Meine Heimat, deine Heimat
"Es macht mich sogar ein wenig stolz, Ostpreuße zu sein. So eine Heimat hat nicht jeder."
TV-Journalist Wolf von Lojewski ist in das Land seiner Kindheit gereist, das ehemalige Ostpreußen, und hat für diesen Band die prägnantesten...
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Produktinformationen zu „Meine Heimat, deine Heimat “
"Es macht mich sogar ein wenig stolz, Ostpreuße zu sein. So eine Heimat hat nicht jeder."
TV-Journalist Wolf von Lojewski ist in das Land seiner Kindheit gereist, das ehemalige Ostpreußen, und hat für diesen Band die prägnantesten Begegnungen und Erlebnisse zusammengetragen. Ein reiches, sehr persönliches Buch, das vom Alltag der Menschen, von Aufbruch und Wandel und auch von einer ganz besonderen und immer noch unbekannten Landschaft erzählt.
Wolf von Lojewski (* 1937) zeichnete sich als Journalist und Auslands-Korrespondent stets durch seine große Neugier der Welt gegenüber aus. Deshalb wollte er auch unbedingt mehr über die Heimat seiner Eltern und seiner Kindheit erfahren.
Lese-Probe zu „Meine Heimat, deine Heimat “
Meine Heimat, deine Heimat von Wolf von Lojewski 1. Meine Heimat, deine Heimat
Der Mann kam fröhlich auf mich zu. Er hob den rechten
Arm und wies zum Horizont, in eine unbestimmte
Ferne. Dabei hob und senkte sich seine Hand wie ein flatternder
Vogel. »Ich habe Ihre Sendungen im Fernsehen gesehen:
Sie waren schon wieder einmal dort ...« Wo genau, wollte ihm
in der Plötzlichkeit unserer Begegnung nicht einfallen, und so
musste ich ihm ein wenig helfen.
»Ja!«, rief er aus, und sein Gesicht strahlte noch eine Spur
heller. »Ich liebe solche Geschichten, kann gar nicht sagen,
warum.« Nein, nein, er selbst komme nicht aus dem Osten,
sondern aus dem schönen Hessenland. Und mal hinzufahren,
dorthin, wo ich nun wieder gewesen sei, das schien ihm doch etwas
abseits der Wege. Natürlich Spanien, Kanarische Inseln,
Marokko - da habe er überall schon mal Urlaub gemacht. Aber
Masuren oder so etwas in der Art, darauf sei er einfach nie gekommen.
Ich kann ihn verstehen. Es gibt Ziele, Orte, Namen, die wir
mit der Seele suchen, aber nicht auf der Landkarte oder gar in
der Realität. Sie haben sich verklärt, sind versunken in der Tiefe
der Zeit. Da hilft es auch nicht, sich klarzumachen, dass es beispielsweise
von Berlin nach Kaliningrad, dem früheren Königsberg,
eine kürzere Strecke ist als nach München. Das eine ist
eben Alltag und das andere Träumerei. Ganz abgesehen davon,
dass die Flug- und Bahnverbindungen nach Süden selbstverständlich
im Stundentakt zur Verfügung stehen, während die
Reise »dorthin« wie ein Abenteuer erscheint. Mit dem Auto ist
natürlich beides eine Qual. Aber auf den Autobahnen sind wir
ja die Staus und Lästigkeiten gewohnt, während uns der Weg
nach Osten unkalkulierbar und fremd erscheint.
... mehr
Für mich ist das Heimat. Aber was ist Heimat in einem
Herumtreiberleben? Viele Antworten bieten sich an: immer da,
wo die Familie gerade lebt und wo deine Möbel und Bücher
stehen; der Ort, der im Personalausweis als Wohnsitz oder als
Geburtsort eingetragen ist; der Stammsitz deiner Vorfahren.
Unbestimmte Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit steckt
darin. Vielleicht hat uns eine Landschaft geprägt: echter Bayer,
handfester Schwabe, Nordfriese - zupackend und wortkarg -,
typisch rheinische Frohnatur. Dürfen wir es uns denn aussuchen?
Ist der Begriff bei jedem Umzug von hier nach dort übertragbar?
Und wie könnte wohl die Mehrzahl von Heimat lauten?
Wortanalytische Nachschlagewerke helfen nicht weiter.
Heimate, Heimaten ... Jeder Versuch endet irgendwie seltsam.
