Marie - Wenn sie lachte, hatte ich Hoffnung
Eine bewegende Geschichte über ein krebskrankes Mädchen, das viel zu früh stirbt. Und seine Eltern trotz Angst und Verzweiflung sehr glücklich macht.
Die aufgeweckte und fröhliche Marie ist erst zwei, als sie...
Leider schon ausverkauft
Buch
4.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Marie - Wenn sie lachte, hatte ich Hoffnung “
Eine bewegende Geschichte über ein krebskrankes Mädchen, das viel zu früh stirbt. Und seine Eltern trotz Angst und Verzweiflung sehr glücklich macht.
Die aufgeweckte und fröhliche Marie ist erst zwei, als sie an Krebs erkrankt. Für die Eltern ist das ein unfassbarer Schock. Doch sie sind bereit, mit allen Mitteln um das Leben ihres kleinen Mädchens zu kämpfen - ohne Chance. Mit nur drei Jahren stirbt Marie. Ihre Mutter Katharina Bach erzählt auf berührende Weise die kurze Lebensgeschichte ihrer Tochter. Und beschreibt, wie glücklich sie trotz all der Traurigkeit und Sorgen mit Marie war - glücklich darüber, ihren kleinen Schatz gehabt zu haben.
"Ein sehr emotionales Buch, das den Leser schon mit den ersten Worten in seinen Bann zieht und trotz aller Traurigkeit viel Mut macht."
BUCHPROFILE
Lese-Probe zu „Marie - Wenn sie lachte, hatte ich Hoffnung “
Marie - Wenn sie lachte, hatte ich Hoffnung von Katharina Bach»Sterben Engel auch?«
... mehr
»Mama.«
»Ja, mein Schatz.«
»Sterben Engel auch?«
»Nein. Wenn man einmal Engel ist, ist man für immer Engel.«
»Aber Mama, dann haben die kein Aua mehr. Man muss ja nur sterben, wenn man ganz viel Aua hat. Eben hatte ich starkes Aua. Werde ich jetzt ein Engel?«
»Marie, so schnell geht das nicht. Möchtest du denn gerne ein Engel sein?«
»Als Kinderengelchen kann ich fliegen.«
»Woher weißt du das?«
»Bei Oma Inge ist ein großes Bild mit Engeln, und die haben Flügel.«
»Ja, man sagt, die Engel kommen überall hin. Dann können sie bestimmt auch fliegen.«
»Mama, wenn ich bei den Kinderengelchen bin, kann ich ja auch zu dir und Papa fliegen. Ich komme doch dann überall hin.«
»Marie, mein Schatz, das weiß ich nicht. Das weiß keiner genau. Aber ich glaube, ja.«
»Aber dann ist es ja noch schöner als hier. Dann kann ich fliegen und habe kein Aua mehr. Und immer kann ich zu euch kommen. Immer wenn ich will.«
»Marie, ich glaube, wir können dich dann nicht sehen.« »Wieso, sehe ich dann anders aus?«
»Das weiß ich nicht. Aber irgendwie müssen Engel für uns Menschen durchsichtig sein. Ich habe noch nie einen gesehen.«
»Kann ich dann auch nicht mit dir sprechen?«
»Doch bestimmt. Nur nicht so, wie wir jetzt sprechen.« »Wie denn?«
»Ich denke, wenn Engel überall hinkommen, dann können sie auch alles verstehen. Sie brauchen nicht zu sprechen.«
»Na gut, wenn ich dann ein Engel bin, und du mich nicht sehen kannst, setzt sich immer ein Vogel vor dich hin. Dann weißt du, dass ich da bin. Mama, wenn du auch mal so starkes Aua bekommst, dann kommst du doch auch zu mir und wirst Engel und Papa auch. Ich finde es doch schöner, wenn ihr immer da seid.«
»Ach, Marie, schau mal, wie oft warst du gerne mit Tieren zusammen. Denke an das Schaf, dem du das Sprechen beibringen wolltest. Ich will dir damit nur sagen: Es hat oft Momente gegeben, wo du dich so über ein Tier gefreut hast, dass du da nicht immer nur an mich und Papa gedacht hast. Das wäre auch ganz schön langweilig.«
»Na gut, da ist es bestimmt schön. Aber, wenn ich wieder zu euch will, weil ihr ohne mich traurig seid, kann ich dann wieder ein kleines Mädchen werden?«
»Nein, Marie, das geht nicht. Einmal Engel, immer Engel. Ich verspreche dir, ich werde nicht traurig sein, damit es dir immer gut geht.«
»Mama, kannst du mich umarmen? Aber ganz vorsichtig, damit das Aua im Bauch und Knie nicht weh tut. Mama, wir lieben uns doch. Ich will doch lieber bei dir bleiben. Du musst mich dann nur oft trösten.«
Meine kleine Marie lag damals, fünf Tage vor Ihrem Tod, auf dem Wohnzimmersofa in Daunenkissen gehüllt direkt vor dem großen Fenster zum Garten. Sie wollte dort sein, damit sie »den Himmel und die Wolken« sehen konnte. Sie hatte gerade ihre starken Schmerzmittel genommen und wurde für die Zeit, in der sie wirkten, in Ruhe gelassen von dem »Aua im Bauch und im Knie«. Ganz ernst sah sie mich mit ihren blauen Augen an, und wir redeten über Engel und ein Leben nach dem Tod, wie andere Eltern mit ihren Kindern über einen Ausflug am nächsten Tag sprechen. Aber Marie wusste nicht, dass sie von diesem Ausflug zu den Engeln nicht mehr zurückkehren konnte. Wie sollten wir auch einem kleinen Kind den Tod erklären.
