Mein wirst du bleiben
Nach ihrem packenden Krimi-Debüt "Schweig still, mein Kind" stellt Petra Busch nun ihren zweiten Roman vor. Authentisch, glaubwürdig und vor allem: spannend!
Als Annemarie ins Koma fällt, gibt ihre...
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Produktinformationen zu „Mein wirst du bleiben “
Nach ihrem packenden Krimi-Debüt "Schweig still, mein Kind" stellt Petra Busch nun ihren zweiten Roman vor. Authentisch, glaubwürdig und vor allem: spannend!
Als Annemarie ins Koma fällt, gibt ihre Tochter Miriam alles auf, um sich aufopfernd der Pflege ihrer Mutter zu widmen. Sie glaubt fest daran, dass Annemarie wieder gesund wird, denn das sagen ihr auch die Stimmen von Jesus und J.S. Bach, die sie hört. Als Annemarie dennoch stirbt, kann Miriam die Wahrheit nicht akzeptieren und wartet auf ihre Rückkehr. Und tatsächlich: eineinhalb Jahre später steht Annemarie vor ihr. Nun will Miriam ihre Mutter ganz für sich und muss "Eindringlinge" zurückweisen - koste es, was es wolle, und sei es ein Menschenleben.
Lese-Probe zu „Mein wirst du bleiben “
Mein wirst du bleiben von Petra Busch... mehr
Heute wird das Licht zurückkehren.
Wir werden uns wieder nahe sein. Unzertrennlich. Wie damals.
Erinnerst du dich an damals? Wir wollten alles teilen. Bis in alle Ewigkeit. Das hast du mir versprochen. Und ich habe es dir geschworen. Mit jedem meiner Worte.
Du hast meinen Worten immer aufmerksam gelauscht. Getan, was ich verlangte, gehandelt, wie ich es erbat. Ich habe dir vertraut. An dich geglaubt. An uns. All die Jahre. Unsere Jahre!
Wie du vor mir gelegen hast! Stunden. Tage. Unfähig, dich zu bewegen. Mit deinem hohlen Blick hast du mich angesehen, hast stumm gefleht - als könne ich dich aus deiner eigenen Düsternis erretten. Blass hast du ausgesehen, wächsern deine Haut. Zuweilen hast du die leeren Augen aufgerissen, schreckerfüllt, als stände ich wie, ein schwarzer Engel vor dir. Hast du den Tod schon geahnt? Manchmal habe ich gelacht. Aber meine Seele hat geweint. Ich wollte das alles nicht. Wollte dir nur Mut machen. Dir zeigen, wo dein Leben ist: bei mir! Das war doch unser Plan: Wir würden für den Rest unseres Lebens zusammenbleiben. Seite an Seite. Ich bei dir, du bei mir. Unsere Herzen, unser Blut und unser Geist eins, im Licht verschmolzen zu immerwährender Liebe. Aber du hast mein Lächeln nicht gesehen und nicht auf meine Worte gehört. Die Finsternis war dir zu nahe, hat dich mit ihren schwarzen Schleiern umhüllt. Auch du hast das Böse gespürt, ich habe es in deinem Wesen wahrgenommen, als ich mich über dich gebeugt habe. Gelächelt habe. Dich berührt, während du dich ekeltest und nicht bewegen konntest.
Deine Angst war berechtigt.
Und dann hast du mich verlassen!
Mich!
Doch das hast du nicht mit Absicht getan, das weiß ich. Es war nicht dein freier Wille. Sie haben dich gezwungen. Tag für Tag haben sie die tödlichen Schleier der Finsternis enger gezogen, Millimeter für Millimeter, langsam das Leben erstickt, bis du nur noch ein seelenloses Stück Fleisch warst. Weit weg.
Mir entrissen!
Dann bist du zurückgekehrt. Wie du es versprochen hattest.
Doch die Schwingen des Bösen haben sich abermals über dich gebreitet, haben dich davongetragen, dich mir gestohlen. Dem lichten Leben entrückt. Du hast mich erneut verlassen. Das ist nicht recht. Du kannst nicht einfach alles vergessen! Unsere Vergangenheit. Unsere Zukunft. Das kann ich nicht hinnehmen.
Was ich tun muss, ist groß. Die Zeit ist da. Ich habe die Zeichen erkannt, und ich habe gefunden, was ich brauche! Ich sehe alles vor mir. Es wird gut und glanzvoll werden. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Wir werden die Dunkelheit besiegen. Denn ich selbst bin das Licht. Ich war immer das Licht. Niemand wird es löschen!
1
Montag, 26. Juli
Hätte er gewusst, dass er heute sterben würde, hätte Martin Gärtner sich über den Abend keine Gedanken gemacht. Vielleicht hätte er auch mit dem abschließen können, was er einmal Leben genannt hatte - und was er seit einigen Wochen wiederentdeckte.
Es war kurz nach sechzehn Uhr. Reflexartig kniff er die Augen gegen das grelle Licht zusammen, als er aus dem kühlen Supermarkt trat, und für einen Moment glaubte er, die trockene, aufgeheizte Luft nehme ihm den Atem. Vor ihm flimmerte der Asphalt. Die Parkplätze an der Straße waren verlassen, nur eine junge Frau im Sommerkleid packte Weißwein, Erdbeeren und Salat in den Kofferraum eines roten Wagens, neben ihr zwei Mädchen, jede ein großes Eis in der Hand. Gegenüber, auf der Wiese, lagen ein paar Menschen auf Decken, lasen oder dösten vor sich hin, ein Pärchen schmuste. Kinderlachen drang von dem kleinen Spielplatz daneben herüber. Er lächelte und legte den Kopf in den Nacken. Ein weißer Kondensstreifen zerfloss im hellen Blau. Kein Wölkchen war zu sehen. Ein gutes Omen. Er ließ die Sonne warm auf sein Gesicht scheinen.
Dann ging er an den Fahrradständern vorbei, hinter denen, angebunden an einen Stahlring, Jagger wartete, den Kopf mit der heraushängenden Zunge dem Eingang des Supermarktes zugewandt. Gärtner rann der Schweiß über die Schläfen, noch bevor er bei seinem Gefährten angekommen war. Es störte ihn nicht, und Jagger würde die Tropfen ohnehin abschlecken. Das war so sicher wie das begeisterte Schwanzwedeln, mit dem der Hund ihn Tag für Tag begrüßte, wenn er seine wenigen Einkäufe erledigte.
Heute hatte er sich ein Stück Erdbeerkuchen gekauft, und als er es von der Verkäuferin in dem feinen, knisternden roten Papier entgegengenommen hatte, hatte ihm für einen Moment seine tiefe Schuld die Kehle zugeschnürt, nur wenige Sekunden, bis er sich sagte: Es ist in Ordnung. Du änderst nichts mehr daran.
Er löste die Hundeleine und tätschelte den grauen Hundekopf. »Komm, Jagger, wir haben noch Pläne.«
Die Hitzewelle, die die Stadt seit Wochen lähmte, hatte ihn nicht ermüden können. Martin Gärtner war erwacht. Streit in der Nachbarwohnung, das ständige nächtliche Klavierspielen, das durch die Zimmerdecke drang und ihn wach hielt, der kaputte Müllcontainer ... Es war noch nicht lange her, da hatte er das alles kaum wahrgenommen. Wie ein Entseelter war er durch die Welt gegangen, dumpf, das Herz leer und der Körper wie taub, gefangen von diesen Bildern, denen er nie hatte entkommen können: die zarten, blassen Glieder, der gelbe Regenmantel, die entsetzten Augen unter dem hellen Pony und der Schulranzen, der wie ein roter Vogel durch den Himmel geflogen war.
Nur selten dachte er noch an die zahllosen Sitzungen bei dem Psychologen. Außer einem amtlichen Gutachten zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit hatten sie nichts gebracht. Nur an diesen verhängnisvollen Tag dachte er noch. Es schien ihm ein ganzes Menschenleben her zu sein, als er sich an einem verregneten siebten November zum letzten Mal hinter ein Steuer gesetzt hatte. Wenn er nachrechnete, lag der Tag bald dreizehn Jahre zurück. Ein ganzes Kinderleben lang. Dreizehn Jahre, in denen er sich Rituale und den quirligen Hundemischling zugelegt hatte, um nicht vollends unterzugehen. Und in denen er sich mit wenig Geld und viel Einsamkeit arrangiert hatte. Bis zu dieser unglaublichen Begegnung.