Eigentlich widerspricht das ja auch der Emotion. Der Klang
zielt auf etwas Einmaliges hin - eher vom Schicksal bestimmt
als von uns, mehr gefühlt als vermessbar. Der Mensch muss sich
entscheiden, oder es ist von höheren Mächten für ihn entschieden
worden: entweder dies oder das! Ich zum Beispiel bin in
Berlin geboren. Aber danach ging es schnell wieder raus aus der
Stadt. Und wenn ich gelegentlich mal mit der Taxe an dem
Häusergebirge der Großklinik vorbeifahre, in der ich meine ersten
Schreie tat, regen sich keine sentimentalen Gefühle in mir.
Machen wir's kurz: »Du bist ein Ostpreuße, ein Masure!«,
haben mir meine Eltern mit auf den Weg gegeben. Ich habe es
ihnen versprochen, ich werde das Versprechen halten. Aber
auch das ist natürlich leichter gesagt als empfunden. Und doch
hat es einen lockenden Reiz. Das Ferne, Verlorene, im Strudel
der Geschichte Versunkene kann dem Menschen in einer sich
rasch verändernden Welt intensiverer Halt und Heimat sein als
die alltägliche, selbstverständliche, einen immer und zu jeder
Zeit umgebende Kulisse. Es macht mich sogar ein bisschen
stolz, ein Ostpreuße zu sein. Denn eine solche Heimat hat nicht
jeder.
Und noch etwas hebt sie heraus. Während über Jahrzehnte
in dem Anspruch »meine Heimat« die Betonung sehr stark auf
dem Wörtchen »meine« lag - sie gehört mir und keinem anderen!
-, habe ich auf meinen Reisen festgestellt, dass in einem
zusammenwachsenden Europa der Begriff »Heimat« selbst
zwischen Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, etwas
Versöhnliches und Verbindendes sein kann. Marion Gräfin
Dönhoff, ein leuchtender Name in der wechselhaften Geschichte
dieser Region, hat uns gelehrt, dass man auch lieben
kann, ohne zu besitzen.1 Ich stimme ihr aus vollem Herzen zu,
obgleich mein Verhältnis zu dieser gemeinsamen Heimat nicht
unbedingt typisch ist. Es ist geprägt von schwärmerischer Erinnerung
und jugendlichem Drang in die Ferne. Und von einem
Erlebnis auf der Flucht, durch das mir klar wurde, wie zufällig
der Mensch auf diese oder jene Seite nationaler Leidenschaften
geraten kann.
Denk ich an Ostpreußen, so tauchen Weite, Stille und Einsamkeit
in meiner Erinnerung auf. Heiße Sommer und kalte
Winter. Und um es aus den Erzählungen meiner Eltern und
Verwandten zusammenzufassen: Dort war eigentlich alles schöner
als irgendwo sonst auf der Welt! Dann der abrupte Bruch:
von ländlicher Geborgenheit durch das Feuer eines Krieges in
ein Leben als wanderndes Volk, das an die Türen fremder Häuser
klopfte und keine eigenen Betten mehr hatte. Das Gehirn
des Menschen ist ein verblüffender Speicher des Erlebten. Du
fährst durch fremde Orte, machst neue Bekanntschaften, und
schon nach einer Stunde hast du ihre Namen vergessen. Und
dann wiederum wird Erlebtes aus der Tiefe der frühen Kindheit
hochgespült, angelockt durch träges Sonnenlicht, durch ferne
Lichter in der Nacht oder durch Geräusche und Gerüche, die
mir vertraut sind, ohne dass ich weiß, woher. Ich war siebeneinhalb,
als meine Mutter allerlei Sachen in Koffer und Kisten
packte und erklärte: »Wir fahren zu Tante Lilo nach Allenstein!«
Mutters Stimmung, so nehme ich an, wird gedrückt gewesen
sein, als der Kutscher ein letztes Mal anspannte, um uns
zum Bahnhof zu bringen. Ich dagegen bin immer gern nach Allenstein
gefahren. Das Leben in der Einsamkeit war mir häufig
recht eintönig. Und Allenstein war eine richtige Stadt. Meine
Vettern und Cousinen wohnten dort - Sabine, Dore, Eberhard
und Winfried, der in meinem Alter ist. Jahrzehnte danach haben
Winfried und ich einmal versucht, unsere Erinnerungen
abzugleichen. So ganz ist es uns nicht gelungen. Was mir klar
und lebhaft vor der Seele stand, konnte in seinem Gedächtnis
gelöscht sein oder umgekehrt. Nur gelegentlich deckten sich
unsere Geschichten.
