Mein verwundetes Herz
Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944
Sie studierte Medizin, heiratete, gebar 5 Kinder und gründete mit ihrem Mann eine Arztpraxis. Doch der ließ sich 1942 scheiden weil er dem Druck des NS-Regimes nicht standhielt. Der Leidensweg der Jüdin Lilli Jahn begann.
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Produktinformationen zu „Mein verwundetes Herz “
Sie studierte Medizin, heiratete, gebar 5 Kinder und gründete mit ihrem Mann eine Arztpraxis. Doch der ließ sich 1942 scheiden weil er dem Druck des NS-Regimes nicht standhielt. Der Leidensweg der Jüdin Lilli Jahn begann.
Auf der Basis von hunderten aus einem Arbeitslager geschmuggelten Briefen erzählt Martin Doerry eine ergreifende Geschichte. 1944 kam Lilli Jahn in Auschwitz ums Leben.
"Vergleichbar dem Tagebuch der Anne Frank"
FAZ
Lese-Probe zu „Mein verwundetes Herz “
Mein verwundetes Herz von Martin DoerryEinleitung
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Das Schicksal Lillis ist ihren Enkeln nicht verschwiegen worden. Doch ihre Geschichte blieb stets ebenso blass wie unverständlich, ja rätselhaft und wurde immer nur in zwei, drei schlichten Sätzen angedeutet. Großmutter Lilli, so hieß es, ist in Auschwitz umgebracht worden. Und: Euer Großvater Ernst hatte sich von ihr scheiden lassen, so war sie, die Jüdin, den Nazis schutzlos ausgeliefert.
Mehr berichteten Lillis Kinder ihren eigenen Kindern nicht. Gewiss hätten sie mehr gesagt, wenn sie danach gefragt worden wären. Aber das Ungeheuerliche lastete nicht nur auf ihnen, als Trauma, es lastete auch auf Lillis Enkeln als unausgesprochenes Frageverbot.
Dieses Tabu allerdings beherrschte viele Familien von Opfern wie Tätern über Jahrzehnte und verlor erst im Laufe der neunziger Jahre an Kraft und Bedeutung. Eine neue Generation fragte gründlicher denn je nach den Ursachen und Folgen des Nationalsozialismus. Und diese Auseinandersetzung war es, die plötzlich jene Blockade löste, mit der sich viele Überlebende des Holocaust und deren Angehörige vor den eigenen Emotionen zu schützen suchten. Das, was für sie ein halbes Jahrhundert lang nicht viel mehr als eine lähmende, alles überschattende Vergangenheit war, wurde jetzt zum Gegenstand konkreter, oft schmerzlicher Erinnerung.
Als Lillis Sohn Gerhard im Oktober 1998 in Marburg starb, setzte dieser Prozess auch bei seinen vier Schwestern ein. Gerhard Jahn, der sozialdemokratische Politiker und Bundesjustizminister im Kabinett Willy Brandts, hatte ein unverhofftes Erbe hinterlassen, das seine Schwestern schockierte: In mehreren Kartons und Umschlägen fanden sich etwa 250 Briefe, die Lillis Kinder 1943 und 1944 an ihre damals bereits in einem Lager inhaftierte Mutter geschrieben hatten.
Die Schwestern erinnerten sich natürlich an die Briefe. Nur wussten sie nicht, dass der eigene Bruder diese Dokumente mehr als fünf Jahrzehnte lang aufbewahrt hatte. Nie war von ihnen die Rede gewesen.
Eines Tages, zu Beginn des Jahres 1999, setzten sich Lillis Töchter zusammen und nahmen den Nachlass in Augenschein. Sie lasen sich ihre eigenen Briefe abwechselnd vor, sie weinten, zuweilen lachten sie aber auch über ihre kindliche Naivität. Dann legten sie alles wieder zurück in die Schachteln und Umschläge und versuchten, erneut zu vergessen.
Doch die Erinnerung ließ sich nun nicht mehr aufhalten. Ilse, 1929 geboren und damit Lillis älteste Tochter, berichtete nach und nach ihren drei Kindern von dem Fund; Johanna, die zweitälteste, rief eines Tages ihre vier Kinder zusammen, um ihnen Lillis Geschichte zu erzählen. Nur Eva, die dritte, sah sich einer Auseinandersetzung mit ihren Briefen zunächst nicht gewachsen und machte sich erst mit einiger Verzögerung an eine gründliche Lektüre. Dorothea schließlich war 1943 gerade drei Jahre alt gewesen, konnte damals also noch nicht schreiben.
