meinen Glauben sicher nicht tagtäglich aktiv gelebt, und es gab gewisse Zeiten, in denen die Kirche in den Hintergrund trat, vor allem während meines Studiums, aber mein Glaube begleitete mich ständig, war mir eine Quelle des Trostes, der Zuflucht und der Unterstützung.
Vielleicht weil ich keine Geschwister hatte, stand ich meinen Cousins und Cousinen immer sehr nah, und ich hatte zahlreiche Spielkameraden, von denen viele bis zum heutigen Tag eng mit mir befreundet sind - eine von ihnen, Lynda, die in Huyton neben uns wohnte, kennt mich seit meiner Geburt. Unsere Mütter waren damals Freundinnen und sind es heute noch. Ich war nicht nur schüchtern, ich war auch ziemlich sensibel, nicht gerade Eigenschaften, um die man beneidet wird, wie ich herausfinden sollte, aber ich war gern in Gesellschaft und hatte nie Spaß daran, allein herumzusitzen.
Seit der Grundschule bin ich mit Michelle und Nicky befreundet. Michelle lernte ich an unserem ersten Tag auf der All-Saints-Schule in Anfield kennen, und von dem Augenblick an waren wir unzertrennlich. Damals planten meine Eltern gerade eine Urlaubsreise nach Kanada; wir wollten Tante Norah besuchen, die Schwester meines Vaters, die dorthin ausgewandert war. Ich freute mich riesig. Michelle muss sofort großen Eindruck auf mich gemacht haben, denn gleich an diesem ersten Schultag fragte ich sie, ob sie nicht mit uns nach Kanada fahren wollte. Natürlich sagte sie ja und war dann ziemlich sauer, als sie nach Hause kam und ihre Mutter unseren Plänen ein jähes Ende bereitete. Gemeinsam legten wir mit elf Jahren die Prüfung ab, die damals noch über den weiteren schulischen Weg entschied, und gemeinsam besuchten wir die Notre Dame Collegiate School in Everton Valley, auf die ein Jahr später auch Michelles zehn Monate jüngere Schwester Lynne kam. Die beiden stammten aus einer katholischen Großfamilie, und jeden Dienstagabend war ich bei ihnen zu Hause. Zu uns kamen die beiden immer am Freitag. Auch in den Ferien waren wir unzertrennlich. Ich feierte bei ihnen auf der Straße sogar die Siege des FC Liverpool mit (ja, die siebziger Jahre ...), und das, obwohl die Healys eingefleischte Fans des FC Chelsea waren. So sehr mochte ich Michelle.
Auch Nicky besuchte die All Saints. Und obwohl sich unsere Bildungswege später trennten, als ich nach Everton Valley ging, wohnte sie doch ganz in der Nähe, und wir blieben enge Freundinnen. Wenn Sie meine Mutter fragen, was ihr am ehesten einfällt, wenn sie an Nicky und mich als Kinder denkt, wird sie spontan sagen: »Chips mit Zwiebelgeschmack.« Damit haben wir uns bis Mitternacht vollgestopft, wenn Nicky über Nacht blieb, und der
sichtbare Beweis lag dann unter dem Bett. Zwar waren es nicht immer Kartoffelchips mit Zwiebelgeschmack, doch meine Mutter erinnert sich offenbar an dieses unverkennbare Aroma, wenn sie an diese sorglosen Tage denkt. Nicky war immer unbeschwert und voller Tatendrang. Sie sang und tanzte großartig - heute ist sie Fitnesstrainerin -, und so manchen Tag verbrachten wir mit dem Einstudieren von Choreographien zu Disco-Hits aus den Siebzigern wie »Yes Sir, I Can Boogie« von Baccara. Ich würde gern behaupten, dass wir gut gewesen sind, aber meine Ahnung sagt mir, dass nur eine von uns beiden gut war. Nicky weckte die Lebensgeister, und daran hat sich bis heute nichts geändert.
Ich war eine fleißige, gewissenhafte Schülerin und hatte immer gute Noten. Die Tatsache, dass ich auch sportlich war und immer in die Schulmannschaft gewählt wurde - eine Zeit lang war ich Kapitän des Korbballteams und spielte im Sommer Schlagball -, bewahrte mich wohl davor, als Streberin zu gelten. Damals schwebte mir noch kein bestimmter Beruf vor. Dass ich Medizin studieren wollte, ergab sich schrittweise aus den Entscheidungen, die ich nach der Sekundarstufe i traf, es war also kein lebenslang gehegter Berufswunsch. Mit etwa dreizehn, vierzehn Jahren wollte ich Hämatologin werden und ein Mittel gegen Leukämie finden (Gott weiß, woher dieser Wunsch kam und woher ich überhaupt wusste, was ein Hämatologe ist). Ich spielte auch mit dem Gedanken, Tierärztin zu werden. Als ich meine Fächer für die Sekundarstufe II wählen sollte, war ich anfangs nicht sicher, ob ich drei Naturwissenschaften nehmen sollte oder Mathematik, BWL und Französisch; und später dann, als es um die Studienwahl ging, wusste ich erst nicht genau, ob ich mich für Medizin oder Ingenieurwissenschaften einschreiben sollte. In beiden Situationen hätte ich mich auch jeweils anders entscheiden können.
Obwohl mir ein erfüllender, einträglicher Beruf durchaus wichtig war, bin ich nie übermäßig ehrgeizig gewesen, außer in einer Hinsicht: Für alle, die mich kennen, war klar, dass ich unbedingt Mutter werden wollte, und wenn möglich Mutter vieler Kinder. Ich war ganz gewiss keine von den jungen Frauen, die bereitwillig alles gegeben hätten, um in ihrem Beruf an die Spitze zu gelangen, schon gar nicht, wenn es bedeutet hätte, diesem Ziel Beziehungen und Babys zu opfern. Manch einer mag das als lasch beurteilen, die meisten Mütter sehen das aber wahrscheinlich anders. Als ich 1992 meinen Abschluss an der Dundee University machte, schloss mein Eintrag im Universitätsjahrbuch mit folgendem Satz: »Prognose: Mathematikerin und Mutter von sechs Kindern.« Keine dieser Vorhersagen erfüllte sich, aber ich war außerordentlich glücklich und stolz, als ich schließlich das Beste und Schönste errang, das ich mir denken konnte: meine drei wunderbaren Kinder.
Die Universität im schottischen Dundee mag eine überraschende Wahl für ein Mädchen aus Liverpool sein, das keine besonderen Verbindungen nach Schottland hat. Aber damals gehörte es für Absolventen englischer Schulen zum Erwachsenwerden, dass sie sich eine Universität in einiger Entfernung von zu Hause suchten, und Dundee kam in die engere Wahl, als ein guter Freund, der einen Studenten dort kannte, mir die Hochschule empfahl. Ich fuhr in den Norden, um mir die Universität anzusehen, und wurde von einer sehr netten Truppe von Leuten im letzten Studienjahr herumgeführt. Ich weiß noch, es war der Guy-Fawkes-Abend, das Fest, an dem der Jahrestag der Pulververschwörung gefeiert wurde, und alle gingen nach dem Umzug auf eine Party und luden mich ein mitzukommen. Während der nächsten paar Tage gab es so viele Studentenfeten und andere Events, dass ich länger blieb als ursprünglich geplant. Ich ging auf einen Ball, und alle gaben mir das Gefühl, wirklich willkommen zu sein.
Also: Dundee sollte es sein. Das gesellschaftliche Leben hielt, was das erste Wochenende versprach (Party machen ist für Medizinstudenten ja praktisch ein Pflichtfach), und ich schloss viele Freundschaften. Ich hatte eine tolle Zeit an der Universität und gab mir alle Mühe, Arbeit und Vergnügen in einem ausgewogenen Gleichgewicht zu halten - was nicht immer gelang. Ich hielt mich fit, indem ich für das Korbballteam der Universität spielte. Nach dem Examen im Jahr 1992 folgten als Nächstes zwei jeweils
sechsmonatige Praktika als Assistenzärztin im Krankenhaus, das erste in Allgemeinmedizin und das zweite wahlweise in der Chirurgie oder der Orthopädie (ich entschied mich für die Orthopädie). Nach Beendigung des ersten Praktikums im King's Cross Hospital in Dundee fühlte ich mich bereit für einen Ortswechsel, und es lockten die Lichter der Großstadt - Glasgow.