Es war sicherlich klug von unseren Eltern, dass sie mit uns
Kindern nicht über Krieg und über Politik redeten. Und schon
gar nicht über etwas so Heikles wie die militärische Lage. Nach
der Propaganda der Nazis siegte Deutschland ja an allen Fronten,
allenfalls da und dort gab es ein paar Umgruppierungen
und taktische Manöver im Einklang mit Adolf Hitlers genialer
Strategie. Und zunächst war ja auch Allenstein eine behagliche,
interessante Zwischenstation. Die Wohnung meiner Tante Liselotte
war groß und warm, keiner musste hungern, wir Kinder
spielten, und manchmal zankten wir uns auch. Ich trottete
für ein paar Wochen mit Winfried in die zweite Klasse seiner
Schule, an Geschäften vorbei durch belebte, schon früh am
Abend beleuchtete Straßen. An die Kriegsweihnacht 1944 kann
ich mich besonders klar erinnern - sie war so anheimelnd und
festlich wie immer, vielleicht sogar noch schöner, weil der Kreis
unter dem Tannenbaum größer war als in den Jahren davor.
Weihnachten und Ostpreußen - ein Fest im Schnee abseits der
lauten Welt -, das passte so stimmungsvoll zusammen. Noch
kurz zuvor hatten Berliner Familien ihre Kinder zu Verwandten
nach Osten aufs Land verschickt, weil sie dort vermeintlich
sicherer waren als in der von nächtlichen Bomben bedrohten
Hauptstadt. Und dann, der Tannenbaum mag noch im Wohnzimmer
gestanden haben, wurden wieder die Koffer gepackt.
Diesmal jedoch für eine richtig lange Reise.
Die erste Etappe war kurz, und es ging in die falsche Richtung:
nach Klein-Bertung auf ein Gut von Verwandten mütterlicherseits.
Überhaupt: Aus allen Erzählungen erscheint mir
Ostpreußen wie eine Landkarte der Verwandtschaften. Wie genau
diese Linien verliefen, hat mich als Kind nicht weiter interessiert.
Die meisten, die sich mir als Onkel oder Großtanten
vorstellten, brachten immer etwas mit, und das machte sie mir
schon ohne Familienerforschung sympathisch. Einige Besucher
blieben recht lange, die Gutshäuser auf dem Lande hatten ja
Zimmer genug. Klein-Bertung - heute Bartazek - liegt etwa
zehn Kilometer südlich von Allenstein. Das Unheil aber lauerte
im Westen und Norden.
Ich weiß nicht mehr, ob es noch in derselben Nacht weiterging
oder erst am Tag darauf. Aber an die Beförderungsmittel
erinnere ich mich genau: ein Konvoi offener oder mit Planen
gedeckter Kastenwagen, von dampfenden Pferden gezogen,
setzte sich über verschneite Straßen in Bewegung. Der Winter
1944/45 soll einer der strengsten in der Geschichte Ostpreußens
gewesen sein. Meine Mutter erzählte später von mehr als zwanzig
Grad unter null und starkem Ostwind. Alles, was die Planung,
den Verlauf, die Hindernisse und Umwege, die Gefahren
und glückhaften Wendungen dieses Flüchtlingstrecks betrifft,
bekommt für mich seine nachträgliche Klarheit im Wesentlichen
durch die Erinnerungen meiner Mutter. In den Jahren
danach haben die Erwachsenen natürlich immer wieder davon
erzählt, aber wir Jüngeren hörten selten mit der nötigen Aufmerksamkeit
hin. Es waren eben Geschichten, von denen wir
glaubten, sie schon tausendmal gehört und ein für alle Mal begriffen
zu haben.
Es musste fünfzig Jahre später jemand kommen, den es nicht
persönlich betraf, um meine Erinnerungen zu ordnen. Eines
Tages meldete sich eine Kollegin vom »History Bus« des ZDF,
dessen Mannschaft durch die Lande zuckelt, um Zeitzeugen aller
Art zu ihren jeweiligen Themen auszufragen und ihre Geschichten
dann früher oder später in große Dokumentationen
einzuflechten. Aus dem Interview mit meiner Mutter entstand
ein Protokoll, das in vielem einer dramatischen Fernsehverfilmung
der ARD realistisch nahekam: Deutschland vom Teufel
befallen, Schuld und Sühne einer verführten und verwirrten
Nation, die Stunde der Frauen, die große Flucht...
