Magier und Heilige in Tibet
Anfang des 20. Jahrhunderts bereiste die französische Orientalistin Alexandra David- Néel Tibet und lebte dort über ein Jahrzehnt in Klöstern und...
Anfang des 20. Jahrhunderts bereiste die französische Orientalistin Alexandra David- Néel Tibet und lebte dort über ein Jahrzehnt in Klöstern und Einsiedeleien. Ihr Bericht fasziniert, weil sie sich, wie kein Europäer vor ihr, auf das Leben und die lamaistischen Geheimlehren einlässt und trotzdem eine Art wissenschaftlicher und zuweilen ironischer Distanz bewahrt.
Anfang des 20. Jahrhunderts bereiste die franz sische Orientalistin Alexandra David- N el Tibet und lebte dort ber ein Jahrzehnt in Kl stern und Einsiedeleien. Ihr Bericht fasziniert, weil sie sich - wie kein Europ er vor ihr - auf das Leben und die lamaistischen Geheimlehren einl sst und trotzdem eine Art wissenschaftlicher und zuweilen ironischer Distanz bewahrt.
'Alexandra David-N els kluges, abenteuerliches Buch ist sicherlich auch heute noch eine lohnende Lekt re und ein spannender Einstieg in die tibetische Welt.' Tattva Viveka
Magier undHeilige in Tibet von AlexandraDavid-Néel
LESEPROBE
Die Vorschule
»Also abgemacht! Ich lasse Ihnen Dawasandup als Dolmetscher.Er wird mit uns reisen.« Ist das ein Mensch, der mit mir spricht? Dies winzigeKerlchen, mit dem gelblichen Teint, in einem orangefarbenen Brokatgewand undmit dem funkelnden Diamantstern an der Mütze - ist es nicht etwa ein von denbenachbarten Bergen herabgestiegener Kobold? Mag er immerhin verkörperter Lamaund Thronfolger eines Himalajareiches heißen, ich kann ihn eben jetzt kaum fürwirklich halten. Ich würde mich gar nicht wundern, wenn er mitsamt seinem buntscheckigenGefolge und seinem gelb aufgezäumten Prunkpferd sich wie eine Luftspiegelungauflöste. Er gehört mit zu dem Märchen, in dem ich seit vierzehn Tagen lebeoder wenigstens zu leben glaube. Dieses neue Ereignis passt ganz genau in denRahmen meines Traums. Noch ein paar Augenblicke, und ich werde in meinem Betteaufwachen, irgendwo in einem Lande, in dem weder Kobolde noch verkörperte Lamasin schillernden Gewändern spuken, sondern wo die Herren gewöhnliche Straßenanzügetragen, und in dem normal große Pferde nicht in leuchtend sonnengelbe Stoffegehüllt einhergehen. Da schreckt mich ein Paukenwirbel auf, Oboen stimmen eine schwermütigeMollweise an. Der Kobold besteigt sein Prachtross, die Herren und Diener desGefolges schwingen sich in den Sattel. »Ich erwarte Sie also«, wiederholt derFürst-Lama mit gnädigem Lächeln. Als ob ich jemand anders reden hörte, vernehmeich mein eigenes Versprechen, mich übermorgen in seiner Hauptstadt einzufinden,und mit der Musik an der Spitze entfernt sich die seltsame Reiterschar. Mit denletzten in der Ferne verhallenden Tönen der wehmütigen Melodie schwindet auchdie Verzauberung, die mich in ihrem Bann gehalten hatte. »Nein, ich habe nichtgeträumt, diese ganze Szene ist Wirklichkeit. Ich bin in Kalimpong, imHimalaja, und neben mir steht der Dolmetscher, der mir gleich bei meinerAnkunft zur Verfügung gestellt worden war.« Wie ich hierher gekommen bin, habeich in »Arjopa« erzählt. Politische Ereignisse hatten den Dalai Lama bewogen,auf britischem Gebiet Zuflucht zu suchen, und sein Aufenthalt an der indischenGrenze schien mir eine einzigartige Gelegenheit, ihn zu sehen und von ihmAngaben über die Natur des in Tibet vorherrschenden Buddhismus zu erhalten. WenigeReisende haben sich dem Mönchkönig in seiner heiligen Stadt, im Lande desSchnees, nahen können, und auch in der Verbannung war es nicht leicht. Bis zumeinem Besuche hatte er sich hartnäckig geweigert, andere Frauen als tibetischebei sich zu empfangen. Mir zuliebe machte er das erste Mal eine Ausnahme, undich kann ruhig annehmen, dass es bei dem einen Mal geblieben ist. Als ich aneinem frischen Frühlingsmorgen, während das Gebirge sich in rosigen Nebelhüllte, Darjeeling verließ, ahnte ich noch keineswegs die außergewöhnlichenFolgen meines Schrittes. Ich glaubte einem kurzen Ausflug und eineminteressanten Zusammentreffen entgegenzugehen. In Wirklichkeit aber war es dieEinleitung zu Wanderungen, die mich mehr als zehn Jahre lang in Asienfesthalten sollten. Am Anfang dieses langen Weges spielt in meiner Erinnerung derDalai Lama etwa die Rolle eines gefälligen Wirtes, der den Reisenden am Fuß derEinfriedigungsmauern seines Besitztums umherirren sieht und dem Eindringlingnun freundlich selbst den rechten Weg zum Eingang weist. Diese Richtungsangabe lagin den drei Worten: »Lernen Sie Tibetisch.