Er ging die Engelbergerstraße hinunter und überquerte die Eschholzstraße. Wie fast jeden Tag dröhnte dort aus einem geöffneten Fenster dieses einförmige Gebrabbel, das die jungen Leute wohl Musik nannten. Auf die Texte hatte er nie geachtet. Erst in letzter Zeit war ihm aufgefallen, dass sie durchaus Sinn ergaben. Von Liebe war da die Rede, von Trostlosigkeit und Angst, die man überwinden konnte - und von Zukunft.
Er ging rascher, fühlte sich beinahe beschwingt, und er wunderte sich über seine Energie und darüber, dass dieses verloren geglaubte Gefühl von leiser Freude noch in irgendeiner Ecke seines Innern ausgeharrt hatte und jetzt, jeden Tag ein zerbrechliches Stückchen mehr, herausgekrochen kam.
Zukunft! Vielleicht war sein Leben nicht wertlos. Vielleicht konnte er ihm einen neuen Sinn geben. Im Herbst feierte er seinen siebenundfünfzigsten Geburtstag. Es war nicht zu spät.
»Dieses Jahr sitze ich nicht mit einem einsamen Bier in der Küche«, sagte er zu Jagger, dessen Krallen gleichmäßig vor ihm über den Gehsteig klackerten. Aus dem rissigen Teer lugten dürre gelbe Grasbüschel hervor.
Martin fühlte die Plastiktüte schwer in seiner Hand. Sekt. Es war der teuerste, den er gefunden hatte, eigentlich nicht zu bezahlen für ihn. Lange hatte er vor den Flaschen gestanden und mit sich gekämpft. Ebenso wie mit der Entscheidung: Lachs ja oder nein. Jetzt wartete eine Delikatesse darauf, verzehrt zu werden. Es war der Versuch, einen schönen Abend zu bereiten. Den Grundstein für die kommenden Ereignisse zu legen. Nein, heute war kein Tag für Dosenbier, Leberwurst und Graubrot in Scheiben.
Kurz darauf füllte Martin Gärtner Wasser und Kaffeepulver in die Maschine, legte Sekt und Fisch in den Kühlschrank und nahm einen Tetrapak Milch heraus. Dann drückte er den Startknopf auf dem alten CD-Spieler neben der Spüle. Die Rolling-Stones-Scheibe hatte er gestern aus einer Schublade herausgekramt, zuerst mit zittriger Hand - aber schließlich hatte er sie einfach eingelegt. Bei den ersten Klängen hatte er wie paralysiert im Zimmer gestanden, die Faust auf den Mund gepresst, die Augen geschlossen. Doch dann war es vorbei gewesen, und er hatte gewusst, dass ein neuer Weg vor ihm lag. Ihm free to do what I want any old time, intonierte er, während er den alten Küchentisch mit der abgeplatzten Resopal-platte deckte.
Als das Blubbern der Kaffeemaschine verstummte, gab er Milch und dampfenden Kaffee in eine Tasse, rührte zwei Stücke Würfelzucker hinein, setzte sich und schob sich eine Gabel Kuchen in den Mund. Lange ließ er die frischen Erdbeerstücke zwischen den Backen hin und her gleiten, als koste er zum ersten Mal in seinem Leben die süßen Sommerfrüchte.
Vieles ging ihm durch den Kopf, Profanes, an das er längst keinen Gedanken mehr verschwendet hatte: Der Stuhl wackelte. Er musste darauf achten, dass er selbst auf diesem sitzen würde heute Abend. Er sollte ein Tuch über die hässliche Tischplatte legen. Der Boden war voller Krümel und Flecken. Hätte er Blumen kaufen und auf den Tisch stellen sollen?
Er trank, und als die heiße Flüssigkeit seine Kehle hinunterrann, erfasste ihn tiefes Vertrauen. Zukunft. Heute würde sie beginnen. In wenigen Stunden würden sie ihren Plan zu Ende schmieden. Vielleicht würden die alten Bilder dann irgendwann ganz verblassen, und das Leben würde an Buntheit gewinnen.
Anpacken! Er holte den Schrubber aus dem Schrank und wischte nass durch den Flur und die Küche. Wischte anschließend die Küchenfronten und die Kühlschranktür ab und säuberte die Schubladen- und Schrankgriffe, an denen sein altes Leben förmlich klebte.
And I'm free any old time to get what I want.
Schweiß perlte von seiner Stirn herab.
Die unangenehmen Seiten des Putzens und Kaffeetrinkens im Sommer, dachte er und blickte auf das Thermometer. Erst kürzlich hatte er es gereinigt, und sein Weiß hob sich jetzt deutlich von den beigen Rauten der Tapete ab. Vierunddreißig Grad Innentemperatur.
Er goss kalte Milch in eine zweite Tasse Kaffee und fügte der Liste in seinem Kopf als letzten Punkt hinzu: duschen. Dann spülte er einen weiteren Bissen Kuchen hinunter.
Sein Kaffee, dieses Ritual am Nachmittag, war immer wie eine Ahnung von der Süße des Lebens geblieben. Eines entflohenen Lebens. Heute schmeckte die Süße nach Hoffnung. Nein, sie war mehr: Gewissheit.
Der Abend würde es besiegeln.
Das Brennen unter seiner Zunge schrieb er der Aufregung zu. Auch die leichte Übelkeit beunruhigte ihn zunächst nicht. I'm free any old time, summte er leise vor sich hin. Dann fühlte er, wie neuer Schweiß aus seinen Poren drang, und gleich darauf musste er erbrechen. Als er sich dabei an der WC-Schüssel festhielt, stellte er erstaunt fest, dass seine Hände gerötet waren und juckten. Sorgen machte er sich noch immer nicht. Er lachte sogar. I'm free. Fast fühlte es sich an wie früher, als er mit vierzehn Jahren seine erste Verabredung mit einem Mädchen gehabt hatte. Hinter dem Schulhof hatte er Gitta getroffen, heimlich, und sie hatte ihm erlaubt, die geflochtenen blonden Zöpfe zu lösen und sie auf die Wange zu küssen.
Martin Gärtner ging zurück in die Küche.
Damals, bei Gitta, hatte er auch diese Hitzewallungen gehabt. Er trank einen Schluck Milch gegen den schlechten Geschmack im Mund. Doch das Aroma schien ihm fremd, und der säuerliche Belag auf seiner Zunge wollte nicht verschwinden.
Erst als ihm der Tetrapak aus der Hand glitt, die Milch sich über den Boden ergoss, als seine Gliedmaßen sich anfühlten wie große Gummirollen und gleichzeitig glühendes Blei seine Lungen füllte, ergriff ihn Angst. Verschwommen sah er Jagger, der mit schiefem Kopf vor ihm saß und winselte. »Hörst du das Pfeifen auch?«, sagte er und fragte sich, ob das Röcheln aus ihm selbst drang oder die CD einen Fehler hatte, während Krämpfe ihn schüttelten.
Das Telefon!, schoss es ihm durch den Kopf. Sein Herz raste, er krallte sich am Tisch fest, stürzte zu Boden, wollte schreien, spürte die Nässe der Milch durch sein dünnes Hemd dringen und Jaggers Zunge auf seinem Gesicht, und im selben Moment lösten sich Harn und Stuhlgang, klebten warm zwischen den Pobacken und in seinem Schritt.
So muss sie sich auch gefühlt haben, vor fast dreizehn Jahren, dachte er noch und sah den roten Vogel in den Himmel hinauffliegen.
2
Die Finger schlossen sich um den Kugelschreiber wie dicke Würmer, als die Sprechstundenhilfe den nächsten Termin auf den Zettel schrieb.
Thea Roth betrachtete die Frau im weißen Kittel hinter dem Tresen und sog den Geruch der Räume ein. Es war die typische Mischung aus Desinfektionsmittel, Essig, Staub und abgestandenem Schweiß, mit der sie stets das Gefühl von Machtlosigkeit und Schmerz verband, ja, bei der sie manchmal den Tod zu riechen glaubte.
