Mausetot
Ein neuer Fall für die leidenschaftliche Tiersitterin Dixie Hemingway ("Nur die Katze kennt den Mörder"): In der Tierarzt-Praxis lernt sie das Mädchen Jaz kennen - und spürt sofort, dass mit der etwas nicht stimmt. Kurz darauf ist Jaz...
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Produktinformationen zu „Mausetot “
Ein neuer Fall für die leidenschaftliche Tiersitterin Dixie Hemingway ("Nur die Katze kennt den Mörder"): In der Tierarzt-Praxis lernt sie das Mädchen Jaz kennen - und spürt sofort, dass mit der etwas nicht stimmt. Kurz darauf ist Jaz verschwunden, und Dixie begibt sich auf eine gefährliche Suchaktion.
Lese-Probe zu „Mausetot “
Mausetot von Blaize ClementAus dem Amerikanischen von Christian Kennerknecht
1
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Hin und wieder trifft man Menschen, die einem unmittelbar sympathisch sind, auch wenn alles darauf hinweist, dass sie Ärger bedeuten. Jaz war so ein Mensch. Als ich dem Mädchen zum ersten Mal begegnete, rannte es hysterisch schluchzend mit einem in ein Handtuch gewickelten Bündel in den Armen über den Parkplatz von Dr. Layton. Ein ziemlich großer Mann folgte ihr zögerlich und mit schweren Schritten. Sie sah aus wie ungefähr zwölf oder dreizehn und hatte etwas von der schlaksigen Unbeholfenheit junger Mädchen. Ihre kleinen Brüste zeichneten sich pflaumengroß unter einem elastischen Schlauchtop ab. Sie hatte kakaofarbene Haut, lange, schwarz gelockte Haare, und ihre ausgefransten Shorts machten den Eindruck, als würde sie auch darin schlafen. Der Mann war um die fünfzig, mit blassen, nicht mehr ganz straffen Wangen und angegrauten Haaren, die weniger nach Friseur denn nach Rasenmäher aussahen. Er trug einen marineblauen Anzug und eine dazu passende, etwas hellere Krawatte, beides viel zu glatt und sicher aus reinem Polyester. Mit seinen zurückgezogenen Schultern und dem eng anliegenden bügelfreien Hemd wirkte er wie ein Schuldirektor, dem zu spät klar geworden war, dass er Kinder hasste. Ich heiße übrigens Dixie Hemingway, nicht verwandt mit Sie-wissen-schon, und ich bin Tiersitterin auf Siesta Key, einer gut zwölf Kilometer langen Insel vor Sarasota, Florida. Früher war ich mal Deputy am Sheriff 's Department von Sarasota County, aber vor nun fast vier Jahren passierte etwas, das mir beinahe den Verstand geraubt hätte, und ich bin mit dem Segen des Departments ausgeschieden. Ein bisschen neben der Spur bin ich noch immer, aber nicht mehr als jeder andere auch. Wie sagt man doch so schön: Leute, die einem normal vorkommen, kennt man nur noch nicht richtig. Mittlerweile funktioniere ich also wieder einigermaßen und arbeite mit viel Freude als selbstständige Tiersitterin, was mir das Gefühl gibt, gebraucht zu werden. Ich betreue überwiegend Katzen, auch Hunde, und ab und an mal ein Kaninchen, einen Hamster oder Vögel, aber keine Schlangen. Die überlasse ich meinen Kollegen. Nicht, dass ich eine Schlangenphobie hätte, jedenfalls keine Nennenswerte. Mir schaudert nur bei dem Gedanken, lebende kleine Geschöpfe in den offenen Schlund von Schlangen zu werfen. An jenem Morgen wollte ich Big Bubba von der Tierärztin abholen. Big Bubba ist ein afrikanischer Graupapagei, der mir nicht ganz auf der Höhe schien, als ich tags zuvor bei ihm vorbeigeschaut hatte. Wenn ein Vogel niest und lethargisch auf der Stange sitzt, gehe ich kein Risiko ein. Wie sich herausstellte, hatte Big Bubba nur einen schlechten Tag gehabt. Dr. Layton hatte mich am Abend zuvor angerufen, um mir zu sagen, dass ich ihn am nächsten Morgen wieder abholen könne, weshalb ich also gekommen war, um ihn nach Hause zu bringen. Das heulende Mädchen und der Mann betraten vor mir die Praxis. An der Rezeption übernahm eine von Dr. Laytons Helferinnen das Bündel aus dem Arm des Mädchens, während ihre Kollegin vom Empfang dem Mädchen die Schulter tätschelte und beruhigend auf es einredete. Die Kleine weinte so sehr, dass man kaum verstand, was sie sagte. Ich verstand lediglich: »Er hat es überfahren!« Die beiden Praxishelferinnen sahen den Mann vorwurfsvoll an, und er seufzte verdrießlich. »Ist doch nur ein Kaninchen«, sagte er. »Das Tier ist mir vors Auto gelaufen. Es war ein Unfall.«
Das Mädchen drehte sich um und schrie ihn an: »Aber es ist trotzdem ein Lebewesen, vielleicht nur ein Kaninchen, aber trotzdem ein Lebewesen!« Nun sah ich ihr Gesicht. Ihre Augen waren älter, als ich gedacht hätte, und von einem erstaunlich blassen Aquamarinblau. Zusammen mit dem dunklen Teint und den wilden schwarzen Locken ließen die ungewöhnlich blauen Augen auf die verschiedensten Vorfahren schließen, ein Mischmasch von Genen, der Segen oder Fluch sein kann. Ihre trotzig verzweifelte Art, das Kinn zu recken, brachte mich zu der Vermutung, dass es in ihrem Fall kein Segen war. Alles an ihr schrie: Ich bin jung, angepisst, und ich fühle mich scheiße. Der Mann sagte: »Okay, okay«, und blickte sich nervös um. Dr. Layton kam aus dem hinteren Praxisbereich hervorgewuselt, eine rundliche Afroamerikanerin ungefähr in meinem Alter, nämlich dreiunddreißig, und mit der Gabe, einfühlsam und bestimmend zugleich sein zu können. Mit einem raschen Blick auf das verletzte Kaninchen, das verdächtig leblos unter seiner Decke lag, wandte sie sich unverzüglich an den Mann. »Es ist Ihnen vors Auto gelaufen?« »Ein Unfall. Ich war nicht schneller als dreißig. Von Rasen kann keine Rede sein.« Das Mädchen wirkte wie kurz vor dem Kollaps. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, und ihr Schluchzen ließ den ganzen Körper erzittern. Die beiden Helferinnen sahen aus, als würden sie aus reiner Sympathie gleich mitheulen, und sogar die Menschen und Tiere im Wartebereich reckten die Hälse nach ihr. »Wie heißt du denn, Liebes?«, fragte Dr. Layton. Sie erwiderte: »Jaz.« Im selben Moment sagte der Mann: »Rosemary.« Das Mädchen funkelte ihn feindselig an, während Dr. Layton ihren Blick auf ihn richtete.
»Sind Sie der Vater des Mädchens?« Eine Spur zu nachdrücklich sagte er: »Ihr Stiefvater.« Dr. Layton legte dem Mädchen beruhigend die Hand auf die Schulter. »Nimm kurz Platz, Jaz. Ich seh mir das Häschen mal an und sag dir dann, was los ist.« Zu mir sagte sie: »Dixie, könnten Sie bitte ein paar Minuten warten? Ich will mit Ihnen reden.« Ich nickte wortlos und folgte den beiden in den Wartebereich. Er hielt sie demonstrativ mit einer Hand am Oberarm gepackt, während die Kleine weiterhin von Schluchzern geschüttelt wurde. Als sie die Stuhlkante an ihren Beinen spürte, sank sie darauf nieder und zog die Knie vors Gesicht. Dabei weinte sie, als hätte sie ihren besten Freund verloren. Ich nahm ihr gegenüber Platz. Die verstreut im Raum sitzenden Leute und ihre Tiere sahen sie mitfühlend an. Neben ihr, auf dem übernächsten Stuhl, saß Hetty Soames mit einem neuen Welpen. Sie winkte mir von einem kurzen Lächeln begleitet diskret zu, wie jemand, der auf einer Beerdigung einen Bekannten trifft, und widmete dann ihre Aufmerksamkeit wieder dem weinenden Mädchen. Wäre Hetty nicht damit beschäftigt, stets neue Hilfshunde heranzuziehen, könnte sie für Eileen Fisher modeln. Sie scheint nahezu alterslos, eine engagierte Dame mit glattem, silbergrauem Haar, höchst elegant in ihrer weiten Leinenhose und einer Tunika, die an jeder anderen Frau wie ein Schlafanzugoberteil gewirkt hätte. Der neue Welpe an ihrer Seite war der jüngste einer Reihe von Hunden, die sie für »Southeastern Guide Dogs« heranzieht. Zukünftige Hilfshunde großzuziehen ist etwas Besonderes. Wie andere Welpen brauchen auch sie Liebe und Aufmerksamkeit, aber sie müssen anders sozialisiert werden. Diese kleinen Racker haben sich eines Tages darauf zu konzentrieren, einzig und allein ihren Job zu machen, ohne sich von Dingen ablenken zu lassen, die andere Hunde aus Neugier genauer untersuchen würden. Damit das gelingt, sind Tausende von Stunden geduldiger Arbeit erforderlich, ganz zu schweigen von der Herausforderung, einem Hund so viel Liebe zu schenken und ihn dann in fremde Hände abzugeben. Hetty macht das seit vielen Jahren, und ihre Trauer, wenn sie einen jungen Hund abgibt, erkennt man nur daran, dass sich ihr Blick für ein paar Wochen verschleiert, jedoch nur, um sofort wieder zu erstrahlen, sobald sie einen neuen Welpen zu sich nimmt. Das verzweifelte Mädchen schien Hetty offenbar zu beschäftigen, ebenso wie ihren neuen Welpen, denn der drei Monate alte Labrador-Schäferhund-Mischling spitzte ständig die Ohren und beobachtete das Mädchen eindringlich. Wie wir alle. Jaz wirkte auf mich wie eine dieser armen Kreaturen in Tierheimen, die einen so herzzerreißend ansehen, die man aber wohlweislich lieber nicht mit nach Hause nimmt. Sie saß noch immer zusammengekauert auf dem Stuhl, und man konnte sehen, dass die Goldflitter von ihren grünen Flip- Flops fast alle abgegangen waren. Ihre Zehennägel waren schwarz lackiert, und an einigen Zehen trug sie goldene und silberne Ringe. Die Fußgelenke waren amateurhaft mit kleinen Blütenranken tätowiert, an der Außenseite des rechten Gelenks jedoch prangte ein richtig gut gemachtes Tattoo in Form eines Dolchs. Hätte ich mich in ihrem Alter tätowieren lassen, meine Großmutter hätte das Ding eigenhändig mit einem Sandstrahler entfernt. Währenddessen machte der Mann irgendwie verlegen ständig pscht, pscht, als wäre ihm die ganze Situation peinlich. Verängstigte Kinder rufen bei Erwachsenen dieselbe Reaktion hervor wie ein Haustier, das in die Wohnung macht - entweder sie behalten die Geduld, oder aber sie rasten komplett aus. Da keiner der Anwesenden etwas unternahm, hatte Hettys kleiner Welpe offenbar beschlossen, selbst einzuschreiten. Er entwischte von Frauchens Seite, stellte sich auf die Hinterbeine und strich mit der Pfote über die Zehen des Mädchens. Sie nahm die Hände vom Gesicht, sah zu ihm hinunter und lachte heiser. Hetty richtete sich erschrocken auf, doch das Mädchen beugte sich nach unten und nahm den Welpen auf den Arm, der unverzüglich begann, ihr die Tränen von den Wangen zu lecken und sich so dicht wie möglich anzuschmiegen. Sie kicherte und gluckste, und es ging ein kollektives Aufatmen durch die Runde. So schlecht stand es also nicht um Jaz. Sie konnte immerhin noch lachen und war offen genug, sich diese liebevolle Geste gefallen zu lassen. Ich glaube, intuitiv hatten wir alle befürchtet, dass dem nicht so wäre. Hetty sagte: »Anscheinend hast du einen neuen Freund gefunden. Er heißt Ben.« Wie zur Bestätigung gab Ben Jaz einen feuchten Kuss auf die Nasenspitze, was sie erneut zum Glucksen brachte. In dem Moment öffnete sich die Tür von einem der Behandlungszimmer, und Dr. Layton kam auf das Mädchen zu. »Tut mir leid, Jaz. Wir konnten nichts mehr für das Kaninchen tun. Es war vermutlich sofort tot und hat nicht mehr gelitten.« Das sagen sie immer. Mir haben Sie das auch gesagt, als Todd und Christy ums Leben kamen. Ich wusste nie so recht, ob ich ihnen glauben konnte, und ich sah sofort, dass auch Jaz sich keinesfalls sicher war, ob sie Dr. Layton glauben konnte. Sie drückte Ben an sich, holte tief Luft und nickte. »Okay.« Beinahe im selben Moment stand der Mann auf und zückte eine Geldbörse aus seiner Gesäßtasche. »Wie viel bin ich Ihnen schuldig?« »Ich bitte Sie. Nichts«, sagte Dr. Layton. Als sie sich umwandte, ertönte eine laute Stimme aus dem hinteren Praxisbereich. »Haltet den Kerl!«