Als Moderator von Nachrichtensendungen habe ich es mir
angewöhnt, nie etwas Schlaues über ein Land oder eine Gegend
zu verkünden, ohne wenigstens zu wissen, wo das Land oder die
Gegend überhaupt liegen. Schaue ich heute auf die Landkarte
des Ostseeraums, so kommt mir das verzweifelte Unternehmen
dieser Flucht hoffnungslos vor. Die Männer waren beim Militär,
und verlässliche Nachrichten über die Lage an den vielen
Fronten und die Chancen, irgendwo durchzukommen, gab es
keine. Vorbereitungen zum Aufbruch durften nicht getroffen
werden, weil das als Zweifel, wenn nicht gar als Verrat am Führer
galt, der diesen Krieg ja noch gewinnen werde. Und dann
der plötzliche Zusammenbruch eines Systems aus Siegesrausch
und Größenwahn. Panische Angst trieb die Menschen ins Ungewisse,
und die Gefahr, auf der Strecke zu bleiben, war eigentlich
größer als die Möglichkeit zu überleben: ein Slalom zwischen
Kanonenrohren - mal von vorn und mal im Rücken die
Rache und der schreckliche Ruf der sowjetischen Armee. Viele,
vor allem die Alten, sahen sich nur noch vor die Wahl gestellt,
zu Hause zu sterben oder draußen in der Kälte.
Denn als Ostpreußen sich überstürzt auf die Flucht machte,
war es eigentlich schon zu spät. Bei Elbing waren die sowjetischen
Panzer zum Frischen Haff vorgestoßen und hatten den
Weg in die Räume gnädigerer Sieger abgeriegelt. Die Kühnheit
des Ausbruchsversuchs ist eigentlich nur zu erfassen, wenn man
gleichsam mit dem Zeigefinger über die Landkarte fährt. Wo
liegt überhaupt dieses Elbing und heutige Elblag? Wo Allenstein,
das heute Olsztyn heißt? Was ist ein Haff, und was die
dazugehörende Nehrung?
Die Küste der Ostsee ist ein verblüffendes Kunstwerk. An
mehreren Stellen haben die Elemente die Uferlinie zu seltsamen
Kringeln und Schleifen geformt. Unter anderem entstanden
zwei Buchten - eben Haffs oder Binnenseen -, die jeweils
von einem schmalen, an einer Seite offenen Streifen gegen das
Meer abgeschirmt sind. Es ist kein Bollwerk aus Fels, das
den anbrandenden Wellen widerstanden hätte. Die Theorie der
Entstehung solcher Nehrungen besagt eher, dass das Meer, aus
welcher Laune auch immer, den ausgewaschenen Buchten
nachträglich einen zarten Sandriegel vorgeschoben habe. Woher
das Wort Nehrung kommt, ist nicht geklärt. Möglicherweise
leitet es sich vom frühhochdeutschen »Nerge« (Enge) ab.
Das zum Fluchtweg. Und nun zur militärischen Lage: Bis
zum westlichen, dem sogenannten Frischen Haff zwischen Königsberg
und Danzig, dem heutigen Gdansk, hatten die sowjetischen
Panzer Mitte Januar 1945 einen Keil getrieben. Der einzige
Weg an ihnen vorbei führte nach Norden zum Frischen
Haff und dann kilometerweit über das Eis auf den rettenden
Küstenstreifen, der nach Westen zum Festland und in Richtung
Danzig führte.
Die weniger glückliche Alternative war der Umweg über
Königsberg und seinen Hafen Pillau - sozusagen ein Stück zurück
nach Osten -, um mit dem Schiff aus der Falle zu entkommen.
Aber davon hörte man schreckliche Geschichten. Sowjetische
U-Boote lauerten in der Tiefe. Am 30.Januar 1945 - es
muss ein paar Tage vor oder nach unserem Aufbruch zur Flucht
gewesen sein - wurde die »Wilhelm Gustloff« ein Opfer ihrer
Torpedos. Neuntausend Menschen ertranken im eiskalten
Wasser. Zehn Tage später traf es den Passagierdampfer »General
Steuben«. Zudem hatte sich herumgesprochen, dass in Pillau
Chaos herrschte. Tausende drängten sich dort um die wenigen
Plätze zum Roulettespiel mit dem Tod.
Unser Treck quälte sich von Allenstein erst einmal siebzig
oder achtzig Kilometer nach Norden, sechs oder zehn Kilometer
über das Haff und dann sozusagen nach links in Richtung
Westen um die sowjetischen Panzer herum, die mit ihren dreißig
Tonnen Gewicht nicht auf das Eis vorstoßen konnten. Für
den heutigen Autoreisenden mögen solche Distanzen eine Sache
von ein paar Stunden sein. Aber bei Glatteis im Pferde-
wagen auf engen, von knorrigen Bäumen gesäumten und Tausenden
solcher Fuhrwerke verstopften, kopfsteingepflasterten
Straßen war es eine Unendlichkeit. Meine Mutter schildert die
Verhältnisse so: »Die Straße war eine Perlenschnur von Wagen.