Ihre Augen strahlten während unseres Gesprächs. Die Vorstellung, dass sie als Engel fliegen konnte, machte sie glücklich. Wie oft hatte sie alles, was flog oder flatterte, mit ihren staunenden Augen beobachtet. Selbst jetzt, liegend am Fenster, huschte oft ein ganz leichtes Lächeln über ihr Gesicht, wenn sie trotz Schmerzattacken aus dem Fenster sah und einen vorüberfliegenden Vogel bemerkte. Schaute ich dann in ihre Augen, so hatte ich das Gefühl, sie fliegt ein wenig mit dem Vogel.
Kurz nachdem wir über ein Leben als Engel gesprochen hatten, schlief sie jetzt ohne Schmerzen mit diesem Anflug von Lächeln und ihrem Händchen in meiner Hand ein. Ich blieb sitzen und konnte nicht weggehen. Sie hatte ihr warmes Händchen in meine Hand gelegt, und ich betrachtete sie, wie so oft in den letzten Tagen vor ihrem Tod, während sie schlief. Mein ständiger Begleiter war die Angst, dass sie nicht mehr aufwachen würde, denn schließlich wussten wir von den Ärzten, dass sie nur noch wenige Tage leben würde.
An ihrem letzten Abend hatte sie vor Schmerzen geweint und war dann endlich eingeschlafen, nachdem ich ihr eine weitere Dosis ihres Schmerzmittels gegeben hatte. Ich legte sie vorsichtig und langsam auf meinen Bauch. Aber ich schaffte es nicht, ohne sie zu stören. Ein kurzes Stöhnen unterbrach ihren tiefen, traumlosen Schlaf. Bei Schmerzen war diese Lage für sie am besten. Sie legte ihren Kopf auf meine Brust, und nach einer kurzen Zeit, die die Wirkung der Medikamente brauchte, schlief sie wieder ein. Jetzt ging es nur noch darum, sie schmerzfrei zu halten. Meine Angst vor dem Tod, der sie vielleicht im Schlaf holen konnte, war verschwunden, denn bei allem, was sie in den letzten beiden Tagen erleiden musste, erschien mir ein Ende wie eine Erlösung. Es war nur noch ein Dasein in Schmerzen oder einem tiefen Dahindämmern, hervorgerufen durch starke Medikamente.
Wachend über ihren Atem, konnte ich nicht schlafen. Als ob ich geahnt hätte, dass es in dieser Nacht passieren würde. Um sie nicht aus ihrem schmerzfreien Schlaf zu holen, durfte ich mich nicht bewegen und ließ meine Tränen und Nase auf das Kopfkissen laufen. Wach werden hieß für Marie: Schmerzen ertragen zu müssen und nicht zu wissen, wie sie sich hinlegen sollte, denn alles würde ihr wehtun.
Während sie so in meinen Armen auf mir liegt und ich auf ihren leisen Atem höre, frage ich mich: Warum hatte das Leben keine Achtung und Rücksichtnahme vor ihr gezeigt, obwohl sie voller Achtung und Freude allem Lebendigen gegenüber war. Dann sehe ich ein Bild aus der Vergangenheit vor mir:
Ich schlage Marie vor, einen kleinen Teil unseres Gartens als Gemüsegarten anzulegen. Zuerst müssen wir den Boden vorbereiten und umgraben. Ich teile ihr einen Teil der umzugrabenden Fläche zu und sage ihr: »Das ist dein eigener Garten, für den du selbst zuständig bist.« Dann gebe ich ihr eine kleine Kinderschaufel. Während ich beim Umgraben der anderen Fläche bin, sehe ich, wie sie vor ihrer ersten umgegrabenen Schaufel sitzt und weint. Ich laufe bestürzt zu ihr und frage sie: »Marie, was ist?« Sie weint noch heftiger und stößt verzweifelt hervor: »Ich habe alles kaputt gemacht, der arme Käfer und Regenwurm.« Nach näherem Hinsehen weiß ich, was sie meint. Sie hat den Lebensraum des Käfers und des Regenwurms in ihren Augen zerstört. Also schlage ich vor, Krabbel- und Kriechtiere, die sie beim Umbuddeln entdeckt, in ihrem Eimer zu sammeln und an eine andere Stelle des Gartens zu bringen. Das hilft. Sie sammelt mit großer Behutsamkeit Käfer und Regenwürmer in ihrem Eimer. Nach jedem Schaufeln zieht sie mit ihrem Eimerchen los und setzt die Tierchen woanders aus. Dabei spricht sie mit ihnen und freut sich, wenn sie beim Beobachten sieht, dass sie an der neuen Stelle im Boden verschwinden. Das Umgraben dauert zwar mehrere Tage, denn auch ich sammle nach jedem Spatenstich alles ein, was sich bewegt. Nach einer Woche haben wir es aber auf diese Art und Weise geschafft, den kleinen Gemüsegarten umzugraben. Dieser Gemüsegarten war später stets eine Quelle der Freude, wenn wir vormittags das Gemüse zum Mittagessen ernteten. Sie freute sich über jeden Kohlrabi und jede Möhre, die sie eigenhändig ernten konnte.
Ihre Art, alles intensiv wahrzunehmen, hat mir gezeigt, was Leben heißt. Ich, die mehr als das Zehnfache älter war, fing durch sie an, die Natur neu zu sehen. Sie entdeckte so viel in ihren genauen Beobachtungen, dass mir einmal der Gedanke kam: Wie soll ein Menschenleben von vielleicht siebzig oder achtzig Jahren ausreichen, die ganze Welt auf diese intensive Art zu erkunden. Damals wusste ich noch nicht, dass sie die Gelegenheit dazu nicht bekommen würde. Heute weiß ich, sie entdeckte in ihrem kurzen Leben mehr als viele Menschen, die das Dreißigfache an Zeit zur Verfügung haben. Ihre strahlenden, begeisterten Augen beim Anblick eines Käfers hatte sie auch, wenn sie andere Menschen ansah. Dadurch wurde sie von allen mit der gleichen Freude angestrahlt. So fühlte sie sich von allen Menschen, mit denen sie in ihrem Leben zu tun hatte, angenommen. Das Ergebnis war, dass sie voller Neugierde alle Kinder, Erwachsenen, Tiere und Pflanzen so liebte, wie sie sich von allen liebend getragen fühlte. Diese Lebensfreude schien ihr angeboren zu sein. Warum stattete die Natur einen Menschen so reich aus, um ihm dann die Möglichkeit zu nehmen, die Reichtümer zu entdecken? Was war es für eine sinnlose Verschwendung und Ungerechtigkeit? Oder war es Sinn des Ganzen, jedem die Zeit zu geben, die er brauchte? Vielleicht war ihr Korb gefüllt mit den Früchten der Liebe zum Leben. Andere brauchen eben länger beim Suchen und Finden. Aber was ist denn gegen eine bis in alle Ewigkeit andauernde Freude am Sammeln zu sagen?
