Meine freie deutsche Jugend
''Ich musste versprechen, nie wieder öffentlich Honecker-Witze zu erzählen und Polizisten nicht mit "Bullen" anzusprechen - selbst wenn ich es nett meinte.''
Claudia Rusch erzählt mit Herz und Humor von einer fast normalen Kindheit in der DDR, die...
Claudia Rusch erzählt mit Herz und Humor von einer fast normalen Kindheit in der DDR, die...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Meine freie deutsche Jugend “
''Ich musste versprechen, nie wieder öffentlich Honecker-Witze zu erzählen und Polizisten nicht mit "Bullen" anzusprechen - selbst wenn ich es nett meinte.''
Claudia Rusch erzählt mit Herz und Humor von einer fast normalen Kindheit in der DDR, die glücklich war, auch wenn sie nicht von bitteren Erfahrungen ganz unbehelligt blieb.
Claudia Rusch erzählt mit Herz und Humor von einer fast normalen Kindheit in der DDR, die glücklich war, auch wenn sie nicht von bitteren Erfahrungen ganz unbehelligt blieb.
Lese-Probe zu „Meine freie deutsche Jugend “
DIE HAUPTABTEILUNG VIII IM MÄRCHENWALDMeine Großmutter besuchte uns regelmäßig in Grünheide. Sie nahm von Stralsund den D-Zug bis zum Ostbahnhof, stieg dann in die S-Bahn und fuhr bis Erkner durch. Dort stellte sie sich an die zugige Haltestelle und wartete auf den Landbus. Zwei Dörfer weiter war sie am Ziel. Der Bus hielt am Rand der Waldsiedlung, in der wir lebten.
Sie war nur einseitig bebaut. Alle Häuser reihten sich wie aufgefädelt aneinander. Gegenüber standen dichte Kiefern. Nach 200 Metern machte der Weg einen Knick. Dort wohnten wir. In einem Gesindehaus mit Strohdach am Ufer eines winzigen Sees. Er gehörte zu einem noch winzigeren Schloss, welches gleich nebenan hinter einem großen Tor lag und von einem richtigen Park umgeben war. Unsere Straße war nie befestigt worden. Als würden noch des Grafen Rosse hier tänzeln, nur märkischer Sand. Der Weg war durch Wind und Regen so verwaschen, dass er für moderne Fortbewegungsmittel eigentlich immer unbenutzbar blieb. Fahrrad fahren war lebensgefährlich, Autos tuckerten sicherheitshalber in Schrittgeschwindigkeit. Genau richtig für Katzen und kleine Kinder.
Jedenfalls solange die Sonne schien. Nachts wurde die Siedlung zum Gespensterwald. Überall waren unheimliche Geräusche. Es gab Wildschweine, Eulen und bestimmt Wölfe. Ganz zu schweigen von dem meterlangen Krokodil in unserem Kleiderschrank. Ich hatte Panikattacken, wenn ich im Dunkeln allein blieb.
Deswegen verstand meine Mutter auch nicht, was mich dazu brachte, eines Winterabends hartnäckig darauf zu bestehen, meine Großmutter ganz allein vom Bus abzuholen.
Ich ging jetzt in die erste Klasse. Kein Babykram mehr. Wir hatten im Unterricht darüber gesprochen, was Klein-Sein von Groß-Sein unterscheidet. Da ich manchmal noch am Daumen nuckelte, fand ich, dass ich wenigstens durch Heldenhaftigkeit meiner neuen Verantwortung als Schulkind gerecht werden sollte. Ein früh ausgeprägter Hang zu gewisser Radikalität ließ mich meine Chance ausgerechnet im
... mehr
Machtkampf mit der Angst sehen.
Ich zog mir die Tschapka über die Ohren und trat aus dem Gartentor, vorbei am Lada mit den erwartungsvollen Männern. Nach wenigen Metern war ich aus dem Blickfeld verschwunden, und es wurde stockfinster um mich.
Ich wusste natürlich, dass es in Wirklichkeit keine Geister gab. Dass meine Mutter unsere Wohnung zwar Hexenhäuschen nannte, die echten Hexen aber von bösen Pfarrern verbrannt worden waren. Die Wölfe waren längst über alle Berge, und im Kleiderschrank wohnten höchstens Motten. Ich wusste, es gibt keine dunklen Geschöpfe. Aber ganz sicher war ich nicht.
Meine Mutter auch nicht. Als weise Frau hatte sie erkannt, dass es wichtig für mich war, zum Bus zu gehen. Aber selbstverständlich ließ sie mich keineswegs des Abends allein durch den Wald spazieren. Und dann noch über diesen Holperweg. Ohne funktionierende Straßenbeleuchtung. Sie tat das einzig Richtige: sie folgte mir in gut 30 Meter Abstand, ohne dass ich sie bemerkte.
Aber nicht, ohne dass es die Stasi bemerkte. Unser Personenschutz witterte umgehend staatsfeindliche Aktivitäten und ließ den Wagen an.