Man sah keinen Anfang und kein Ende. Immer wieder standen
wir, manchmal tagelang. Entweder hatten sich die Treckwagen
ineinander verkeilt und es ging nicht vorwärts, oder das Militär
sperrte die Straße, weil irgendwo wieder einmal der Russe
durchgebrochen war und eine neue Front aufgebaut wurde. Bis
auf einen halben Kilometer ist unser Treck an die sowjetischen
Panzerspitzen herangekommen. An einer Stelle hatten die deutschen
Truppen schon die Straßen vermint. Soldaten hoben unseren
Wagen als letzten über den gefährlichen Riegel...«
Meinem Cousin Winfried, seinen Geschwistern und mir
waren diese Gefahren nie ganz bewusst. Eine fremde, aufregende
und oft sogar interessante Welt zog an uns vorüber. Jede
Rast in einer überfüllten Schule oder Halle war ein neues Abenteuer.
Gelegentlich gab es Anweisungen oder Ermahnungen:
»Tut dies, tut das, Kopf unter die Decke, jetzt alle austreten,
nicht toben, nicht zanken, am besten schlafen!« Und so erinnere
ich mich an wildes oder auch stilles Geschaukel und stundenlanges
Warten, an ferne Lichter in klarer Nacht, an gefrorene
Milchsuppen und ebenso hartes Brot, an enges Aneinanderschmiegen,
um sich gegenseitig zu wärmen, an Donnergrollen -
mal näher, mal weiter entfernt - und an die Nervosität der Erwachsenen,
wenn es wieder einmal so aussah, als gehe es nun
endgültig nicht mehr weiter.
Auf einem Bauernhof bei Groß-Rödersdorf wurden wir
freundlich aufgenommen und großzügig bewirtet, bis das Eis
des Haffs so dick war, dass es für Pferdewagen freigegeben werden
konnte, von denen man alles irgendwie Verzichtbare abgeworfen
hatte, um ihr Gewicht zu verringern. Ich habe Groß-
Rödersdorf lange auf den Landkarten gesucht. Es heißt heute
Novozelovo und liegt ungefähr vier Kilometer nördlich der polnisch-
russischen Grenze im Verwaltungsbezirk Kaliningrad.
Von dort sind es noch etwa zehn Kilometer bis zum Haff. Ich
erinnere mich an strahlenden Sonnenschein und glitzerndes
Weiß, als wir die ersten vorsichtigen Schritte auf die Eisfläche
taten. Meine Mutter erzählte später von Jagdbombern, die aus
dem blauem Himmel auf uns hinabstießen und Bomben warfen,
von Menschen und Pferden, deren Leichen halb versunken
die Strecke säumten. In meinem Gedächtnis sind solche Bilder
glücklicherweise gelöscht.
Als ich mit den Kamerateams des ZDF noch zwei Mal an
diese Orte der Kindheit und der Flucht gezogen war, bekam ich
nach den Sendungen Hunderte von Briefen. Weit mehr als
nach irgendeiner Sendung zuvor. Und während es sonst bei solcher
Zuschauerpost meist um Lob oder Tadel geht oder um
das Richtigstellen oder Besserwissen in diesem oder jenem Detail,
fiel mir dieses Mal das Antworten außerordentlich schwer.
Denn die meisten, die mir schrieben, nahmen die Reportagen
eigentlich nur zum Anlass, um noch einmal ihr Leben zu erzählen.
Sie schickten Aufzeichnungen, Tagebücher, Buchmanuskripte,
alte Urkunden und Fotos. Tieftraurig war das meiste,
berührend war einfach alles. Und aus dieser Flut von ostpreußi-
schen Erinnerungen wurde mir klar, dass ich in jenem Winter
1944 /45 am Rande des Abgrunds entlanggewandert bin. So viele
sind hineingestürzt, und ihr Leid hätte auch mein Schicksal
werden können, wenn nicht an diesem oder jenem Kreuzweg jemand
seine schützende Hand über mich gehalten hätte.
Ein solches Schicksal, ein solcher Bericht erreichte mich aus
Amerika. Aus Chicago schickte mir Günter Nitsch, ein Auswanderer
und späterer Marketingberater deutscher und amerikanischer
Firmen, seine Erinnerungen, die wohl auf Deutsch
den Titel haben könnten: »Unkraut vergeht nicht!«2 Was er
über seine Erinnerungen an die Überquerung des Frischen
Haffs schreibt, deckt sich in groben Zügen mit meinem Erleben
an diesem gigantischen Wassergrab. Eine Art Fluss hatte der
kleine Günter erwartet, den es im Pferdefuhrwerk zu überwinden
galt. Was er sah, war ein glitzerndes Meer. Sie zogen bei
Mondlicht über das Eis - wahrscheinlich noch ein paar Tage
später als wir. Leichen und tote Pferde säumten den Weg, man
hörte bedrohliches Knacken. Doch als sie am frühen Morgen
wieder festes Land erreichten, traf sein Großvater eine verhängnisvolle
Entscheidung: An dem Punkt, an dem meine Mutter
und meine Tante Lieselotte links abbogen, fuhren sie nach
rechts in Richtung Pillau. Allein dieser instinktive oder auch
verhängnisvoll durchdachte Entschluss hatte für Günter Nitsch
und seine Familie drei grauenvolle Jahre unter sowjetischer Militärherrschaft
zur Folge.