Und dort in Glasgow kam es 1993 zu meiner ersten Begegnung mit Gerry McCann. Er meint, wir hätten uns in Wirklichkeit schon 1992 kennengelernt, als wir uns beide um denselben Posten bewarben und ein Vorstellungsgespräch hatten (beide bekamen wir den Posten nicht), aber daran habe ich keine Erinnerung. Tut mir leid, Ger! Er hatte im selben Jahr wie ich sein Medizinstudium beendet, und zwar an der Uni Glasgow (in Schottland ist es weit eher Tradition, dass die Studenten die heimischen Universitäten besuchen). Obwohl wir in der Anfangszeit unserer beruflichen Laufbahn nicht zusammenarbeiteten, bewegten wir uns in denselben Kreisen, und unsere Wege kreuzten sich auf vielen gesellschaftlichen Ereignissen, wie zum Beispiel bei dem berühmt-berüchtigten Spektakel der Schwestern-und-Ärzte-Party im Nachtklub Cleopatra, liebevoll Clatty Pats genannt.
Gerry war attraktiv, selbstbewusst und extrovertiert. Außerdem stand er in dem Ruf, ein ziemlicher Draufgänger zu sein. Doch als ich ihn kennenlernte, entdeckte ich seine natürliche Wärme und Ehrlichkeit, vor allem, wenn er über seine Familie sprach, und so kam hinter der eher etwas einschüchternden Fassade sehr viel Freundlichkeit und Verletzlichkeit zum Vorschein.
Abgesehen von unserem Beruf hatten wir zahlreiche weitere Gemeinsamkeiten. Wir stammten beide aus ganz bodenständigen katholischen Familien der Arbeiterklasse mit irischen Wurzeln. Auch Gerry hatte katholische Schulen besucht und war sonntags brav zur Messe gegangen. Natürlich wussten wir das alles nicht voneinander, als wir uns kennenlernten, und es wäre keinem von uns beiden in den Sinn gekommen, danach zu fragen, obwohl unsere Namen schon einigermaßen verräterisch waren, hätten wir nur je darüber nachgedacht. Gerrys Vater war Schreiner, genau wie meiner. Seine Mutter Eileen ist in Glasgow geboren, ihre Eltern waren Iren. Kurz nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatten ihre Eltern sie nach Donegal in Irland zu ihrer Großmutter geschickt, von wo sie erst nach Kriegsende nach Glasgow zurückkam. Gerrys Vater Johnny stammte aus St. Johnston in der Grafschaft Donegal, in der Nähe der Grenze zu Nordirland.
Johnny hatte einen schweren Start ins Leben. Noch ehe er das sechzehnte Lebensjahr erreichte, hatte er seine Mutter, seinen älteren Bruder und seinen Vater verloren. Nachdem Johnny eine Zeit lang bei einem Onkel in Sligo gelebt hatte, musste er plötzlich die Verantwortung für den Pub seines Vaters und für einen jüngeren Bruder übernehmen. Johnny hatte seine eigene Ausbildung an einer Jesuitenschule abbrechen müssen, weshalb er sich für seine Kinder etwas Besseres wünschte und darauf bestand, dass sie alle fleißig arbeiteten, einen guten Schulabschluss machten und auf die Universität gingen.
Ganz im Gegensatz zu meiner Familie war Gerrys Familie groß und laut. Gerry kam 1968 zur Welt, im selben Jahr wie ich, und er war das jüngste von Johnnys und Eileens fünf Kindern. Er hat einen älteren Bruder, benannt nach dem Vater Johnny, und dann kamen drei Schwestern - Trisha, Jack und Phil. Aus Gerrys Geschichten ist herauszuhören, dass es ein lustiger, lärmender und bunt schillernder Haushalt war, in dem es zuweilen ziemlich verrückt zuging. Aber schwer war es wohl auch: sieben Personen in einer Ein-Zimmer-Wohnung in einem Glasgower Mehrfamilienhaus, von gelegentlichen Untermietern ganz zu schweigen, denen man keinen anderen Platz anbieten konnte als eine Matratze auf dem Fußboden. Johnny Senior arbeitete viel und lang, und auch Eileen hatte immer mal wieder einen Job, erst als Verkäuferin und später als Putzfrau; also wurde der kleine Gerry oft in die Obhut der älteren Geschwister gegeben. Doch das Leben in einem großen Mehrfamilienhaus voller katholischer Familien und ganzer Horden anderer Kinder hat mehr Vor- als Nachteile. Alle Familien waren in derselben Situation, für die McCann-Kinder und die
Nachbarskinder war es also der Normalzustand, und keiner hatte das Gefühl, zu kurz zu kommen.
Wie ich war auch Gerry sehr gut in der Schule gewesen. Als er zur Welt kam, war das Arbeitsethos der Familie bereits fest etabliert, die Ziele wurden vorgegeben, und er folgte den Spuren seiner Geschwister und deren hohen Leistungen, wobei er mit ihnen in Konkurrenz trat und immer entschlossen war, es besser zu machen. »Schüchtern« und »Gerry« sind Wörter, die nie und nimmer in ein und demselben Satz vorkommen könnten. Alle McCannKinder sind äußerst gesellig und selbstbewusst - man könnte ein Vermögen damit verdienen, wenn man das Selbstbewusstsein der McCanns in Flaschen abfüllen und verkaufen könnte. Mein Vater witzelte oft, sie seien mit einem silbernen Mikrofon im Mund zur Welt gekommen.
Gerry war auch sehr sportlich, und wie nicht anders zu erwarten, war er sehr auf Wettbewerb bedacht. Der Mittelstreckenlauf war seine Stärke, und mit siebzehn war er über die 800 Meter der schnellste Schotte seiner Altersklasse. An der Universität von Glasgow lief er für den Club »Hares and Hounds«, dessen Mannschaftsfarbe ein schrecklich grelles Gelb war. Ganz in Ordnung beim Sport, aber er hing so an seinem Läufertrikot, dass er darauf bestand, es auch bei anderen Gelegenheiten zu tragen. Schon auf eine Meile Entfernung erkannte man ihn.
Die widersprüchlichen Züge von Gerrys Persönlichkeit -Selbstbewusstsein und Überschwang gepaart mit Ehrlichkeit und großer Offenheit - fügten sich für mich zum Bild eines attraktiven Mannes. Einerseits konnte man richtig viel Spaß mit ihm haben, andererseits war er ernsthaft und liebevoll. Und doch blieb ich auf Distanz und versuchte, die Sache cool anzugehen. Ich nehme an, sein Ruf als Draufgänger hielt mich auf Abstand. Ich wollte mich nur ungern in eine Beziehung stürzen, in der ich am Ende vielleicht verletzt würde, und ich glaube, ein gewisser Stolz meinerseits spielte ebenfalls eine Rolle. Ich wollte nicht nur eine von vielen aus einer ganzen Reihe von Freundinnen sein. Das hört sich inzwischen alles ein bisschen albern an, nachdem ich Gerry im Lauf der Jahre so gut kennengelernt habe. Ich würde nie behaupten, dass sein Ruf als Frauenheld völlig aus der Luft gegriffen war, aber die Sache wurde ohne jeden Zweifel auf unfaire Weise übertrieben, wie das oft so geht, und ich hörte zu viel auf die Gerüchte. Inzwischen weiß ich nur zu gut, wie viel Schaden Gerüchte anrichten können. Wie auch immer, es stellte sich jedenfalls heraus, dass wir beide erst ans andere Ende der Welt reisen mussten, um schließlich als Paar zusammenzufinden.
Ich war ganz versessen aufs Reisen, und mir war klar, dass ich eher früher als später damit anfangen musste, wenn es nicht ein bloßes Hirngespinst bleiben sollte. Je weiter meine beruflichen Pläne voranschritten, desto intensiver würde ich mich höchstwahrscheinlich meiner Arbeit widmen und desto schwerer würde es mir fallen, mich loszureißen. Nachdem ich meine Krankenhaus-Jobs hinter mir hatte (wie man etwas flapsig das erste Jahr als Arzt nannte), bewegte ich mich langsam, aber sicher in Richtung Geburtshilfe und Frauenheilkunde. Obwohl das nicht meine ursprüngliche Absicht gewesen war - ich wollte einfach nur Erfahrungen für die Allgemeinmedizin sammeln -, empfand ich die Arbeit in der Gynäkologie zunächst als sehr angenehm. Aber es war ein unglaublich arbeitsintensiver Bereich mit viel Konkurrenz und unzufriedenen, überarbeiteten Ärzten, meist Frauen, die in mittleren Positionen stecken blieben. Ich war mir nicht sicher, ob das das Richtige für mich war.