Die intensiven menschlichen Ausdünstungen rührten allerdings nicht von Krankheit und Sterben her, sondern eindeutig von Gabriele Hofmann, die ihr gerade den Terminzettel reichte und dabei große, dunkle Flecken unter ihren Achseln entblößte.
»Montag in vierzehn Tagen, neunter August, acht Uhr. Frau Wimmer ist gleich so weit«, sagte Hofmann, und ihr gewaltiger Vorbau schob sich unter dem weißen Kittel nach vorn. »Wie schön, dass Sie die alte Dame immer begleiten.«
Thea Roth schüttelte sich innerlich. Gabriele Hofmann sollte sich besser pflegen bei ihrem Job, dachte sie und blickte in das aufgedunsene Gesicht, aus dem ihr zwei kleine Äuglein unter ungleichmäßig gezupften Augenbrauen entgegenblickten. Ihre Wimperntusche war leicht verlaufen und bahnte sich den Weg über eine der feisten Wangen, als hätte die Arzthelferin geweint. Thea überlegte, ob sie sie auf das Malheur hinweisen sollte, als das Telefon hinter dem Tresen klingelte.
»Sie waren beim Friseur.« Hofmann strahlte sie an, nahm den Hörer ab und legte kurz die Hand über die Muschel. »Sie sehen umwerfend aus«, fügte sie mit einem vertraulichen Zwinkern hinzu und flötete dann ins Telefon: »Praxis Doktor Jakob Wittke, Gabriele Hofmann am Apparat?«
Erleichtert über die Unterbrechung, gab Thea Roth ihr ein Zeichen, dass sie ins Wartezimmer gehe, und setzte sich dort auf einen der Plastiklehnstühle. Außer ihr war nur eine Frau im Raum. Sie nickte ihr zu, und die andere blätterte weiter in ihrer Illustrierten.
Thea fuhr sich durch das frisch geschnittene Haar und dachte an Hilde Wimmer. Sie begleitete die 87-jährige Nachbarin alle zwei Wochen zum Hausarzt, und selbst die wenigen Meter von ihrer Wohnung bis zu der Praxis fielen der alten Dame schwer. Auf ihr Gehwägelchen gestützt, setzte sie mühsam einen Fuß vor den andern, Thea Roth an ihrer Seite. Wenn sie die Häuserzeile entlanggingen und wenn Thea merkte, wie gut ihre Zuwendung Hilde Wimmer tat, wie munter sie von ihrem Leben erzählte und ihre Gebrechen vergaß, huschte immer ein Lächeln über ihr eigenes Gesicht. Das Reden und die kurze Zeit, in der die Mühseligkeiten des Alters vergessen waren, schienen mehr wert als alle Pillen zusammen.
Nach einigen Minuten öffnete sich die Tür, und Gabriele Hofmann bat die Patientin ins Sprechzimmer. Dann schloss sie die Tür von innen und setzte sich neben Thea. Der Stuhl ächzte.
Thea seufzte in Gedanken und stellte sich vor, wie die Arzthelferin gleich wieder aufstehen und der Stuhl sich an ihrem Hintern festklemmen würde.
»Der Chef mag das ja eigentlich nicht«, sagte Hofmann und beugte sich herüber, »aber so ein Minütchen ...«
»Wo ist Frau Wimmer ?«
»Die Kollegin gibt ihr noch 'ne Spritze.«
»Ah.« Sie war Hofmann also höchstens fünf Minuten lang ausgeliefert.
»Die Männer werden Ihnen nachlaufen«, flötete Hofmann mit einem Blick auf Theas Frisur und flüsterte dann: »Das würde ich mir auch mal wieder wünschen.« Ihre Lippen bewegten sich hastig, während sie mit den Händen über ihre Oberschenkel rieb. »Mein Ex schwört ja immer noch, ihn hätten meine Haare und meine Pfunde nicht gestört. Aber ich weiß es besser. Mit mir kann man so was nicht machen. Wissen Sie, ich merk ja gleich, wenn einer 'ne andere hat. Er war ein« - sie senkte die Stimme, und ihre Hände kamen zur Ruhe - »Dreckskerl. Sie finden doch auch, dass es richtig war, ihn rauszuwerfen? Also, ich mein, ich war immer gut zu ihm, und dann so was! Ich hab ...«
»Sicher«, murmelte Thea und hörte nicht mehr hin. Sie wusste genau, was jetzt kam. Gabriele Hofmanns Schweinebraten in Karottensud nach dem Rezept ihrer Oma. Seine Leibspeise. Ihre polierten Wohnzimmerschränke. Die zwei Flaschen alkoholfreien Biers im Kühlschrank, für seinen Fernsehabend. Ihre Hingabe, mit der sie während jedem öden Fußballspiel und dröhnenden Formel 1-Rennen neben ihm ausgeharrt hatte, bereit, ihn nach allen Regeln der Kunst zu verwöhnen. Der Verräter von Ehemann, der als Dank mit irgendwelchen jungen Schlampen durch teure Cocktailbars gezogen war, selbst aber nur Orangensaft trank; der das Geld im Lotto verzockt hatte, eines Tages samt Fernseher, DVD-Spieler und dem gemeinsamen Auto verschwunden war - und eine Woche später reumütig wieder vor der Tür gestanden hatte. Das Schwein, dem die Hofmann schließlich die Koffer vor die Tür der gemeinsamen Wohnung gestellt hatte. Und dem sie aus Stolz bis heute die Scheidung verweigerte. Die ausschweifende Fassung eines nüchternen Scheiterns. Betrug. Schmerz. Zorn und Rache. Ein Klassiker. Im Grunde banal.
»Ist das nicht der Gipfel? Kommt der einfach zurück, als wär nichts gewesen, und denkt, ich schließ ihn wieder in die Arme. Na, der soll sich vorsehen!«, beendete die Arzthelferin ihren Redefluss. Ihre Wangen glühten in diesem typischen fleckigen Rotviolett, das Thea schon öfter bei ihr wahrgenommen hatte.
Es ist nicht nur die Hitze, dachte Thea und sagte: »Sie arbeiten in dieser Praxis. Sie haben einen prima Chef und nette Kolleginnen. Sie können den Kerl getrost vergessen. Jede Emotion und all die Wut, die Sie in den noch investieren, schadet nur Ihnen selbst.«
»Vergessen!« Ihr Schnaufen klang zynisch. »Das Schwein hat mich für blöd verkaufen wollen, oder etwa nicht? Dazu hatte er kein Recht! So eine wie mich« - sie holte tief Luft und verschränkte die Arme vor der Brust - »findet er nicht wieder.«
Thea stand auf. Sie klebte fast auf der Sitzfläche fest, und ihre dünne Jeans und kurzärmlige Bluse lagen feucht auf ihrer Haut. In Hofmanns Nähe fühlte sie sich vollends wie in einem Treibhaus. »Kommen Sie«, sagte sie freundlich, »sonst wird Doktor Wittke ungeduldig.« Thea wollte Gabriele Hofmann nicht vor den Kopf stoßen. Sie war derb und direkt in ihrer Art, doch sicher kein schlechter Mensch. Sie kämpfte sich auf ihre Weise durchs Leben.
»Es war ja klar, dass ihn diese magersüchtigen halbnackten Dinger sofort gelangweilt haben.«
»Ja.« Was sollte sie auch erwidern? In fünfzehn Minuten würde sie zu Hause sein und es sich gemütlich machen. Kein Mäkeln mehr, keine ungewollte Konfrontation mit niederträchtigen Ehemännern.
»Ich wusste, dass Sie das auch so sehen.« Schwer atmend erhob sich auch die Arzthelferin. Die Hand auf der Türklinke, sagte sie: »Sie sehen aus wie die Monroe auf diesem berühmten Foto. Sie wissen schon, das mit dem sexy Blick und diesem fliegenden Kleid.« Ihre Augen blitzten.
»Nur dreißig Jahre älter.« Thea Roth lächelte, froh darüber, dass das Thema »mein Ex« vorerst überstanden war.