Dass die Kinderbriefe überhaupt noch existierten, kam schon einem kleinen Wunder gleich. Lilli war es im März 1944, unmittelbar vor ihrer Deportation nach Auschwitz, gelungen, diese Dokumente aus dem Arbeitserziehungslager Breitenau bei Kassel hinauszuschmuggeln. Wahrscheinlich hatte ihr eine Aufseherin diesen letzten Gefallen getan. Und da Lilli selbst bis dahin ebenfalls eine Reihe von zumeist illegalen Briefen an ihre Kinder geschrieben hatte, ergab sich jetzt erstmals ein geschlossenes Bild der dramatischen Vorgänge in Herbst und Winter 1943/44.
Ilses Sohn, der Autor dieser Zeilen, übernahm anfangs nur die Aufgabe, den Briefwechsel für die Familie zu ordnen und zu vervielfältigen. Bald jedoch stellten sich Fragen über Fragen - vor allem eine galt es zu beantworten: Warum hatte sich Ernst Jahn 1942 von Lilli getrennt, obwohl er doch wissen musste, dass seine jüdische Frau dadurch dem sicheren Tod ausgeliefert war? Oder konnte er das damals noch nicht wissen?
So gewann plötzlich die Vorgeschichte an Bedeutung: Wie kam es zu Lillis Heirat mit dem Protestanten Ernst? Wie hatte sich ihr Mann in den ersten Jahren nach der Machtergreifung der Nazis verhalten?
Weitere Nachforschungen brachten weitere Briefe ans Licht. Jede der Schwestern, so stellte sich bald heraus, besaß Dokumente oder Briefe der Mutter, von denen die anderen nichts oder wenig wussten. Schließlich ließen sich mehr als 30o weitere Briefe ausfindig machen, zumeist aus der Feder Lillis, geschrieben in den Jahren 1918 bis 1944. Sie alle belegen eindrucksvoll die fortschreitende Stigmatisierung, Isolation und Verfolgung Lillis und ihrer Kinder.
Damit stellte sich die Frage nach einer Veröffentlichung. Zwar hatte Gerhard Jahn zeitlebens jeden Versuch, Lillis Briefe aus Breitenau einem größeren Publikum vorzustellen, scharf kritisiert und in der Regel auch unterbunden. Nur aus welchen Motiven? Rechnete er mit dem Aufbrechen alter, eigener Wunden? Auch Lillis Töchter konnten sich zunächst nicht vorstellen, dass die Leidensgeschichte ihrer Mutter fremden Menschen preisgegeben werden würde; sie fürchteten eine Skandalisierung des Privaten, eine Plünderung ihrer persönlichen Gefühle und Erinnerungen durch den auf den Holocaust fixierten Zeitgeist.
Warum also sollte die Geschichte Lillis überhaupt noch erzählt werden?
Eine einfache Antwort: Jede neue Biografie, jede authentische Quelle aus der NS-Zeit erreicht auch neue Leser und ist schon deswegen ein Gewinn für die politische Kultur der Gegenwart und das historische Bewusstsein kommender Generationen.
Und eine nicht ganz so einfache Antwort: Die meisten, ja fast alle autobiografischen Zeugnisse erzählen naturgemäß die Geschichte von Überlebenden. Sei es Primo Levi, sei es Victor Klemperer oder Ruth Klüger - immer berichten diese Autoren vom Schrecken und vom Leiden aus der Perspektive der Davongekommenen. Wer ihre Bücher aufmerksam liest, wird gewiss im Glück der wenigen Überlebenden das Unglück von sechs Millionen Ermordeten erkennen. Und dennoch fehlt die Erfahrung, die Wahrnehmung jener Opfer, die den Holocaust nicht überlebt haben. Selbstverständlich finden sich Ausnahmen, allen voran das Tagebuch Anne Franks. Aber das in der literarischen Überlieferung Typische ist eben doch das Schindler-Modell: die abenteuerliche Rettung aus höchster Not. Wer die dialektische Bedeutung solcher Berichte nicht begreifen kann oder will, für den summiert sich die Erinnerung zu einer merkwürdig verzerrten Bilanz: Es entsteht das Bild einer Schreckensherrschaft, der die meisten am Ende doch entronnen sind.