An jedem Tag passierten so viele Dinge, die uns ihre Lebensfreude spüren ließen. Allein, dass sie bei fast jedem Vorschlag von mir rief: »Oh ja, das ist eine gute Idee. Das machen wir«, drückte aus, wie intensiv sie bei allem dabei war. Wenn sie etwas besonders gut fand, warf sie immer ihre Arme hoch und zitterte sogar vor Freude ein wenig. Es waren ganz normale Sachen, die wir unternahmen.
Im Sommer schlage ich ihr vor, mir abends beim Gießen im Garten zu helfen. Sie ist begeistert und hält selbst den Schlauch. Da die Sonne noch am Himmel steht und sie den Schlauch hoch hält, weil sie sich über das heruntersprühende Wasser freut, entsteht ein Regenbogen. Sie entdeckt die Farben sofort und ruft: »Mama, Papa, kommt schnell. Ich kann zaubern. Ich habe Farben gemalt.« Darüber freut sie sich so sehr, dass sie abends nicht einschlafen kann. Immer wieder erzählt sie von den schönen gezauberten, bunten Farben am Himmel. Sie hat vorher noch nie einen Regenbogen gesehen. Ich zeige ihr ein Bild mit einem Regenbogen, das ich in einem Buch finde. Für sie ist es eine große Zauberei. Auch am nächsten Morgen spricht sie zuerst über die Farben am Himmel.
Eigentlich musste nichts Besonderes passieren. Sie war immer für alles offen. Wenn ich sie beobachtete, hatte ich ständig das Gefühl, sie schaut sich alles so genau an, weil sie immer etwas entdecken will. Hat sie dann etwas entdeckt, ist die Freude bei ihr so groß, dass jeder in ihrer Nähe es spürt. Tiere hatte sie besonders gern.
Ich gehe mit ihr zum ersten Mal an einen nahe gelegenen kleinen See, sie lacht und freut sich über die Enten. Sie läuft ans Ufer und wirft ein kleines Stück Brot hin. Dann kommt sie schnell zu mir zurück und beobachtet, wie mehrere Enten zum Brot watscheln. Darüber amüsiert sie sich so sehr, dass sie aus dem Lachen gar nicht mehr herauskommt. »Mama, guck mal, wie die laufen! Die ist die Schnellste. Ja, sie hat es.« Dann läuft sie wieder hin, um das nächste Stückchen hinzulegen. Dabei plustert sie sich vor Lachen: »Mama, sie laufen alle weg. Ihr Enten, hier, ich habe Brot.« Und wieder zurück zu mir. Wieder diese Freude, wenn eine Ente das Stück ergattern kann. So geht es, bis die Tüte mit dem alten Brot leer ist. Noch nie habe ich ein Kind beim Entenfüttern so viel lachen gehört. Für sie ist es normal. Sie lässt sich einfach ganz auf jede Situation ein, und so kann sie eben auch alles voll genießen. Natürlich helfen ihr dabei noch ihre Neugierde und ihre besondere Fähigkeit, über alles neu Entdeckte zu staunen.
Plötzlich werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Maries Atem hatte aufgehört. Ich hörte nur noch ein kurzes Stöhnen. Dann spürte ich eine warme Flüssigkeit auf meinem Hals. Danach Stille. Es war passiert. Ihr Leben hatte aufgehört. Ich drückte sie fest an mich und versuchte, dies zu begreifen. Unsere Tochter war mit nur vierzig Monaten an ihrer Krebserkrankung gestorben. Ihr Leid hatte ein Ende.
»Warte, Schwarte!«
Marie war ein Wunschkind. Wir konnten damals die Geburt kaum erwarten. Dann wurde sie durch Kaiserschnitt mit einem Steißbeinteratom, einer gutartigen Geschwulst am Steißbein, geboren. Sie musste unmittelbar nach der Geburt operiert werden. Es verlief alles einigermaßen gut und nach vier Wochen konnten wir sie endlich nach Hause holen. Sie hatte schon als Baby an allem Interesse und Freude. Mit Begeisterung erfasste sie alles neugierig und strahlend aus ihrem Kinderwagen heraus.
In der ganzen Familie wurde sie liebend aufgenommen und verwöhnt. Ich ging abends zufrieden schlafen, wenn ich das Gefühl hatte, dass Marie den ganzen Tag positiv alles Neue mit Freude wahrgenommen hatte. Sie war rundum glücklich mit uns und entwickelte sich prächtig. Die Operation unmittelbar nach ihrer Geburt hatten wir vergessen. Das ihr entfernte Teratom war gutartig gewesen und damit für immer verschwunden. Nur eine alle drei Monate stattfindende Kontrolluntersuchung während ihres ersten Lebensjahres erinnerte uns noch daran. Als sie ein Jahr alt war, brachten wir sie in einer privaten Krabbelgruppe regelmäßig mit anderen Kindern zusammen. Auch im Umgang mit ihnen war Marie immer fröhlich und spielte mit ihnen. Nie schubste oder ärgerte sie ein anderes Kind. Ihre liebe Art, mit anderen umzugehen, fiel allen auf, die sie kannten. Wir hatten eine sehr schöne Zeit zusammen.