»Wenn Sie sich dann noch 'nen hübschen Minirock ...« Die korpulente Frau kicherte, und ihr ganzer Körper vibrierte. Thea fuhr mit der Hand über ihre Beine. Sie hatte sich gut gehalten für ihre fünfundfünfzig Jahre. Muskulöse Oberschenkel, straffe Haut. Ihre Beine waren makellos. »Sie meinen, das steht mir?«, fragte sie, obwohl sie genau wusste, dass Kostüme sie hervorragend kleideten. Erst letzte Woche hatte sie einen Satinfummel aus dem Schrank geholt und sich damit vor der verspiegelten Tür um die eigene Achse gedreht. Kurzer Rock, hochgeschlossener Kragen. Wie für sie maßgeschneidert. Danach hatte sie den Plastikschutz wieder darübergestülpt und die Schranktür verschlossen.
»Sie könnten super im Fernsehen auftreten.« Hofmann gluckste.
»Die Diva aus der Draisstraße«, erwiderte Thea Roth schmunzelnd und freute sich über ihre neue Frisur. Blond, dicht, schulterlang. Perfekt.
»Bestimmt haben Sie früher auch schon so toll ausgesehen.« Thea wiegte den Kopf. »Vergessen kann auch Gnade sein«, sagte sie und dachte: Und manchmal zwingt einen das Leben dazu.
Gabriele Hofmann lachte und öffnete die Tür zum Empfangsbereich, von wo aus Doktor Jakob Wittke ihnen zunickte. »Sie sind immer so lustig«, sagte sie zu Thea Roth.
Lustig!, dachte Thea und hakte Hilde Wimmer unter, deren knotige Hände die Griffe des Rollators umklammerten. Die beiden Frauen drückten sich in den Schatten der Häuserzeile. Jetzt, nach achtzehn Uhr, hatte die schlimmste Hitze ihren Höhepunkt überschritten, doch die Sonne brannte noch immer unerbittlich. Nur drei Hauseingänge lagen zwischen der Praxis und dem Zugang zu ihren Wohnungen, doch der Weg strengte Hilde Wimmer an wie ein Halbmarathon. Zwei Schritte schlurfen, stehen bleiben und keuchend atmen. Zwei Schritte schlurfen, innehalten ... In einem Haus auf der andern Straßenseite fiel träge eine Haustür ins Schloss, gleich darauf eine zweite, Menschen kamen heraus, wahrscheinlich für ein paar Besorgungen oder einfach, um sich im nahe gelegenen Eschholzpark auf eine Bank zu setzen, friedlich eine zu rauchen oder den Tag im Freien ausklingen zu lassen. Manche waren allein an diesen Abenden. Wie Hilde Wimmer. Ihr war nicht das vergönnt, was Thea selbst hatte erfahren dürfen in den letzten Monaten. Lustig? Nein. Lustig war sie nicht. Sie war dankbar. Gott, falls es den gab, Miriam und dem Leben. Am Treppenaufgang zu einem dreigeschossigen Haus mit bröckliger Fassade, die einmal gelb gewesen sein musste, blieben sie stehen. Es bildete das Nordende eines langgestreckten Gebäudes, das aus mehreren identischen Häusern bestand. Sie unterschieden sich nur durch geringe Nuancen in der Farbe voneinander. Jedes Haus beherbergte sechs Wohnungen, zwei pro Stockwerk. Nur die Arztpraxis hatte die Größe zweier Wohnungen und nahm das gesamte Erdgeschoss des südlichen Endhauses ein.
»Jetzt haben wir's gleich«, sagte Thea und trug das Gehwägelchen zum Hauseingang hinauf. Danach half sie der alten Frau Stufe für Stufe nach oben, machte dabei auf dem breiten Treppenabsatz Pause mit ihr, schob sie dann sanft weiter.
»Sie sind so eine gute Seele, Kindchen«, sagte Hilde Wimmer und nickte. »Was würde ich nur ohne Sie machen.«
»Ich bin immer da, wenn Sie mich brauchen, das wissen Sie doch.« Thea lächelte, legte einen Arm um den Rücken ihrer Nachbarin und drückte mit genau der richtigen Kraft leicht nach oben, so dass sie die nächste Stufe bezwang.
»Gute Seele«, wiederholte Hilde Wimmer, und Thea betrachtete sie von der Seite. Sie hatte helle, wässrige Augen, lange, fast durchsichtige Wimpern und hohe Wangen, auf denen zahlreiche Altersflecke die pergamentene Haut überzogen. Sie war sicher einmal eine schöne Frau gewesen.
Bis sie oben waren, schien Thea eine weitere Ewigkeit vergangen zu sein. Doch sie hatte sowieso nichts zu tun. Und Geduld - das war eine Tugend, die sie verinnerlicht hatte wie kaum ein anderer Mensch.
Sie kramte den Hausschlüssel hervor. Miriam arbeitete noch. Thea versuchte, sich zu erinnern, wo sie gerade war, aber es fiel ihr nicht ein. Doch bestimmt hatte Miriam ihr einen Teller gedünstetes Gemüse im Kühlschrank bereitgestellt. Sie lächelte.
Wie unterschiedlich die beiden doch waren. Ihre Tochter, die geduldig war, fürsorglich und still, und der nie ein böses Wort über die Lippen kam. Und Gabriele Hofmann, laut, zornig und enttäuscht vom Leben. Die Hofmann passt in den trostlosen Wohnblock ein paar Straßen weiter, dachte Thea und schämte sich sofort für diesen Gedanken. Er war ungerecht. Sie kannte die genauen Hintergründe nicht, die die Hofmann dorthin geführt hatten. In ein Umfeld, das alles andere war als ein Ort der Stars und Erfolge. Zumindest glaubte Thea, dass die nahe gelegenen Hochhäuser anonym waren und die Menschen dort unendlich einsam. Genau wissen tat - und wollte -sie es nicht. Erst recht nicht von Gabriele Hofmann.
Im Haus schlug ihr der Geruch nach Braten und Waschmittel entgegen, und Babygeschrei hallte durch das Treppenhaus. Das junge Pärchen aus der ersten Etage, dachte Thea. Die Wohnung von Theas Tochter und die des Pärchens lagen sich im ersten Obergeschoss gegenüber. Die Studenten hatten im Frühjahr ein Kind bekommen, und seither stritten sie pausenlos. Kein Tag verging ohne laute Worte und Türenschlagen. Was das Baby erst recht zum Weinen anstachelte. Armes Würmchen.
Thea drückte eben auf den Knopf, um den Aufzug zu holen, als hinter einer Tür ein Hund zu kläffen begann. Im nächsten Moment flog eine andere Tür auf, und eine Frau in Blümchenkittel schoss heraus. Die Hausmeisterin. Kleine schwarze Augen funkelten Thea Roth und Hilde Wimmer an, und über einer spitzen Nase türmte sich ein filziges Etwas, das irgendwann einmal eine Hochsteckfrisur gewesen sein mochte. Ratte, dachte Thea.
»Verfluchte Töle.«
»Der Hund hat uns kommen hören, es ist bestimmt nur eine Begrüßung«, sagte Thea.
Im Aufzugsschacht rumpelte es laut.
»Abmurksen sollte man das Vieh!«, rief die Ratte und eilte zu der Tür, durch die jetzt ein klägliches Winseln drang. »Kläfft hier seit einer geschlagenen Stunde herum.«
Der Hund begann, an der Tür zu kratzen, bellte.
»Halt die Schnauze«, brüllte die Ratte und drückte dann ihr Ohr gegen die Tür. Das Winseln wurde leiser, klang beinahe fragend.
Thea stellte sich vor, wie der Hund herausschoss, auf die Ratte zu, und sich in die blaugeäderten Waden mit den Nylonstrümpfen verbiss.
Hilde Wimmer schüttelte den Kopf. »Er hat Durst, sag ich
Ihnen.« Dann ereiferte sie sich plötzlich: »Aber wenn der Hund eingesperrt ist, verteilt er wenigstens keinen Kot auf den Wegen. Widerlich ist das. Fahren Sie da mal mit diesem Ding durch!« Sie ruckelte am Rollator.