Anfang 1995, während einer Fortbildung in der Onkologie, die meiner Facharztausbildung zur Gynäkologin zugutekommen sollte, fing ich an, mich über eine Austausch-Organisation auf Stellen in Australien zu bewerben. Rein auf Verdacht schrieb ich auch einen Brief an ein Krankenhaus in Neuseeland, und zwar auf Vorschlag eines neuseeländischen Kollegen. Ich rechnete zu gegebener Zeit mit einem offiziellen Antwortschreiben per Post, also war ich einigermaßen verblüfft, als ich eines Tages während der Arbeit ans Telefon gerufen wurde und ein Kinderfacharzt mit Spezialgebiet Neugeborene in Auckland mir eine Stelle anbot. Kurz entschlossen sagte ich zu.
Während ich diese ganzen Bewerbungen schrieb, hatte ich im Hinterkopf immer ein leise nagendes Bedauern darüber gespürt, dass ich Gerry aus den Augen verlieren würde, wenn ich wegging. Über unsere jeweiligen Pläne hatten wir nicht miteinander geredet, und so wusste ich nicht, dass auch er sich um eine Stelle im Ausland bemühte, entweder in den USA oder in Neuseeland. Später wurde in der Gerüchteküche der Glasgower Krankenhäuser die unfaire, wenn auch nicht ganz ernst gemeinte Geschichte verbreitet, Gerry hätte, kaum dass er von meiner bevorstehenden Abreise nach Auckland erfuhr, beschlossen, mir bis ans Ende der Welt zu folgen, und deshalb habe er sofort begonnen, sich ebenfalls im Land der Großen Weißen Wolke um eine Stelle zu bewerben. So schmeichelhaft diese Version der Ereignisse auch erscheinen mag, ist die Wahrheit doch die, dass er zu dem Zeitpunkt bereits auf Antwort von mehreren Krankenhäusern sowohl in Neuseeland als auch den Vereinigten Staaten wartete. Allerdings würde ich wirklich gern glauben, dass die Nachricht von meinem Weggang nach Auckland ihm die Entscheidung zwischen den beiden Ländern ein wenig leichter machte!
Ich reiste als Erste ab, und zwar im Juli 1995, und ich kam in Neuseeland an, ohne eine Menschenseele dort zu kennen. An meinem ersten Tag in meiner neuen Stellung rief mich der Freund eines Freundes an, dem man von mir erzählt hatte, und wollte sehen, wie ich zurechtkam. Ganz beiläufig fragte er: »Gehst du heute Abend mit mir laufen?«, so wie wir zu Hause sagen würden: »Hast du Lust auf ein Bier heute nach der Arbeit?« Nun war ich sicher ganz sportlich, aber das Laufen gehörte nicht unbedingt zu meinen Spezialitäten - das war mehr Gerrys Domäne. Doch weil dieser Typ der einzige Mensch war, den ich in Auckland kannte, nahm ich die Einladung an.
An dem Abend lief ich dann patschend und schnaufend über ein schlammiges Feld. Mit jedem Schritt musste ich versuchen, den Fuß aus dem klammernden Morast zu ziehen. Mein neuer neuseeländischer Freund zeigte auf einen Hügel vor uns. »One Tree Hill?«, schlug er vor. Ich nickte zuversichtlich. Den ganzen Weg nach oben machte er Konversation, stellte Fragen, und ich hatte gerade mal genug Puste für einsilbige Antworten. Ich dachte wirklich, ich müsste sterben. Als wir dann endlich barmherzigerweise die Hügelspitze erreichten, breitete er die Arme aus, um mir den Anblick zu zeigen, der sich unter und um uns ausbreitete. Von dieser 182 Meter hohen Vulkanerhebung, einem berühmten Wahrzeichen Aucklands, hat man freie Sicht auf die ganze Stadt. »Sieh dir das an!«, begeisterte er sich. »Und schau mal, diese faszinierenden Wolken!« Aber ich konnte nur denken: Lass mich doch mit deinen dämlichen Wolken in Ruhe, ich muss mich gleich übergeben.
Aber von One Tree Hill würde ich mich nicht unterkriegen lassen. Am nächsten Abend kletterte ich allein auf den Hügel und dann wieder und immer wieder, bis ich ihn bezwungen hatte. So bin ich nun mal. Ich bin sicher nicht die ehrgeizigste Frau von der Welt, aber was ich wirklich im Überfluss habe, ist Entschlossenheit und Sturheit. Und danach war ich sozusagen bekehrt, und so spielte ich in Neuseeland nicht nur Korbball in einem gemischten Team, sondern lief auch regelmäßig. Bedenkt man Gerrys Sportbegeisterung, war es vielleicht nur gut, dass es mir auch solchen Spaß machte.
Meine Arbeit auf der Neugeborenenstation fand ich großartig, und ich kümmerte mich nur zu gern um die Babys, aber es wurde für mich so etwas wie eine Feuertaufe. Ich war angestellt als voll ausgebildete Assistenzärztin, obwohl ich keine Erfahrung mit Neugeborenen hatte, während mir Ärzte im Praktikum unterstellt waren, die im Gegensatz zu mir über genau diese Erfahrung verfügten. Ich sollte ganz allein dicke Infusionsschläuche in winzige, vierundzwanzig Wochen alte Babys stecken. »Ruf uns ruhig an, bei den ersten paar Mal kommen wir dir dann helfen, dann klappt das schon«, sagte der Facharzt. Und er hatte recht. Ich musste mich einfach nur an die gelassene Art der Neuseeländer gewöhnen. Und als mir das gelungen war, empfand ich sie als reizende, fähige, unkomplizierte Leute, die arbeiteten, um zu leben, und nicht lebten, um zu arbeiten.
Gerry traf zwei Monate nach mir im Land ein, aber er wohnte nicht gerade um die Ecke. Er hatte seine Stelle als Allgemeinmediziner und Kardiologe in Napier - einen Flug oder fünf Stunden mit dem Auto von Auckland entfernt. Aber trotz der Entfernungen sahen wir uns so oft wie möglich. Weit weg von zu Hause und von allen, die wir kannten, konzentrierten wir uns endlich aufeinander, und auf einmal marschierte unsere Beziehung geradewegs in die Sphären der Romantik. Die Tatsache, dass wir schon seit gut zwei Jahren miteinander befreundet waren, machte den Übergang ein wenig leichter, wir wussten schließlich schon ziemlich viel voneinander. Doch anfangs war die Gewöhnung an diese neue Art der Beziehung befremdlich und schwer, und wir waren beide sehr nervös, wie Teenager bei ihrem ersten Rendezvous. Zum Glück hatten wir diese Phase bald hinter uns.
Nach meiner Zeit auf der Neugeborenenstation wechselte ich für sechs Monate auf eine Station für Geburtshilfe und Frauenheilkunde in Wellington (was ungefähr genauso weit weg von Napier ist wie Auckland). Insgesamt blieben wir ein Jahr in Neuseeland. Es war eine herrliche Zeit, und wir waren sehr glücklich. Uns beiden gefiel das Land und unser Leben dort. Ich glaube, Gerry hätte ernsthaft in Erwägung gezogen, für immer dort zu bleiben, doch für mich, so ungern ich auch wieder fortging, war es einfach zu weit weg von meiner Familie und meinen Freunden, vor allem aber von meinen Eltern. Und inzwischen war klar, dass wir, wohin auch immer wir gingen, als Paar gehen wollten. Nachdem wir uns endlich gefunden hatten, hielten wir uns für die glücklichsten Menschen auf der Welt.
Also kehrten wir im September 1996 nach Glasgow zurück. Gerry nahm eine Stelle am Krankenhaus Western Infirmary an und begann mit seinen Recherchen für eine Doktorarbeit zum Thema Physiotherapie. Ich arbeitete zunächst auf der Säuglingsstation von Queen Mother's Hospital, ehe ich 1997 ins Krankenhaus Western Infirmary wechselte - in den Bereich Anästhesie. Für den Anfang mieteten wir uns eine Wohnung, aber dann kauften wir uns ein Reihenhaus ganz in der Nähe des Hauses von Gerrys Bruder Johnny und seiner Familie. Im Dezember 1998 heirateten wir in Liverpool und wurden von unserem guten Freund Pater Paul Seddon getraut. Für die Hochzeit suchten wir uns das Wochenende vor Weihnachten aus, denn da unsere Freunde und auch die entfernteren Verwandten alle weit auseinander wohnten, wollten wir die Weihnachtsfeiertage nutzen. So konnten wir sicher sein, dass so viele wie möglich kommen würden. Außerdem habe ich die Weihnachtszeit immer schon geliebt. Es war ein wunderschöner Tag, und voller Vorfreude und Begeisterung blickten wir auf unsere Zukunft als Ehepaar und auf die Kinder, die unserem Leben erst so richtig Sinn geben würden.
