Mein deutsches Dschungelbuch
Gerade zurück von der ''Reise nach Trulala'', durchstreift Kultautor Kaminer nun forschergleich seine neue Wahlheimat Deutschland.
Verfolgen Sie seine wahnwitzig-poetische Odyssee per Regionalexpress durch die deutsche Provinz. Begleiten Sie ihn nach...
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Gerade zurück von der ''Reise nach Trulala'', durchstreift Kultautor Kaminer nun forschergleich seine neue Wahlheimat Deutschland.
Verfolgen Sie seine wahnwitzig-poetische Odyssee per Regionalexpress durch die deutsche Provinz. Begleiten Sie ihn nach Weikersheim und Waldbröl - und zu anderen exotischen Orten, deren Namen kein Sterblicher je vernommen hat.
"Schon droht uns Kaminer mit einem 'Weltdschungelbuch'. Aber auch das würden wir gerne lesen. Kaminers Dschungelbuch ist ganz aus dem Geist des Understatements geschrieben: keine Kulturkritik, kein wichtigtuerisches Ich, keine schwerliterarische Ambition. Vergleicht man es etwa mit Roger Willemsens 'Deutschlandreise', dann kann man nur konstatieren: Vorteil Kaminer. Außerdem ist Kaminer, was nur selten bemerkt wird, ein großer Stilist, ein Meister seiner Form, einer kleinen Form natürlich, die der Romanform in manchem überlegen ist. Wladimir Kaminer, soviel steht fest, ist ein großer Gewinn für die deutsche Literatur." Süddeutsche Zeitung
"Das Geheimnis Kaminers ist die Sanftheit seiner Satire. Er lässt, scheinbar, nur den Dingen ihren Lauf und macht kein Aufhebens davon, dass er selbst sie in Gang setzt. Er ist ein Candide der Normalität." DIE ZEIT (Dieter Hildebrandt)
Mein deutschesDschungelbuch von Wladimir Kaminer
LESEPROBE
Quittenschnaps (Weikersheim)
Die Justizvollzugsanstalt Straubing feierte ihr hundertjährigesBestehen. Eine umfangreiche Ausstellung im Keller der Stadtbibliothek zeigtedie beeindruckende Entwicklung, wie aus einem primitiven Zuchthaus ein modernerbayerischer Strafvollzug wurde. Zur Eröffnung der Ausstellung sollten derbayerische Justizminister sowie alle noch lebenden ehemaligen Mitarbeiter desKnasts eingeladen werden. Ich sehe mir zu Hause oft neue Horrorfilme auf Videoan und wäre gerne zu dieser Veranstaltung gegangen, konnte aber nicht: Ichmusste weiter nach Weikersheim fahren.
Im Straubinger Hotel hatte ich mehrmals versucht, ein Weikersheimauf der Karte zu finden. Vergeblich. Wahrscheinlich war meine Karte zu ungenauund Weikersheim zu klein, oder ich zu ungebildet und ungeduldig. Am Bahnhoffragte ich die Fahrkartenverkäuferin nach einer günstigen Zugverbindung und warüberrascht von dem vielfältigem Angebot: Ich konnte nach Weikersheim überPlatting, über Nürnberg und Crailsheim fahren, aber auch über Regensburg,Würzburg, Elpersheim und Lauda. Alle diese Städte waren mir unbekannt, ihreNamen klangen für mich wie die Namen verschiedener Käsesorten, zum Sonderpreisin einer Tüte zusammengepackt. Also fuhr ich einfach los - mit dem Regionalexpressdurch die süddeutsche Pampa.
Draußen hatte es mindestens dreißig Grad, die Sonne knallte durchdie Fenster, keine einzige Wolke weit und breit. Am Crailsheimer Bahnhof imBusch verkaufte ein alter Indianer Pommes mit Ketchup und Coca-Cola. Nach und nachverließen alle Einheimischen den Zug, bis ich allein im Waggon blieb undunruhig wurde. Die Abstände zwischen den Stationen wurden immer kürzer, dieAnsagen immer undeutlicher. Alle zwei Minuten hielt der Zug an irgendeinemkleinen, manchmal überhaupt nicht erkennbaren Bahnhof. Ich steckte den Kopf ausdem Fenster und suchte vergeblich nach einem Schild mit dem Namen desStädtchens. Der Lokomotivführer sagte zwar die Stationen durch dieLautsprechanlage an, trotzdem verlor ich die Orientierung. Entweder sprach ereinen mir nicht zugänglichen Dialekt, oder er kaute jedes Mal an einerMaultasche - ich konnte jedenfalls kein Wort verstehen. Alles aus seinem Mundeklang wie "Schuschihein" für mich. Laut Fahrplan sollten wirWeikersheim schon längst erreicht haben. Es hätte aber sein können, dass wir zuspät bzw. zu früh dran waren. Nach drei weiteren "Schuschihein"beschloss ich, einfach auszusteigen. Der Zug fuhr immer schneller, er hieltjetzt nur noch für Sekunden und raste sofort weiter - von einem "Schuschihein"zum nächsten. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich im falschem Schuschiheinausstieg, war groß, trotzdem sprang ich beim nächsten Halt raus. Undtatsächlich war ich eine Station zu früh ausgestiegen. Doch Weikersheim warnahe. Ich konnte den Ort sogar schon sehen.