Lilli ist ihr nicht entkommen. Im Grunde steht ihr Schicksal nur für das von Millionen. Und doch steckt hinter jedem Holocaust-Opfer eine ganz eigene, besondere Geschichte. Wer etwas über den epochalen Einschnitt des Jahres 1933 wissen wolle, so schrieb Sebastian Haffner in seiner »Geschichte eines Deutschen«, der müsse »Biografien lesen, und zwar nicht die Biografien von Staatsmännern, sondern die raren Biografien der unbekannten Privatleute«. In diesem Sinne beschreibt die Biografie Lilli Jahns eine private Person: eine jüdische Ärztin, die eine aufmerksame Zeitzeugin der zwanziger und dreißiger Jahre in Deutschland war; eine emanzipierte Frau, die ihren Beruf liebte und zugleich in ihrer Mutterrolle aufging; eine literarisch und musisch gebildete Intellektuelle, die mit ihren Freunden philosophische und theologische Debatten führte. Vor allem aber war Lilli eine leidenschaftliche, temperamentvolle Frau, die in ihrer bedingungslosen Liebe zu ihrem Mann bald schon den eigenen Projektionen erlag und dafür hart bestraft wurde.
Ernst Jahn - ebenfalls Arzt - entsprach in seinem grüblerischen Wesen so gar nicht dieser fröhlichen jungen Frau, die hingebungsvoll tanzte und Klavier spielte, die mit Begeisterung Konzerte und Kunstausstellungen besuchte. Erst die Ehe mit Ernst und dann die Verfolgung durch die Nationalsozialisten brachten in ihr Leben jene Düsternis, die heute jede Erinnerung an sie beherrscht.
Dieses Schicksal teilt sie allerdings mit vielen ihrer Leidensgenossen. Das Leben der assimilierten bürgerlichen Juden Deutschlands im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hat erst im Nachhinein, durch das Wissen um den Holocaust, seine melancholische Patina erhalten. Trotz der wachsenden antisemitischen Hetze konnten die meisten deutschen Juden bis 1933 ein ebenso zufriedenes oder glückliches Leben führen wie ihre nichtjüdischen Zeitgenossen.
Mit der Machtergreifung der Nazis änderte sich nicht nur Lillis äußere Lage, sondern auch ihr Verhalten: Selbstbewusstsein und Lebensfreude wurden ihr genommen. Lilli war plötzlich eine ängstliche Frau, die jeder fremden Person auswich. Sie spürte, wie sich ihre ganze Umwelt gegen sie verschwor. Sie verließ das Haus nicht mehr - bis sie daraus schließlich vertrieben wurde. Dann folgten die Festnahme durch die Gestapo, die Einweisung in ein Arbeitserziehungslager und Zwangsarbeit in einer Fabrik; am Ende der Transport nach Auschwitz.
Die Kinder wurden zu Zeugen einer langsamen und qualvollen Entwürdigung ihrer Mutter. Sie protestierten auf ihre Weise dagegen: Mit einer Flut von Briefen an die im Lager inhaftierte Mutter kämpften sie um den Erhalt einer längst verlorenen Normalität, sie bezogen Lilli weiterhin in die meisten Entscheidungen der Familie ein, die Kinder schilderten ihren Alltag bis ins Detail - und brachten dabei doch nur in jedem Brief und jeder Zeile ihren Kummer und ihre Sehnsucht zum Ausdruck.
So wie Lillis Schicksal dem Leidensweg vieler Opfer des Nationalsozialismus entspricht, so ist auch das ihrer Kinder in gewisser Hinsicht repräsentativ: Wie Millionen andere Deutsche erlebten sie in diesen letzten Kriegsjahren den Schrecken an der sogenannten Heimatfront. Sie zitterten vor Angst im Luftschutzkeller, sie wurden ausgebombt und evakuiert. Gerhard musste als Flakhelfer feindliche Flugzeuge vom Himmel holen, Ilse und Johanna wurden zu Katastropheneinsätzen eingeteilt, um anderen Bombenopfern zu helfen.