Übersetzung: Isabell Lorenz und Veronika Dünninger
Die Entscheidung, dieses Buch zu schreiben, ist uns alles andere als leichtgefallen, und wir haben sie nur schweren Herzens getroffen. Ehe wir uns entschlossen, unsere Geschichte zu erzählen, mussten mein Mann Gerry und ich eine ganze Reihe von Fragen und Problemen bedenken, darunter nicht zuletzt den Einfluss, den die Veröffentlichung auf das Leben unserer drei Kinder haben würde.
Mein Grund, dieses Buch zu schreiben, ist einfach: Ich will die Wahrheit erzählen. Es war schon lange meine Absicht, einen vollständigen Bericht dessen zu geben, was unserer Familie zugestoßen ist, vor allem für unsere Kinder Madeleine, Sean und Amelie, damit sie irgendwann nachlesen können, wie es wirklich gewesen ist. Ich wollte sicherstellen, dass sie immer Zugang zu einer schriftlichen Chronik der tatsächlichen Ereignisse haben, ganz gleich, wie viele Jahre vergangen sein mögen. Sie haben schon so viel erlebt, und die Zukunft wird weitere Herausforderungen für sie bereithalten. Wenn sie verstehen, welche Torturen wir durchgemacht haben, werden sie die denkbar besten Chancen haben, mit allen Herausforderungen des Lebens fertig zu werden.
Der Entschluss, diese persönlichen Aufzeichnungen auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, fiel mir schon bedeutend schwerer. Natürlich wollen wir, dass die Wahrheit erzählt wird. Während der vergangenen vier Jahre war es eine große Qual, mit anzuhören, wie allerlei Geschichten über Madeleines Verschwinden und über Gerry, mich und unsere Familie in Umlauf gebracht wurden. Die Presse veröffentlichte Berge von Artikeln, oft ohne die Fakten zu kennen, oft wohl auch, ohne sich darum zu kümmern, ob auch nur ein Körnchen Wahrheit in diesen Geschichten
steckte. Unserer Familie ist dadurch großes Leid zugefügt worden, aber vor allem wurde die Suche nach Madeleine dadurch behindert. Andere ergriffen die Gelegenheit, von unserer Qual zu profitieren, und schrieben Bücher über unsere Tochter, wobei mehrere Autoren behaupteten, sie würden »die tatsächlichen Ereignisse« enthüllen. Was bemerkenswert ist, wenn man bedenkt, dass der einzige Mensch, der die tatsächlichen Ereignisse kennt, derjenige ist, der Madeleine am 3. Mai 2007 entführt hat. Viele Autoren haben keinerlei Kenntnisse aus erster Hand und stützen ihre Theorien auf die Halbwahrheiten, die Spekulationen und die ausgewachsenen Lügen, die in den Medien und im Internet verbreitet werden.
Der Umgang mit Madeleines Verschwinden hat uns fast völlig mit Beschlag belegt, sodass wir wenig Zeit und Kraft hatten, Stellung zu diesen zusätzlichen Verbrechen gegen unsere Familie zu beziehen. Der grauenvolle Verlust unserer Tochter war schlimm genug, alles andere, wie gewichtig auch immer, musste an die zweite Stelle rücken. Jeder Mensch kann nur eine gewisse Menge Schmerz auf einmal ertragen. Was nicht bedeutet, dass die Ungerechtigkeiten weniger wehtun.
Im Großen und Ganzen ist es Gerry und mir gelungen, einfach weiterzumachen und unser Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, so groß die Versuchung auch war, die Wahrheit laut von den Dächern zu schreien. Viele Male habe ich mich bemüht, die Fassung zu bewahren und zu begreifen, wie derartige Ungerechtigkeiten immer wieder verbreitet werden durften, ohne dass irgendjemand etwas dagegen unternahm. Immer wieder musste ich mir sagen: Ich kenne die Wahrheit, wir kennen die Wahrheit, und Gott kennt die Wahrheit. Und eines Tages kommt sie ans Licht.
Doch die Veröffentlichung der Wahrheit birgt große Risiken für unsere Familie. Zum einen macht sie uns anfälliger für weitere Kritik. Wir haben erlebt, dass es in unserer Gesellschaft Menschen gibt, die ständig etwas zu kritisieren haben. Es spielt keine Rolle, wer man ist, was man tut oder weshalb man es tut. Wir kennen die Beweggründe dieser Leute nicht (auch wenn ich da ein paar Theorien habe). In den Anfangsmonaten fand ich solche Kritik unglaublich verstörend. Unsere geliebte Tochter war uns geraubt worden, wir litten entsetzlich, und ich hatte keine Ahnung, wieso es Leute gab, die unser Leid noch verschlimmern wollten. Mit der Zeit fiel es mir etwas leichter, damit umzugehen, sei es, weil ich die Gründe besser verstand, oder sei es, weil es mir gelang, es schlicht und einfach zu ignorieren. Diesen Leuten ging es gar nicht um Madeleine, sie war ihnen vollkommen gleichgültig; weshalb sollte ich mich also damit quälen, ihnen zuzuhören? Irgendwann erklärten uns kluge Menschen, wie wichtig es sei, sich nicht vom Weg abbringen zu lassen. Das hat sich als guter Rat erwiesen.
Inzwischen haben wir begriffen, dass Madeleines Entführung für alle Eltern schwer zu ertragen ist. Dieses Verbrechen hat bei allen die Wahrnehmung dafür geschärft, wie verletzlich unsere Kinder sind und wie zerbrechlich unser Leben ist. So handeln manche Kritiker wohl aus reinem Selbstschutz. Wenn sie uns auf irgendeine Weise eine Mitschuld zusprechen, haben sie das Gefühl, ihre eigenen Kinder seien besser geschützt. Wie hätten wir wohl reagiert, wenn diese Geschichte einer anderen Familie zugestoßen wäre und wir hätten von außen zugesehen?
Doch was auch immer hinter diesen negativen Reaktionen steckt, sie haben uns doch nie daran gehindert, zu tun, was unserer Meinung nach das Beste für Madeleine ist, und das wird auch so bleiben. Solange wir im Interesse unserer Tochter handeln, werden wir jedem Angriff trotzen.
Dass wir unsere Privatsphäre opfern, ist eine weitere Sorge. Hätten wir die Wahl, würden wir am liebsten wieder in der Anonymität verschwinden, die bis zum 3. Mai 2007 so selbstverständlich für uns war. Doch diese Anonymität gibt es ohnehin nicht mehr; wir müssen ständig unseren Wunsch nach Privatsphäre abwägen gegen die Notwendigkeit, unsere Suche nach Madeleine im Blick der Öffentlichkeit zu halten. Ich habe mich gefragt, ob wir der Welt nicht ohnehin schon zu viel von uns und unserer Familie offenbart haben. Wohl fühlen wir uns dabei nicht, aber unsere widerstreitenden Bedürfnisse sind einfach unvereinbar. Das Schreiben
dieses Erinnerungsbuches brachte es mit sich, dass ich einige sehr persönliche, intime und emotionale Aspekte unseres Lebens aufzeichnen musste. Diese Dinge mit Fremden zu teilen fällt mir nicht leicht, doch ich wollte ein abgerundetes Gesamtbild zeigen, und das wäre anders nicht möglich gewesen. Wie bei allem, was wir in den letzten vier Jahren getan haben, geht es letztlich auch bei diesem Buch darum, ob es uns dabei helfen kann, Madeleine zu finden. Lautet die Antwort auf diese Frage »Ja«, oder auch nur »Vielleicht«, dann kann unsere Familie alles ertragen.
Meine größte Sorge kreist freilich um die Privatsphäre meiner Kinder. Mein Bericht gibt sie in gewisser Weise der Öffentlichkeit preis, wie es auch bei Gerry und mir der Fall ist. Wenn sie älter sind, werden sie womöglich denken, dass sie manche Informationen lieber für sich behalten hätten. Mein Gefühl sagt mir jedoch, dass es für Sean und Amelie weit wichtiger sein wird zu sehen, dass ihre Eltern nichts unversucht gelassen haben, um ihre große Schwester zu finden. Und wenn zu diesen Bemühungen das Veröffentlichen eines Buches gehört, dann werden sie das sicher verstehen. Ich habe keinerlei Zweifel, dass auch Madeleine das so sehen würde.