"Noch zwei, maximal drei Kilometer durchs lieblicheTaubertal, immer der Romantischen Straße entlang, wenn Sie so geradeaus gehen,dann sehen Sie bald das Weikersheimer Schloss", erklärte mir einefreundliche Einheimische. Ich ging also zu Fuß an der Romantischen Straßeentlang, die eigentlich die Funktion einer Autobahn hier in der Gegend hatteund deswegen für Spaziergänge völlig ungeeignet war. Ich versuchte dabei, dieEisenbahngeleise im Auge zu behalten, aber irgendwann führte die RomantischeStraße nach rechts, und die Eisenbahnlinie bog links ab, und vor mir lagWeikersheim in seiner ganzen Schönheit. Doch ein kleines und vollkommenunüberbrückbares Flüsschen trennte uns. Ich blieb am Ufer stehen und fing an,mich selbst zu trösten: Ach, bleib cool, in Deutschland kann man sich nichtverlaufen. Aber dann drohte ich doch mit der Faust in Richtung Schloss. Hierging es ums Prinzip. Wenn es sein muss, schwimme ich einfach rüber, dachte ich.Da klingelte plötzlich mein Handy:
"Wo stecken Sie, Herr Kaminer, sind Sie schon in Weikersheimangekommen? Wir machen uns bereits Sorgen um Sie."
Das war Renate, die lokale Veranstalterin, die mich nachWeikersheim eingeladen hatte.
"Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen", beruhigteich sie. "Ich bin zufällig am falschen Heim ausgestiegen und stehe jetzthier unten am Fluss. Aber auf der anderen Seite kann ich Weikersheim bereitsganz deutlich sehen. Leider gibt es hier keine Brücke, aber das macht nichts,ich rauche schnell meine letzte Zigarette zu Ende und schwimme zu Ihnenrüber."
"Von welchem Fluss reden Sie eigentlich?", wunderte sichRenate. "Wir haben hier weit und breit keinen Fluss. Meinen Sie vielleichtden Sumpf? Da gehen Sie besser nicht ins Wasser, beschreiben Sie mir lieber,was Sie sehen, ich komme und hole Sie mit dem Auto ab."
Ich drehte mich um. Beschreiben? Wie sollte man das beschreiben?Ich stand an einer grünen Wiese vor einem Sumpf, links war die Autobahn, rechtswaren Büsche. Oben knallte die Sonne, unten wuchs Gras.
"Das ist so ziemlich alles, was ich Ihnen hier beschreibenkann", stotterte ich.
"Alles klar, ich weiß jetzt, wo Sie sind. Bleiben Sie bittedort", sagte Renate und legte auf. Fünf Minuten später saß ich bereits inihrem Volkswagen.
"Zu Fuß wären Sie nie bei uns angekommen", lachte sie.
Renate und ihr Mann Norbert, der Leiter des kleinsten KulturamtsDeutschlands, bewohnten ein altes Steinhaus, in dem sich früher eineSchnapsbrennerei befand. Um meine Ankunft zu feiern und mich vom Stress derAnreise zu erholen, holte Renate einige Flaschen selbst gebranntenQuittenschnaps aus dem Keller. Wir stießen an.
"Die meisten Bewohner von Weikersheim sind Weinbauern, auchich. Die Veranstaltungen unseres Kulturklubs mache ich nebenbei", erzähltemir Renate.
Als sich ihr Großvater kurz nach Beginn des Krieges in der Schweizversteckte, musste ihr Vater, damals ein vierzehnjähriger Junge, den Weinbergallein bestellen.
Zur Armee wurde er nicht einberufen, weil er sehr schwach undklein aussah. 1945 kamen die Amerikaner in das Städtchen und enteigneten alsErstes alle Schnaps- und Weinvorräte der Bewohner. Selbst gebrannter Schnapsgalt als Kriegstrophäe und durfte nun von den Siegern genossen werden. Niemandleistete Widerstand, nur der kleine Junge, der Vater von Renate: Er versteckteseinen kompletten Weinjahrgang im Keller und tat so, als hätte er nicht eineFlasche. Und die Amerikaner glaubten ihm, weil er eben so klein war und garnicht nach Alkohol roch. Sie tranken alles aus und zogen weiter zum nächstenSchnapsdorf. So blieb der zukünftige Vater von Renate der Einzige in derGegend, der noch Wein des Jahrgangs 1944 besaß. Die Bewohner des Städtchensstanden bei ihm Schlange. Schnaps und Wein zählten dort seit Urzeiten zu denGrundnahrungsmitteln. Als dann die Währungsreform kam, verkaufte der Vater vonRenate seine letzten Vorräte schnell gegen die neue D-Mark und wurde so zumreichsten Weinbauern der Stadt. Von diesem Geld baute er sich ein großesSteinhaus, in dem Renates Familie noch heute lebt.
"Wenn Sie wollen, können Sie auch länger bei unsbleiben", meinte die freundliche Gastgeberin abends, als wir nach derLesung im Klub noch auf der Gasse vor ihrem Haus saßen. Die Sterne waren sogroß, der Himmel so nah. Je mehr ich trank, umso mehr gefiel es mir in Weikersheim:nette Menschen, eine liebliche Landschaft, eine schöne, aber stabileArchitektur... Ich war froh, dass die Amerikaner damals den Wein nicht gefundenhatten. Vielleicht sollte ich einfach hier bleiben. Und in Ruhe einenQuittenschnaps-Roman schreiben. Dieses Getränk eroberte mein Herz schnell.Wahrscheinlich würde ich einen solchen Roman nie zu Ende schreiben. Um derVersuchung zu entkommen, verließ ich gleich am nächsten Tag die freundlicheFamilie von Renate. Vier lange, dünne Schnapsflaschen, sorgfältig inZeitungspapier eingewickelt, lagen in meiner schwarzen Vorlese-Tasche. Damithat man vor nichts mehr Angst.
(c) Verlagsgruppe Random House
- Autor: Wladimir Kaminer
- 2005, 253 Seiten, Maße: 11,5 x 18,2 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442459451
- ISBN-13: 9783442459452
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