Der Mann drehte sich blitzschnell um und griff mit der rechten Hand links unter sein Jackett. Instinktiv fiel mir ein, was ich in meiner Polizeiausbildung gelernt hatte. Ich sprang hoch und streckte den Arm zur Seite, mit der Handfläche nach vorne wie ein Verkehrspolizist. »Hey, langsam! Lassen Sie das hübsch sein!« Die Situation war brenzlig, Dr. Layton jedoch sagte beschwichtigend: »War doch nur ein Vogel. Ein afrikanischer Graupapagei.« Wie auf Kommando erschien nun Dr. Laytons Helferin mit Big Bubba in einem meiner Reisekäfige. Big Bubba hasste kleine Käfige, was ihn vielleicht dazu brachte, den Kopf in meine Richtung zu drehen und abermals zu blaffen: »Haltet den Kerl!« Peinlich berührt ergriff der Mann die Hand des Mädchens und sagte: »Komm, Rosemary.« Jaz und Ben sahen einander traurig an, was Hetty wohl zu einem Schritt veranlasste, der mich staunen ließ. Sie stand auf, nahm Ben wieder zu sich und sagte zu Jaz: »Ich bräuchte jemanden, der mir ab und zu mit dem Welpen hilft. Nur ein paar Stunden die Woche. Viel zahlen kann ich nicht, aber du musst auch nicht viel tun, und ich glaube, dir würde es gefallen.« Derart geflunkert hatte Hetty Soames wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben noch nicht. Es gab sicher viel zu tun mit Ben, aber sie hätte nie Hilfe gebraucht. Sie hatte schlicht und einfach Gefallen an dem Mädchen gefunden und wollte ihm helfen, weil sie ahnte, dass es ihm aus irgendeinem Grund nicht gut ging. Jaz wandte sich an ihren Stiefvater, der sagte: »Dazu ist sie nicht in der Lage.« »Doch, bin ich wohl.« Ich unterdrückte ein Grinsen. Jeder, der Hetty kennt, weiß, dass sie meistens auch erreicht, was sie sich in den Kopf gesetzt hat. Spätestens in einer Stunde würde sie die Kleine bei sich zu Hause haben. Dr. Layton schien derselben Meinung zu sein. Mit entspannterer Miene als vorhin winkte sie mich zur Rezeption, wo mich Big Bubba in seinem Reisekäfig erwartete. Ich warf noch schnell einen Blick über die Schulter zurück zu Jaz und ihrem Stiefvater. Beide Hände in den Hosentaschen, stierte er mit einem genervten Gesichtsausdruck zur Decke. Jaz war neben Ben in die Hocke gegangen und streichelte ihn, während sie mit Hetty sprach. Dr. Layton sagte: »Es fand sich eine leicht erhöhte Anzahl von Eosinophilen in Big Bubbas Luftröhrenabstrich, wie bei uns allen wohl eine Reaktion auf die Algenblüte. Behalten Sie ihn in der Wohnung, bis es vorüber ist. Falls es schlechter wird, kann ich ein Antihistaminikum verabreichen, aber ich setze lieber darauf, das Allergen auszuschalten.« Kein Wunder. Die »rote Flut« also wieder mal, eine explosionsartige Vermehrung von Mikroalgen, Karenia brevis genannt. Egal wie das widerliche Zeug heißt, es verursacht Atemwegsreizungen und tränende Augen bei Mensch und Tier. Zur Algenblüte kommt es bei uns fast jeden September, wenn die golfseitigen Winde auf West drehen, aber dieses Jahr waren wir einen Monat früher dran. Ich versprach Dr. Layton, Big Bubba in der nächsten Zeit im Haus zu behalten, und verließ mit ihm die Praxis. Ich glaube nicht, dass Hetty, Jaz oder der Mann mein Weggehen bemerkten. Dazu waren sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Im Nachhinein erinnerte ich mich noch oft an diese kurze Begegnung in Dr. Laytons Wartezimmer und fragte mich, ob es eine Möglichkeit gegeben hätte, die heranrollende Gefahr aufzuhalten. Zu jenem Zeitpunkt wusste ich lediglich, dass ein Mädchen, das sich Jaz nannte und in Wirklichkeit Rosemary hieß, zutiefst unglücklich war, dass die Nerven ihres Stiefvaters blank lagen und dass er ein Schulterhalfter trug.
2
Ich verließ Dr. Laytons Praxis mit Big Bubbas Reisekäfig, den ich mit einem Tuch abgedeckt hatte und zurrte ihn auf dem Rücksitz meines Bronco fest. Die Sonne stand flach über dem Horizont und verlieh der Luft in diesen ersten Augusttagen ein leichtes Flirren; das üppige Grün und die vielen Blumen sahen dadurch noch schöner aus als ob man durch einen dünnen Schleier blickt, der die kleinen Unzulänglichkeiten der Welt verbirgt. Siesta Key ist eine halbtropische Insel, und entsprechend grün und vielfarbig gestaltet sich unsere Landschaft. Die Pflanzen wachsen in den sandigen Böden entgegen jeder Erwartung wie verrückt, und die hiesigen Gärtner sind mehr mit Zurückschneiden als mit Düngen beschäftigt, immer einen Schritt hinterher, das unbändige Wachstum im Zaum zu halten. Bougainvilleen breiten sich epidemieartig aus, Orchideen nisten in den Astgabeln von Eichen, Hibiskussträucher in den Vorgärten treiben rote und gelbe Blüten, Ixora-Büsche werden zu rot blühenden Hecken geschnitten, und sämtliche Blütenbäume der Welt scheinen ihren Weg hierher zu finden. Wir sind ganz klar eine Insel in Technicolor. Nach diesem Intermezzo bei der Tierärztin war ich zeitlich etwas knapp dran, fuhr aber dennoch langsamer als gewohnt, damit mir Big Bubba nicht von der Stange fiel. Durch das Tuch auf seinem Käfig konnte er die vorbeisausenden Bäume nicht sehen, aber schon die Trennung von seiner gewohnten Umgebung genügte, ihn zwischendurch immer wieder mal »Hey!« krähen zu lassen, nur um mir mitzuteilen, dass er alles andere als glücklich war. Siesta Key erstreckt sich von Nord nach Süd zwischen dem Golf von Mexiko und der Sarasota Bay. Angeblich ist die Insel in etwa so groß wie Manhattan, was vielleicht erklärt, warum so viele New Yorker ihren Zweitwohnsitz hier haben. Ich weiß nicht, wie viele Einwohner Manhattan hat, Siesta Key jedenfalls hat ungefähr siebentausend Ganzjahresbewohner, eine Zahl, die während der »Saison«, wenn es in Manhattan und an anderen unwirtlichen Orten eisig kalt ist, auf rund zweiundzwanzigtausend anschwillt. Mit Sarasota verbinden uns zwei Zugbrücken, und etwa jede Stunde segelt ein Hochmaster hindurch. Dann müssen die Autos warten. Alles in allem ein friedliches Plätzchen. So friedlich, dass sich nur ein einziger vereidigter Deputy des Sarasota County um unsere Verbrechen kümmert - »vereidigt« heißt in dem Fall bewaffnet. In allen anderen Fragen - Dingen wie abhandengekommene Fahrräder oder Streitereien darüber, wer für den Schaden durch herabstürzende Äste verantwortlich ist - sorgen unvereidigte Sheriffs der örtlichen Polizeiwache für Recht und Ordnung. Die Midnight Pass Road, unsere Hauptverkehrsader, durchzieht die Insel der Länge nach, gesäumt von Appartementblocks, Touristenhotels und hinter Mauern verborgenen Privatanwesen; schmale Seitenstraßen erschließen weitere Wohnsiedlungen. Das fünfzig Meilen lange Kanalnetz, das es auf unserer Insel auch noch gibt, führt dazu, dass die meisten unserer Straßen ebenso verschlungen sind wie die Kanäle, denen sie folgen. Unsere Sonnenuntergänge sind die spektakulärsten der Welt, in unseren Bäumen wimmelt es von Singvögeln, an unseren Stränden tummeln sich staksige Wasservögel, und unsere Gewässer werden nicht nur von Fischen bewohnt, sondern auch von verspielten Delfinen und sanftmütigen Seekühen. Ich habe niemals woanders gewohnt und werde es auch nie tun. Alles andere wäre für mich unvorstellbar. ***
Auf Siesta Key wohnt man entweder auf der zur Bay oder der zum Golf hingewandten Seite der Midnight Pass Road. Big Bubba wohnte an der Südspitze, an der Bay, in einer abgeschiedenen, ruhigen Wohngegend, die nicht einmal einen richtigen Namen hatte, so lang gab es sie schon. Ein breiter Streifen Naturschutzgebiet trennte die Privathäuser von einem vornehmen Urlaubsresort an der Bay. Big Bubbas Besitzerin war Reba Chandler, Psychologin im Ruhestand, die bis vor Kurzem am New College gelehrt hatte und nun auf irgendeinem Fluss in Südfrankreich herumschipperte. Reba hatte ich schon kennengelernt, als ich noch auf der Highschool war und sie mir Big Bubba zur Pflege anvertraute, wenn sie verreiste. Für einen Teenager war das damals leicht verdientes Geld. Heute ist es mein Beruf. Seltsam, wie sich die Dinge im Leben wiederholen. Wie die meisten der Häuser in diesem Refugium im Alt- Florida-Stil lag auch Rebas Haus am Ende einer mit Muschelschalen befestigten Zufahrt, mit einer dichten Wand aus Palmen und Meertrauben als Sichtschutz gegen die Straße. Reba nannte es ihr »Vogelhaus«, weil es zu einer Zeit gebaut worden war, als die Menschen noch gegen Flutwellen vorsorgten, und deshalb auf hohen Stelzen stand. Die meisten Häuser aus dieser Zeit wurden mittlerweile »unten« geschlossen, Reba jedoch hat ihres im Originalzustand erhalten, mit Farn darunter und mit einer Treppe hinauf zu einer schmalen, von einem Geländer gesäumten Veranda. Das Haus bestand aus silbergrau verwittertem Zypressenholz, und die ehemals tief türkisfarbenen Hurrikanläden waren im Lauf der Jahre wässrig blau ausgeblichen, was dem Haus das Aussehen einer charmanten, im Alter zunehmend liebenswerten Frau verlieh. Als ich auf das Haus zufuhr, machten die Reifen meines Bronco ein knirschendes Geräusch auf den Muschelschalen, das Big Bubba erkannt haben musste.