Die Angst kroch langsam durch die Öffnungen meines Anoraks. Ich musste etwas unternehmen. Ich dachte ganz fest an Schneeweißchen und Rosenrot, die sich auch im Wald fürchteten und als Gegenmittel fröhliche Lieder sangen. Jedenfalls taten sie es auf meiner Amiga-Schallplatte.
Ich war überzeugt, was bei Schneeweißchen und Rosenrot klappt, das hilft auch bei mir. Aber find mal auf die Schnelle das richtige Lied ... Hänschen klein, Gans gestohlen, der Kuckuck und der Esel, all das war untauglich. Viel zu kurz für den weiten Weg. Improvisiertes Lalala war mir zu stillos. Ich brauchte einen Text, der ungefähr zur Entfernung passte. Auf die Idee, meine Lieblingslieder einfach zweimal zu singen, kam ich nicht. Sternbild Jungfrau. Die Logikerin in mir sah nicht nach links oder rechts: langer Weg, langes Lied. Also los.
Das mit Abstand strophenreichste Lied, das ich kannte, war eines, das ich zu Hause nicht singen durfte, weil es das Militär verherrlichte. Es ging so: Soldaten sind vorbeimarschiert, im gleichen Schritt und Tritt, wir Pioniere kennen sie und laufen fröhlich mit. Gute Freunde bei der Volksarmee, sie schützen unsere Heimat, zu Land, zur Luft und auf der See, juchhei. Dann folgten etwa 87 Strophen, in denen alle Kompaniemitglieder samt ihren Zivilberufen vorgestellt wurden. Sie schützen unsere Heimat, zu Land, zur Luft und auf der See. Volles Programm.
Meine Mutter erklärte mir immer mit freundlicher Stimme und diesem leichten 70er-Jahre-Friedensbewegungs-Näseln, dass Soldaten im normalen Leben zwar Bäcker oder Lehrer, in Uniform aber Mörder seien. Dann legte sie Wolf Biermann auf, und ich musste mir "Soldat, Soldat in grauer Norm" anhören ... Solchermaßen eingestimmt, ging ich immer gerne zum Pionierchor.
Im Angesicht des Dunkels hielt ich mich nicht lange mit familienpolitischer correctness auf und sang einfach los. Mit der ganzen Stimmkraft meiner sieben Jahre schmetterte ich "Soldaten sind vorbeimarschiert" durch die Siedlung. Es war ungemein befreiend.
Wenige Meter hinter mir schwor meine Mutter, mich bei Wasser und Brot zur Vernunft zu bringen.
Und auch die Herren von der Staatssicherheit fühlten sich über alle Maßen von meinem Gesang provoziert. Mit trainiertem Auge erfasste die operative Außenarbeitsgruppe sofort, was hier gespielt wurde. Ein Ablenkungsmanöver. Oder ein Code. Irgendwo sprang sicher gleich der Feind aus dem Busch. Sie mussten schnell reagieren. Dranbleiben oder weiter Posten vor dem Haus beziehen? Sie entschieden sich für Verfolgung der observierten Person.
Ohne Rücksicht auf Auspuff und Familienjuwelen hüpften sie auf dem unbefahrbaren Sandboden todesmutig meiner Mutter hinterher.
Es war der Narrenumzug der Saison. Zu NVA-Lied marschierende Tochter vorn, subversive Mutter dahinter, der durchgeschüttelte Stasi-Lada im Schlepptau. Alle in gebührendem Sicherheitsabstand.
Als ich die Bushaltestelle erreicht hatte, versteckte sich meine Mutter im Halbdunkel. Der Wagen bremste und blieb in einem der tiefen Straßenlöcher stecken. Es war wie im Film. Aufgeregt beobachtete die Stasi, wie meine Mutter die Ankunft des Busses abwartete und dann in großer Eile zurücklief. Aha. Nix wie hinterher - aber der Lada saß fest.
Er stand immer noch schief auf dem Sandweg, als ich mit stolzgeschwellter Brust an der Hand meiner Großmutter nach Hause ging. Die Hauptabteilung VIII war gelinkt worden. Doch eine Falle. Der alte Schneeweißchen-und-Rosenrot-Trick.
Ich zog mir die Tschapka über die Ohren und trat aus dem Gartentor, vorbei am Lada mit den erwartungsvollen Männern. Nach wenigen Metern war ich aus dem Blickfeld verschwunden, und es wurde stockfinster um mich.
Ich wusste natürlich, dass es in Wirklichkeit keine Geister gab. Dass meine Mutter unsere Wohnung zwar Hexenhäuschen nannte, die echten Hexen aber von bösen Pfarrern verbrannt worden waren. Die Wölfe waren längst über alle Berge, und im Kleiderschrank wohnten höchstens Motten. Ich wusste, es gibt keine dunklen Geschöpfe. Aber ganz sicher war ich nicht.
Meine Mutter auch nicht. Als weise Frau hatte sie erkannt, dass es wichtig für mich war, zum Bus zu gehen. Aber selbstverständlich ließ sie mich keineswegs des Abends allein durch den Wald spazieren. Und dann noch über diesen Holperweg. Ohne funktionierende Straßenbeleuchtung. Sie tat das einzig Richtige: sie folgte mir in gut 30 Meter Abstand, ohne dass ich sie bemerkte.