Ich erinnere mich an eine Situation im Sommer. Marie ist ein Jahr alt. Wir frühstücken wie immer auf der Terrasse in unserem Garten. Plötzlich strahlt Marie wieder über das ganze Gesicht, zeigt mit dem Finger auf unsere große Vogel tränke und ruft lachend: »Da Vogel, Quatsch!« Das Wort Quatsch hat sie von mir schon mehrmals gehört. Immer wenn sie mit größter Lust Schränke ausräumt oder Toilettenpapier abwickelt, also all die Dinge anstellt, die das Leben mit einjährigen Kindern anstrengend machen, sage ich zu ihr: »Marie, hör auf mit dem Quatsch!« Die Amsel badet sich in der Vogeltränke, schlägt immer wieder die Flügel im Wasser und spritzt dabei. Bisher hat Marie nur mit großer Freude beobachtet, wie Vögel aus der Tränke das Wasser mit dem Schnabel aufnehmen. Also ist es Quatsch, was die Amsel dort tut. Da aber »Quatsch machen« ihr sehr viel Spaß macht, sehe ich nachmittags vom Fenster aus, wie sie mit ihrem Freund von gegenüber ganz hinten im Garten in einer großen Pfütze sitzt, die dort in einer Kuhle fast immer steht, wenn es ein paar Tage vorher geregnet hat. Ich laufe hinaus und höre schon von weitem das Lachen der beiden Kinder. Sie sind nass und schwarz vom Schlamm. Als ich bei ihnen bin, jauchzt Marie: »Mama, Vögel, Quatsch machen.« Dabei bewegt sie ihre Arme rauf und runter und jedes Mal, wenn sie aus dem Pfützenwasser kommen, verspritzt sie voller Freude den Matsch auf sich und ihren Freund, der das Gleiche natürlich unter großem Einsatz mitmacht. Da es sehr heiß ist, hole ich einen Schlauch, um sie irgendwie draußen sauber zu bekommen. Auch hieraus macht sie ein Fest. Als Erstes ruft sie: »Warte, Schwarte!«, und freut sich riesig über den Schlauch. In ihrem Lieblingsbilderbuch haben sich Schweine zu einer Feier Kleidung auf ihre Körper gemalt, und als sie nach einem Regen alle verschmiert aussehen, spritzen sie sich mit einem Wasserschlauch gegenseitig die verwischte Farbe wieder ab. Während ich versuche, die beiden vorsichtig mit dem Schlauch vom Matsch zu befreien, springen sie herum, lachen und Marie ruft andauernd: »Warte, Schwarte!«
Sie war neugierig, lebensfroh, voller Staunen und für uns etwas ganz Besonderes. Nahm ich sie auf den Arm, lachte sie mich sofort an.
Marie und ich sind draußen unterwegs. In der Nähe raschelt trockenes Laub. Sie legt ihren Zeigefinger auf den Mund und zischt ein »Pssst!« als Leisezeichen von ihren Lippen. Dann hockt sie sich ganz still auf den Boden und wartet ab. Plötzlich kommt ein Vogel zum Vorschein und fliegt weg. Sie beobachtet andächtig und mit Freude, wie er wegflattert. »Hallo Vogel, flieg!«, ruft sie ihm noch nach. Ein Käfer ist fast jedes Mal ein Grund, sich zu freuen, oder gar eine Spinne, die sich beim Bau ihres Netzes beobachten lässt. Dann hat sie große, glänzende Augen und ruft vor Begeisterung: »Mama komm her, Spinne Netz!« Diese Art, wie sie es sagt, zeigt ihre Bewunderung für das neu Entdeckte. Man erkennt es an ihrer Betonung.
Es war einfach so, dass man sich ebenfalls freute, wenn sie ihre Entdeckungen mitteilte. Stets spürte man ihre Freude darüber.
Sie sah Dinge, die ich gar nicht mehr wahrnahm. Sah ich draußen einen Schmetterling auf der Wiese an uns vorbeiflattern, so nahm ich ihn im ganzen Bild dieser Sommerlandschaft wahr. In ihren Augen und in ihrem Gesichtsausdruck erkannte man unmittelbar, dass sie ihn für sich allein genau beobachtete. Mit ihren Blicken folgte sie seinem Flug und die Art, wie sie dabei strahlte, zeigte ihre Verwunderung über sein Aussehen und seine Art, sich im Flug fortzubewegen. In ihrem Gesicht war eine Freude über die willkürlichen Richtungsänderungen des Schmetterlings beim Fliegen zu erkennen. Wenn man sie beobachtete, hatte man ein ähnliches Gefühl wie beim Versteckspielen, das man von früher kennt. Indem man das andere gesuchte Kind plötzlich überraschte, freute man sich, weil man dieses plötzliche Entdecken vom anderen als völlig unerwartet empfand. Man lachte unwillkürlich beim Anschauen des anderen. Beobachtungen solcher Art sammelte ich oft, wenn wir draußen auf Wiesen oder im Wald unterwegs waren. Stets wunderte ich mich über ihre Art, alles, was sie umgab, mit Neugierde zu erkunden.