Aus seinem abgedeckten Käfig heraus zwitscherte er: »Hallöchen! Hallöchen! Hast du mich vermisst?« Ich parkte in der Einfahrt und machte die hintere Tür auf, um den Käfig herauszuholen. »Geschafft, Big Bubba. Wir sind zu Hause.« Er machte gurrende Geräusche und plapperte: »Hast du mich vermisst?« Ich lächelte, weil Reba diesen Satz gern gesagt hatte, wenn sie von der Uni nach Hause kam. Ich trug ihn die Treppe hinauf und öffnete die Haustür. Normalerweise lebt Big Bubba in einem großen Käfig auf dem weitläufigen Lanai - ein hawaiianischer Ausdruck, mit dem hier auf Siesta Key große, überdachte Terrassen bezeichnet werden -, aber um ihn vor den Folgen der Algenplage zu schützen, setzte ich ihn in seinen kleineren Käfig im verglasten Sonnenzimmer. Kongo-Graupapageien sind temperamentvolle Vögel. Wenn sie aufgeregt sind, kann es schon mal passieren, dass sie einem ein Stück aus dem Finger herauspicken, also platzierte ich den Reisekäfig exakt so, dass er selbstständig von einem Käfig in den anderen überwechseln konnte. Zurück in seinem gewohnten Territorium, trippelte er auf der Sitzstange hin und her, nickte heftig mit dem Kopf und warf mir diesen typischen einäugigen Vogelblick zu, während ich frische Saaten und Wasser für ihn bereitstellte. Kongo-Graupapageien, die gesprächigsten und intelligentesten aller Papageien, sind noch dazu auffallend schön. In ihrem glänzend grauen Gefieder prangen weiße Ringe um die Augen, die wie Brillen aussehen, und unter ihren Schwanzfedern blitzen ab und an rote Farbtupfer keck hervor. Wie alle intelligenten Wesen brauchen sie viel Abwechslung, damit sie keine selbstzerstörerischen Tendenzen entwickeln und sich aus lauter Langeweile die Federn ausrupfen. Die Besitzer afrikanischer Graupapageien müssen deshalb verdammt klug und erfinderisch sein, oder sie haben schnell ein gerupftes Huhn im Käfig.
Big Bubba rief: »Hast du mich vermisst?« Ich sagte: »Ich habe jede Minute gezählt, die wir getrennt waren.« Er lachte und nickte mit dem Kopf im Rhythmus seiner eigenen He-he-he-Klänge. Ich sagte: »Das ist gar nicht lustig. Du bist ein richtiger Herzensbrecher.« Reba bewahrt Big Bubbas Saaten in Deckelgläsern auf, die nebeneinander aufgereiht auf einem langen Tisch neben seinem Käfig stehen. Während ich mir also einen witzigen verbalen Schlagabtausch mit einem Papagei lieferte, ließ ich frische Saaten aus den Gläsern in seine Futternäpfe rieseln. Dann wischte ich die Gläser und den Tisch gründlich ab. Reinlichkeit geht mir über alles. Die Papiertücher, die ich zum Saubermachen verwendet hatte, warf ich in den Mülleimer und sagte: »Ich verlasse dich jetzt, Big Bubba. Am Nachmittag sehen wir uns wieder.« Er rief: »Auf ihn! Auf ihn! Haltet den Kerl!« Big Bubba plapperte gern, was aber ein richtiges Gespräch nicht ersetzte. Sein Fernseher stand auf dem Tisch mit den Saatengläsern, und ich beugte mich herunter, um seine Lieblings-Polizeiserie anzustellen. Big Bubba war verrückt nach Sendungen mit wilden Verfolgungsjagden, bei denen Obststände zu Bruch gingen. Ich weiß nicht, ob es die schnellen Autos waren oder das herumfliegende Obst, was ihn so faszinierte, jedenfalls konnte er nicht genug davon kriegen. Kurz vorm Einschalten des Apparats vernahm ich hinter mir plötzlich ein Geräusch und fuhr hoch. In einem schmalen Streifen Sonnenlicht, der durch die Fenster hereinfiel, standen Schulter an Schulter drei junge Männer. Möglicherweise habe ich vor Schreck kurz aufgeschrien, ich bin mir nicht sicher. Ich bin stark und weiß mich zu verteidigen, aber sie waren zu dritt, und ich war alleine. Dem Aussehen nach waren sie ungefähr im Oberstufenalter, und ihr gespielt furchterregendes Gebaren wirkte geradezu komisch - die Augenlider auf Halbmast, die Lippen höhnisch verzogen, die Haare so verstrubbelt wie Spinnweben. Ihre Jeans, und das fand ich nun wirklich lächerlich, saßen so tief auf dem Po, dass die Unterhosen an den Hüften herausquollen. Der Größte, Älteste und Fieseste von ihnen sagte: »Wir suchen Jaz.« Irgendwie überraschte es mich gar nicht, ausgerechnet den Namen dieses Mädchens aus der Tierarztpraxis zu hören. Menschen mit starker Persönlichkeit tauchen scheinbar überall auf, und sei es nur als Name, und Jaz hatte gewiss eine starke Persönlichkeit. Mich erstaunte auch nicht, dass sie diese jungen Männer kannte. Sie hatte diese Mischung aus harter Schale und weichem Kern, die sie anfällig machte für großkotzig auftretende Straßenjungs. Ich schluckte den Kloß in meiner Kehle hinunter und überlegte, ob es einen Gegenstand in Reichweite gab, den ich als Schlagwaffe gebrauchen konnte. Ich sagte: »Jaz? Ich kenne niemanden, der so heißt.« Drei Augenpaare starrten mich finster an. Einen Moment lang blieben alle stumm, und ich dachte schon, sie würden vielleicht abziehen. Dann sagte der Große, wohl ihr Anführer: »Verarsch uns nicht, Lady.« Ich trat einen halben Schritt zurück, machte einen auf ahnungsloses Dummchen und sagte mit hoher Piepsstimme: »Kennen Sie Jaz vielleicht von der Schule her?« Einer der Jungs kicherte höhnisch, worauf der Große ihn finster anblickte. »Wir stellen hier die Fragen. Kapiert? Und jetzt her mit Jaz.« Der mittlere Junge, dessen Jeans so weit herunterhing, dass der Schritt zwischen den Knien baumelte, sagte: »Wir tun ihr nichts, Ma'am.« »Halt's Maul, Paulie!«, fuhr der Große ihn an. Ich zeichnete mit dem Finger ein X auf meine Brust. »Ich schwöre bei Gott, ich kenne niemanden namens Jaz. Diese Häuser sehen alle gleich aus, vielleicht haben Sie sich in der Adresse geirrt.« Der Regisseur in meinem Kopf sagte: Gut so. Verhalte dich nicht wie bei einem Überfall, verhalte dich wie bei einem normalen Besuch von Freunden. Wenn sie dich angreifen, schnapp dir eines dieser Körnergläser und knall es ihnen auf die Rübe. Big Bubba fühlte sich scheinbar just in dem Moment vernachlässigt. »Halloooo«, krähte er, »hast du mich vermisst?« Der Finsterste von den dreien ließ den Arm vorschnellen. In seiner Hand blitzte ein Schnappmesser. Der Junge namens Paulie sagte: »Nein, tu das nicht.« Ich wich einen weiteren halben Schritt zurück. Mein Herz schlug wie ein Presslufthammer, aber nichtsdestotrotz stellte ich mein breitestes Grinsen zur Schau. »Das ist ein afrikanischer Graupapagei. Es klingt, als würde er wissen, was er sagt, aber er imitiert nur Laute, die er gehört hat.« Der Junge mit dem Messer sagte: »Der Vogel ist echt aus Afrika?« »Ja«, erwiderte ich, »aber ich hab ihn nicht selbst dort abgeholt.« Als hätte er plötzlich eine Erleuchtung, schlurfte Paulie, der Mittlere von den Dreien, zu dem Tisch, auf dem Big Bubbas Körnergläser standen. Seine Hose musste er mit einer Hand festhalten, damit sie nicht herunterrutschte. Er nahm ein Glas Sonnenblumenkerne in die Hand und begutachtete es. Vielleicht war das einer der wenigen Gegenstände, die er je genau studiert hatte. »Vogelfutter, oder? Hab ich's doch immer gewusst. Oh Mann, und meine Schwester knabbert das Zeug tonnenweise! « Der mit dem Messer sagte: »Ich hab mal 'ne Sendung gesehen, da hockten Menschen aus Afrika in einem Schiff zusammen, ganz eng und in Ketten. Mann, das war scheiße!« Der Große sah aus, als wollte er ihre Köpfe gegeneinanderballern. »Der Vogel da war auf keinem Sklavenschiff, Vollidiot. « Paulie stellte das Glas mit den Körnern zurück auf den Tisch. Seine Finger hatten eklige Spuren darauf hinterlassen, und am liebsten hätte ich die Papiertücher aus dem Mülleimer geholt und von ihm verlangt, es sauberzumachen. Ich trat einen weiteren halben Schritt zurück und wünschte, ich hätte Pfefferspray bei mir. Big Bubba rief: »Haltet den Kerl! Haltet den Kerl!« »Er schaut zu viel Football im Fernsehen«, sagte ich. »Hallo«, rief Big Bubba. »Hallo! Hallo! Hast du mich vermisst? Touchdown!« Der Junge mit dem Messer klappte die Klinge wieder ein und schob das Kinn nach vorne. »So einen Vogel hätt' ich auch gern.« »Schwachkopf!«, schimpfte der Große. »Wie willst du denn verreisen mit so einem Vogel, der dauernd quatscht? Willst du noch mehr auffallen als jetzt schon?« Vermutlich war genau das der Grund, warum er der Anführer war. Er dachte voraus. Er sah mich eindringlich an; höchstwahrscheinlich fragte er sich, wie lange es dauern würde, bis ich die Polizei rief, wenn sie mich bei vollem Bewusstsein zurückließen. An den Schwachkopf gerichtet sagte ich: »Vielleicht würde dir ja auch ein Wellensittich gefallen. Die können auch sprechen. Aber wenn, dann muss es ein Männchen sein, die Weibchen sprechen nicht. Anders als bei uns Menschen, oder?« Drei leere Augenpaare richteten ihren Blick auf mich. Ich lächelte breit, aber keiner fand witzig, was ich gesagt hatte. Nur Paulie lächelte zurück. Zu dumm. Ich hatte ganz vergessen, dass Ganoven keinen Humor haben.