Auch das gehört zur Geschichte Lillis. Die Kinder berichteten ihr von all diesen Aufregungen, die sie nun ganz ohne die Hilfe und Fürsorge der Mutter durchzustehen hatten. Schlimmer noch: Lilli selbst war auf die Unterstützung ihrer Kinder angewiesen. Sie hungerte - und die Kinder schickten Pakete mit allem, was sie an Eßbarem auftreiben konnten, ins Lager. Sie fror - und die Kinder brachten Wäsche zur Post. Sie flehte um Fürsprache bei der Gestapo - und die Kinder drängten den Vater dazu. Schließlich bat sie für den Fall ihrer Entlassung um Geld für eine Rückfahrkarte - und die Kinder ließen ihr tatsächlich zwanzig Reichsmark zukommen.
All das geschah keineswegs im Verborgenen. Während Lilli im Lager Breitenau eingesperrt war, lebten ihre Kinder in einem noch weitgehend intakten sozialen Umfeld, zunächst in Kassel, später wieder im Hause des Vaters in der Kleinstadt Immenhausen, wo sie aufgewachsen waren. Dutzende, wenn nicht Hunderte von Freunden, Bekannten und Nachbarn wussten damit auch von Lillis Schicksal. Manche, immerhin, äußerten ihr Mitgefühl, aber die meisten nahmen den Terror hin. Alle wussten davon - aber niemand intervenierte oder protestierte gegen die Zerstörung dieses Lebens.
So ist dieser Briefwechsel auch ein Lehrstück über die Gleichgültigkeit der Menschen im Kriege. Er erzählt von den verheerenden Folgen, die ganz alltägliche menschliche Schwächen wie Feigheit oder Egoismus in einem totalitären System zeitigen können. Zugleich zeugt er jedoch von bedingungsloser Liebe, von Mut und Zivilcourage - auch das waren Wesensmerkmale und Tugenden, die sich unter einem so hohen äußeren Druck entfalten konnten.
Solche Schlüsse und Interpretationen überlässt die hier vorgelegte Biografie allerdings in der Regel dem Leser. Der Autor beschränkt sich zumeist auf die Rolle des Chronisten und erklärt das Geschehen nur dort, wo es zum Verständnis der Briefe notwendig ist. Die Vielzahl von aussagekräftigen Dokumenten hätte sicher auch eine konventionelle Biografie möglich gemacht. Allein der Respekt vor dem Authentischen, vor den - ohne Übertreibung - herzergreifenden Briefen Lillis und ihrer Kinder legte eine möglichst umfassende Wiedergabe der Originalquellen nahe.
Vor allem Lillis Briefe wurden von den Adressaten als kostbare Andenken betrachtet und bis heute aufbewahrt. Lilli war noch in einer bildungsbürgerlichen Tradition aufgewachsen, zu der auch eine ambitionierte Briefkultur gehörte. Schon in ihrem Kölner Elternhaus besaß man ein Telefon, doch das diente nur zur knappen Nachrichtenübermittlung. Endlose Gespräche waren nicht üblich, bei der noch unzulänglichen Technik wäre das auch kein Vergnügen gewesen.
Lilli schrieb also aus Überzeugung Briefe, zunächst an ihren Freund und späteren Ehemann, dann an die Freunde, schließlich an die Kinder. Und weil sie sich Briefautorinnen wie Rahel Varnhagen oder Caroline Schelling zum Vorbild genommen hatte, schrieb sie auch mit einem erkennbaren Gestaltungswillen: Lilli berichtete über die Dinge des Alltags ebenso wie über ihre Gefühle und Empfindungen, sie philosophierte, politisierte. Und sie vermittelte diese Vorliebe ihren Kindern. Besonders Ilse und Johanna verraten in ihren Briefen eine durch das häufige Schreiben geschulte Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und Beobachtung.
Hätte Lilli einer Veröffentlichung dieser doch so persönlichen Dokumente überhaupt zugestimmt? Diese Frage drängt sich auf - und ist doch schon deswegen nicht sinnvoll, weil sie Lilli nicht gestellt werden kann. Hätte ihr Schicksal einen anderen, besseren Lauf genommen, so hätte allein Lilli über den Umgang mit ihrer Korrespondenz entschieden. Nun, mehr als fünfzig Jahre nach ihrem Tod, bleibt die Entscheidung ihren Nachfahren überlassen. Mit der Veröffentlichung übernehmen sie eine besondere Verantwortung. Aber die Zeit scheint reif für eine Rekonstruktion dieser - nur auf den ersten Blick - privaten Katastrophe.