Das ist nur eine von vielen düsteren Möglichkeiten, die mir
ein gütiges Schicksal ersparte. Millionen von Menschen sind
während des Krieges und in den Jahren danach über zwei Kontinente
hin und her geschoben worden - Sieger und Besiegte:
aus der Ukraine nach Polen, von überall her in Osteuropa nach
Sibirien, von der Wolga und dem Ural nach Kirgisien, Kasachstan,
Usbekistan ... Und es hätte nicht viel gefehlt, dass auch ich
als Kriegswaise in einer fernen Gegend gelandet wäre und ir-
gendwann vergessen hätte, wer ich eigentlich war. Denn da gab
es eine Nacht in Danzig, in der für mich die Tore der Zukunft in
alle Richtungen offen standen und in der die Karten des Schicksals
noch einmal völlig neu gemischt worden wären, hätte ich
nicht außergewöhnlich viel Glück gehabt. Das Erlebnis hat
mein Denken als Journalist geprägt, wann immer einmal wieder
unter den Völkern und Nationalitäten Streit oder gar Krieg ausbrach.
Unser Treck hatte es glücklich bis kurz vor Danzig geschafft.
Die Pferde waren erschöpft, und wir kletterten in eine Art Vorortzug,
um in die große Stadt zu gelangen - die Vettern und
Cousinen, unsere Großmutter, Tante Lieselotte, meine Mutter
und ich. Als wir in Danzig eintrafen, war es Nacht, und wie es
nun weitergehen sollte, war nicht ganz klar. Erst einmal irgendwohin,
wo es warm war und es vielleicht sogar etwas zu essen
gab... Die Erwachsenen gingen voraus ins unbekannte Dunkel.
Großmutter und wir Kinder bekamen die strenge Anweisung,
uns an den Händen zu halten und zu folgen. Ich war der
Letzte in der Kette: ein Kind vom Lande, das eine so große
Stadt noch nie gesehen hatte. Ich staunte, träumte vor mich hin,
ließ die Hand vor mir los und blieb stehen, um die faszinierende
Umgebung genauer zu betrachten. Und plötzlich war ich allein.
Das Weitere ist nur zu verstehen, wenn man an Wunder
glaubt und sich in das Denken und die Logik eines Kindes
hineinversetzen kann. Ich heulte, fror und hatte genug von der
Herumzieherei in der Kälte. Ich wollte einfach wieder nach
Hause. Statt dort stehen zu bleiben, wo man mich sicher bald
wieder aufgesammelt hätte, suchte ich den Weg zurück zum
Bahnhof. Auf einem der Gleise stand noch der Zug, mit dem
wir in Danzig angekommen waren, in den stieg ich ein. Menschen
saßen darin, schweigsam, mit müden Gesichtern, und
warteten auf die Abfahrt. Wohin, darüber hatte ich mir nicht
die geringsten Gedanken gemacht. Einfach nach Hause. Der
Zug aber fuhr nicht. Denn in den letzten Wochen des Krieges
standen die Züge mehr, als dass sie fuhren. Ich weiß nicht mehr,
wie lange wir so gewartet haben. Doch plötzlich hörte ich die
Stimme meiner Mutter. Passanten hatten ihr erzählt, da sei ein
kleiner Junge heulend in Richtung Bahnhof gelaufen.
Seither beschäftigt mich der Gedanke, was wohl aus mir geworden
wäre, wenn der Zug den Bahnhof verlassen hätte. Wo
hätte er mich ausgeladen? Wer hätte sich irgendwo nahe der
Front eines elternlosen Knaben angenommen? Vielleicht hätten
mich Soldaten auf einen Militärlastwagen gehoben und auf
dem Rückzug nach Westen mitgenommen. Vielleicht hätten
russische Panzer den Zug schon auf halber Strecke zum Halten
gebracht. Vielleicht hätte mich irgendwann nach dem Ende des
Krieges eine mitleidige Familie adoptiert. Vielleicht wäre ich
in ein Heim gekommen. Vielleicht wäre ich heute Pole oder
Russe. Viele Kinder, die der Krieg von ihren Eltern trennte, irrten
damals hungernd und bettelnd in einem verwüsteten Land
umher. In Litauen, so hieß es später, seien die Überlebenschancen
dieser sogenannten Wolfskinder noch am größten gewesen.