Mit hoher Frauenstimme schmachtete Big Bubba: »Ich werde dich iiiiimmmer lie-hi-ben. Iiiimmmer.« Dabei klang er vollkommen ernst. Vielleicht, weil ich einen filmreifen Auftritt als blondes Dummchen lieferte, vielleicht, weil Bubba sie nervös machte oder weil sie als Anfänger noch leicht aus der Fassung zu bringen waren - aus welchem Grund auch immer beschloss also der Große: »Jungs, wir verduften.« Binnen Sekunden waren die drei verschwunden, als hätten Sie sich in Luft aufgelöst. Ich wartete gebannt, ob der Motor meines Bronco anspringen würde, weil sie ihn vielleicht kurzschlossen, aber außer meinem eigenen Herzschlag war nichts zu hören. Mit trockenem Mund zog ich mein Telefon heraus und wählte die 911. Deputy Jesse Morgan war in weniger als fünf Minuten an Ort und Stelle, knackig-männlich wie immer in seiner dunkelgrünen Uniform. An seinem Gürtel hatte er sämtliche Utensilien eines Mannes der Strafverfolgung parat. Morgan ist ein vereidigter Deputy, und sein Erscheinen bedeutete, dass man den Vorfall im Department ernst nahm. Morgan und ich kannten einander von einigen anderen unangenehmen Vorfällen. Als ich die Tür öffnete, grüßte er nur stumm mit einem knappen Kopfnicken. Meinen Namen zu nennen, dachte er vielleicht, würde nichts Gutes verheißen. »Sie haben wegen eines Einbruchs angerufen?« Von seinem Käfig im Sonnenzimmer rief Big Bubba herüber: »Keine Bewegung! Keine Bewegung! Keine Bewegung!« Ich sagte: »Das ist nur ein Papagei.« Morgan hielt seinen Stift auf den Notizblock und wartete. »Es waren drei Jungs, Weiße, im späten Teenageralter, alle in Sackhosen, sodass die Unterwäsche rausguckt. Sie standen plötzlich vor mir.« »Eben gerade?«
»Vor fünf oder zehn Minuten. Ich habe angerufen, sobald sie weg waren. Einer von ihnen hatte ein Schnappmesser.« »Sie haben Sie bedroht?« »Nicht direkt. Er hat nur demonstrativ damit herumgefuchtelt. « An der Stelle zögerte ich ein wenig, als hätte ich eine gewisse Scheu davor, weiterzuerzählen. »Sie sagten, sie würden ein Mädchen namens Jaz suchen. Anscheinend dachten sie, sie würde hier wohnen.« Er sah von seinem Notizblock auf. »Wie schreibt man das? J-A-Z-Z wie die Musik?« »Ich meine, ja. Wissen tu ich's nicht.« »Sie kennen das Mädchen?« »Nein, aber ich bin ihr heute Vormittag in Dr. Laytons Praxis begegnet. Dort wollte ich Big Bubba abholen, das ist der Papagei, und da war dieses Mädchen, zusammen mit einem Mann. Ich fand sie ganz nett. Sie waren mit einem Kaninchen da, das der Mann angefahren hatte, aber Dr. Layton konnte nichts mehr tun.« »Für das Kaninchen.« »Ja. Der Mann gab an, er sei ihr Stiefvater, aber er nannte sie nicht Jaz, sondern Rosemary.« Er zog eine Augenbraue hoch und sah mich einen Moment lang an. »Klingt so, als würden Sie ihm nicht glauben.« Darauf ging ich gar nicht erst ein. »Woher soll ich das wissen? Ich hab die beiden nie zuvor gesehen.« »Außer bei der Tierärztin.« »Außer dort.« Seine Mimik verriet keine Spur von seinen Gedanken. »Sie kümmern sich um diesen Papagei?«, fragte er. »Richtig, für Reba Chandler. Ich schaue zweimal täglich vorbei. Die Nacht über musste ich ihn bei der Tierärztin lassen, aber es ist alles okay. Nur eine kleine Reaktion auf die Algenblüte«. »Wer hat die nicht? Haben Sie 'ne Ahnung, warum diese Typen Jax hier vermutet haben?« »Jaz heißt sie. Jaz. Ich glaube, sie haben sich einfach geirrt. Ich fand die Kleine ganz nett.« Ich wusste, dass ich mich wiederholte, aber aus irgendeinem Grund wollte ich nicht, dass Morgan schlecht von Jaz dachte, nur weil ein paar Kleinganoven hinter ihr her waren. »Miss Chandler kennt diese Jaz nicht?«, wollte er wissen. Ich sah ihn an, wie man jemanden ansieht, der eine wirklich dumme Frage gestellt hat, fand dann aber, dass die Frage so dumm gar nicht war. Die Tatsache, dass ich Jaz nicht kannte, bedeutete nicht, dass Reba Chandler sie nicht kannte. Vielleicht war dem ja so. Wenn Jaz hier in der Gegend wohnte, wäre es gut möglich, dass Reba sich vielleicht mit ihr angefreundet hatte. Nur glaubte ich nicht, dass sie hier in der Gegend wohnte. Ich sagte: »Womöglich habe ich nicht klar genug gesagt, dass diese Typen zum Fürchten waren.« »Genauere Angaben zu ihrer Identifizierung?« »Einer hieß Paulie.« Ich klatschte mir mit der Hand gegen die Stirn, wie jemand, dem plötzlich einfällt, er könnte vielleicht ein Achtzylinder- Kraftpaket vor der Haustür stehen haben. »Oh, hab ich ganz vergessen! Dieser Paulie nahm ein Vogelfutterglas in die Hand. Da müssten Fingerabdrücke drauf sein.« Morgan legte den Stift weg und folgte mir ins Sonnenzimmer. Er und Big Bubba musterten einander kurz, während ich in die Küche eilte, um eine von Rebas Baumwolltaschen zu holen. Anschließend bedeckte Morgan den Schraubdeckel des Glases mit einem Papiertuch und transferierte das Glas vorsichtig in die Tasche. Paulies Fingerabdrücke würden abgenommen und einem IAFIS-Abgleich zugeführt werden. Hatte der Bursche je Kontakt mit den Strafverfolgungsbehörden gehabt, dann wären seine Fingerabdrücke im Interstate Identification Index der IAFISDatenbank erfasst. Ich sagte: »Noch was, einer von denen faselte was von Reisen.« »Was genau hat er gesagt?« »Er sagte: ›Schwachkopf! Wie willst du denn verreisen mit so einem Vogel, der dauernd quatscht?‹ Wissen Sie, einer von den Typen sagte, er hätte gern einen Vogel wie Big Bubba, und der andere sagte dann, ich glaube, es war der Anführer: ›Wie willst du denn verreisen mit einem Vogel, der dauernd quatscht?‹« Morgan hob die Baumwolltasche an den Griffen hoch. »Haben Sie eine Möglichkeit, Miss Chandler zu erreichen?« Ich schüttelte den Kopf. »Sie befindet sich auf einem Schiff in Südfrankreich, das an Vier-Sterne-Restaurants haltmacht.« Reba hatte mir für den Notfall die Nummer der Schifffahrtslinie hinterlassen, aber ich würde ihr doch nicht den Urlaub verderben, nur weil ein paar Ganoven ihrem Haus in meiner Anwesenheit einen Besuch abgestattet hatten. Morgan machte den Eindruck, als wüsste er, dass ich Reba notfalls erreichen konnte, aber er hakte nicht weiter nach. Als er ging, sagte er: »Wir werden die Gegend strenger kontrollieren. « Ich nickte in dem Wissen, dass die vielen Bäume und Sträucher an der Straße so manches harmlose Verhalten verbargen. Sie würden auch kriminelles Verhalten verbergen. Ich gab Big Bubba ein paar Bananenscheiben zur Beruhigung, für den Fall, dass ihn das Gespräch zwischen mir und Deputy Morgan zu sehr aufgeregt haben sollte. Dann stellte ich seinen Fernseher an und stapfte die Treppe hinunter zurück zum Bronco. Als ich die Zufahrt entlangfuhr, sah ich durch die Blätter einer Arecapalme hindurch schemenhaft ein bleiches Etwas. Ich hielt an und sah genauer hin. Einen Herzschlag lang dachte ich, zwischen den grünen Bäumen und hängenden Ranken würde Jaz' Gesicht hervorblicken, das aber sofort wieder verschwand, falls sie es tatsächlich gewesen sein sollte. Ich überlegte kurz und fuhr dann über ein paar Straßen zu Hetty Soames' Haus. Sollte Jaz etwas mit diesen Typen zu haben, die in Rebas Haus aufgekreuzt waren, musste Hetty darüber informiert werden, bevor sie sich auf das Mädchen einließ.