»Wissen Sie was, wir trinken jetzt noch eine Tasse Eistee zusammen.« Thea bugsierte die Alte sanft in die Aufzugskabine. »Einverstanden?« Sie drückte die Taste mit der 2.
»Und Sie lesen mir auch die Standesamtnachrichten aus der Zeitung vor?«
»Natürlich.« Thea tätschelte vorsichtig die verkrümmten Finger.
Die Metallwände schlossen sich um die beiden Frauen und schluckten das erneute Bellen des Hundes. Ein verstohlenes Lächeln schlich sich auf Thea Roths Gesicht.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Heute wird das Licht zurückkehren.
Wir werden uns wieder nahe sein. Unzertrennlich. Wie damals.
Erinnerst du dich an damals? Wir wollten alles teilen. Bis in alle Ewigkeit. Das hast du mir versprochen. Und ich habe es dir geschworen. Mit jedem meiner Worte.
Du hast meinen Worten immer aufmerksam gelauscht. Getan, was ich verlangte, gehandelt, wie ich es erbat. Ich habe dir vertraut. An dich geglaubt. An uns. All die Jahre. Unsere Jahre!
Wie du vor mir gelegen hast! Stunden. Tage. Unfähig, dich zu bewegen. Mit deinem hohlen Blick hast du mich angesehen, hast stumm gefleht - als könne ich dich aus deiner eigenen Düsternis erretten. Blass hast du ausgesehen, wächsern deine Haut. Zuweilen hast du die leeren Augen aufgerissen, schreckerfüllt, als stände ich wie, ein schwarzer Engel vor dir. Hast du den Tod schon geahnt? Manchmal habe ich gelacht. Aber meine Seele hat geweint. Ich wollte das alles nicht. Wollte dir nur Mut machen. Dir zeigen, wo dein Leben ist: bei mir! Das war doch unser Plan: Wir würden für den Rest unseres Lebens zusammenbleiben. Seite an Seite. Ich bei dir, du bei mir. Unsere Herzen, unser Blut und unser Geist eins, im Licht verschmolzen zu immerwährender Liebe. Aber du hast mein Lächeln nicht gesehen und nicht auf meine Worte gehört. Die Finsternis war dir zu nahe, hat dich mit ihren schwarzen Schleiern umhüllt. Auch du hast das Böse gespürt, ich habe es in deinem Wesen wahrgenommen, als ich mich über dich gebeugt habe. Gelächelt habe. Dich berührt, während du dich ekeltest und nicht bewegen konntest.
Deine Angst war berechtigt.
Und dann hast du mich verlassen!
Mich!
Doch das hast du nicht mit Absicht getan, das weiß ich. Es war nicht dein freier Wille. Sie haben dich gezwungen. Tag für Tag haben sie die tödlichen Schleier der Finsternis enger gezogen, Millimeter für Millimeter, langsam das Leben erstickt, bis du nur noch ein seelenloses Stück Fleisch warst. Weit weg.
Mir entrissen!
Dann bist du zurückgekehrt. Wie du es versprochen hattest.
Doch die Schwingen des Bösen haben sich abermals über dich gebreitet, haben dich davongetragen, dich mir gestohlen. Dem lichten Leben entrückt. Du hast mich erneut verlassen. Das ist nicht recht. Du kannst nicht einfach alles vergessen! Unsere Vergangenheit. Unsere Zukunft. Das kann ich nicht hinnehmen.
Was ich tun muss, ist groß. Die Zeit ist da. Ich habe die Zeichen erkannt, und ich habe gefunden, was ich brauche! Ich sehe alles vor mir. Es wird gut und glanzvoll werden. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Wir werden die Dunkelheit besiegen. Denn ich selbst bin das Licht. Ich war immer das Licht. Niemand wird es löschen!
1
Montag, 26. Juli
Hätte er gewusst, dass er heute sterben würde, hätte Martin Gärtner sich über den Abend keine Gedanken gemacht. Vielleicht hätte er auch mit dem abschließen können, was er einmal Leben genannt hatte - und was er seit einigen Wochen wiederentdeckte.
Es war kurz nach sechzehn Uhr. Reflexartig kniff er die Augen gegen das grelle Licht zusammen, als er aus dem kühlen Supermarkt trat, und für einen Moment glaubte er, die trockene, aufgeheizte Luft nehme ihm den Atem. Vor ihm flimmerte der Asphalt. Die Parkplätze an der Straße waren verlassen, nur eine junge Frau im Sommerkleid packte Weißwein, Erdbeeren und Salat in den Kofferraum eines roten Wagens, neben ihr zwei Mädchen, jede ein großes Eis in der Hand. Gegenüber, auf der Wiese, lagen ein paar Menschen auf Decken, lasen oder dösten vor sich hin, ein Pärchen schmuste. Kinderlachen drang von dem kleinen Spielplatz daneben herüber. Er lächelte und legte den Kopf in den Nacken. Ein weißer Kondensstreifen zerfloss im hellen Blau. Kein Wölkchen war zu sehen. Ein gutes Omen. Er ließ die Sonne warm auf sein Gesicht scheinen.
Dann ging er an den Fahrradständern vorbei, hinter denen, angebunden an einen Stahlring, Jagger wartete, den Kopf mit der heraushängenden Zunge dem Eingang des Supermarktes zugewandt. Gärtner rann der Schweiß über die Schläfen, noch bevor er bei seinem Gefährten angekommen war. Es störte ihn nicht, und Jagger würde die Tropfen ohnehin abschlecken. Das war so sicher wie das begeisterte Schwanzwedeln, mit dem der Hund ihn Tag für Tag begrüßte, wenn er seine wenigen Einkäufe erledigte.
Heute hatte er sich ein Stück Erdbeerkuchen gekauft, und als er es von der Verkäuferin in dem feinen, knisternden roten Papier entgegengenommen hatte, hatte ihm für einen Moment seine tiefe Schuld die Kehle zugeschnürt, nur wenige Sekunden, bis er sich sagte: Es ist in Ordnung. Du änderst nichts mehr daran.
Er löste die Hundeleine und tätschelte den grauen Hundekopf. »Komm, Jagger, wir haben noch Pläne.«
Die Hitzewelle, die die Stadt seit Wochen lähmte, hatte ihn nicht ermüden können. Martin Gärtner war erwacht. Streit in der Nachbarwohnung, das ständige nächtliche Klavierspielen, das durch die Zimmerdecke drang und ihn wach hielt, der kaputte Müllcontainer ... Es war noch nicht lange her, da hatte er das alles kaum wahrgenommen. Wie ein Entseelter war er durch die Welt gegangen, dumpf, das Herz leer und der Körper wie taub, gefangen von diesen Bildern, denen er nie hatte entkommen können: die zarten, blassen Glieder, der gelbe Regenmantel, die entsetzten Augen unter dem hellen Pony und der Schulranzen, der wie ein roter Vogel durch den Himmel geflogen war.
Nur selten dachte er noch an die zahllosen Sitzungen bei dem Psychologen. Außer einem amtlichen Gutachten zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit hatten sie nichts gebracht. Nur an diesen verhängnisvollen Tag dachte er noch. Es schien ihm ein ganzes Menschenleben her zu sein, als er sich an einem verregneten siebten November zum letzten Mal hinter ein Steuer gesetzt hatte. Wenn er nachrechnete, lag der Tag bald dreizehn Jahre zurück. Ein ganzes Kinderleben lang. Dreizehn Jahre, in denen er sich Rituale und den quirligen Hundemischling zugelegt hatte, um nicht vollends unterzugehen. Und in denen er sich mit wenig Geld und viel Einsamkeit arrangiert hatte. Bis zu dieser unglaublichen Begegnung.
Er ging die Engelbergerstraße hinunter und überquerte die Eschholzstraße. Wie fast jeden Tag dröhnte dort aus einem geöffneten Fenster dieses einförmige Gebrabbel, das die jungen Leute wohl Musik nannten. Auf die Texte hatte er nie geachtet. Erst in letzter Zeit war ihm aufgefallen, dass sie durchaus Sinn ergaben. Von Liebe war da die Rede, von Trostlosigkeit und Angst, die man überwinden konnte - und von Zukunft.