Was bei unserer Entscheidung schließlich den Ausschlag gab, ist die Tatsache, dass wir ständig Geld brauchen, um die Suche nach Madeleine fortzusetzen. Solange sie vermisst wird, haben wir die Aufgabe, nach ihr zu suchen, da gegenwärtig keine einzige Polizeibehörde mehr aktiv mit der Untersuchung ihres Verschwindens beschäftigt ist. Nachforschungen und Kampagnen kosten Geld, und dieses Geld müssen wir selbst aufbringen. Es ist nach wie vor schwer für mich, über das Morgen hinauszusehen. Jeden Tag wache ich in der Hoffnung auf, dass dies der Tag sein möge, an dem wir Madeleine finden. Aber nach vier schmerzlichen Jahren ohne meine geliebte Tochter bin ich zögernd und gegen meinen erklärten Willen zu der Erkenntnis gekommen, dass unsere Suche noch Wochen, Monate oder Jahre dauern kann. Und dafür brauchen wir ausreichende finanzielle Reserven. Jeden Penny, den wir mit dem Verkauf dieses Buches verdienen, werden wir für unsere Suche nach Madeleine ausgeben. Nichts ist wichtiger für uns, als unser kleines Mädchen zu finden.
Und natürlich haben wir die Hoffnung, dass dieses Buch den Nachforschungen auch in anderer Hinsicht helfen könnte. Vielleicht liest jemand dieses Buch, der wichtige Informationen hat, womöglich ohne es bisher gewusst zu haben. Vielleicht meldet er sich bei uns und unserem Team. Irgendjemand da draußen hält das entscheidende fehlende Puzzleteil in der Hand. Indirekt könnte das Buch unserer Suche auch schlicht und einfach dadurch neuen Schwung geben, dass diejenigen umdenken, die, aus welchem Grund auch immer, überzeugt sind, Madeleine sei nicht mehr am Leben oder es könne nichts mehr für ihr Auffinden getan werden. Und wir hoffen inständig, dass das Buch einigen Märchen und Legenden ein Ende bereiten wird, die sich mittlerweile um Madeleines Entführung ranken. Wie aus den folgenden Seiten hervorgehen wird, gibt es keinerlei Beleg dafür, dass Madeleine ernsthaft zu Schaden gekommen ist, auch wenn wir immer noch nicht wissen, was mit ihr geschehen ist.
Das Schreiben dieses Buches war eine zeitraubende und immer wieder herzzerreißende Erfahrung, aber sie wurde mir dadurch erleichtert, dass ich seit Ende Mai 2007 täglich Tagebuch geführt habe. Dabei wäre mir das von allein gar nicht in den Sinn gekommen, es war der Vorschlag eines der vielen Experten, die uns in jenem Monat über das Minenfeld aus Emotionen und praktischen Erfordernissen hinweghalfen. Ich stehe für immer in seiner Schuld für diesen großartigen Rat. Anfangs schien es mir eine gute Möglichkeit, für Madeleine aufzuzeichnen, was in den Tagen seit ihrem Verschwinden passiert war, aber dann erwies es sich auch als eine gute Therapie für mich. Die täglichen Notizen boten mir ein Ventil für meine Gedanken und extremen Gefühle. Sie waren für mich der Raum, in dem ich hinausschreien konnte, was ich nicht von den Dächern rufen durfte. Und sie gaben mir die Möglichkeit der Kommunikation mit Madeleine.
Dieses Tagebuch sollte sich später auch als unschätzbar nützlich erweisen, als Gerry und ich alle möglichen falschen Behauptungen über unseren Verbleib und unser Tun zu verschiedenen Zeiten entkräften mussten. Und nun leistet es noch einmal wertvolle Dienste als Grundlage für große Teile dieses Buches. Es gibt mir die Möglichkeit, mich in vollster Klarheit an meine innersten Gedanken in einer Zeit zu erinnern, in der mein ganzes Leben von Verzweiflung überschattet war. Außerdem kann ich mit seiner Hilfe auch nach vier Jahren noch ganz genau Auskunft über den Zeitablauf verschiedener Ereignisse geben.
Was nun folgt, ist ein äußerst persönlicher Bericht, und dafür will ich mich nicht rechtfertigen. Seit dem 3. Mai 2007 ist zweifellos vieles im Hintergrund geschehen, von dem wir nichts wissen und wohl auch nie wissen werden. Ich äußere mich so offen wie nur möglich über alle Personen, die mit dieser Geschichte zu tun haben. Da unsere Nachforschungen noch andauern, aber auch aus juristischen Überlegungen, kann ich über einige meiner Ansichten und einige Episoden nicht sprechen, solange Madeleine nicht gefunden ist. Ich hoffe, die Leser dieses Buches werden das verstehen und den Bericht deshalb nicht zu streng beurteilen.
Danke, dass Sie dieses Buch gekauft haben und lesen. Sie unterstützen damit die Suche nach unserer Tochter.
I GERRY
Vor dem 3. Mai 2007 war ich Kate Healy, Allgemeinmedizinerin, verheiratet mit einem Facharzt für Kardiologie und Mutter dreier Kinder. Wir waren eine vollkommen normale Familie. Eine langweilige Familie, würde ich sagen. Seit wir beschlossen hatten, Kinder zu haben und uns auf unsere Familie zu konzentrieren, waren Gerry und ich der Schnelllebigkeit der Welt so sehr entwachsen, dass manche Freunde gutmütig über uns spotteten.
Für mich fing alles in Liverpool an, wo ich 1968 zur Welt kam -am ersten Tag eines elfwöchigen Busfahrerstreiks, so erzählt es jedenfalls meine Mutter. Auch meine Eltern stammten aus Liverpool; allerdings kommt die Familie meines Vaters ursprünglich aus Irland und die Mutter meiner Mutter aus der Grafschaft Durham. Mein Vater Brian Healy war Schreiner und arbeitete anfangs bei dem Schiffbauunternehmen Cammell Laird. Meine Mutter Susan machte eine Lehrerausbildung, als ich klein war - wohl kein ganz einfaches Unterfangen -, landete dann aber schließlich im Staatsdienst. Ich war ein Einzelkind, was viele Leute zu der völlig irrigen Ansicht verleitet, ich müsse entweder verwöhnt oder introvertiert sein - oder beides. Zwar fehlte es mir nie an Nahrung oder Kleidung oder Liebe, aber in materiellen Dingen war ich nicht verwöhnt. Und ich war vielleicht ein bisschen schüchtern, aber ich kann mich nicht erinnern, je einsam gewesen zu sein.
Bis zu meinem fünften Lebensjahr wohnten wir in einer Sackgasse im Stadtteil Huyton im Osten der Stadt. Dort wohnten auch viele Großfamilien, und meine frühesten Erinnerungen drehen sich um Spaß und Spiel draußen auf der Straße mit den Nachbarskindern. Nach unserem Wegzug von Huyton kam ich
noch oft zurück und machte mit beim Dosenkicken und anderen Spielen. Ganz sicher genossen das die Anwohner längst nicht so wie wir, und sollte jemand dort draußen sein, der keine ungetrübten Erinnerungen daran hat, so bitte ich um Entschuldigung. Besser spät als nie.
Einige Jahre nach dem Tod meiner Großmutter mütterlicherseits, die nicht einmal sechzig wurde, zogen wir zu meinem Großvater nach Anfield. Zu diesem Zeitpunkt war er schon pensioniert; zuvor war er leitender Angestellter in einer Firma gewesen, die Nüsse und Trockenobst importierte. Er war ein ausgezeichneter Buchhalter, aber wie viele Männer seiner Generation hatte er keinen blassen Schimmer von Hausarbeit oder vom Kochen, und das Leben ohne meine Großmutter fiel ihm entsetzlich schwer. Doch ich weiß noch, er war immer gut gekleidet, und für den täglichen Kirchgang zog er sich Hemd, Krawatte und Weste an. Auch ich ging regelmäßig in die Kirche. Ich wurde katholisch getauft und bin im katholischen Glauben erzogen worden; ich ging auf katholische Schulen und sonntags in die Messe. Das erwartete man von mir, das war ich gewöhnt.
Meine Zugehörigkeit zur katholischen Kirche und mein Glaube an Gott gehörten zu den Grundprinzipien meines Lebens, die ich nicht ernsthaft in Frage stellte. Es gab Krisenmomente, wenn ich im Stillen mit den großen Fragen des Lebens rang - Gott, dem Universum, meinem eigenen Dasein -, aber meist war ich zufrieden mit dem, woran ich seit meiner Kinderzeit glaubte und was ich von den Menschen gelernt hatte, die mir wichtig waren. Ich habe meinen Glauben sicher nicht tagtäglich aktiv gelebt, und es gab gewisse Zeiten, in denen die Kirche in den Hintergrund trat, vor allem während meines Studiums, aber mein Glaube begleitete mich ständig, war mir eine Quelle des Trostes, der Zuflucht und der Unterstützung.