« Glaubt man seinen Untertanen, dieihn den Allwissenden nennen (Ahamstehed mykénpa), so wusste der HerrscherTibets, was für Folgen dieser Rat für mich haben würde. Er hätte mich dannselbst nicht nur Lhasa, seiner verbotenen Stadt, zugeführt - das hätte nochnicht viel sagen wollen -, sondern mir den Weg zu den mystischen Meistern undden unbekannten, noch weit unzugänglicheren Magiern gezeigt, die seinwundersames Land birgt. In Kalimpong hielt der Lama-König in einem geräumigen, demMinister des Radscha von Bhutan gehörigen Landhaus Hof. Um der Behausung einenmajestätischen Anstrich zu geben, hatte man durch zwei von der Straßeabzweigende Reihen hoher Bambusstangen eine Allee angedeutet. Jede Stange trugentweder eine Fahne mit dem Aufdruck: »Om mani padme hum«, oder dem »Pferd derLuft«, umgeben von magischen Formeln. Ich glaube, damals war die tibetischeNationalstandarte, ein goldener Löwe auf karmesinrotem Grunde, noch nichterfunden. Der Hofstaat des verbannten Gebieters war zahlreich, und dieDienerschaft belief sich auf mehr als hundert Leute. Für ge- wöhnlich gab sichalles dem Dolcefarniente hin, und die größte Ruhe, nur durch endloses Geschwätzverschönt, herrschte im Umkreis des Großlamas. An Fest- oder Empfangstagen aberschwärmte es überall von der lauten, geschäftigen Menge der Würdenträger undDienstboten. Sie drängten sich an allen Türen, zeigten sich an allen Fensternund wimmelten in der Umgebung umher. Alles hastete, stürzte, schrie, und inihren schmierigen Gewändern sahen sie sich alle oft so ähnlich, dass einemFremden leicht peinliche Missverständnisse begegnen konnten. Wo waren dieFeierlichkeit, die Etikette und die Pracht des Potala geblieben? Niemand, dermit ansah, wie hier am Wegrand der Herrscher Tibets darauf wartete, dass treueUntertanen den Thron für ihn zurückeroberten, hätte den früheren Hof von Lhasawiedererkannt. Die britische Expedition, die trotz der Zaubereien undBeschwörungen der hervorragendsten Hexenmeister mit Gewalt in das verboteneGebiet eingedrungen war und in seiner Hauptstadt herumstolzierte, wird denDalai Lama wohl davon überzeugt haben, dass die ausländischen Barbaren stärkerwaren als er. Vermutlich hatte er während einer Reise durch Indien auchGelegenheit gehabt, die technischen Errungenschaften der Neuzeit kennen zulernen, die ihm beweisen mussten, wie geschickt die Weißen in derDienstbarmachung und Formung der Materie waren. Unerschüttert war aber seinGlaube an die geistige Minderwertigkeit der weißen Rasse geblieben, und darin teilteer nur die allgemeine Ansicht aller Asiaten, von Ceylon bis zu den nördlichenGrenzen der Mongolei. Dass eine Europäerin in buddhistischen Lehren erfahrensein könnte, schien ihm ein unfassliches Wunder. Hätte ich mich, während er mitmir sprach, plötzlich verflüchtigt, so wäre er nicht überrascht gewesen. ImGegenteil, die Wirklichkeit meiner Person war ihm viel erstaunlicher. Da eraber nun mal seinen Augen trauen musste, fragte mich der Dalai Lama nach meinemLehrer; den musste ich doch haben, und es konnte nur ein Asiate sein. Er fielaus den Wolken, als ich ihm sagte, dass schon vor meiner Geburt der tibetischeText eines von den Lamas besonders hochgeschätzten buddhistischen Buches insFranzösische übersetzt worden war2. Er gab die Tatsache nurungern zu und bemühte sich, wenigstens ihren Wert zu verringern. »Wennwirklich«, so sagte er, »einige Ausländer auch unsere Sprache erlernt undunsere heiligen Bücher gelesen haben - ihren Sinn haben sie deshalb doch nichtverstanden.« Diese Äußerung bot mir Gelegenheit zu der Bitte: »Grade weil ichbezweifele, dass gewisse religiöse tibetische Lehren richtig verstanden wordensind, wende ich mich an Sie um Aufklärung.« Die Antwort gefiel dem Dalai Lama;er ging nicht allein mündlich auf die von mir gestellten Fragen ein, sondernüberreichte mir später noch eine Denkschrift mit ausführlicheren Erläuterungen. (...)
© Goldmann Verlag
Übersetzung: Ada Ditzen
Einleitung
Die Vorschule
- Der Tod und das Jenseits
Lehrjahre in der Einsamkeit
Im Kloster Kum-bum
- Der Wunderbaum des Tsong Khapa
- Die "lebenden Buddhas"
Vom Umgang mit D monen
- Wie man "Lebensodem" verschlingt
- Besessene als Giftmischer
- Der verzauberte Dolch
- Der wunderbare Leichnam
- Die tanzende Leiche
- Wie ich eine Zaubererrolle gebe und einen Freigeist von Dieb erschrecke
Meister und Sch ler
Mystik und Sport
- Wie man sich ohne Feuer mitten im Schnee warm erh lt
- Botschaften "durch die Luft"
Mystische Lehrs tze und geistige Schulung
Geistige Vorg nge und wie die Tibeter sie erkl ren
Karte
Anmerkungen
- Autor: Alexandra David-Neel
- 2005, 383 Seiten, Maße: 11,8 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Ada Ditzen
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442217482
- ISBN-13: 9783442217489
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