Wer sortiert die Schicksale und Völker, die durch einen
Landstrich fluteten, der einmal Ostpreußen war? Auf meinen
Reisen mit dem Fernsehteam habe ich an viele Türen geklopft
und einen Eindruck vom Ausmaß dieser Völkerverschiebung
bekommen. Die meisten - Sieger wie Besiegte eines sinnlosen
Krieges - hat das Schicksal erheblich härter getroffen als mich.
Sie haben mir ihre Geschichten erzählt, uns verbindet eine gemeinsame
Heimat. So viele dieser Geschichten könnten auch
mein Leben gewesen sein, wenn ein Zug in jener Nacht in Danzig
etwas früher abgefahren wäre.
2. Der Blick ins Universum
Frauenburg ist ein Erlebnis! Eine Stadt ist es eigentlich
nicht, die Einwohnerzahl von Frombork - wie es heute polnisch
heißt - mag irgendwo zwischen drei- und viertausend
liegen. Es besteht aus einer wuchtigen Festung und Kathedrale
sowie einem kleinen Hafen und ein paar Gaststätten und
Wohnhäusern drum herum. Das backsteinrote Gebirge des
Doms hängt über Ort und Haff, und auf dem zum Wasser abfallenden
Hang schaut eine Gestalt in eine unbestimmte
Weite: Nikolaus Kopernikus. Man hat seinem ehernen Denkmal
vier schmale, quadratische Felsklötze untergesetzt - als
wollte man ihm eine Kiste unter die Füße stellen, damit er
als Kundschafter der Menschheit noch besser ins Universum
schauen kann.
Sechs spitze Türmchen strecken sich vom Dach des Gotteshauses
in den Himmel. Der siebente Turm, davon abgesetzt in
einer Ecke der Festungsmauer, überragt sie alle. Es ist ein bisschen
anstrengend, diesen Glockenturm zu besteigen. Aber die
Mühe lohnt sich. Schon in der unteren Etage wird der Besucher
auf etwas eingestimmt, das jedem, der sich mit der Unruhe unseres
Planeten noch nie so recht befasst hat, wie Zauberei erscheinen
muss: Hoch oben an der Decke ist ein Seil befestigt,
an dessen unterem Ende eine Kugel in sanftem Rhythmus hin-
und herpendelt. Ein Motor oder irgendeine Mechanik, die das
Ganze antreiben könnte, ist nicht zu sehen. Und während diesem
einschläfernden Hin und Her verändert das Pendel auch
noch seine Richtung. Das, so sagt der Führer mit Bestimmtheit,
sei der Beweis, dass sich die Erde um die eigene Achse drehe.
Nicht jedem leuchtet das auf Anhieb ein, aber der staunende
Betrachter bekommt eine Ahnung, womit sich derjenige be-
schäftigt hat, dem dieses Museum und eigentlich der ganze Ort
gewidmet ist.
Oben auf der Brüstung des Turmes hat der Besucher weit
über Frombork hinaus alles im Blick: viel Wald und Wasser,
dazwischengestreut ein paar bunte Häuschen. Die Gegend ist
ideal zum Angeln, zum Wandern und um Reiterferien zu machen.
Zu Füßen des Betrachters das Frische Haff mit sanft geschwungener
Uferlinie. In der Ferne ist jener feine Sandstreifen,
die Nehrung, zu erkennen - eine etwa siebzig Kilometer
lange Landzunge, die nur nach links, nach Westen, Anschluss
an das Festland hat. In der Gegenrichtung ist der Riegel offen,
dort ist die Ausfahrt zum Meer. Doch nicht für polnische
Schiffe und Fischerboote, denn die Öffnung des Frischen
Haffs zur Ostsee hin liegt jenseits einer EU-Außengrenze.
Und seit Polen Mitglied der europäischen Familie ist, blockieren
Bojen und Wachboote die Weiterfahrt. Denn etwa zwölf
Kilometer östlich von Frombork beginnt russisches Hoheitsgebiet.