Vielleicht weil ich keine Geschwister hatte, stand ich meinen Cousins und Cousinen immer sehr nah, und ich hatte zahlreiche Spielkameraden, von denen viele bis zum heutigen Tag eng mit mir befreundet sind - eine von ihnen, Lynda, die in Huyton neben uns wohnte, kennt mich seit meiner Geburt. Unsere Mütter waren damals Freundinnen und sind es heute noch. Ich war nicht nur schüchtern, ich war auch ziemlich sensibel, nicht gerade Eigenschaften, um die man beneidet wird, wie ich herausfinden sollte, aber ich war gern in Gesellschaft und hatte nie Spaß daran, allein herumzusitzen.
Seit der Grundschule bin ich mit Michelle und Nicky befreundet. Michelle lernte ich an unserem ersten Tag auf der All-Saints-Schule in Anfield kennen, und von dem Augenblick an waren wir unzertrennlich. Damals planten meine Eltern gerade eine Urlaubsreise nach Kanada; wir wollten Tante Norah besuchen, die Schwester meines Vaters, die dorthin ausgewandert war. Ich freute mich riesig. Michelle muss sofort großen Eindruck auf mich gemacht haben, denn gleich an diesem ersten Schultag fragte ich sie, ob sie nicht mit uns nach Kanada fahren wollte. Natürlich sagte sie ja und war dann ziemlich sauer, als sie nach Hause kam und ihre Mutter unseren Plänen ein jähes Ende bereitete. Gemeinsam legten wir mit elf Jahren die Prüfung ab, die damals noch über den weiteren schulischen Weg entschied, und gemeinsam besuchten wir die Notre Dame Collegiate School in Everton Valley, auf die ein Jahr später auch Michelles zehn Monate jüngere Schwester Lynne kam. Die beiden stammten aus einer katholischen Großfamilie, und jeden Dienstagabend war ich bei ihnen zu Hause. Zu uns kamen die beiden immer am Freitag. Auch in den Ferien waren wir unzertrennlich. Ich feierte bei ihnen auf der Straße sogar die Siege des FC Liverpool mit (ja, die siebziger Jahre ...), und das, obwohl die Healys eingefleischte Fans des FC Chelsea waren. So sehr mochte ich Michelle.
Auch Nicky besuchte die All Saints. Und obwohl sich unsere Bildungswege später trennten, als ich nach Everton Valley ging, wohnte sie doch ganz in der Nähe, und wir blieben enge Freundinnen. Wenn Sie meine Mutter fragen, was ihr am ehesten einfällt, wenn sie an Nicky und mich als Kinder denkt, wird sie spontan sagen: »Chips mit Zwiebelgeschmack.« Damit haben wir uns bis Mitternacht vollgestopft, wenn Nicky über Nacht blieb, und der
sichtbare Beweis lag dann unter dem Bett. Zwar waren es nicht immer Kartoffelchips mit Zwiebelgeschmack, doch meine Mutter erinnert sich offenbar an dieses unverkennbare Aroma, wenn sie an diese sorglosen Tage denkt. Nicky war immer unbeschwert und voller Tatendrang. Sie sang und tanzte großartig - heute ist sie Fitnesstrainerin -, und so manchen Tag verbrachten wir mit dem Einstudieren von Choreographien zu Disco-Hits aus den Siebzigern wie »Yes Sir, I Can Boogie« von Baccara. Ich würde gern behaupten, dass wir gut gewesen sind, aber meine Ahnung sagt mir, dass nur eine von uns beiden gut war. Nicky weckte die Lebensgeister, und daran hat sich bis heute nichts geändert.
Ich war eine fleißige, gewissenhafte Schülerin und hatte immer gute Noten. Die Tatsache, dass ich auch sportlich war und immer in die Schulmannschaft gewählt wurde - eine Zeit lang war ich Kapitän des Korbballteams und spielte im Sommer Schlagball -, bewahrte mich wohl davor, als Streberin zu gelten. Damals schwebte mir noch kein bestimmter Beruf vor. Dass ich Medizin studieren wollte, ergab sich schrittweise aus den Entscheidungen, die ich nach der Sekundarstufe i traf, es war also kein lebenslang gehegter Berufswunsch. Mit etwa dreizehn, vierzehn Jahren wollte ich Hämatologin werden und ein Mittel gegen Leukämie finden (Gott weiß, woher dieser Wunsch kam und woher ich überhaupt wusste, was ein Hämatologe ist). Ich spielte auch mit dem Gedanken, Tierärztin zu werden. Als ich meine Fächer für die Sekundarstufe II wählen sollte, war ich anfangs nicht sicher, ob ich drei Naturwissenschaften nehmen sollte oder Mathematik, BWL und Französisch; und später dann, als es um die Studienwahl ging, wusste ich erst nicht genau, ob ich mich für Medizin oder Ingenieurwissenschaften einschreiben sollte. In beiden Situationen hätte ich mich auch jeweils anders entscheiden können.
Obwohl mir ein erfüllender, einträglicher Beruf durchaus wichtig war, bin ich nie übermäßig ehrgeizig gewesen, außer in einer Hinsicht: Für alle, die mich kennen, war klar, dass ich unbedingt Mutter werden wollte, und wenn möglich Mutter vieler Kinder. Ich war ganz gewiss keine von den jungen Frauen, die bereitwillig alles gegeben hätten, um in ihrem Beruf an die Spitze zu gelangen, schon gar nicht, wenn es bedeutet hätte, diesem Ziel Beziehungen und Babys zu opfern. Manch einer mag das als lasch beurteilen, die meisten Mütter sehen das aber wahrscheinlich anders. Als ich 1992 meinen Abschluss an der Dundee University machte, schloss mein Eintrag im Universitätsjahrbuch mit folgendem Satz: »Prognose: Mathematikerin und Mutter von sechs Kindern.« Keine dieser Vorhersagen erfüllte sich, aber ich war außerordentlich glücklich und stolz, als ich schließlich das Beste und Schönste errang, das ich mir denken konnte: meine drei wunderbaren Kinder.
Die Universität im schottischen Dundee mag eine überraschende Wahl für ein Mädchen aus Liverpool sein, das keine besonderen Verbindungen nach Schottland hat. Aber damals gehörte es für Absolventen englischer Schulen zum Erwachsenwerden, dass sie sich eine Universität in einiger Entfernung von zu Hause suchten, und Dundee kam in die engere Wahl, als ein guter Freund, der einen Studenten dort kannte, mir die Hochschule empfahl. Ich fuhr in den Norden, um mir die Universität anzusehen, und wurde von einer sehr netten Truppe von Leuten im letzten Studienjahr herumgeführt. Ich weiß noch, es war der Guy-Fawkes-Abend, das Fest, an dem der Jahrestag der Pulververschwörung gefeiert wurde, und alle gingen nach dem Umzug auf eine Party und luden mich ein mitzukommen. Während der nächsten paar Tage gab es so viele Studentenfeten und andere Events, dass ich länger blieb als ursprünglich geplant. Ich ging auf einen Ball, und alle gaben mir das Gefühl, wirklich willkommen zu sein.
Also: Dundee sollte es sein. Das gesellschaftliche Leben hielt, was das erste Wochenende versprach (Party machen ist für Medizinstudenten ja praktisch ein Pflichtfach), und ich schloss viele Freundschaften. Ich hatte eine tolle Zeit an der Universität und gab mir alle Mühe, Arbeit und Vergnügen in einem ausgewogenen Gleichgewicht zu halten - was nicht immer gelang. Ich hielt mich fit, indem ich für das Korbballteam der Universität spielte. Nach dem Examen im Jahr 1992 folgten als Nächstes zwei jeweils
sechsmonatige Praktika als Assistenzärztin im Krankenhaus, das erste in Allgemeinmedizin und das zweite wahlweise in der Chirurgie oder der Orthopädie (ich entschied mich für die Orthopädie). Nach Beendigung des ersten Praktikums im King's Cross Hospital in Dundee fühlte ich mich bereit für einen Ortswechsel, und es lockten die Lichter der Großstadt - Glasgow.
Und dort in Glasgow kam es 1993 zu meiner ersten Begegnung mit Gerry McCann. Er meint, wir hätten uns in Wirklichkeit schon 1992 kennengelernt, als wir uns beide um denselben Posten bewarben und ein Vorstellungsgespräch hatten (beide bekamen wir den Posten nicht), aber daran habe ich keine Erinnerung. Tut mir leid, Ger! Er hatte im selben Jahr wie ich sein Medizinstudium beendet, und zwar an der Uni Glasgow (in Schottland ist es weit eher Tradition, dass die Studenten die heimischen Universitäten besuchen). Obwohl wir in der Anfangszeit unserer beruflichen Laufbahn nicht zusammenarbeiteten, bewegten wir uns in denselben Kreisen, und unsere Wege kreuzten sich auf vielen gesellschaftlichen Ereignissen, wie zum Beispiel bei dem berühmt-berüchtigten Spektakel der Schwestern-und-Ärzte-Party im Nachtklub Cleopatra, liebevoll Clatty Pats genannt.
