Meine Geschichte der DDR
Wolfgang Leonhard, Jahrgang 1921, der letzte Überlebende der »Gruppe Ulbricht« und Autor des Bestsellers »Die Revolution entlässt ihre Kinder«, zieht Bilanz. Sein Leben war mit der Geschichte des Kommunismus im 20....
Wolfgang Leonhard, Jahrgang 1921, der letzte Überlebende der »Gruppe Ulbricht« und Autor des Bestsellers »Die Revolution entlässt ihre Kinder«, zieht Bilanz. Sein Leben war mit der Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert aufs Engste verbunden. Leonhard gehörte zu den ersten Führungskadern, die Deutschland nach dem Krieg im Sinne des Sozialismus wieder aufbauen sollten. Bald brach er jedoch mit dem Stalinismus, wie er in der DDR Gestalt annahm. Hier beschreibt er Aufstieg und Fall eines Staates, dessen Gründungsideale er leidenschaftlich teilte und dem er letztlich enttäuscht den Rücken kehrte. Er erzählt von den Anfangsjahren nach 1945, seinem späteren Leben als Ostexperte im Westen und von Plänen der Stasi, ihn zu entführen.
Meine Geschichte der DDR von Wolfgang Leonhard
LESEPROBE
Neuland
Während des Fluges wurde kaum einWort gesprochen. Wir saßen stumm in unseren Sitzen, voller Gedanken daran, was unsin der Heimat erwarten würde. Wir - die zehn Mitglieder der «Gruppe Ulbricht»,auf dem Weg nach Deutschland am 30. April 1945. Wenige Tage vor Kriegsendewusste von uns niemand genau, ob wir nun für immer die Sowjetunion verlassenoder bald schon wieder zurückbeordert würden. Zurück in das Land, in dem ichdie letzten zehn Jahre, meine gesamte Jugend, verbracht hatte.
Wir waren in einer Transportmaschineunterwegs, einer amerikanischen DC 3. An den Seiten des Laderaums hatte manSitze montiert. Tausende von Flugzeugen hatten die Amerikaner während desKrieges an die Sowjetunion geliefert, bezahlt wurden sie nie. Und später wurdedarüber nicht mehr gesprochen. Die Sowjetunion verschwieg, dass sie ohne dieLieferungen den Krieg niemals hätte führen können, die Amerikaner wolltennichts mehr davon wissen, dass sie Stalins Triumph erst ermöglicht hatten.
Plötzlich wandte sich WalterUlbricht an mich. Er saß mir direkt gegenüber und blickte mich prüfend an:«Also das mit deinem russischen Namen, das geht so nicht. Wolodja!Nimm dir doch einen deutschen Namen.»
«In der Komintern-Schulewar ich Wolfgang.» «Gut, ab jetzt bist du Wolfgang.»
Damit war unser Gespräch wiederbeendet.
Ich dachte während des Fluges anmein bisheriges Leben. Bis vor wenigen Tagen war ich Rundfunksprecher in dem MoskauerSender gewesen, der vom «Nationalkomitee Freies Deutschland» betrieben wurde.Die emigrierten deutschen Kommunisten hatten sich in der Sowjetunion mit kriegsgefangenen Soldaten und Offizieren zu dieserVereinigung zusammengeschlossen, um gegen die Hitler-Diktatur zu kämpfen. Dasnahende Kriegsende erlebte ich also in Moskau vor dem Mikrofon.
Am 21. April - vor gerade mal neunTagen - verkündete ich, dass die Rote Armee die ersten Vororte von Berlinerobert hatte. Einen Tag später erreichte sie dann das Stadtgebiet, die BezirkeLichtenberg und Niederschönhausen. «Wie Radio Moskau berichtet, ist es densowjetischen Truppen gelungen, einen Ring um Berlin zu schließen», gab ich kurzdarauf bekannt. Damit musste dem letzten Nazifanatiker klargewordensein, dass Berlin fallen würde. Auch wenn ich noch am 27. April, bei meinerallerletzten Meldung, die verzweifelten Verteidigungsversuche der Deutschenbeschrieb: «Es kam zur Sprengung der Schottenkammern am Landwehrkanal, was zurFlutung der Schächte von S- und U-Bahn führte.»
Kurz vor einer dieser letztenSendungen erhielt ich einen Anruf. Ich hätte mich sofort bei Walter Ulbricht imHotel «Lux» zu melden. Er saß dort mit einigen anderen deutschen Genossenzusammen. Manche von ihnen kannte ich von früher, andere sah ich zum erstenMal. Mit meinen 24 Jahren war ich von allen Anwesenden mit Abstand der Jüngste.
«Gut, dass du kommst», sagteUlbricht in seinem für ihn typischen nüchternen Tonfall, den man jedochkeineswegs als Ausdruck mangelnder Leidenschaft deuten durfte: «Du bistMitglied unserer Gruppe. Wir werden nach Deutschland fahren.»Selbstverständlich wusste ich, dass man keine Fragen stellte. Wenn man in derSowjetunion unter Stalin wichtige Anweisungen oder Erklärungen erhielt, hatteman sich längst abgewöhnt, irgendeine Regung zu zeigen - man nahm alles einfachzur Kenntnis. Mehr nicht. Nach Deutschland also.
Ulbricht fuhr fort: «Es werden dannnoch ein paar praktische Fragen zu regeln sein. Zu dir kommt ein Genosse, dem dualle deine Dokumente geben wirst. Hier hast du erst mal sowjetisches Geld fürdie letzten Einkäufe, die du vielleicht machen willst. Und da sind noch 2000deutsche Nachkriegsmark.» Ich blickte erstaunt. «Das ist von den Amerikanern herausgegeben»,klärte er mich auf. Dieses Geld war tatsächlich schon während des Kriegesgedruckt worden, für die Zeit nach Hitler. Die Zeit, die jetzt begonnen hatte.
Mein Leben in der Sowjetunion warmir fast wie eine Ewigkeit vorgekommen. Nun, nach zwölf Jahren, würde ich nachDeutschland zurückkehren, in das Land, das ich verlassen hatte, als ich nochein Kind war.
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© Rowohlt Verlag
- Autor: Wolfgang Leonhard
- 2007, 1, 272 Seiten, mit Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- ISBN-10: 3871345725
- ISBN-13: 9783871345722
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