Er ging rascher, fühlte sich beinahe beschwingt, und er wunderte sich über seine Energie und darüber, dass dieses verloren geglaubte Gefühl von leiser Freude noch in irgendeiner Ecke seines Innern ausgeharrt hatte und jetzt, jeden Tag ein zerbrechliches Stückchen mehr, herausgekrochen kam.
Zukunft! Vielleicht war sein Leben nicht wertlos. Vielleicht konnte er ihm einen neuen Sinn geben. Im Herbst feierte er seinen siebenundfünfzigsten Geburtstag. Es war nicht zu spät.
»Dieses Jahr sitze ich nicht mit einem einsamen Bier in der Küche«, sagte er zu Jagger, dessen Krallen gleichmäßig vor ihm über den Gehsteig klackerten. Aus dem rissigen Teer lugten dürre gelbe Grasbüschel hervor.
Martin fühlte die Plastiktüte schwer in seiner Hand. Sekt. Es war der teuerste, den er gefunden hatte, eigentlich nicht zu bezahlen für ihn. Lange hatte er vor den Flaschen gestanden und mit sich gekämpft. Ebenso wie mit der Entscheidung: Lachs ja oder nein. Jetzt wartete eine Delikatesse darauf, verzehrt zu werden. Es war der Versuch, einen schönen Abend zu bereiten. Den Grundstein für die kommenden Ereignisse zu legen. Nein, heute war kein Tag für Dosenbier, Leberwurst und Graubrot in Scheiben.
Kurz darauf füllte Martin Gärtner Wasser und Kaffeepulver in die Maschine, legte Sekt und Fisch in den Kühlschrank und nahm einen Tetrapak Milch heraus. Dann drückte er den Startknopf auf dem alten CD-Spieler neben der Spüle. Die Rolling-Stones-Scheibe hatte er gestern aus einer Schublade herausgekramt, zuerst mit zittriger Hand - aber schließlich hatte er sie einfach eingelegt. Bei den ersten Klängen hatte er wie paralysiert im Zimmer gestanden, die Faust auf den Mund gepresst, die Augen geschlossen. Doch dann war es vorbei gewesen, und er hatte gewusst, dass ein neuer Weg vor ihm lag. Ihm free to do what I want any old time, intonierte er, während er den alten Küchentisch mit der abgeplatzten Resopal-platte deckte.
Als das Blubbern der Kaffeemaschine verstummte, gab er Milch und dampfenden Kaffee in eine Tasse, rührte zwei Stücke Würfelzucker hinein, setzte sich und schob sich eine Gabel Kuchen in den Mund. Lange ließ er die frischen Erdbeerstücke zwischen den Backen hin und her gleiten, als koste er zum ersten Mal in seinem Leben die süßen Sommerfrüchte.
Vieles ging ihm durch den Kopf, Profanes, an das er längst keinen Gedanken mehr verschwendet hatte: Der Stuhl wackelte. Er musste darauf achten, dass er selbst auf diesem sitzen würde heute Abend. Er sollte ein Tuch über die hässliche Tischplatte legen. Der Boden war voller Krümel und Flecken. Hätte er Blumen kaufen und auf den Tisch stellen sollen?
Er trank, und als die heiße Flüssigkeit seine Kehle hinunterrann, erfasste ihn tiefes Vertrauen. Zukunft. Heute würde sie beginnen. In wenigen Stunden würden sie ihren Plan zu Ende schmieden. Vielleicht würden die alten Bilder dann irgendwann ganz verblassen, und das Leben würde an Buntheit gewinnen.
Anpacken! Er holte den Schrubber aus dem Schrank und wischte nass durch den Flur und die Küche. Wischte anschließend die Küchenfronten und die Kühlschranktür ab und säuberte die Schubladen- und Schrankgriffe, an denen sein altes Leben förmlich klebte.
And I'm free any old time to get what I want.
Schweiß perlte von seiner Stirn herab.
Die unangenehmen Seiten des Putzens und Kaffeetrinkens im Sommer, dachte er und blickte auf das Thermometer. Erst kürzlich hatte er es gereinigt, und sein Weiß hob sich jetzt deutlich von den beigen Rauten der Tapete ab. Vierunddreißig Grad Innentemperatur.
Er goss kalte Milch in eine zweite Tasse Kaffee und fügte der Liste in seinem Kopf als letzten Punkt hinzu: duschen. Dann spülte er einen weiteren Bissen Kuchen hinunter.
Sein Kaffee, dieses Ritual am Nachmittag, war immer wie eine Ahnung von der Süße des Lebens geblieben. Eines entflohenen Lebens. Heute schmeckte die Süße nach Hoffnung. Nein, sie war mehr: Gewissheit.
Der Abend würde es besiegeln.
Das Brennen unter seiner Zunge schrieb er der Aufregung zu. Auch die leichte Übelkeit beunruhigte ihn zunächst nicht. I'm free any old time, summte er leise vor sich hin. Dann fühlte er, wie neuer Schweiß aus seinen Poren drang, und gleich darauf musste er erbrechen. Als er sich dabei an der WC-Schüssel festhielt, stellte er erstaunt fest, dass seine Hände gerötet waren und juckten. Sorgen machte er sich noch immer nicht. Er lachte sogar. I'm free. Fast fühlte es sich an wie früher, als er mit vierzehn Jahren seine erste Verabredung mit einem Mädchen gehabt hatte. Hinter dem Schulhof hatte er Gitta getroffen, heimlich, und sie hatte ihm erlaubt, die geflochtenen blonden Zöpfe zu lösen und sie auf die Wange zu küssen.
Martin Gärtner ging zurück in die Küche.
Damals, bei Gitta, hatte er auch diese Hitzewallungen gehabt. Er trank einen Schluck Milch gegen den schlechten Geschmack im Mund. Doch das Aroma schien ihm fremd, und der säuerliche Belag auf seiner Zunge wollte nicht verschwinden.
Erst als ihm der Tetrapak aus der Hand glitt, die Milch sich über den Boden ergoss, als seine Gliedmaßen sich anfühlten wie große Gummirollen und gleichzeitig glühendes Blei seine Lungen füllte, ergriff ihn Angst. Verschwommen sah er Jagger, der mit schiefem Kopf vor ihm saß und winselte. »Hörst du das Pfeifen auch?«, sagte er und fragte sich, ob das Röcheln aus ihm selbst drang oder die CD einen Fehler hatte, während Krämpfe ihn schüttelten.
Das Telefon!, schoss es ihm durch den Kopf. Sein Herz raste, er krallte sich am Tisch fest, stürzte zu Boden, wollte schreien, spürte die Nässe der Milch durch sein dünnes Hemd dringen und Jaggers Zunge auf seinem Gesicht, und im selben Moment lösten sich Harn und Stuhlgang, klebten warm zwischen den Pobacken und in seinem Schritt.
So muss sie sich auch gefühlt haben, vor fast dreizehn Jahren, dachte er noch und sah den roten Vogel in den Himmel hinauffliegen.
2
Die Finger schlossen sich um den Kugelschreiber wie dicke Würmer, als die Sprechstundenhilfe den nächsten Termin auf den Zettel schrieb.
Thea Roth betrachtete die Frau im weißen Kittel hinter dem Tresen und sog den Geruch der Räume ein. Es war die typische Mischung aus Desinfektionsmittel, Essig, Staub und abgestandenem Schweiß, mit der sie stets das Gefühl von Machtlosigkeit und Schmerz verband, ja, bei der sie manchmal den Tod zu riechen glaubte.
Die intensiven menschlichen Ausdünstungen rührten allerdings nicht von Krankheit und Sterben her, sondern eindeutig von Gabriele Hofmann, die ihr gerade den Terminzettel reichte und dabei große, dunkle Flecken unter ihren Achseln entblößte.