Gerry war attraktiv, selbstbewusst und extrovertiert. Außerdem stand er in dem Ruf, ein ziemlicher Draufgänger zu sein. Doch als ich ihn kennenlernte, entdeckte ich seine natürliche Wärme und Ehrlichkeit, vor allem, wenn er über seine Familie sprach, und so kam hinter der eher etwas einschüchternden Fassade sehr viel Freundlichkeit und Verletzlichkeit zum Vorschein.
Abgesehen von unserem Beruf hatten wir zahlreiche weitere Gemeinsamkeiten. Wir stammten beide aus ganz bodenständigen katholischen Familien der Arbeiterklasse mit irischen Wurzeln. Auch Gerry hatte katholische Schulen besucht und war sonntags brav zur Messe gegangen. Natürlich wussten wir das alles nicht voneinander, als wir uns kennenlernten, und es wäre keinem von uns beiden in den Sinn gekommen, danach zu fragen, obwohl unsere Namen schon einigermaßen verräterisch waren, hätten wir nur je darüber nachgedacht. Gerrys Vater war Schreiner, genau wie meiner. Seine Mutter Eileen ist in Glasgow geboren, ihre Eltern waren Iren. Kurz nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatten ihre Eltern sie nach Donegal in Irland zu ihrer Großmutter geschickt, von wo sie erst nach Kriegsende nach Glasgow zurückkam. Gerrys Vater Johnny stammte aus St. Johnston in der Grafschaft Donegal, in der Nähe der Grenze zu Nordirland.
Johnny hatte einen schweren Start ins Leben. Noch ehe er das sechzehnte Lebensjahr erreichte, hatte er seine Mutter, seinen älteren Bruder und seinen Vater verloren. Nachdem Johnny eine Zeit lang bei einem Onkel in Sligo gelebt hatte, musste er plötzlich die Verantwortung für den Pub seines Vaters und für einen jüngeren Bruder übernehmen. Johnny hatte seine eigene Ausbildung an einer Jesuitenschule abbrechen müssen, weshalb er sich für seine Kinder etwas Besseres wünschte und darauf bestand, dass sie alle fleißig arbeiteten, einen guten Schulabschluss machten und auf die Universität gingen.
Ganz im Gegensatz zu meiner Familie war Gerrys Familie groß und laut. Gerry kam 1968 zur Welt, im selben Jahr wie ich, und er war das jüngste von Johnnys und Eileens fünf Kindern. Er hat einen älteren Bruder, benannt nach dem Vater Johnny, und dann kamen drei Schwestern - Trisha, Jack und Phil. Aus Gerrys Geschichten ist herauszuhören, dass es ein lustiger, lärmender und bunt schillernder Haushalt war, in dem es zuweilen ziemlich verrückt zuging. Aber schwer war es wohl auch: sieben Personen in einer Ein-Zimmer-Wohnung in einem Glasgower Mehrfamilienhaus, von gelegentlichen Untermietern ganz zu schweigen, denen man keinen anderen Platz anbieten konnte als eine Matratze auf dem Fußboden. Johnny Senior arbeitete viel und lang, und auch Eileen hatte immer mal wieder einen Job, erst als Verkäuferin und später als Putzfrau; also wurde der kleine Gerry oft in die Obhut der älteren Geschwister gegeben. Doch das Leben in einem großen Mehrfamilienhaus voller katholischer Familien und ganzer Horden anderer Kinder hat mehr Vor- als Nachteile. Alle Familien waren in derselben Situation, für die McCann-Kinder und die
Nachbarskinder war es also der Normalzustand, und keiner hatte das Gefühl, zu kurz zu kommen.
Wie ich war auch Gerry sehr gut in der Schule gewesen. Als er zur Welt kam, war das Arbeitsethos der Familie bereits fest etabliert, die Ziele wurden vorgegeben, und er folgte den Spuren seiner Geschwister und deren hohen Leistungen, wobei er mit ihnen in Konkurrenz trat und immer entschlossen war, es besser zu machen. »Schüchtern« und »Gerry« sind Wörter, die nie und nimmer in ein und demselben Satz vorkommen könnten. Alle McCannKinder sind äußerst gesellig und selbstbewusst - man könnte ein Vermögen damit verdienen, wenn man das Selbstbewusstsein der McCanns in Flaschen abfüllen und verkaufen könnte. Mein Vater witzelte oft, sie seien mit einem silbernen Mikrofon im Mund zur Welt gekommen.
Gerry war auch sehr sportlich, und wie nicht anders zu erwarten, war er sehr auf Wettbewerb bedacht. Der Mittelstreckenlauf war seine Stärke, und mit siebzehn war er über die 800 Meter der schnellste Schotte seiner Altersklasse. An der Universität von Glasgow lief er für den Club »Hares and Hounds«, dessen Mannschaftsfarbe ein schrecklich grelles Gelb war. Ganz in Ordnung beim Sport, aber er hing so an seinem Läufertrikot, dass er darauf bestand, es auch bei anderen Gelegenheiten zu tragen. Schon auf eine Meile Entfernung erkannte man ihn.
Die widersprüchlichen Züge von Gerrys Persönlichkeit -Selbstbewusstsein und Überschwang gepaart mit Ehrlichkeit und großer Offenheit - fügten sich für mich zum Bild eines attraktiven Mannes. Einerseits konnte man richtig viel Spaß mit ihm haben, andererseits war er ernsthaft und liebevoll. Und doch blieb ich auf Distanz und versuchte, die Sache cool anzugehen. Ich nehme an, sein Ruf als Draufgänger hielt mich auf Abstand. Ich wollte mich nur ungern in eine Beziehung stürzen, in der ich am Ende vielleicht verletzt würde, und ich glaube, ein gewisser Stolz meinerseits spielte ebenfalls eine Rolle. Ich wollte nicht nur eine von vielen aus einer ganzen Reihe von Freundinnen sein. Das hört sich inzwischen alles ein bisschen albern an, nachdem ich Gerry im Lauf der Jahre so gut kennengelernt habe. Ich würde nie behaupten, dass sein Ruf als Frauenheld völlig aus der Luft gegriffen war, aber die Sache wurde ohne jeden Zweifel auf unfaire Weise übertrieben, wie das oft so geht, und ich hörte zu viel auf die Gerüchte. Inzwischen weiß ich nur zu gut, wie viel Schaden Gerüchte anrichten können. Wie auch immer, es stellte sich jedenfalls heraus, dass wir beide erst ans andere Ende der Welt reisen mussten, um schließlich als Paar zusammenzufinden.
Ich war ganz versessen aufs Reisen, und mir war klar, dass ich eher früher als später damit anfangen musste, wenn es nicht ein bloßes Hirngespinst bleiben sollte. Je weiter meine beruflichen Pläne voranschritten, desto intensiver würde ich mich höchstwahrscheinlich meiner Arbeit widmen und desto schwerer würde es mir fallen, mich loszureißen. Nachdem ich meine Krankenhaus-Jobs hinter mir hatte (wie man etwas flapsig das erste Jahr als Arzt nannte), bewegte ich mich langsam, aber sicher in Richtung Geburtshilfe und Frauenheilkunde. Obwohl das nicht meine ursprüngliche Absicht gewesen war - ich wollte einfach nur Erfahrungen für die Allgemeinmedizin sammeln -, empfand ich die Arbeit in der Gynäkologie zunächst als sehr angenehm. Aber es war ein unglaublich arbeitsintensiver Bereich mit viel Konkurrenz und unzufriedenen, überarbeiteten Ärzten, meist Frauen, die in mittleren Positionen stecken blieben. Ich war mir nicht sicher, ob das das Richtige für mich war.
Anfang 1995, während einer Fortbildung in der Onkologie, die meiner Facharztausbildung zur Gynäkologin zugutekommen sollte, fing ich an, mich über eine Austausch-Organisation auf Stellen in Australien zu bewerben. Rein auf Verdacht schrieb ich auch einen Brief an ein Krankenhaus in Neuseeland, und zwar auf Vorschlag eines neuseeländischen Kollegen. Ich rechnete zu gegebener Zeit mit einem offiziellen Antwortschreiben per Post, also war ich einigermaßen verblüfft, als ich eines Tages während der Arbeit ans Telefon gerufen wurde und ein Kinderfacharzt mit Spezialgebiet Neugeborene in Auckland mir eine Stelle anbot. Kurz entschlossen sagte ich zu.