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Hin und wieder trifft man Menschen, die einem unmittelbar sympathisch sind, auch wenn alles darauf hinweist, dass sie Ärger bedeuten. Jaz war so ein Mensch. Als ich dem Mädchen zum ersten Mal begegnete, rannte es hysterisch schluchzend mit einem in ein Handtuch gewickelten Bündel in den Armen über den Parkplatz von Dr. Layton. Ein ziemlich großer Mann folgte ihr zögerlich und mit schweren Schritten. Sie sah aus wie ungefähr zwölf oder dreizehn und hatte etwas von der schlaksigen Unbeholfenheit junger Mädchen. Ihre kleinen Brüste zeichneten sich pflaumengroß unter einem elastischen Schlauchtop ab. Sie hatte kakaofarbene Haut, lange, schwarz gelockte Haare, und ihre ausgefransten Shorts machten den Eindruck, als würde sie auch darin schlafen. Der Mann war um die fünfzig, mit blassen, nicht mehr ganz straffen Wangen und angegrauten Haaren, die weniger nach Friseur denn nach Rasenmäher aussahen. Er trug einen marineblauen Anzug und eine dazu passende, etwas hellere Krawatte, beides viel zu glatt und sicher aus reinem Polyester. Mit seinen zurückgezogenen Schultern und dem eng anliegenden bügelfreien Hemd wirkte er wie ein Schuldirektor, dem zu spät klar geworden war, dass er Kinder hasste. Ich heiße übrigens Dixie Hemingway, nicht verwandt mit Sie-wissen-schon, und ich bin Tiersitterin auf Siesta Key, einer gut zwölf Kilometer langen Insel vor Sarasota, Florida. Früher war ich mal Deputy am Sheriff 's Department von Sarasota County, aber vor nun fast vier Jahren passierte etwas, das mir beinahe den Verstand geraubt hätte, und ich bin mit dem Segen des Departments ausgeschieden. Ein bisschen neben der Spur bin ich noch immer, aber nicht mehr als jeder andere auch. Wie sagt man doch so schön: Leute, die einem normal vorkommen, kennt man nur noch nicht richtig. Mittlerweile funktioniere ich also wieder einigermaßen und arbeite mit viel Freude als selbstständige Tiersitterin, was mir das Gefühl gibt, gebraucht zu werden. Ich betreue überwiegend Katzen, auch Hunde, und ab und an mal ein Kaninchen, einen Hamster oder Vögel, aber keine Schlangen. Die überlasse ich meinen Kollegen. Nicht, dass ich eine Schlangenphobie hätte, jedenfalls keine Nennenswerte. Mir schaudert nur bei dem Gedanken, lebende kleine Geschöpfe in den offenen Schlund von Schlangen zu werfen. An jenem Morgen wollte ich Big Bubba von der Tierärztin abholen. Big Bubba ist ein afrikanischer Graupapagei, der mir nicht ganz auf der Höhe schien, als ich tags zuvor bei ihm vorbeigeschaut hatte. Wenn ein Vogel niest und lethargisch auf der Stange sitzt, gehe ich kein Risiko ein. Wie sich herausstellte, hatte Big Bubba nur einen schlechten Tag gehabt. Dr. Layton hatte mich am Abend zuvor angerufen, um mir zu sagen, dass ich ihn am nächsten Morgen wieder abholen könne, weshalb ich also gekommen war, um ihn nach Hause zu bringen. Das heulende Mädchen und der Mann betraten vor mir die Praxis. An der Rezeption übernahm eine von Dr. Laytons Helferinnen das Bündel aus dem Arm des Mädchens, während ihre Kollegin vom Empfang dem Mädchen die Schulter tätschelte und beruhigend auf es einredete. Die Kleine weinte so sehr, dass man kaum verstand, was sie sagte. Ich verstand lediglich: »Er hat es überfahren!« Die beiden Praxishelferinnen sahen den Mann vorwurfsvoll an, und er seufzte verdrießlich. »Ist doch nur ein Kaninchen«, sagte er. »Das Tier ist mir vors Auto gelaufen. Es war ein Unfall.«
Das Mädchen drehte sich um und schrie ihn an: »Aber es ist trotzdem ein Lebewesen, vielleicht nur ein Kaninchen, aber trotzdem ein Lebewesen!« Nun sah ich ihr Gesicht. Ihre Augen waren älter, als ich gedacht hätte, und von einem erstaunlich blassen Aquamarinblau. Zusammen mit dem dunklen Teint und den wilden schwarzen Locken ließen die ungewöhnlich blauen Augen auf die verschiedensten Vorfahren schließen, ein Mischmasch von Genen, der Segen oder Fluch sein kann. Ihre trotzig verzweifelte Art, das Kinn zu recken, brachte mich zu der Vermutung, dass es in ihrem Fall kein Segen war. Alles an ihr schrie: Ich bin jung, angepisst, und ich fühle mich scheiße. Der Mann sagte: »Okay, okay«, und blickte sich nervös um. Dr. Layton kam aus dem hinteren Praxisbereich hervorgewuselt, eine rundliche Afroamerikanerin ungefähr in meinem Alter, nämlich dreiunddreißig, und mit der Gabe, einfühlsam und bestimmend zugleich sein zu können. Mit einem raschen Blick auf das verletzte Kaninchen, das verdächtig leblos unter seiner Decke lag, wandte sie sich unverzüglich an den Mann. »Es ist Ihnen vors Auto gelaufen?« »Ein Unfall. Ich war nicht schneller als dreißig. Von Rasen kann keine Rede sein.« Das Mädchen wirkte wie kurz vor dem Kollaps. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, und ihr Schluchzen ließ den ganzen Körper erzittern. Die beiden Helferinnen sahen aus, als würden sie aus reiner Sympathie gleich mitheulen, und sogar die Menschen und Tiere im Wartebereich reckten die Hälse nach ihr. »Wie heißt du denn, Liebes?«, fragte Dr. Layton. Sie erwiderte: »Jaz.« Im selben Moment sagte der Mann: »Rosemary.« Das Mädchen funkelte ihn feindselig an, während Dr. Layton ihren Blick auf ihn richtete.
»Sind Sie der Vater des Mädchens?« Eine Spur zu nachdrücklich sagte er: »Ihr Stiefvater.« Dr. Layton legte dem Mädchen beruhigend die Hand auf die Schulter. »Nimm kurz Platz, Jaz. Ich seh mir das Häschen mal an und sag dir dann, was los ist.« Zu mir sagte sie: »Dixie, könnten Sie bitte ein paar Minuten warten? Ich will mit Ihnen reden.« Ich nickte wortlos und folgte den beiden in den Wartebereich. Er hielt sie demonstrativ mit einer Hand am Oberarm gepackt, während die Kleine weiterhin von Schluchzern geschüttelt wurde. Als sie die Stuhlkante an ihren Beinen spürte, sank sie darauf nieder und zog die Knie vors Gesicht. Dabei weinte sie, als hätte sie ihren besten Freund verloren. Ich nahm ihr gegenüber Platz. Die verstreut im Raum sitzenden Leute und ihre Tiere sahen sie mitfühlend an. Neben ihr, auf dem übernächsten Stuhl, saß Hetty Soames mit einem neuen Welpen. Sie winkte mir von einem kurzen Lächeln begleitet diskret zu, wie jemand, der auf einer Beerdigung einen Bekannten trifft, und widmete dann ihre Aufmerksamkeit wieder dem weinenden Mädchen. Wäre Hetty nicht damit beschäftigt, stets neue Hilfshunde heranzuziehen, könnte sie für Eileen Fisher modeln. Sie scheint nahezu alterslos, eine engagierte Dame mit glattem, silbergrauem Haar, höchst elegant in ihrer weiten Leinenhose und einer Tunika, die an jeder anderen Frau wie ein Schlafanzugoberteil gewirkt hätte. Der neue Welpe an ihrer Seite war der jüngste einer Reihe von Hunden, die sie für »Southeastern Guide Dogs« heranzieht. Zukünftige Hilfshunde großzuziehen ist etwas Besonderes. Wie andere Welpen brauchen auch sie Liebe und Aufmerksamkeit, aber sie müssen anders sozialisiert werden. Diese kleinen Racker haben sich eines Tages darauf zu konzentrieren, einzig und allein ihren Job zu machen, ohne sich von Dingen ablenken zu lassen, die andere Hunde aus Neugier genauer untersuchen würden. Damit das gelingt, sind Tausende von Stunden geduldiger Arbeit erforderlich, ganz zu schweigen von der Herausforderung, einem Hund so viel Liebe zu schenken und ihn dann in fremde Hände abzugeben. Hetty macht das seit vielen Jahren, und ihre Trauer, wenn sie einen jungen Hund abgibt, erkennt man nur daran, dass sich ihr Blick für ein paar Wochen verschleiert, jedoch nur, um sofort wieder zu erstrahlen, sobald sie einen neuen Welpen zu sich nimmt. Das verzweifelte Mädchen schien Hetty offenbar zu beschäftigen, ebenso wie ihren neuen Welpen, denn der drei Monate alte Labrador-Schäferhund-Mischling spitzte ständig die Ohren und beobachtete das Mädchen eindringlich. Wie wir alle. Jaz wirkte auf mich wie eine dieser armen Kreaturen in Tierheimen, die einen so herzzerreißend ansehen, die man aber wohlweislich lieber nicht mit nach Hause nimmt. Sie saß noch immer zusammengekauert auf dem Stuhl, und man konnte sehen, dass die Goldflitter von ihren grünen Flip- Flops fast alle abgegangen waren. Ihre Zehennägel waren schwarz lackiert, und an einigen Zehen trug sie goldene und silberne Ringe. Die Fußgelenke waren amateurhaft mit kleinen Blütenranken tätowiert, an der Außenseite des rechten Gelenks jedoch prangte ein richtig gut gemachtes Tattoo in Form eines Dolchs. Hätte ich mich in ihrem Alter tätowieren lassen, meine Großmutter hätte das Ding eigenhändig mit einem Sandstrahler entfernt. Währenddessen machte der Mann irgendwie verlegen ständig pscht, pscht, als wäre ihm die ganze Situation peinlich. Verängstigte Kinder rufen bei Erwachsenen dieselbe Reaktion hervor wie ein Haustier, das in die Wohnung macht - entweder sie behalten die Geduld, oder aber sie rasten komplett aus. Da keiner der Anwesenden etwas unternahm, hatte Hettys kleiner Welpe offenbar beschlossen, selbst einzuschreiten. Er entwischte von Frauchens Seite, stellte sich auf die Hinterbeine und strich mit der Pfote über die Zehen des Mädchens. Sie nahm die Hände vom Gesicht, sah zu ihm hinunter und lachte heiser. Hetty richtete sich erschrocken auf, doch das Mädchen beugte sich nach unten und nahm den Welpen auf den Arm, der unverzüglich begann, ihr die Tränen von den Wangen zu lecken und sich so dicht wie möglich anzuschmiegen. Sie kicherte und gluckste, und es ging ein kollektives Aufatmen durch die Runde. So schlecht stand es also nicht um Jaz. Sie konnte immerhin noch lachen und war offen genug, sich diese liebevolle Geste gefallen zu lassen. Ich glaube, intuitiv hatten wir alle befürchtet, dass dem nicht so wäre. Hetty sagte: »Anscheinend hast du einen neuen Freund gefunden. Er heißt Ben.« Wie zur Bestätigung gab Ben Jaz einen feuchten Kuss auf die Nasenspitze, was sie erneut zum Glucksen brachte. In dem Moment öffnete sich die Tür von einem der Behandlungszimmer, und Dr. Layton kam auf das Mädchen zu. »Tut mir leid, Jaz. Wir konnten nichts mehr für das Kaninchen tun. Es war vermutlich sofort tot und hat nicht mehr gelitten.« Das sagen sie immer. Mir haben Sie das auch gesagt, als Todd und Christy ums Leben kamen. Ich wusste nie so recht, ob ich ihnen glauben konnte, und ich sah sofort, dass auch Jaz sich keinesfalls sicher war, ob sie Dr. Layton glauben konnte. Sie drückte Ben an sich, holte tief Luft und nickte. »Okay.« Beinahe im selben Moment stand der Mann auf und zückte eine Geldbörse aus seiner Gesäßtasche. »Wie viel bin ich Ihnen schuldig?« »Ich bitte Sie. Nichts«, sagte Dr. Layton. Als sie sich umwandte, ertönte eine laute Stimme aus dem hinteren Praxisbereich. »Haltet den Kerl!«