Wir gehen im Herbst nach einem verregneten Tag in den Wald, sie zeigt mir wieder, wie genau sie hinsieht. Egal welches Wetter, für sie ist es immer wichtig, jeden Tag rauszugehen. Unser Haus hat aber auch den idealen Platz, denn wenn wir hinten am Gartentürchen rausgehen, sind wir im Wald. Marie rennt immer vor mir her. Mit ihren Gummistiefeln springt sie in jede Pfütze. Ich beobachte sie und lächele über ihre Ausgelassenheit. Sie läuft gerade auf die nächste Pfütze zu, da fängt es an zu regnen. Diesmal springt sie nicht in die Regenpfütze. Auch ihre fröhlichen Rufe »Es regnet, es regnet!« verstummen. Als ich näher komme, hockt sie vor einer großen Pfütze und zeigt mit dem Finger, was sie meint: »Da!« Jetzt sehe ich es auch. Sie sieht die winzigen hochspringenden Wasserkronen, die auf der Ober fläche entstehen, wenn dicke Regentropfen aufprallen. Jetzt staune ich über sie. Was mich am meisten verwundert, ist ihre Ausdauer. Sie ist so fasziniert, dass sie mehrere Minuten dieses kleine Schauspiel auf der Pfütze beobachtet.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
»Mama.«
»Ja, mein Schatz.«
»Sterben Engel auch?«
»Nein. Wenn man einmal Engel ist, ist man für immer Engel.«
»Aber Mama, dann haben die kein Aua mehr. Man muss ja nur sterben, wenn man ganz viel Aua hat. Eben hatte ich starkes Aua. Werde ich jetzt ein Engel?«
»Marie, so schnell geht das nicht. Möchtest du denn gerne ein Engel sein?«
»Als Kinderengelchen kann ich fliegen.«
»Woher weißt du das?«
»Bei Oma Inge ist ein großes Bild mit Engeln, und die haben Flügel.«
»Ja, man sagt, die Engel kommen überall hin. Dann können sie bestimmt auch fliegen.«
»Mama, wenn ich bei den Kinderengelchen bin, kann ich ja auch zu dir und Papa fliegen. Ich komme doch dann überall hin.«
»Marie, mein Schatz, das weiß ich nicht. Das weiß keiner genau. Aber ich glaube, ja.«
»Aber dann ist es ja noch schöner als hier. Dann kann ich fliegen und habe kein Aua mehr. Und immer kann ich zu euch kommen. Immer wenn ich will.«
»Marie, ich glaube, wir können dich dann nicht sehen.« »Wieso, sehe ich dann anders aus?«
»Das weiß ich nicht. Aber irgendwie müssen Engel für uns Menschen durchsichtig sein. Ich habe noch nie einen gesehen.«
»Kann ich dann auch nicht mit dir sprechen?«
»Doch bestimmt. Nur nicht so, wie wir jetzt sprechen.« »Wie denn?«
»Ich denke, wenn Engel überall hinkommen, dann können sie auch alles verstehen. Sie brauchen nicht zu sprechen.«
»Na gut, wenn ich dann ein Engel bin, und du mich nicht sehen kannst, setzt sich immer ein Vogel vor dich hin. Dann weißt du, dass ich da bin. Mama, wenn du auch mal so starkes Aua bekommst, dann kommst du doch auch zu mir und wirst Engel und Papa auch. Ich finde es doch schöner, wenn ihr immer da seid.«
»Ach, Marie, schau mal, wie oft warst du gerne mit Tieren zusammen. Denke an das Schaf, dem du das Sprechen beibringen wolltest. Ich will dir damit nur sagen: Es hat oft Momente gegeben, wo du dich so über ein Tier gefreut hast, dass du da nicht immer nur an mich und Papa gedacht hast. Das wäre auch ganz schön langweilig.«
»Na gut, da ist es bestimmt schön. Aber, wenn ich wieder zu euch will, weil ihr ohne mich traurig seid, kann ich dann wieder ein kleines Mädchen werden?«
»Nein, Marie, das geht nicht. Einmal Engel, immer Engel. Ich verspreche dir, ich werde nicht traurig sein, damit es dir immer gut geht.«
»Mama, kannst du mich umarmen? Aber ganz vorsichtig, damit das Aua im Bauch und Knie nicht weh tut. Mama, wir lieben uns doch. Ich will doch lieber bei dir bleiben. Du musst mich dann nur oft trösten.«
Meine kleine Marie lag damals, fünf Tage vor Ihrem Tod, auf dem Wohnzimmersofa in Daunenkissen gehüllt direkt vor dem großen Fenster zum Garten. Sie wollte dort sein, damit sie »den Himmel und die Wolken« sehen konnte. Sie hatte gerade ihre starken Schmerzmittel genommen und wurde für die Zeit, in der sie wirkten, in Ruhe gelassen von dem »Aua im Bauch und im Knie«. Ganz ernst sah sie mich mit ihren blauen Augen an, und wir redeten über Engel und ein Leben nach dem Tod, wie andere Eltern mit ihren Kindern über einen Ausflug am nächsten Tag sprechen. Aber Marie wusste nicht, dass sie von diesem Ausflug zu den Engeln nicht mehr zurückkehren konnte. Wie sollten wir auch einem kleinen Kind den Tod erklären.
Ihre Augen strahlten während unseres Gesprächs. Die Vorstellung, dass sie als Engel fliegen konnte, machte sie glücklich. Wie oft hatte sie alles, was flog oder flatterte, mit ihren staunenden Augen beobachtet. Selbst jetzt, liegend am Fenster, huschte oft ein ganz leichtes Lächeln über ihr Gesicht, wenn sie trotz Schmerzattacken aus dem Fenster sah und einen vorüberfliegenden Vogel bemerkte. Schaute ich dann in ihre Augen, so hatte ich das Gefühl, sie fliegt ein wenig mit dem Vogel.
Kurz nachdem wir über ein Leben als Engel gesprochen hatten, schlief sie jetzt ohne Schmerzen mit diesem Anflug von Lächeln und ihrem Händchen in meiner Hand ein. Ich blieb sitzen und konnte nicht weggehen. Sie hatte ihr warmes Händchen in meine Hand gelegt, und ich betrachtete sie, wie so oft in den letzten Tagen vor ihrem Tod, während sie schlief. Mein ständiger Begleiter war die Angst, dass sie nicht mehr aufwachen würde, denn schließlich wussten wir von den Ärzten, dass sie nur noch wenige Tage leben würde.