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Das Schicksal Lillis ist ihren Enkeln nicht verschwiegen worden. Doch ihre Geschichte blieb stets ebenso blass wie unverständlich, ja rätselhaft und wurde immer nur in zwei, drei schlichten Sätzen angedeutet. Großmutter Lilli, so hieß es, ist in Auschwitz umgebracht worden. Und: Euer Großvater Ernst hatte sich von ihr scheiden lassen, so war sie, die Jüdin, den Nazis schutzlos ausgeliefert.
Mehr berichteten Lillis Kinder ihren eigenen Kindern nicht. Gewiss hätten sie mehr gesagt, wenn sie danach gefragt worden wären. Aber das Ungeheuerliche lastete nicht nur auf ihnen, als Trauma, es lastete auch auf Lillis Enkeln als unausgesprochenes Frageverbot.
Dieses Tabu allerdings beherrschte viele Familien von Opfern wie Tätern über Jahrzehnte und verlor erst im Laufe der neunziger Jahre an Kraft und Bedeutung. Eine neue Generation fragte gründlicher denn je nach den Ursachen und Folgen des Nationalsozialismus. Und diese Auseinandersetzung war es, die plötzlich jene Blockade löste, mit der sich viele Überlebende des Holocaust und deren Angehörige vor den eigenen Emotionen zu schützen suchten. Das, was für sie ein halbes Jahrhundert lang nicht viel mehr als eine lähmende, alles überschattende Vergangenheit war, wurde jetzt zum Gegenstand konkreter, oft schmerzlicher Erinnerung.
Als Lillis Sohn Gerhard im Oktober 1998 in Marburg starb, setzte dieser Prozess auch bei seinen vier Schwestern ein. Gerhard Jahn, der sozialdemokratische Politiker und Bundesjustizminister im Kabinett Willy Brandts, hatte ein unverhofftes Erbe hinterlassen, das seine Schwestern schockierte: In mehreren Kartons und Umschlägen fanden sich etwa 250 Briefe, die Lillis Kinder 1943 und 1944 an ihre damals bereits in einem Lager inhaftierte Mutter geschrieben hatten.
Die Schwestern erinnerten sich natürlich an die Briefe. Nur wussten sie nicht, dass der eigene Bruder diese Dokumente mehr als fünf Jahrzehnte lang aufbewahrt hatte. Nie war von ihnen die Rede gewesen.
Eines Tages, zu Beginn des Jahres 1999, setzten sich Lillis Töchter zusammen und nahmen den Nachlass in Augenschein. Sie lasen sich ihre eigenen Briefe abwechselnd vor, sie weinten, zuweilen lachten sie aber auch über ihre kindliche Naivität. Dann legten sie alles wieder zurück in die Schachteln und Umschläge und versuchten, erneut zu vergessen.
Doch die Erinnerung ließ sich nun nicht mehr aufhalten. Ilse, 1929 geboren und damit Lillis älteste Tochter, berichtete nach und nach ihren drei Kindern von dem Fund; Johanna, die zweitälteste, rief eines Tages ihre vier Kinder zusammen, um ihnen Lillis Geschichte zu erzählen. Nur Eva, die dritte, sah sich einer Auseinandersetzung mit ihren Briefen zunächst nicht gewachsen und machte sich erst mit einiger Verzögerung an eine gründliche Lektüre. Dorothea schließlich war 1943 gerade drei Jahre alt gewesen, konnte damals also noch nicht schreiben.
Dass die Kinderbriefe überhaupt noch existierten, kam schon einem kleinen Wunder gleich. Lilli war es im März 1944, unmittelbar vor ihrer Deportation nach Auschwitz, gelungen, diese Dokumente aus dem Arbeitserziehungslager Breitenau bei Kassel hinauszuschmuggeln. Wahrscheinlich hatte ihr eine Aufseherin diesen letzten Gefallen getan. Und da Lilli selbst bis dahin ebenfalls eine Reihe von zumeist illegalen Briefen an ihre Kinder geschrieben hatte, ergab sich jetzt erstmals ein geschlossenes Bild der dramatischen Vorgänge in Herbst und Winter 1943/44.