»Montag in vierzehn Tagen, neunter August, acht Uhr. Frau Wimmer ist gleich so weit«, sagte Hofmann, und ihr gewaltiger Vorbau schob sich unter dem weißen Kittel nach vorn. »Wie schön, dass Sie die alte Dame immer begleiten.«
Thea Roth schüttelte sich innerlich. Gabriele Hofmann sollte sich besser pflegen bei ihrem Job, dachte sie und blickte in das aufgedunsene Gesicht, aus dem ihr zwei kleine Äuglein unter ungleichmäßig gezupften Augenbrauen entgegenblickten. Ihre Wimperntusche war leicht verlaufen und bahnte sich den Weg über eine der feisten Wangen, als hätte die Arzthelferin geweint. Thea überlegte, ob sie sie auf das Malheur hinweisen sollte, als das Telefon hinter dem Tresen klingelte.
»Sie waren beim Friseur.« Hofmann strahlte sie an, nahm den Hörer ab und legte kurz die Hand über die Muschel. »Sie sehen umwerfend aus«, fügte sie mit einem vertraulichen Zwinkern hinzu und flötete dann ins Telefon: »Praxis Doktor Jakob Wittke, Gabriele Hofmann am Apparat?«
Erleichtert über die Unterbrechung, gab Thea Roth ihr ein Zeichen, dass sie ins Wartezimmer gehe, und setzte sich dort auf einen der Plastiklehnstühle. Außer ihr war nur eine Frau im Raum. Sie nickte ihr zu, und die andere blätterte weiter in ihrer Illustrierten.
Thea fuhr sich durch das frisch geschnittene Haar und dachte an Hilde Wimmer. Sie begleitete die 87-jährige Nachbarin alle zwei Wochen zum Hausarzt, und selbst die wenigen Meter von ihrer Wohnung bis zu der Praxis fielen der alten Dame schwer. Auf ihr Gehwägelchen gestützt, setzte sie mühsam einen Fuß vor den andern, Thea Roth an ihrer Seite. Wenn sie die Häuserzeile entlanggingen und wenn Thea merkte, wie gut ihre Zuwendung Hilde Wimmer tat, wie munter sie von ihrem Leben erzählte und ihre Gebrechen vergaß, huschte immer ein Lächeln über ihr eigenes Gesicht. Das Reden und die kurze Zeit, in der die Mühseligkeiten des Alters vergessen waren, schienen mehr wert als alle Pillen zusammen.
Nach einigen Minuten öffnete sich die Tür, und Gabriele Hofmann bat die Patientin ins Sprechzimmer. Dann schloss sie die Tür von innen und setzte sich neben Thea. Der Stuhl ächzte.
Thea seufzte in Gedanken und stellte sich vor, wie die Arzthelferin gleich wieder aufstehen und der Stuhl sich an ihrem Hintern festklemmen würde.
»Der Chef mag das ja eigentlich nicht«, sagte Hofmann und beugte sich herüber, »aber so ein Minütchen ...«
»Wo ist Frau Wimmer ?«
»Die Kollegin gibt ihr noch 'ne Spritze.«
»Ah.« Sie war Hofmann also höchstens fünf Minuten lang ausgeliefert.
»Die Männer werden Ihnen nachlaufen«, flötete Hofmann mit einem Blick auf Theas Frisur und flüsterte dann: »Das würde ich mir auch mal wieder wünschen.« Ihre Lippen bewegten sich hastig, während sie mit den Händen über ihre Oberschenkel rieb. »Mein Ex schwört ja immer noch, ihn hätten meine Haare und meine Pfunde nicht gestört. Aber ich weiß es besser. Mit mir kann man so was nicht machen. Wissen Sie, ich merk ja gleich, wenn einer 'ne andere hat. Er war ein« - sie senkte die Stimme, und ihre Hände kamen zur Ruhe - »Dreckskerl. Sie finden doch auch, dass es richtig war, ihn rauszuwerfen? Also, ich mein, ich war immer gut zu ihm, und dann so was! Ich hab ...«
»Sicher«, murmelte Thea und hörte nicht mehr hin. Sie wusste genau, was jetzt kam. Gabriele Hofmanns Schweinebraten in Karottensud nach dem Rezept ihrer Oma. Seine Leibspeise. Ihre polierten Wohnzimmerschränke. Die zwei Flaschen alkoholfreien Biers im Kühlschrank, für seinen Fernsehabend. Ihre Hingabe, mit der sie während jedem öden Fußballspiel und dröhnenden Formel 1-Rennen neben ihm ausgeharrt hatte, bereit, ihn nach allen Regeln der Kunst zu verwöhnen. Der Verräter von Ehemann, der als Dank mit irgendwelchen jungen Schlampen durch teure Cocktailbars gezogen war, selbst aber nur Orangensaft trank; der das Geld im Lotto verzockt hatte, eines Tages samt Fernseher, DVD-Spieler und dem gemeinsamen Auto verschwunden war - und eine Woche später reumütig wieder vor der Tür gestanden hatte. Das Schwein, dem die Hofmann schließlich die Koffer vor die Tür der gemeinsamen Wohnung gestellt hatte. Und dem sie aus Stolz bis heute die Scheidung verweigerte. Die ausschweifende Fassung eines nüchternen Scheiterns. Betrug. Schmerz. Zorn und Rache. Ein Klassiker. Im Grunde banal.
»Ist das nicht der Gipfel? Kommt der einfach zurück, als wär nichts gewesen, und denkt, ich schließ ihn wieder in die Arme. Na, der soll sich vorsehen!«, beendete die Arzthelferin ihren Redefluss. Ihre Wangen glühten in diesem typischen fleckigen Rotviolett, das Thea schon öfter bei ihr wahrgenommen hatte.
Es ist nicht nur die Hitze, dachte Thea und sagte: »Sie arbeiten in dieser Praxis. Sie haben einen prima Chef und nette Kolleginnen. Sie können den Kerl getrost vergessen. Jede Emotion und all die Wut, die Sie in den noch investieren, schadet nur Ihnen selbst.«
»Vergessen!« Ihr Schnaufen klang zynisch. »Das Schwein hat mich für blöd verkaufen wollen, oder etwa nicht? Dazu hatte er kein Recht! So eine wie mich« - sie holte tief Luft und verschränkte die Arme vor der Brust - »findet er nicht wieder.«
Thea stand auf. Sie klebte fast auf der Sitzfläche fest, und ihre dünne Jeans und kurzärmlige Bluse lagen feucht auf ihrer Haut. In Hofmanns Nähe fühlte sie sich vollends wie in einem Treibhaus. »Kommen Sie«, sagte sie freundlich, »sonst wird Doktor Wittke ungeduldig.« Thea wollte Gabriele Hofmann nicht vor den Kopf stoßen. Sie war derb und direkt in ihrer Art, doch sicher kein schlechter Mensch. Sie kämpfte sich auf ihre Weise durchs Leben.
»Es war ja klar, dass ihn diese magersüchtigen halbnackten Dinger sofort gelangweilt haben.«
»Ja.« Was sollte sie auch erwidern? In fünfzehn Minuten würde sie zu Hause sein und es sich gemütlich machen. Kein Mäkeln mehr, keine ungewollte Konfrontation mit niederträchtigen Ehemännern.
»Ich wusste, dass Sie das auch so sehen.« Schwer atmend erhob sich auch die Arzthelferin. Die Hand auf der Türklinke, sagte sie: »Sie sehen aus wie die Monroe auf diesem berühmten Foto. Sie wissen schon, das mit dem sexy Blick und diesem fliegenden Kleid.« Ihre Augen blitzten.
»Nur dreißig Jahre älter.« Thea Roth lächelte, froh darüber, dass das Thema »mein Ex« vorerst überstanden war.
»Wenn Sie sich dann noch 'nen hübschen Minirock ...« Die korpulente Frau kicherte, und ihr ganzer Körper vibrierte. Thea fuhr mit der Hand über ihre Beine. Sie hatte sich gut gehalten für ihre fünfundfünfzig Jahre. Muskulöse Oberschenkel, straffe Haut. Ihre Beine waren makellos. »Sie meinen, das steht mir?«, fragte sie, obwohl sie genau wusste, dass Kostüme sie hervorragend kleideten. Erst letzte Woche hatte sie einen Satinfummel aus dem Schrank geholt und sich damit vor der verspiegelten Tür um die eigene Achse gedreht. Kurzer Rock, hochgeschlossener Kragen. Wie für sie maßgeschneidert. Danach hatte sie den Plastikschutz wieder darübergestülpt und die Schranktür verschlossen.