An ihrem letzten Abend hatte sie vor Schmerzen geweint und war dann endlich eingeschlafen, nachdem ich ihr eine weitere Dosis ihres Schmerzmittels gegeben hatte. Ich legte sie vorsichtig und langsam auf meinen Bauch. Aber ich schaffte es nicht, ohne sie zu stören. Ein kurzes Stöhnen unterbrach ihren tiefen, traumlosen Schlaf. Bei Schmerzen war diese Lage für sie am besten. Sie legte ihren Kopf auf meine Brust, und nach einer kurzen Zeit, die die Wirkung der Medikamente brauchte, schlief sie wieder ein. Jetzt ging es nur noch darum, sie schmerzfrei zu halten. Meine Angst vor dem Tod, der sie vielleicht im Schlaf holen konnte, war verschwunden, denn bei allem, was sie in den letzten beiden Tagen erleiden musste, erschien mir ein Ende wie eine Erlösung. Es war nur noch ein Dasein in Schmerzen oder einem tiefen Dahindämmern, hervorgerufen durch starke Medikamente.
Wachend über ihren Atem, konnte ich nicht schlafen. Als ob ich geahnt hätte, dass es in dieser Nacht passieren würde. Um sie nicht aus ihrem schmerzfreien Schlaf zu holen, durfte ich mich nicht bewegen und ließ meine Tränen und Nase auf das Kopfkissen laufen. Wach werden hieß für Marie: Schmerzen ertragen zu müssen und nicht zu wissen, wie sie sich hinlegen sollte, denn alles würde ihr wehtun.
Während sie so in meinen Armen auf mir liegt und ich auf ihren leisen Atem höre, frage ich mich: Warum hatte das Leben keine Achtung und Rücksichtnahme vor ihr gezeigt, obwohl sie voller Achtung und Freude allem Lebendigen gegenüber war. Dann sehe ich ein Bild aus der Vergangenheit vor mir:
Ich schlage Marie vor, einen kleinen Teil unseres Gartens als Gemüsegarten anzulegen. Zuerst müssen wir den Boden vorbereiten und umgraben. Ich teile ihr einen Teil der umzugrabenden Fläche zu und sage ihr: »Das ist dein eigener Garten, für den du selbst zuständig bist.« Dann gebe ich ihr eine kleine Kinderschaufel. Während ich beim Umgraben der anderen Fläche bin, sehe ich, wie sie vor ihrer ersten umgegrabenen Schaufel sitzt und weint. Ich laufe bestürzt zu ihr und frage sie: »Marie, was ist?« Sie weint noch heftiger und stößt verzweifelt hervor: »Ich habe alles kaputt gemacht, der arme Käfer und Regenwurm.« Nach näherem Hinsehen weiß ich, was sie meint. Sie hat den Lebensraum des Käfers und des Regenwurms in ihren Augen zerstört. Also schlage ich vor, Krabbel- und Kriechtiere, die sie beim Umbuddeln entdeckt, in ihrem Eimer zu sammeln und an eine andere Stelle des Gartens zu bringen. Das hilft. Sie sammelt mit großer Behutsamkeit Käfer und Regenwürmer in ihrem Eimer. Nach jedem Schaufeln zieht sie mit ihrem Eimerchen los und setzt die Tierchen woanders aus. Dabei spricht sie mit ihnen und freut sich, wenn sie beim Beobachten sieht, dass sie an der neuen Stelle im Boden verschwinden. Das Umgraben dauert zwar mehrere Tage, denn auch ich sammle nach jedem Spatenstich alles ein, was sich bewegt. Nach einer Woche haben wir es aber auf diese Art und Weise geschafft, den kleinen Gemüsegarten umzugraben. Dieser Gemüsegarten war später stets eine Quelle der Freude, wenn wir vormittags das Gemüse zum Mittagessen ernteten. Sie freute sich über jeden Kohlrabi und jede Möhre, die sie eigenhändig ernten konnte.
Ihre Art, alles intensiv wahrzunehmen, hat mir gezeigt, was Leben heißt. Ich, die mehr als das Zehnfache älter war, fing durch sie an, die Natur neu zu sehen. Sie entdeckte so viel in ihren genauen Beobachtungen, dass mir einmal der Gedanke kam: Wie soll ein Menschenleben von vielleicht siebzig oder achtzig Jahren ausreichen, die ganze Welt auf diese intensive Art zu erkunden. Damals wusste ich noch nicht, dass sie die Gelegenheit dazu nicht bekommen würde. Heute weiß ich, sie entdeckte in ihrem kurzen Leben mehr als viele Menschen, die das Dreißigfache an Zeit zur Verfügung haben. Ihre strahlenden, begeisterten Augen beim Anblick eines Käfers hatte sie auch, wenn sie andere Menschen ansah. Dadurch wurde sie von allen mit der gleichen Freude angestrahlt. So fühlte sie sich von allen Menschen, mit denen sie in ihrem Leben zu tun hatte, angenommen. Das Ergebnis war, dass sie voller Neugierde alle Kinder, Erwachsenen, Tiere und Pflanzen so liebte, wie sie sich von allen liebend getragen fühlte. Diese Lebensfreude schien ihr angeboren zu sein. Warum stattete die Natur einen Menschen so reich aus, um ihm dann die Möglichkeit zu nehmen, die Reichtümer zu entdecken? Was war es für eine sinnlose Verschwendung und Ungerechtigkeit? Oder war es Sinn des Ganzen, jedem die Zeit zu geben, die er brauchte? Vielleicht war ihr Korb gefüllt mit den Früchten der Liebe zum Leben. Andere brauchen eben länger beim Suchen und Finden. Aber was ist denn gegen eine bis in alle Ewigkeit andauernde Freude am Sammeln zu sagen?
An jedem Tag passierten so viele Dinge, die uns ihre Lebensfreude spüren ließen. Allein, dass sie bei fast jedem Vorschlag von mir rief: »Oh ja, das ist eine gute Idee. Das machen wir«, drückte aus, wie intensiv sie bei allem dabei war. Wenn sie etwas besonders gut fand, warf sie immer ihre Arme hoch und zitterte sogar vor Freude ein wenig. Es waren ganz normale Sachen, die wir unternahmen.