Ilses Sohn, der Autor dieser Zeilen, übernahm anfangs nur die Aufgabe, den Briefwechsel für die Familie zu ordnen und zu vervielfältigen. Bald jedoch stellten sich Fragen über Fragen - vor allem eine galt es zu beantworten: Warum hatte sich Ernst Jahn 1942 von Lilli getrennt, obwohl er doch wissen musste, dass seine jüdische Frau dadurch dem sicheren Tod ausgeliefert war? Oder konnte er das damals noch nicht wissen?
So gewann plötzlich die Vorgeschichte an Bedeutung: Wie kam es zu Lillis Heirat mit dem Protestanten Ernst? Wie hatte sich ihr Mann in den ersten Jahren nach der Machtergreifung der Nazis verhalten?
Weitere Nachforschungen brachten weitere Briefe ans Licht. Jede der Schwestern, so stellte sich bald heraus, besaß Dokumente oder Briefe der Mutter, von denen die anderen nichts oder wenig wussten. Schließlich ließen sich mehr als 30o weitere Briefe ausfindig machen, zumeist aus der Feder Lillis, geschrieben in den Jahren 1918 bis 1944. Sie alle belegen eindrucksvoll die fortschreitende Stigmatisierung, Isolation und Verfolgung Lillis und ihrer Kinder.
Damit stellte sich die Frage nach einer Veröffentlichung. Zwar hatte Gerhard Jahn zeitlebens jeden Versuch, Lillis Briefe aus Breitenau einem größeren Publikum vorzustellen, scharf kritisiert und in der Regel auch unterbunden. Nur aus welchen Motiven? Rechnete er mit dem Aufbrechen alter, eigener Wunden? Auch Lillis Töchter konnten sich zunächst nicht vorstellen, dass die Leidensgeschichte ihrer Mutter fremden Menschen preisgegeben werden würde; sie fürchteten eine Skandalisierung des Privaten, eine Plünderung ihrer persönlichen Gefühle und Erinnerungen durch den auf den Holocaust fixierten Zeitgeist.
Warum also sollte die Geschichte Lillis überhaupt noch erzählt werden?
Eine einfache Antwort: Jede neue Biografie, jede authentische Quelle aus der NS-Zeit erreicht auch neue Leser und ist schon deswegen ein Gewinn für die politische Kultur der Gegenwart und das historische Bewusstsein kommender Generationen.
Und eine nicht ganz so einfache Antwort: Die meisten, ja fast alle autobiografischen Zeugnisse erzählen naturgemäß die Geschichte von Überlebenden. Sei es Primo Levi, sei es Victor Klemperer oder Ruth Klüger - immer berichten diese Autoren vom Schrecken und vom Leiden aus der Perspektive der Davongekommenen. Wer ihre Bücher aufmerksam liest, wird gewiss im Glück der wenigen Überlebenden das Unglück von sechs Millionen Ermordeten erkennen. Und dennoch fehlt die Erfahrung, die Wahrnehmung jener Opfer, die den Holocaust nicht überlebt haben. Selbstverständlich finden sich Ausnahmen, allen voran das Tagebuch Anne Franks. Aber das in der literarischen Überlieferung Typische ist eben doch das Schindler-Modell: die abenteuerliche Rettung aus höchster Not. Wer die dialektische Bedeutung solcher Berichte nicht begreifen kann oder will, für den summiert sich die Erinnerung zu einer merkwürdig verzerrten Bilanz: Es entsteht das Bild einer Schreckensherrschaft, der die meisten am Ende doch entronnen sind.