Aber nicht, ohne dass es die Stasi bemerkte. Unser Personenschutz witterte umgehend staatsfeindliche Aktivitäten und ließ den Wagen an.
Die Angst kroch langsam durch die Öffnungen meines Anoraks. Ich musste etwas unternehmen. Ich dachte ganz fest an Schneeweißchen und Rosenrot, die sich auch im Wald fürchteten und als Gegenmittel fröhliche Lieder sangen. Jedenfalls taten sie es auf meiner Amiga-Schallplatte.
Ich war überzeugt, was bei Schneeweißchen und Rosenrot klappt, das hilft auch bei mir. Aber find mal auf die Schnelle das richtige Lied ... Hänschen klein, Gans gestohlen, der Kuckuck und der Esel, all das war untauglich. Viel zu kurz für den weiten Weg. Improvisiertes Lalala war mir zu stillos. Ich brauchte einen Text, der ungefähr zur Entfernung passte. Auf die Idee, meine Lieblingslieder einfach zweimal zu singen, kam ich nicht. Sternbild Jungfrau. Die Logikerin in mir sah nicht nach links oder rechts: langer Weg, langes Lied. Also los.
Das mit Abstand strophenreichste Lied, das ich kannte, war eines, das ich zu Hause nicht singen durfte, weil es das Militär verherrlichte. Es ging so: Soldaten sind vorbeimarschiert, im gleichen Schritt und Tritt, wir Pioniere kennen sie und laufen fröhlich mit. Gute Freunde bei der Volksarmee, sie schützen unsere Heimat, zu Land, zur Luft und auf der See, juchhei. Dann folgten etwa 87 Strophen, in denen alle Kompaniemitglieder samt ihren Zivilberufen vorgestellt wurden. Sie schützen unsere Heimat, zu Land, zur Luft und auf der See. Volles Programm.
Meine Mutter erklärte mir immer mit freundlicher Stimme und diesem leichten 70er-Jahre-Friedensbewegungs-Näseln, dass Soldaten im normalen Leben zwar Bäcker oder Lehrer, in Uniform aber Mörder seien. Dann legte sie Wolf Biermann auf, und ich musste mir "Soldat, Soldat in grauer Norm" anhören ... Solchermaßen eingestimmt, ging ich immer gerne zum Pionierchor.
Im Angesicht des Dunkels hielt ich mich nicht lange mit familienpolitischer correctness auf und sang einfach los. Mit der ganzen Stimmkraft meiner sieben Jahre schmetterte ich "Soldaten sind vorbeimarschiert" durch die Siedlung. Es war ungemein befreiend.
Wenige Meter hinter mir schwor meine Mutter, mich bei Wasser und Brot zur Vernunft zu bringen.
Und auch die Herren von der Staatssicherheit fühlten sich über alle Maßen von meinem Gesang provoziert. Mit trainiertem Auge erfasste die operative Außenarbeitsgruppe sofort, was hier gespielt wurde. Ein Ablenkungsmanöver. Oder ein Code. Irgendwo sprang sicher gleich der Feind aus dem Busch. Sie mussten schnell reagieren. Dranbleiben oder weiter Posten vor dem Haus beziehen? Sie entschieden sich für Verfolgung der observierten Person.
Ohne Rücksicht auf Auspuff und Familienjuwelen hüpften sie auf dem unbefahrbaren Sandboden todesmutig meiner Mutter hinterher.
Es war der Narrenumzug der Saison. Zu NVA-Lied marschierende Tochter vorn, subversive Mutter dahinter, der durchgeschüttelte Stasi-Lada im Schlepptau. Alle in gebührendem Sicherheitsabstand.
Als ich die Bushaltestelle erreicht hatte, versteckte sich meine Mutter im Halbdunkel. Der Wagen bremste und blieb in einem der tiefen Straßenlöcher stecken. Es war wie im Film. Aufgeregt beobachtete die Stasi, wie meine Mutter die Ankunft des Busses abwartete und dann in großer Eile zurücklief. Aha. Nix wie hinterher - aber der Lada saß fest.
Er stand immer noch schief auf dem Sandweg, als ich mit stolzgeschwellter Brust an der Hand meiner Großmutter nach Hause ging. Die Hauptabteilung VIII war gelinkt worden. Doch eine Falle. Der alte Schneeweißchen-und-Rosenrot-Trick.
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Autoren-Porträt von Claudia Rusch
Claudia Rusch, geboren 1971, aufgewachsen auf Rügen, in der Mark Brandenburg und seit 1982 in Berlin. Sie studierte Germanistik und Romanistik, arbeitete sechs Jahre als Fernseh-Redakteurin und lebt als Autorin in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Claudia Rusch
- 2003, 5, 156 Seiten, Maße: 13,4 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. FISCHER
- ISBN-10: 3100660587
- ISBN-13: 9783100660589
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