Während ich diese ganzen Bewerbungen schrieb, hatte ich im Hinterkopf immer ein leise nagendes Bedauern darüber gespürt, dass ich Gerry aus den Augen verlieren würde, wenn ich wegging. Über unsere jeweiligen Pläne hatten wir nicht miteinander geredet, und so wusste ich nicht, dass auch er sich um eine Stelle im Ausland bemühte, entweder in den USA oder in Neuseeland. Später wurde in der Gerüchteküche der Glasgower Krankenhäuser die unfaire, wenn auch nicht ganz ernst gemeinte Geschichte verbreitet, Gerry hätte, kaum dass er von meiner bevorstehenden Abreise nach Auckland erfuhr, beschlossen, mir bis ans Ende der Welt zu folgen, und deshalb habe er sofort begonnen, sich ebenfalls im Land der Großen Weißen Wolke um eine Stelle zu bewerben. So schmeichelhaft diese Version der Ereignisse auch erscheinen mag, ist die Wahrheit doch die, dass er zu dem Zeitpunkt bereits auf Antwort von mehreren Krankenhäusern sowohl in Neuseeland als auch den Vereinigten Staaten wartete. Allerdings würde ich wirklich gern glauben, dass die Nachricht von meinem Weggang nach Auckland ihm die Entscheidung zwischen den beiden Ländern ein wenig leichter machte!
Ich reiste als Erste ab, und zwar im Juli 1995, und ich kam in Neuseeland an, ohne eine Menschenseele dort zu kennen. An meinem ersten Tag in meiner neuen Stellung rief mich der Freund eines Freundes an, dem man von mir erzählt hatte, und wollte sehen, wie ich zurechtkam. Ganz beiläufig fragte er: »Gehst du heute Abend mit mir laufen?«, so wie wir zu Hause sagen würden: »Hast du Lust auf ein Bier heute nach der Arbeit?« Nun war ich sicher ganz sportlich, aber das Laufen gehörte nicht unbedingt zu meinen Spezialitäten - das war mehr Gerrys Domäne. Doch weil dieser Typ der einzige Mensch war, den ich in Auckland kannte, nahm ich die Einladung an.
An dem Abend lief ich dann patschend und schnaufend über ein schlammiges Feld. Mit jedem Schritt musste ich versuchen, den Fuß aus dem klammernden Morast zu ziehen. Mein neuer neuseeländischer Freund zeigte auf einen Hügel vor uns. »One Tree Hill?«, schlug er vor. Ich nickte zuversichtlich. Den ganzen Weg nach oben machte er Konversation, stellte Fragen, und ich hatte gerade mal genug Puste für einsilbige Antworten. Ich dachte wirklich, ich müsste sterben. Als wir dann endlich barmherzigerweise die Hügelspitze erreichten, breitete er die Arme aus, um mir den Anblick zu zeigen, der sich unter und um uns ausbreitete. Von dieser 182 Meter hohen Vulkanerhebung, einem berühmten Wahrzeichen Aucklands, hat man freie Sicht auf die ganze Stadt. »Sieh dir das an!«, begeisterte er sich. »Und schau mal, diese faszinierenden Wolken!« Aber ich konnte nur denken: Lass mich doch mit deinen dämlichen Wolken in Ruhe, ich muss mich gleich übergeben.
Aber von One Tree Hill würde ich mich nicht unterkriegen lassen. Am nächsten Abend kletterte ich allein auf den Hügel und dann wieder und immer wieder, bis ich ihn bezwungen hatte. So bin ich nun mal. Ich bin sicher nicht die ehrgeizigste Frau von der Welt, aber was ich wirklich im Überfluss habe, ist Entschlossenheit und Sturheit. Und danach war ich sozusagen bekehrt, und so spielte ich in Neuseeland nicht nur Korbball in einem gemischten Team, sondern lief auch regelmäßig. Bedenkt man Gerrys Sportbegeisterung, war es vielleicht nur gut, dass es mir auch solchen Spaß machte.
Meine Arbeit auf der Neugeborenenstation fand ich großartig, und ich kümmerte mich nur zu gern um die Babys, aber es wurde für mich so etwas wie eine Feuertaufe. Ich war angestellt als voll ausgebildete Assistenzärztin, obwohl ich keine Erfahrung mit Neugeborenen hatte, während mir Ärzte im Praktikum unterstellt waren, die im Gegensatz zu mir über genau diese Erfahrung verfügten. Ich sollte ganz allein dicke Infusionsschläuche in winzige, vierundzwanzig Wochen alte Babys stecken. »Ruf uns ruhig an, bei den ersten paar Mal kommen wir dir dann helfen, dann klappt das schon«, sagte der Facharzt. Und er hatte recht. Ich musste mich einfach nur an die gelassene Art der Neuseeländer gewöhnen. Und als mir das gelungen war, empfand ich sie als reizende, fähige, unkomplizierte Leute, die arbeiteten, um zu leben, und nicht lebten, um zu arbeiten.
Gerry traf zwei Monate nach mir im Land ein, aber er wohnte nicht gerade um die Ecke. Er hatte seine Stelle als Allgemeinmediziner und Kardiologe in Napier - einen Flug oder fünf Stunden mit dem Auto von Auckland entfernt. Aber trotz der Entfernungen sahen wir uns so oft wie möglich. Weit weg von zu Hause und von allen, die wir kannten, konzentrierten wir uns endlich aufeinander, und auf einmal marschierte unsere Beziehung geradewegs in die Sphären der Romantik. Die Tatsache, dass wir schon seit gut zwei Jahren miteinander befreundet waren, machte den Übergang ein wenig leichter, wir wussten schließlich schon ziemlich viel voneinander. Doch anfangs war die Gewöhnung an diese neue Art der Beziehung befremdlich und schwer, und wir waren beide sehr nervös, wie Teenager bei ihrem ersten Rendezvous. Zum Glück hatten wir diese Phase bald hinter uns.
Nach meiner Zeit auf der Neugeborenenstation wechselte ich für sechs Monate auf eine Station für Geburtshilfe und Frauenheilkunde in Wellington (was ungefähr genauso weit weg von Napier ist wie Auckland). Insgesamt blieben wir ein Jahr in Neuseeland. Es war eine herrliche Zeit, und wir waren sehr glücklich. Uns beiden gefiel das Land und unser Leben dort. Ich glaube, Gerry hätte ernsthaft in Erwägung gezogen, für immer dort zu bleiben, doch für mich, so ungern ich auch wieder fortging, war es einfach zu weit weg von meiner Familie und meinen Freunden, vor allem aber von meinen Eltern. Und inzwischen war klar, dass wir, wohin auch immer wir gingen, als Paar gehen wollten. Nachdem wir uns endlich gefunden hatten, hielten wir uns für die glücklichsten Menschen auf der Welt.
Also kehrten wir im September 1996 nach Glasgow zurück. Gerry nahm eine Stelle am Krankenhaus Western Infirmary an und begann mit seinen Recherchen für eine Doktorarbeit zum Thema Physiotherapie. Ich arbeitete zunächst auf der Säuglingsstation von Queen Mother's Hospital, ehe ich 1997 ins Krankenhaus Western Infirmary wechselte - in den Bereich Anästhesie. Für den Anfang mieteten wir uns eine Wohnung, aber dann kauften wir uns ein Reihenhaus ganz in der Nähe des Hauses von Gerrys Bruder Johnny und seiner Familie. Im Dezember 1998 heirateten wir in Liverpool und wurden von unserem guten Freund Pater Paul Seddon getraut. Für die Hochzeit suchten wir uns das Wochenende vor Weihnachten aus, denn da unsere Freunde und auch die entfernteren Verwandten alle weit auseinander wohnten, wollten wir die Weihnachtsfeiertage nutzen. So konnten wir sicher sein, dass so viele wie möglich kommen würden. Außerdem habe ich die Weihnachtszeit immer schon geliebt. Es war ein wunderschöner Tag, und voller Vorfreude und Begeisterung blickten wir auf unsere Zukunft als Ehepaar und auf die Kinder, die unserem Leben erst so richtig Sinn geben würden.
Übersetzung: Isabell Lorenz und Veronika Dünninger
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Bibliographische Angaben
- Autor: Kate McCann
- 2011, 454 Seiten, mit zahlreichen farbigen Abbildungen, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3785724438
- ISBN-13: 9783785724439
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