Der Mann drehte sich blitzschnell um und griff mit der rechten Hand links unter sein Jackett. Instinktiv fiel mir ein, was ich in meiner Polizeiausbildung gelernt hatte. Ich sprang hoch und streckte den Arm zur Seite, mit der Handfläche nach vorne wie ein Verkehrspolizist. »Hey, langsam! Lassen Sie das hübsch sein!« Die Situation war brenzlig, Dr. Layton jedoch sagte beschwichtigend: »War doch nur ein Vogel. Ein afrikanischer Graupapagei.« Wie auf Kommando erschien nun Dr. Laytons Helferin mit Big Bubba in einem meiner Reisekäfige. Big Bubba hasste kleine Käfige, was ihn vielleicht dazu brachte, den Kopf in meine Richtung zu drehen und abermals zu blaffen: »Haltet den Kerl!« Peinlich berührt ergriff der Mann die Hand des Mädchens und sagte: »Komm, Rosemary.« Jaz und Ben sahen einander traurig an, was Hetty wohl zu einem Schritt veranlasste, der mich staunen ließ. Sie stand auf, nahm Ben wieder zu sich und sagte zu Jaz: »Ich bräuchte jemanden, der mir ab und zu mit dem Welpen hilft. Nur ein paar Stunden die Woche. Viel zahlen kann ich nicht, aber du musst auch nicht viel tun, und ich glaube, dir würde es gefallen.« Derart geflunkert hatte Hetty Soames wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben noch nicht. Es gab sicher viel zu tun mit Ben, aber sie hätte nie Hilfe gebraucht. Sie hatte schlicht und einfach Gefallen an dem Mädchen gefunden und wollte ihm helfen, weil sie ahnte, dass es ihm aus irgendeinem Grund nicht gut ging. Jaz wandte sich an ihren Stiefvater, der sagte: »Dazu ist sie nicht in der Lage.« »Doch, bin ich wohl.« Ich unterdrückte ein Grinsen. Jeder, der Hetty kennt, weiß, dass sie meistens auch erreicht, was sie sich in den Kopf gesetzt hat. Spätestens in einer Stunde würde sie die Kleine bei sich zu Hause haben. Dr. Layton schien derselben Meinung zu sein. Mit entspannterer Miene als vorhin winkte sie mich zur Rezeption, wo mich Big Bubba in seinem Reisekäfig erwartete. Ich warf noch schnell einen Blick über die Schulter zurück zu Jaz und ihrem Stiefvater. Beide Hände in den Hosentaschen, stierte er mit einem genervten Gesichtsausdruck zur Decke. Jaz war neben Ben in die Hocke gegangen und streichelte ihn, während sie mit Hetty sprach. Dr. Layton sagte: »Es fand sich eine leicht erhöhte Anzahl von Eosinophilen in Big Bubbas Luftröhrenabstrich, wie bei uns allen wohl eine Reaktion auf die Algenblüte. Behalten Sie ihn in der Wohnung, bis es vorüber ist. Falls es schlechter wird, kann ich ein Antihistaminikum verabreichen, aber ich setze lieber darauf, das Allergen auszuschalten.« Kein Wunder. Die »rote Flut« also wieder mal, eine explosionsartige Vermehrung von Mikroalgen, Karenia brevis genannt. Egal wie das widerliche Zeug heißt, es verursacht Atemwegsreizungen und tränende Augen bei Mensch und Tier. Zur Algenblüte kommt es bei uns fast jeden September, wenn die golfseitigen Winde auf West drehen, aber dieses Jahr waren wir einen Monat früher dran. Ich versprach Dr. Layton, Big Bubba in der nächsten Zeit im Haus zu behalten, und verließ mit ihm die Praxis. Ich glaube nicht, dass Hetty, Jaz oder der Mann mein Weggehen bemerkten. Dazu waren sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Im Nachhinein erinnerte ich mich noch oft an diese kurze Begegnung in Dr. Laytons Wartezimmer und fragte mich, ob es eine Möglichkeit gegeben hätte, die heranrollende Gefahr aufzuhalten. Zu jenem Zeitpunkt wusste ich lediglich, dass ein Mädchen, das sich Jaz nannte und in Wirklichkeit Rosemary hieß, zutiefst unglücklich war, dass die Nerven ihres Stiefvaters blank lagen und dass er ein Schulterhalfter trug.
2
Ich verließ Dr. Laytons Praxis mit Big Bubbas Reisekäfig, den ich mit einem Tuch abgedeckt hatte und zurrte ihn auf dem Rücksitz meines Bronco fest. Die Sonne stand flach über dem Horizont und verlieh der Luft in diesen ersten Augusttagen ein leichtes Flirren; das üppige Grün und die vielen Blumen sahen dadurch noch schöner aus als ob man durch einen dünnen Schleier blickt, der die kleinen Unzulänglichkeiten der Welt verbirgt. Siesta Key ist eine halbtropische Insel, und entsprechend grün und vielfarbig gestaltet sich unsere Landschaft. Die Pflanzen wachsen in den sandigen Böden entgegen jeder Erwartung wie verrückt, und die hiesigen Gärtner sind mehr mit Zurückschneiden als mit Düngen beschäftigt, immer einen Schritt hinterher, das unbändige Wachstum im Zaum zu halten. Bougainvilleen breiten sich epidemieartig aus, Orchideen nisten in den Astgabeln von Eichen, Hibiskussträucher in den Vorgärten treiben rote und gelbe Blüten, Ixora-Büsche werden zu rot blühenden Hecken geschnitten, und sämtliche Blütenbäume der Welt scheinen ihren Weg hierher zu finden. Wir sind ganz klar eine Insel in Technicolor. Nach diesem Intermezzo bei der Tierärztin war ich zeitlich etwas knapp dran, fuhr aber dennoch langsamer als gewohnt, damit mir Big Bubba nicht von der Stange fiel. Durch das Tuch auf seinem Käfig konnte er die vorbeisausenden Bäume nicht sehen, aber schon die Trennung von seiner gewohnten Umgebung genügte, ihn zwischendurch immer wieder mal »Hey!« krähen zu lassen, nur um mir mitzuteilen, dass er alles andere als glücklich war. Siesta Key erstreckt sich von Nord nach Süd zwischen dem Golf von Mexiko und der Sarasota Bay. Angeblich ist die Insel in etwa so groß wie Manhattan, was vielleicht erklärt, warum so viele New Yorker ihren Zweitwohnsitz hier haben. Ich weiß nicht, wie viele Einwohner Manhattan hat, Siesta Key jedenfalls hat ungefähr siebentausend Ganzjahresbewohner, eine Zahl, die während der »Saison«, wenn es in Manhattan und an anderen unwirtlichen Orten eisig kalt ist, auf rund zweiundzwanzigtausend anschwillt. Mit Sarasota verbinden uns zwei Zugbrücken, und etwa jede Stunde segelt ein Hochmaster hindurch. Dann müssen die Autos warten. Alles in allem ein friedliches Plätzchen. So friedlich, dass sich nur ein einziger vereidigter Deputy des Sarasota County um unsere Verbrechen kümmert - »vereidigt« heißt in dem Fall bewaffnet. In allen anderen Fragen - Dingen wie abhandengekommene Fahrräder oder Streitereien darüber, wer für den Schaden durch herabstürzende Äste verantwortlich ist - sorgen unvereidigte Sheriffs der örtlichen Polizeiwache für Recht und Ordnung. Die Midnight Pass Road, unsere Hauptverkehrsader, durchzieht die Insel der Länge nach, gesäumt von Appartementblocks, Touristenhotels und hinter Mauern verborgenen Privatanwesen; schmale Seitenstraßen erschließen weitere Wohnsiedlungen. Das fünfzig Meilen lange Kanalnetz, das es auf unserer Insel auch noch gibt, führt dazu, dass die meisten unserer Straßen ebenso verschlungen sind wie die Kanäle, denen sie folgen. Unsere Sonnenuntergänge sind die spektakulärsten der Welt, in unseren Bäumen wimmelt es von Singvögeln, an unseren Stränden tummeln sich staksige Wasservögel, und unsere Gewässer werden nicht nur von Fischen bewohnt, sondern auch von verspielten Delfinen und sanftmütigen Seekühen. Ich habe niemals woanders gewohnt und werde es auch nie tun. Alles andere wäre für mich unvorstellbar. ***
Auf Siesta Key wohnt man entweder auf der zur Bay oder der zum Golf hingewandten Seite der Midnight Pass Road. Big Bubba wohnte an der Südspitze, an der Bay, in einer abgeschiedenen, ruhigen Wohngegend, die nicht einmal einen richtigen Namen hatte, so lang gab es sie schon. Ein breiter Streifen Naturschutzgebiet trennte die Privathäuser von einem vornehmen Urlaubsresort an der Bay. Big Bubbas Besitzerin war Reba Chandler, Psychologin im Ruhestand, die bis vor Kurzem am New College gelehrt hatte und nun auf irgendeinem Fluss in Südfrankreich herumschipperte. Reba hatte ich schon kennengelernt, als ich noch auf der Highschool war und sie mir Big Bubba zur Pflege anvertraute, wenn sie verreiste. Für einen Teenager war das damals leicht verdientes Geld. Heute ist es mein Beruf. Seltsam, wie sich die Dinge im Leben wiederholen. Wie die meisten der Häuser in diesem Refugium im Alt- Florida-Stil lag auch Rebas Haus am Ende einer mit Muschelschalen befestigten Zufahrt, mit einer dichten Wand aus Palmen und Meertrauben als Sichtschutz gegen die Straße. Reba nannte es ihr »Vogelhaus«, weil es zu einer Zeit gebaut worden war, als die Menschen noch gegen Flutwellen vorsorgten, und deshalb auf hohen Stelzen stand. Die meisten Häuser aus dieser Zeit wurden mittlerweile »unten« geschlossen, Reba jedoch hat ihres im Originalzustand erhalten, mit Farn darunter und mit einer Treppe hinauf zu einer schmalen, von einem Geländer gesäumten Veranda. Das Haus bestand aus silbergrau verwittertem Zypressenholz, und die ehemals tief türkisfarbenen Hurrikanläden waren im Lauf der Jahre wässrig blau ausgeblichen, was dem Haus das Aussehen einer charmanten, im Alter zunehmend liebenswerten Frau verlieh. Als ich auf das Haus zufuhr, machten die Reifen meines Bronco ein knirschendes Geräusch auf den Muschelschalen, das Big Bubba erkannt haben musste.