Lilli ist ihr nicht entkommen. Im Grunde steht ihr Schicksal nur für das von Millionen. Und doch steckt hinter jedem Holocaust-Opfer eine ganz eigene, besondere Geschichte. Wer etwas über den epochalen Einschnitt des Jahres 1933 wissen wolle, so schrieb Sebastian Haffner in seiner »Geschichte eines Deutschen«, der müsse »Biografien lesen, und zwar nicht die Biografien von Staatsmännern, sondern die raren Biografien der unbekannten Privatleute«. In diesem Sinne beschreibt die Biografie Lilli Jahns eine private Person: eine jüdische Ärztin, die eine aufmerksame Zeitzeugin der zwanziger und dreißiger Jahre in Deutschland war; eine emanzipierte Frau, die ihren Beruf liebte und zugleich in ihrer Mutterrolle aufging; eine literarisch und musisch gebildete Intellektuelle, die mit ihren Freunden philosophische und theologische Debatten führte. Vor allem aber war Lilli eine leidenschaftliche, temperamentvolle Frau, die in ihrer bedingungslosen Liebe zu ihrem Mann bald schon den eigenen Projektionen erlag und dafür hart bestraft wurde.
Ernst Jahn - ebenfalls Arzt - entsprach in seinem grüblerischen Wesen so gar nicht dieser fröhlichen jungen Frau, die hingebungsvoll tanzte und Klavier spielte, die mit Begeisterung Konzerte und Kunstausstellungen besuchte. Erst die Ehe mit Ernst und dann die Verfolgung durch die Nationalsozialisten brachten in ihr Leben jene Düsternis, die heute jede Erinnerung an sie beherrscht.
Dieses Schicksal teilt sie allerdings mit vielen ihrer Leidensgenossen. Das Leben der assimilierten bürgerlichen Juden Deutschlands im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hat erst im Nachhinein, durch das Wissen um den Holocaust, seine melancholische Patina erhalten. Trotz der wachsenden antisemitischen Hetze konnten die meisten deutschen Juden bis 1933 ein ebenso zufriedenes oder glückliches Leben führen wie ihre nichtjüdischen Zeitgenossen.
Mit der Machtergreifung der Nazis änderte sich nicht nur Lillis äußere Lage, sondern auch ihr Verhalten: Selbstbewusstsein und Lebensfreude wurden ihr genommen. Lilli war plötzlich eine ängstliche Frau, die jeder fremden Person auswich. Sie spürte, wie sich ihre ganze Umwelt gegen sie verschwor. Sie verließ das Haus nicht mehr - bis sie daraus schließlich vertrieben wurde. Dann folgten die Festnahme durch die Gestapo, die Einweisung in ein Arbeitserziehungslager und Zwangsarbeit in einer Fabrik; am Ende der Transport nach Auschwitz.
Die Kinder wurden zu Zeugen einer langsamen und qualvollen Entwürdigung ihrer Mutter. Sie protestierten auf ihre Weise dagegen: Mit einer Flut von Briefen an die im Lager inhaftierte Mutter kämpften sie um den Erhalt einer längst verlorenen Normalität, sie bezogen Lilli weiterhin in die meisten Entscheidungen der Familie ein, die Kinder schilderten ihren Alltag bis ins Detail - und brachten dabei doch nur in jedem Brief und jeder Zeile ihren Kummer und ihre Sehnsucht zum Ausdruck.
So wie Lillis Schicksal dem Leidensweg vieler Opfer des Nationalsozialismus entspricht, so ist auch das ihrer Kinder in gewisser Hinsicht repräsentativ: Wie Millionen andere Deutsche erlebten sie in diesen letzten Kriegsjahren den Schrecken an der sogenannten Heimatfront. Sie zitterten vor Angst im Luftschutzkeller, sie wurden ausgebombt und evakuiert. Gerhard musste als Flakhelfer feindliche Flugzeuge vom Himmel holen, Ilse und Johanna wurden zu Katastropheneinsätzen eingeteilt, um anderen Bombenopfern zu helfen.
Auch das gehört zur Geschichte Lillis. Die Kinder berichteten ihr von all diesen Aufregungen, die sie nun ganz ohne die Hilfe und Fürsorge der Mutter durchzustehen hatten. Schlimmer noch: Lilli selbst war auf die Unterstützung ihrer Kinder angewiesen. Sie hungerte - und die Kinder schickten Pakete mit allem, was sie an Eßbarem auftreiben konnten, ins Lager. Sie fror - und die Kinder brachten Wäsche zur Post. Sie flehte um Fürsprache bei der Gestapo - und die Kinder drängten den Vater dazu. Schließlich bat sie für den Fall ihrer Entlassung um Geld für eine Rückfahrkarte - und die Kinder ließen ihr tatsächlich zwanzig Reichsmark zukommen.