Im Sommer schlage ich ihr vor, mir abends beim Gießen im Garten zu helfen. Sie ist begeistert und hält selbst den Schlauch. Da die Sonne noch am Himmel steht und sie den Schlauch hoch hält, weil sie sich über das heruntersprühende Wasser freut, entsteht ein Regenbogen. Sie entdeckt die Farben sofort und ruft: »Mama, Papa, kommt schnell. Ich kann zaubern. Ich habe Farben gemalt.« Darüber freut sie sich so sehr, dass sie abends nicht einschlafen kann. Immer wieder erzählt sie von den schönen gezauberten, bunten Farben am Himmel. Sie hat vorher noch nie einen Regenbogen gesehen. Ich zeige ihr ein Bild mit einem Regenbogen, das ich in einem Buch finde. Für sie ist es eine große Zauberei. Auch am nächsten Morgen spricht sie zuerst über die Farben am Himmel.
Eigentlich musste nichts Besonderes passieren. Sie war immer für alles offen. Wenn ich sie beobachtete, hatte ich ständig das Gefühl, sie schaut sich alles so genau an, weil sie immer etwas entdecken will. Hat sie dann etwas entdeckt, ist die Freude bei ihr so groß, dass jeder in ihrer Nähe es spürt. Tiere hatte sie besonders gern.
Ich gehe mit ihr zum ersten Mal an einen nahe gelegenen kleinen See, sie lacht und freut sich über die Enten. Sie läuft ans Ufer und wirft ein kleines Stück Brot hin. Dann kommt sie schnell zu mir zurück und beobachtet, wie mehrere Enten zum Brot watscheln. Darüber amüsiert sie sich so sehr, dass sie aus dem Lachen gar nicht mehr herauskommt. »Mama, guck mal, wie die laufen! Die ist die Schnellste. Ja, sie hat es.« Dann läuft sie wieder hin, um das nächste Stückchen hinzulegen. Dabei plustert sie sich vor Lachen: »Mama, sie laufen alle weg. Ihr Enten, hier, ich habe Brot.« Und wieder zurück zu mir. Wieder diese Freude, wenn eine Ente das Stück ergattern kann. So geht es, bis die Tüte mit dem alten Brot leer ist. Noch nie habe ich ein Kind beim Entenfüttern so viel lachen gehört. Für sie ist es normal. Sie lässt sich einfach ganz auf jede Situation ein, und so kann sie eben auch alles voll genießen. Natürlich helfen ihr dabei noch ihre Neugierde und ihre besondere Fähigkeit, über alles neu Entdeckte zu staunen.
Plötzlich werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Maries Atem hatte aufgehört. Ich hörte nur noch ein kurzes Stöhnen. Dann spürte ich eine warme Flüssigkeit auf meinem Hals. Danach Stille. Es war passiert. Ihr Leben hatte aufgehört. Ich drückte sie fest an mich und versuchte, dies zu begreifen. Unsere Tochter war mit nur vierzig Monaten an ihrer Krebserkrankung gestorben. Ihr Leid hatte ein Ende.
»Warte, Schwarte!«
Marie war ein Wunschkind. Wir konnten damals die Geburt kaum erwarten. Dann wurde sie durch Kaiserschnitt mit einem Steißbeinteratom, einer gutartigen Geschwulst am Steißbein, geboren. Sie musste unmittelbar nach der Geburt operiert werden. Es verlief alles einigermaßen gut und nach vier Wochen konnten wir sie endlich nach Hause holen. Sie hatte schon als Baby an allem Interesse und Freude. Mit Begeisterung erfasste sie alles neugierig und strahlend aus ihrem Kinderwagen heraus.
In der ganzen Familie wurde sie liebend aufgenommen und verwöhnt. Ich ging abends zufrieden schlafen, wenn ich das Gefühl hatte, dass Marie den ganzen Tag positiv alles Neue mit Freude wahrgenommen hatte. Sie war rundum glücklich mit uns und entwickelte sich prächtig. Die Operation unmittelbar nach ihrer Geburt hatten wir vergessen. Das ihr entfernte Teratom war gutartig gewesen und damit für immer verschwunden. Nur eine alle drei Monate stattfindende Kontrolluntersuchung während ihres ersten Lebensjahres erinnerte uns noch daran. Als sie ein Jahr alt war, brachten wir sie in einer privaten Krabbelgruppe regelmäßig mit anderen Kindern zusammen. Auch im Umgang mit ihnen war Marie immer fröhlich und spielte mit ihnen. Nie schubste oder ärgerte sie ein anderes Kind. Ihre liebe Art, mit anderen umzugehen, fiel allen auf, die sie kannten. Wir hatten eine sehr schöne Zeit zusammen.