Aus seinem abgedeckten Käfig heraus zwitscherte er: »Hallöchen! Hallöchen! Hast du mich vermisst?« Ich parkte in der Einfahrt und machte die hintere Tür auf, um den Käfig herauszuholen. »Geschafft, Big Bubba. Wir sind zu Hause.« Er machte gurrende Geräusche und plapperte: »Hast du mich vermisst?« Ich lächelte, weil Reba diesen Satz gern gesagt hatte, wenn sie von der Uni nach Hause kam. Ich trug ihn die Treppe hinauf und öffnete die Haustür. Normalerweise lebt Big Bubba in einem großen Käfig auf dem weitläufigen Lanai - ein hawaiianischer Ausdruck, mit dem hier auf Siesta Key große, überdachte Terrassen bezeichnet werden -, aber um ihn vor den Folgen der Algenplage zu schützen, setzte ich ihn in seinen kleineren Käfig im verglasten Sonnenzimmer. Kongo-Graupapageien sind temperamentvolle Vögel. Wenn sie aufgeregt sind, kann es schon mal passieren, dass sie einem ein Stück aus dem Finger herauspicken, also platzierte ich den Reisekäfig exakt so, dass er selbstständig von einem Käfig in den anderen überwechseln konnte. Zurück in seinem gewohnten Territorium, trippelte er auf der Sitzstange hin und her, nickte heftig mit dem Kopf und warf mir diesen typischen einäugigen Vogelblick zu, während ich frische Saaten und Wasser für ihn bereitstellte. Kongo-Graupapageien, die gesprächigsten und intelligentesten aller Papageien, sind noch dazu auffallend schön. In ihrem glänzend grauen Gefieder prangen weiße Ringe um die Augen, die wie Brillen aussehen, und unter ihren Schwanzfedern blitzen ab und an rote Farbtupfer keck hervor. Wie alle intelligenten Wesen brauchen sie viel Abwechslung, damit sie keine selbstzerstörerischen Tendenzen entwickeln und sich aus lauter Langeweile die Federn ausrupfen. Die Besitzer afrikanischer Graupapageien müssen deshalb verdammt klug und erfinderisch sein, oder sie haben schnell ein gerupftes Huhn im Käfig.
Big Bubba rief: »Hast du mich vermisst?« Ich sagte: »Ich habe jede Minute gezählt, die wir getrennt waren.« Er lachte und nickte mit dem Kopf im Rhythmus seiner eigenen He-he-he-Klänge. Ich sagte: »Das ist gar nicht lustig. Du bist ein richtiger Herzensbrecher.« Reba bewahrt Big Bubbas Saaten in Deckelgläsern auf, die nebeneinander aufgereiht auf einem langen Tisch neben seinem Käfig stehen. Während ich mir also einen witzigen verbalen Schlagabtausch mit einem Papagei lieferte, ließ ich frische Saaten aus den Gläsern in seine Futternäpfe rieseln. Dann wischte ich die Gläser und den Tisch gründlich ab. Reinlichkeit geht mir über alles. Die Papiertücher, die ich zum Saubermachen verwendet hatte, warf ich in den Mülleimer und sagte: »Ich verlasse dich jetzt, Big Bubba. Am Nachmittag sehen wir uns wieder.« Er rief: »Auf ihn! Auf ihn! Haltet den Kerl!« Big Bubba plapperte gern, was aber ein richtiges Gespräch nicht ersetzte. Sein Fernseher stand auf dem Tisch mit den Saatengläsern, und ich beugte mich herunter, um seine Lieblings-Polizeiserie anzustellen. Big Bubba war verrückt nach Sendungen mit wilden Verfolgungsjagden, bei denen Obststände zu Bruch gingen. Ich weiß nicht, ob es die schnellen Autos waren oder das herumfliegende Obst, was ihn so faszinierte, jedenfalls konnte er nicht genug davon kriegen. Kurz vorm Einschalten des Apparats vernahm ich hinter mir plötzlich ein Geräusch und fuhr hoch. In einem schmalen Streifen Sonnenlicht, der durch die Fenster hereinfiel, standen Schulter an Schulter drei junge Männer. Möglicherweise habe ich vor Schreck kurz aufgeschrien, ich bin mir nicht sicher. Ich bin stark und weiß mich zu verteidigen, aber sie waren zu dritt, und ich war alleine. Dem Aussehen nach waren sie ungefähr im Oberstufenalter, und ihr gespielt furchterregendes Gebaren wirkte geradezu komisch - die Augenlider auf Halbmast, die Lippen höhnisch verzogen, die Haare so verstrubbelt wie Spinnweben. Ihre Jeans, und das fand ich nun wirklich lächerlich, saßen so tief auf dem Po, dass die Unterhosen an den Hüften herausquollen. Der Größte, Älteste und Fieseste von ihnen sagte: »Wir suchen Jaz.« Irgendwie überraschte es mich gar nicht, ausgerechnet den Namen dieses Mädchens aus der Tierarztpraxis zu hören. Menschen mit starker Persönlichkeit tauchen scheinbar überall auf, und sei es nur als Name, und Jaz hatte gewiss eine starke Persönlichkeit. Mich erstaunte auch nicht, dass sie diese jungen Männer kannte. Sie hatte diese Mischung aus harter Schale und weichem Kern, die sie anfällig machte für großkotzig auftretende Straßenjungs. Ich schluckte den Kloß in meiner Kehle hinunter und überlegte, ob es einen Gegenstand in Reichweite gab, den ich als Schlagwaffe gebrauchen konnte. Ich sagte: »Jaz? Ich kenne niemanden, der so heißt.« Drei Augenpaare starrten mich finster an. Einen Moment lang blieben alle stumm, und ich dachte schon, sie würden vielleicht abziehen. Dann sagte der Große, wohl ihr Anführer: »Verarsch uns nicht, Lady.« Ich trat einen halben Schritt zurück, machte einen auf ahnungsloses Dummchen und sagte mit hoher Piepsstimme: »Kennen Sie Jaz vielleicht von der Schule her?« Einer der Jungs kicherte höhnisch, worauf der Große ihn finster anblickte. »Wir stellen hier die Fragen. Kapiert? Und jetzt her mit Jaz.« Der mittlere Junge, dessen Jeans so weit herunterhing, dass der Schritt zwischen den Knien baumelte, sagte: »Wir tun ihr nichts, Ma'am.« »Halt's Maul, Paulie!«, fuhr der Große ihn an. Ich zeichnete mit dem Finger ein X auf meine Brust. »Ich schwöre bei Gott, ich kenne niemanden namens Jaz. Diese Häuser sehen alle gleich aus, vielleicht haben Sie sich in der Adresse geirrt.« Der Regisseur in meinem Kopf sagte: Gut so. Verhalte dich nicht wie bei einem Überfall, verhalte dich wie bei einem normalen Besuch von Freunden. Wenn sie dich angreifen, schnapp dir eines dieser Körnergläser und knall es ihnen auf die Rübe. Big Bubba fühlte sich scheinbar just in dem Moment vernachlässigt. »Halloooo«, krähte er, »hast du mich vermisst?« Der Finsterste von den dreien ließ den Arm vorschnellen. In seiner Hand blitzte ein Schnappmesser. Der Junge namens Paulie sagte: »Nein, tu das nicht.« Ich wich einen weiteren halben Schritt zurück. Mein Herz schlug wie ein Presslufthammer, aber nichtsdestotrotz stellte ich mein breitestes Grinsen zur Schau. »Das ist ein afrikanischer Graupapagei. Es klingt, als würde er wissen, was er sagt, aber er imitiert nur Laute, die er gehört hat.« Der Junge mit dem Messer sagte: »Der Vogel ist echt aus Afrika?« »Ja«, erwiderte ich, »aber ich hab ihn nicht selbst dort abgeholt.« Als hätte er plötzlich eine Erleuchtung, schlurfte Paulie, der Mittlere von den Dreien, zu dem Tisch, auf dem Big Bubbas Körnergläser standen. Seine Hose musste er mit einer Hand festhalten, damit sie nicht herunterrutschte. Er nahm ein Glas Sonnenblumenkerne in die Hand und begutachtete es. Vielleicht war das einer der wenigen Gegenstände, die er je genau studiert hatte. »Vogelfutter, oder? Hab ich's doch immer gewusst. Oh Mann, und meine Schwester knabbert das Zeug tonnenweise! « Der mit dem Messer sagte: »Ich hab mal 'ne Sendung gesehen, da hockten Menschen aus Afrika in einem Schiff zusammen, ganz eng und in Ketten. Mann, das war scheiße!« Der Große sah aus, als wollte er ihre Köpfe gegeneinanderballern. »Der Vogel da war auf keinem Sklavenschiff, Vollidiot. « Paulie stellte das Glas mit den Körnern zurück auf den Tisch. Seine Finger hatten eklige Spuren darauf hinterlassen, und am liebsten hätte ich die Papiertücher aus dem Mülleimer geholt und von ihm verlangt, es sauberzumachen. Ich trat einen weiteren halben Schritt zurück und wünschte, ich hätte Pfefferspray bei mir. Big Bubba rief: »Haltet den Kerl! Haltet den Kerl!« »Er schaut zu viel Football im Fernsehen«, sagte ich. »Hallo«, rief Big Bubba. »Hallo! Hallo! Hast du mich vermisst? Touchdown!« Der Junge mit dem Messer klappte die Klinge wieder ein und schob das Kinn nach vorne. »So einen Vogel hätt' ich auch gern.« »Schwachkopf!«, schimpfte der Große. »Wie willst du denn verreisen mit so einem Vogel, der dauernd quatscht? Willst du noch mehr auffallen als jetzt schon?« Vermutlich war genau das der Grund, warum er der Anführer war. Er dachte voraus. Er sah mich eindringlich an; höchstwahrscheinlich fragte er sich, wie lange es dauern würde, bis ich die Polizei rief, wenn sie mich bei vollem Bewusstsein zurückließen. An den Schwachkopf gerichtet sagte ich: »Vielleicht würde dir ja auch ein Wellensittich gefallen. Die können auch sprechen. Aber wenn, dann muss es ein Männchen sein, die Weibchen sprechen nicht. Anders als bei uns Menschen, oder?« Drei leere Augenpaare richteten ihren Blick auf mich. Ich lächelte breit, aber keiner fand witzig, was ich gesagt hatte. Nur Paulie lächelte zurück. Zu dumm. Ich hatte ganz vergessen, dass Ganoven keinen Humor haben.