»Sie könnten super im Fernsehen auftreten.« Hofmann gluckste.
»Die Diva aus der Draisstraße«, erwiderte Thea Roth schmunzelnd und freute sich über ihre neue Frisur. Blond, dicht, schulterlang. Perfekt.
»Bestimmt haben Sie früher auch schon so toll ausgesehen.« Thea wiegte den Kopf. »Vergessen kann auch Gnade sein«, sagte sie und dachte: Und manchmal zwingt einen das Leben dazu.
Gabriele Hofmann lachte und öffnete die Tür zum Empfangsbereich, von wo aus Doktor Jakob Wittke ihnen zunickte. »Sie sind immer so lustig«, sagte sie zu Thea Roth.
Lustig!, dachte Thea und hakte Hilde Wimmer unter, deren knotige Hände die Griffe des Rollators umklammerten. Die beiden Frauen drückten sich in den Schatten der Häuserzeile. Jetzt, nach achtzehn Uhr, hatte die schlimmste Hitze ihren Höhepunkt überschritten, doch die Sonne brannte noch immer unerbittlich. Nur drei Hauseingänge lagen zwischen der Praxis und dem Zugang zu ihren Wohnungen, doch der Weg strengte Hilde Wimmer an wie ein Halbmarathon. Zwei Schritte schlurfen, stehen bleiben und keuchend atmen. Zwei Schritte schlurfen, innehalten ... In einem Haus auf der andern Straßenseite fiel träge eine Haustür ins Schloss, gleich darauf eine zweite, Menschen kamen heraus, wahrscheinlich für ein paar Besorgungen oder einfach, um sich im nahe gelegenen Eschholzpark auf eine Bank zu setzen, friedlich eine zu rauchen oder den Tag im Freien ausklingen zu lassen. Manche waren allein an diesen Abenden. Wie Hilde Wimmer. Ihr war nicht das vergönnt, was Thea selbst hatte erfahren dürfen in den letzten Monaten. Lustig? Nein. Lustig war sie nicht. Sie war dankbar. Gott, falls es den gab, Miriam und dem Leben. Am Treppenaufgang zu einem dreigeschossigen Haus mit bröckliger Fassade, die einmal gelb gewesen sein musste, blieben sie stehen. Es bildete das Nordende eines langgestreckten Gebäudes, das aus mehreren identischen Häusern bestand. Sie unterschieden sich nur durch geringe Nuancen in der Farbe voneinander. Jedes Haus beherbergte sechs Wohnungen, zwei pro Stockwerk. Nur die Arztpraxis hatte die Größe zweier Wohnungen und nahm das gesamte Erdgeschoss des südlichen Endhauses ein.
»Jetzt haben wir's gleich«, sagte Thea und trug das Gehwägelchen zum Hauseingang hinauf. Danach half sie der alten Frau Stufe für Stufe nach oben, machte dabei auf dem breiten Treppenabsatz Pause mit ihr, schob sie dann sanft weiter.
»Sie sind so eine gute Seele, Kindchen«, sagte Hilde Wimmer und nickte. »Was würde ich nur ohne Sie machen.«
»Ich bin immer da, wenn Sie mich brauchen, das wissen Sie doch.« Thea lächelte, legte einen Arm um den Rücken ihrer Nachbarin und drückte mit genau der richtigen Kraft leicht nach oben, so dass sie die nächste Stufe bezwang.
»Gute Seele«, wiederholte Hilde Wimmer, und Thea betrachtete sie von der Seite. Sie hatte helle, wässrige Augen, lange, fast durchsichtige Wimpern und hohe Wangen, auf denen zahlreiche Altersflecke die pergamentene Haut überzogen. Sie war sicher einmal eine schöne Frau gewesen.
Bis sie oben waren, schien Thea eine weitere Ewigkeit vergangen zu sein. Doch sie hatte sowieso nichts zu tun. Und Geduld - das war eine Tugend, die sie verinnerlicht hatte wie kaum ein anderer Mensch.
Sie kramte den Hausschlüssel hervor. Miriam arbeitete noch. Thea versuchte, sich zu erinnern, wo sie gerade war, aber es fiel ihr nicht ein. Doch bestimmt hatte Miriam ihr einen Teller gedünstetes Gemüse im Kühlschrank bereitgestellt. Sie lächelte.
Wie unterschiedlich die beiden doch waren. Ihre Tochter, die geduldig war, fürsorglich und still, und der nie ein böses Wort über die Lippen kam. Und Gabriele Hofmann, laut, zornig und enttäuscht vom Leben. Die Hofmann passt in den trostlosen Wohnblock ein paar Straßen weiter, dachte Thea und schämte sich sofort für diesen Gedanken. Er war ungerecht. Sie kannte die genauen Hintergründe nicht, die die Hofmann dorthin geführt hatten. In ein Umfeld, das alles andere war als ein Ort der Stars und Erfolge. Zumindest glaubte Thea, dass die nahe gelegenen Hochhäuser anonym waren und die Menschen dort unendlich einsam. Genau wissen tat - und wollte -sie es nicht. Erst recht nicht von Gabriele Hofmann.
Im Haus schlug ihr der Geruch nach Braten und Waschmittel entgegen, und Babygeschrei hallte durch das Treppenhaus. Das junge Pärchen aus der ersten Etage, dachte Thea. Die Wohnung von Theas Tochter und die des Pärchens lagen sich im ersten Obergeschoss gegenüber. Die Studenten hatten im Frühjahr ein Kind bekommen, und seither stritten sie pausenlos. Kein Tag verging ohne laute Worte und Türenschlagen. Was das Baby erst recht zum Weinen anstachelte. Armes Würmchen.
Thea drückte eben auf den Knopf, um den Aufzug zu holen, als hinter einer Tür ein Hund zu kläffen begann. Im nächsten Moment flog eine andere Tür auf, und eine Frau in Blümchenkittel schoss heraus. Die Hausmeisterin. Kleine schwarze Augen funkelten Thea Roth und Hilde Wimmer an, und über einer spitzen Nase türmte sich ein filziges Etwas, das irgendwann einmal eine Hochsteckfrisur gewesen sein mochte. Ratte, dachte Thea.
»Verfluchte Töle.«
»Der Hund hat uns kommen hören, es ist bestimmt nur eine Begrüßung«, sagte Thea.
Im Aufzugsschacht rumpelte es laut.
»Abmurksen sollte man das Vieh!«, rief die Ratte und eilte zu der Tür, durch die jetzt ein klägliches Winseln drang. »Kläfft hier seit einer geschlagenen Stunde herum.«
Der Hund begann, an der Tür zu kratzen, bellte.
»Halt die Schnauze«, brüllte die Ratte und drückte dann ihr Ohr gegen die Tür. Das Winseln wurde leiser, klang beinahe fragend.
Thea stellte sich vor, wie der Hund herausschoss, auf die Ratte zu, und sich in die blaugeäderten Waden mit den Nylonstrümpfen verbiss.
Hilde Wimmer schüttelte den Kopf. »Er hat Durst, sag ich
Ihnen.« Dann ereiferte sie sich plötzlich: »Aber wenn der Hund eingesperrt ist, verteilt er wenigstens keinen Kot auf den Wegen. Widerlich ist das. Fahren Sie da mal mit diesem Ding durch!« Sie ruckelte am Rollator.
»Wissen Sie was, wir trinken jetzt noch eine Tasse Eistee zusammen.« Thea bugsierte die Alte sanft in die Aufzugskabine. »Einverstanden?« Sie drückte die Taste mit der 2.
»Und Sie lesen mir auch die Standesamtnachrichten aus der Zeitung vor?«
»Natürlich.« Thea tätschelte vorsichtig die verkrümmten Finger.
Die Metallwände schlossen sich um die beiden Frauen und schluckten das erneute Bellen des Hundes. Ein verstohlenes Lächeln schlich sich auf Thea Roths Gesicht.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Petra Busch
- 2011, 1, 439 Seiten, Maße: 13,5 x 19,2 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009884
- ISBN-13: 9783868009880
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