All das geschah keineswegs im Verborgenen. Während Lilli im Lager Breitenau eingesperrt war, lebten ihre Kinder in einem noch weitgehend intakten sozialen Umfeld, zunächst in Kassel, später wieder im Hause des Vaters in der Kleinstadt Immenhausen, wo sie aufgewachsen waren. Dutzende, wenn nicht Hunderte von Freunden, Bekannten und Nachbarn wussten damit auch von Lillis Schicksal. Manche, immerhin, äußerten ihr Mitgefühl, aber die meisten nahmen den Terror hin. Alle wussten davon - aber niemand intervenierte oder protestierte gegen die Zerstörung dieses Lebens.
So ist dieser Briefwechsel auch ein Lehrstück über die Gleichgültigkeit der Menschen im Kriege. Er erzählt von den verheerenden Folgen, die ganz alltägliche menschliche Schwächen wie Feigheit oder Egoismus in einem totalitären System zeitigen können. Zugleich zeugt er jedoch von bedingungsloser Liebe, von Mut und Zivilcourage - auch das waren Wesensmerkmale und Tugenden, die sich unter einem so hohen äußeren Druck entfalten konnten.
Solche Schlüsse und Interpretationen überlässt die hier vorgelegte Biografie allerdings in der Regel dem Leser. Der Autor beschränkt sich zumeist auf die Rolle des Chronisten und erklärt das Geschehen nur dort, wo es zum Verständnis der Briefe notwendig ist. Die Vielzahl von aussagekräftigen Dokumenten hätte sicher auch eine konventionelle Biografie möglich gemacht. Allein der Respekt vor dem Authentischen, vor den - ohne Übertreibung - herzergreifenden Briefen Lillis und ihrer Kinder legte eine möglichst umfassende Wiedergabe der Originalquellen nahe.
Vor allem Lillis Briefe wurden von den Adressaten als kostbare Andenken betrachtet und bis heute aufbewahrt. Lilli war noch in einer bildungsbürgerlichen Tradition aufgewachsen, zu der auch eine ambitionierte Briefkultur gehörte. Schon in ihrem Kölner Elternhaus besaß man ein Telefon, doch das diente nur zur knappen Nachrichtenübermittlung. Endlose Gespräche waren nicht üblich, bei der noch unzulänglichen Technik wäre das auch kein Vergnügen gewesen.
Lilli schrieb also aus Überzeugung Briefe, zunächst an ihren Freund und späteren Ehemann, dann an die Freunde, schließlich an die Kinder. Und weil sie sich Briefautorinnen wie Rahel Varnhagen oder Caroline Schelling zum Vorbild genommen hatte, schrieb sie auch mit einem erkennbaren Gestaltungswillen: Lilli berichtete über die Dinge des Alltags ebenso wie über ihre Gefühle und Empfindungen, sie philosophierte, politisierte. Und sie vermittelte diese Vorliebe ihren Kindern. Besonders Ilse und Johanna verraten in ihren Briefen eine durch das häufige Schreiben geschulte Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und Beobachtung.
Hätte Lilli einer Veröffentlichung dieser doch so persönlichen Dokumente überhaupt zugestimmt? Diese Frage drängt sich auf - und ist doch schon deswegen nicht sinnvoll, weil sie Lilli nicht gestellt werden kann. Hätte ihr Schicksal einen anderen, besseren Lauf genommen, so hätte allein Lilli über den Umgang mit ihrer Korrespondenz entschieden. Nun, mehr als fünfzig Jahre nach ihrem Tod, bleibt die Entscheidung ihren Nachfahren überlassen. Mit der Veröffentlichung übernehmen sie eine besondere Verantwortung. Aber die Zeit scheint reif für eine Rekonstruktion dieser - nur auf den ersten Blick - privaten Katastrophe.
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Autoren-Porträt von Martin Doerry
Martin Doerry, geboren 1955, ein Enkel Lilli Jahns, studierte Germanistik und Geschichte in Tübingen und Zürich und promovierte in Neuerer Geschichte. Seit 1987 arbeitet er für den Spiegel, seit 1998 ist er stellvertretender Chefredakteur.
Bibliographische Angaben
- Autor: Martin Doerry
- 352 Seiten, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 13,2 x 20,9 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828945163
- ISBN-13: 9783828945166
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