Mit hoher Frauenstimme schmachtete Big Bubba: »Ich werde dich iiiiimmmer lie-hi-ben. Iiiimmmer.« Dabei klang er vollkommen ernst. Vielleicht, weil ich einen filmreifen Auftritt als blondes Dummchen lieferte, vielleicht, weil Bubba sie nervös machte oder weil sie als Anfänger noch leicht aus der Fassung zu bringen waren - aus welchem Grund auch immer beschloss also der Große: »Jungs, wir verduften.« Binnen Sekunden waren die drei verschwunden, als hätten Sie sich in Luft aufgelöst. Ich wartete gebannt, ob der Motor meines Bronco anspringen würde, weil sie ihn vielleicht kurzschlossen, aber außer meinem eigenen Herzschlag war nichts zu hören. Mit trockenem Mund zog ich mein Telefon heraus und wählte die 911. Deputy Jesse Morgan war in weniger als fünf Minuten an Ort und Stelle, knackig-männlich wie immer in seiner dunkelgrünen Uniform. An seinem Gürtel hatte er sämtliche Utensilien eines Mannes der Strafverfolgung parat. Morgan ist ein vereidigter Deputy, und sein Erscheinen bedeutete, dass man den Vorfall im Department ernst nahm. Morgan und ich kannten einander von einigen anderen unangenehmen Vorfällen. Als ich die Tür öffnete, grüßte er nur stumm mit einem knappen Kopfnicken. Meinen Namen zu nennen, dachte er vielleicht, würde nichts Gutes verheißen. »Sie haben wegen eines Einbruchs angerufen?« Von seinem Käfig im Sonnenzimmer rief Big Bubba herüber: »Keine Bewegung! Keine Bewegung! Keine Bewegung!« Ich sagte: »Das ist nur ein Papagei.« Morgan hielt seinen Stift auf den Notizblock und wartete. »Es waren drei Jungs, Weiße, im späten Teenageralter, alle in Sackhosen, sodass die Unterwäsche rausguckt. Sie standen plötzlich vor mir.« »Eben gerade?«
»Vor fünf oder zehn Minuten. Ich habe angerufen, sobald sie weg waren. Einer von ihnen hatte ein Schnappmesser.« »Sie haben Sie bedroht?« »Nicht direkt. Er hat nur demonstrativ damit herumgefuchtelt. « An der Stelle zögerte ich ein wenig, als hätte ich eine gewisse Scheu davor, weiterzuerzählen. »Sie sagten, sie würden ein Mädchen namens Jaz suchen. Anscheinend dachten sie, sie würde hier wohnen.« Er sah von seinem Notizblock auf. »Wie schreibt man das? J-A-Z-Z wie die Musik?« »Ich meine, ja. Wissen tu ich's nicht.« »Sie kennen das Mädchen?« »Nein, aber ich bin ihr heute Vormittag in Dr. Laytons Praxis begegnet. Dort wollte ich Big Bubba abholen, das ist der Papagei, und da war dieses Mädchen, zusammen mit einem Mann. Ich fand sie ganz nett. Sie waren mit einem Kaninchen da, das der Mann angefahren hatte, aber Dr. Layton konnte nichts mehr tun.« »Für das Kaninchen.« »Ja. Der Mann gab an, er sei ihr Stiefvater, aber er nannte sie nicht Jaz, sondern Rosemary.« Er zog eine Augenbraue hoch und sah mich einen Moment lang an. »Klingt so, als würden Sie ihm nicht glauben.« Darauf ging ich gar nicht erst ein. »Woher soll ich das wissen? Ich hab die beiden nie zuvor gesehen.« »Außer bei der Tierärztin.« »Außer dort.« Seine Mimik verriet keine Spur von seinen Gedanken. »Sie kümmern sich um diesen Papagei?«, fragte er. »Richtig, für Reba Chandler. Ich schaue zweimal täglich vorbei. Die Nacht über musste ich ihn bei der Tierärztin lassen, aber es ist alles okay. Nur eine kleine Reaktion auf die Algenblüte«. »Wer hat die nicht? Haben Sie 'ne Ahnung, warum diese Typen Jax hier vermutet haben?« »Jaz heißt sie. Jaz. Ich glaube, sie haben sich einfach geirrt. Ich fand die Kleine ganz nett.« Ich wusste, dass ich mich wiederholte, aber aus irgendeinem Grund wollte ich nicht, dass Morgan schlecht von Jaz dachte, nur weil ein paar Kleinganoven hinter ihr her waren. »Miss Chandler kennt diese Jaz nicht?«, wollte er wissen. Ich sah ihn an, wie man jemanden ansieht, der eine wirklich dumme Frage gestellt hat, fand dann aber, dass die Frage so dumm gar nicht war. Die Tatsache, dass ich Jaz nicht kannte, bedeutete nicht, dass Reba Chandler sie nicht kannte. Vielleicht war dem ja so. Wenn Jaz hier in der Gegend wohnte, wäre es gut möglich, dass Reba sich vielleicht mit ihr angefreundet hatte. Nur glaubte ich nicht, dass sie hier in der Gegend wohnte. Ich sagte: »Womöglich habe ich nicht klar genug gesagt, dass diese Typen zum Fürchten waren.« »Genauere Angaben zu ihrer Identifizierung?« »Einer hieß Paulie.« Ich klatschte mir mit der Hand gegen die Stirn, wie jemand, dem plötzlich einfällt, er könnte vielleicht ein Achtzylinder- Kraftpaket vor der Haustür stehen haben. »Oh, hab ich ganz vergessen! Dieser Paulie nahm ein Vogelfutterglas in die Hand. Da müssten Fingerabdrücke drauf sein.« Morgan legte den Stift weg und folgte mir ins Sonnenzimmer. Er und Big Bubba musterten einander kurz, während ich in die Küche eilte, um eine von Rebas Baumwolltaschen zu holen. Anschließend bedeckte Morgan den Schraubdeckel des Glases mit einem Papiertuch und transferierte das Glas vorsichtig in die Tasche. Paulies Fingerabdrücke würden abgenommen und einem IAFIS-Abgleich zugeführt werden. Hatte der Bursche je Kontakt mit den Strafverfolgungsbehörden gehabt, dann wären seine Fingerabdrücke im Interstate Identification Index der IAFISDatenbank erfasst. Ich sagte: »Noch was, einer von denen faselte was von Reisen.« »Was genau hat er gesagt?« »Er sagte: ›Schwachkopf! Wie willst du denn verreisen mit so einem Vogel, der dauernd quatscht?‹ Wissen Sie, einer von den Typen sagte, er hätte gern einen Vogel wie Big Bubba, und der andere sagte dann, ich glaube, es war der Anführer: ›Wie willst du denn verreisen mit einem Vogel, der dauernd quatscht?‹« Morgan hob die Baumwolltasche an den Griffen hoch. »Haben Sie eine Möglichkeit, Miss Chandler zu erreichen?« Ich schüttelte den Kopf. »Sie befindet sich auf einem Schiff in Südfrankreich, das an Vier-Sterne-Restaurants haltmacht.« Reba hatte mir für den Notfall die Nummer der Schifffahrtslinie hinterlassen, aber ich würde ihr doch nicht den Urlaub verderben, nur weil ein paar Ganoven ihrem Haus in meiner Anwesenheit einen Besuch abgestattet hatten. Morgan machte den Eindruck, als wüsste er, dass ich Reba notfalls erreichen konnte, aber er hakte nicht weiter nach. Als er ging, sagte er: »Wir werden die Gegend strenger kontrollieren. « Ich nickte in dem Wissen, dass die vielen Bäume und Sträucher an der Straße so manches harmlose Verhalten verbargen. Sie würden auch kriminelles Verhalten verbergen. Ich gab Big Bubba ein paar Bananenscheiben zur Beruhigung, für den Fall, dass ihn das Gespräch zwischen mir und Deputy Morgan zu sehr aufgeregt haben sollte. Dann stellte ich seinen Fernseher an und stapfte die Treppe hinunter zurück zum Bronco. Als ich die Zufahrt entlangfuhr, sah ich durch die Blätter einer Arecapalme hindurch schemenhaft ein bleiches Etwas. Ich hielt an und sah genauer hin. Einen Herzschlag lang dachte ich, zwischen den grünen Bäumen und hängenden Ranken würde Jaz' Gesicht hervorblicken, das aber sofort wieder verschwand, falls sie es tatsächlich gewesen sein sollte. Ich überlegte kurz und fuhr dann über ein paar Straßen zu Hetty Soames' Haus. Sollte Jaz etwas mit diesen Typen zu haben, die in Rebas Haus aufgekreuzt waren, musste Hetty darüber informiert werden, bevor sie sich auf das Mädchen einließ.
© 2012 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von BLAIZE CLEMENT
Blaize Clement war 25 Jahre lang als Psychologin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Sie hat zwei Kinder und fünf Enkel und lebt in Sarasota, Florida. Ihre Romane um die Tiersitterin Dixie Hemingway trugen der Autorin lobende Vergleiche mit Katzenkrimi-Altmeisterin Lilian Jackson Braun ein.
Bibliographische Angaben
- Autor: BLAIZE CLEMENT
- 2011, 1, 288 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868008578
- ISBN-13: 9783868008579
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