Ich erinnere mich an eine Situation im Sommer. Marie ist ein Jahr alt. Wir frühstücken wie immer auf der Terrasse in unserem Garten. Plötzlich strahlt Marie wieder über das ganze Gesicht, zeigt mit dem Finger auf unsere große Vogel tränke und ruft lachend: »Da Vogel, Quatsch!« Das Wort Quatsch hat sie von mir schon mehrmals gehört. Immer wenn sie mit größter Lust Schränke ausräumt oder Toilettenpapier abwickelt, also all die Dinge anstellt, die das Leben mit einjährigen Kindern anstrengend machen, sage ich zu ihr: »Marie, hör auf mit dem Quatsch!« Die Amsel badet sich in der Vogeltränke, schlägt immer wieder die Flügel im Wasser und spritzt dabei. Bisher hat Marie nur mit großer Freude beobachtet, wie Vögel aus der Tränke das Wasser mit dem Schnabel aufnehmen. Also ist es Quatsch, was die Amsel dort tut. Da aber »Quatsch machen« ihr sehr viel Spaß macht, sehe ich nachmittags vom Fenster aus, wie sie mit ihrem Freund von gegenüber ganz hinten im Garten in einer großen Pfütze sitzt, die dort in einer Kuhle fast immer steht, wenn es ein paar Tage vorher geregnet hat. Ich laufe hinaus und höre schon von weitem das Lachen der beiden Kinder. Sie sind nass und schwarz vom Schlamm. Als ich bei ihnen bin, jauchzt Marie: »Mama, Vögel, Quatsch machen.« Dabei bewegt sie ihre Arme rauf und runter und jedes Mal, wenn sie aus dem Pfützenwasser kommen, verspritzt sie voller Freude den Matsch auf sich und ihren Freund, der das Gleiche natürlich unter großem Einsatz mitmacht. Da es sehr heiß ist, hole ich einen Schlauch, um sie irgendwie draußen sauber zu bekommen. Auch hieraus macht sie ein Fest. Als Erstes ruft sie: »Warte, Schwarte!«, und freut sich riesig über den Schlauch. In ihrem Lieblingsbilderbuch haben sich Schweine zu einer Feier Kleidung auf ihre Körper gemalt, und als sie nach einem Regen alle verschmiert aussehen, spritzen sie sich mit einem Wasserschlauch gegenseitig die verwischte Farbe wieder ab. Während ich versuche, die beiden vorsichtig mit dem Schlauch vom Matsch zu befreien, springen sie herum, lachen und Marie ruft andauernd: »Warte, Schwarte!«
Sie war neugierig, lebensfroh, voller Staunen und für uns etwas ganz Besonderes. Nahm ich sie auf den Arm, lachte sie mich sofort an.
Marie und ich sind draußen unterwegs. In der Nähe raschelt trockenes Laub. Sie legt ihren Zeigefinger auf den Mund und zischt ein »Pssst!« als Leisezeichen von ihren Lippen. Dann hockt sie sich ganz still auf den Boden und wartet ab. Plötzlich kommt ein Vogel zum Vorschein und fliegt weg. Sie beobachtet andächtig und mit Freude, wie er wegflattert. »Hallo Vogel, flieg!«, ruft sie ihm noch nach. Ein Käfer ist fast jedes Mal ein Grund, sich zu freuen, oder gar eine Spinne, die sich beim Bau ihres Netzes beobachten lässt. Dann hat sie große, glänzende Augen und ruft vor Begeisterung: »Mama komm her, Spinne Netz!« Diese Art, wie sie es sagt, zeigt ihre Bewunderung für das neu Entdeckte. Man erkennt es an ihrer Betonung.
Es war einfach so, dass man sich ebenfalls freute, wenn sie ihre Entdeckungen mitteilte. Stets spürte man ihre Freude darüber.
Sie sah Dinge, die ich gar nicht mehr wahrnahm. Sah ich draußen einen Schmetterling auf der Wiese an uns vorbeiflattern, so nahm ich ihn im ganzen Bild dieser Sommerlandschaft wahr. In ihren Augen und in ihrem Gesichtsausdruck erkannte man unmittelbar, dass sie ihn für sich allein genau beobachtete. Mit ihren Blicken folgte sie seinem Flug und die Art, wie sie dabei strahlte, zeigte ihre Verwunderung über sein Aussehen und seine Art, sich im Flug fortzubewegen. In ihrem Gesicht war eine Freude über die willkürlichen Richtungsänderungen des Schmetterlings beim Fliegen zu erkennen. Wenn man sie beobachtete, hatte man ein ähnliches Gefühl wie beim Versteckspielen, das man von früher kennt. Indem man das andere gesuchte Kind plötzlich überraschte, freute man sich, weil man dieses plötzliche Entdecken vom anderen als völlig unerwartet empfand. Man lachte unwillkürlich beim Anschauen des anderen. Beobachtungen solcher Art sammelte ich oft, wenn wir draußen auf Wiesen oder im Wald unterwegs waren. Stets wunderte ich mich über ihre Art, alles, was sie umgab, mit Neugierde zu erkunden.
Wir gehen im Herbst nach einem verregneten Tag in den Wald, sie zeigt mir wieder, wie genau sie hinsieht. Egal welches Wetter, für sie ist es immer wichtig, jeden Tag rauszugehen. Unser Haus hat aber auch den idealen Platz, denn wenn wir hinten am Gartentürchen rausgehen, sind wir im Wald. Marie rennt immer vor mir her. Mit ihren Gummistiefeln springt sie in jede Pfütze. Ich beobachte sie und lächele über ihre Ausgelassenheit. Sie läuft gerade auf die nächste Pfütze zu, da fängt es an zu regnen. Diesmal springt sie nicht in die Regenpfütze. Auch ihre fröhlichen Rufe »Es regnet, es regnet!« verstummen. Als ich näher komme, hockt sie vor einer großen Pfütze und zeigt mit dem Finger, was sie meint: »Da!« Jetzt sehe ich es auch. Sie sieht die winzigen hochspringenden Wasserkronen, die auf der Ober fläche entstehen, wenn dicke Regentropfen aufprallen. Jetzt staune ich über sie. Was mich am meisten verwundert, ist ihre Ausdauer. Sie ist so fasziniert, dass sie mehrere Minuten dieses kleine Schauspiel auf der Pfütze beobachtet.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von Katharina Bach
Katharina Bach, geboren 1953, studierte Betriebswirtschaftslehre und Grundschullehramt. Seit ihrem zweiten Staatsexamen im Jahre 1984 arbeitet sie mit einer kurzen Unterbrechung als Lehrerin. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Köln. Als Mutter, die ihre Tochter im Kampf gegen den Krebs verloren hat, erzählt sie die eigene Geschichte.
Bibliographische Angaben
- Autor: Katharina Bach
- 192 Seiten, Maße: 13 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868006621
- ISBN-13: 9783868006629
Kommentare zu "Marie - Wenn sie lachte, hatte ich Hoffnung"
0 Gebrauchte Artikel zu „Marie - Wenn sie lachte, hatte ich Hoffnung“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 24Schreiben Sie einen Kommentar zu "Marie - Wenn sie lachte, hatte ich Hoffnung".
Kommentar verfassen