Schwere Gedanken gehen mir durch den Kopf, wenn ich
von diesem Turm aus auf das freundlich blinkende Wasser
schaue. Da, irgendwo weiter rechts, sind wir damals über das
Eis gezogen ... Dieses liebliche Haff ist eines der größten Massengräber
Europas. Wie viele Menschen dort im Januar, Februar
und März 1945 versanken, hat niemand gezählt. Ein Stein
am Ufer erinnert auf Polnisch und auf Deutsch:
»450000 ostpreußische Flüchtlinge flohen über Haff und
Nehrung, gejagt vom unerbittlichen Krieg. Viele ertranken, andere
starben in Eis und Schnee. Ihr Opfer mahnt zu Verständigung
und Frieden.«
Und dann der Blick nach oben. Von hier, von diesem Domgebirge
aus, hat ein Mensch vor fast fünfhundert Jahren ein
Fenster zum Himmel aufgerissen: Nikolaus Kopernikus. Er ist
ein Gelehrter gewesen, wie es sie in unseren Tagen kaum noch
gibt: Theologe, Mathematiker, Arzt und Jurist. Sein Onkel war
Bischof im Ermland und hatte ihn zum Domherrn und Verwaltungschef
des Bistums ernannt. Und während wir sonst mit allem,
was den Namen oder auch nur den Zusatz »Preußen« trägt,
ganz automatisch das Schnörkellose des evangelischen Glaubens
verbinden, stellt das Ermland - grob umrissen die Gegend
zwischen Elbing, Allenstein und Frauenburg - seit acht Jahrhunderten
eine Bastion des Katholizismus dar. Und ausgerechnet
hier und ausgerechnet durch einen Würdenträger der Kirche
wurde den Hütern der Glaubenslehre das Monopol auf die
ewige Wahrheit streitig gemacht.
In den Himmel zu schauen war - bei all seinen sonstigen
Aufgaben und Talenten - sozusagen das Hobby des Nikolaus
Kopernikus. Er war ein Mann, der alles prüfen und nachrechnen
musste, was andere für selbstverständlich nahmen. Leute
wie er kamen einfach mit dem herkömmlichen Kalender nicht
klar. Die Drehungen der Gestirne, an denen wir unsere Tage
und Jahre bemessen, wiesen Unregelmäßigkeiten auf, für die die
Wissenschaft seiner Zeit hilflos nach Erklärungen suchte. So
ließ er Schlitze in die Wand seines Arbeitszimmers schlagen
und vermaß mit selbst gebastelten Instrumenten über Monate
und Jahre den Verlauf der Kurven, die das Sonnenlicht an
die Mauer gegenüber malte. Und dabei fand er bestätigt, was
eigentlich schon andere vor ihm herausgefunden hatten: dass
die Sonne und all die bekannten Lichter am Himmel in seltsam
schlingernden Kurven ihre Bahnen ziehen.
Mathematisch ergab das keinen Sinn, es war keine exakte,
verlässliche Logik herauszulesen, wenn man dem ehernen Gesetz
des Griechen Ptolemäus folgen wollte, dass die Erde der
ruhende Pol und Mittelpunkt des Universums sei und sich alles
andere artig um sie drehte. Und so kam Kopernikus auf die
Idee, ein seit mehr als tausend Jahren geltendes System einfach
umzukehren: Er stellte die Sonne in den Mittelpunkt, brachte
sie damit zum Stehen und setzte die Erde um diese große
Lichtquelle herum in kreisende Bewegung.
In Rom hatte man das Revolutionäre dieser Entdeckung
nicht sofort begriffen, aber nach und nach erhoben die Schriftgelehrten
Einspruch. Denn es stand doch geschrieben im
Buche Josua 10, Vers 12, dass Josua in der Schlacht gegen die
Amoriter der Sonne befahl: »Stehe still!« Und die Sonne und
der Mond standen still, »bis sich das Volk an seinen Feinden
rächte«. Wozu aber hätte Josua - und dazu noch mit dem Segen
Gottes - der Sonne solch einen Befehl erteilen sollen, wenn
diese doch ohnehin immer stillstand? Für die Kirche war das
Ganze keine Frage der Astronomie oder der Mathematik, sondern
des Prinzips: Die Bibel war das Grundgesetz aller Wahrheit
und Wissenschaft, sie konnte und durfte nicht irren.
Kopernikus starb im Mai 1543, Jahrzehnte bevor die Heilige
Inquisition gegründet wurde, die seine Lehre für Ketzerei erklärte
und denen, die ihr folgten, mit dem Scheiterhaufen
drohte. Hundert Jahre später musste Galileo Galilei in dieser
Angelegenheit vor das Inquisitionsgericht. Erst im 18.Jahrhundert
lenkte die Kirche langsam ein, bis schließlich 1992 ein polnischer
Papst für die Irrtümer und Sünden der Kirche um Vergebung
bat und sich - wenn man so will - bei Kopernikus
entschuldigte. Der religiösen Fairness halber sei an dieser Stelle
noch angemerkt, dass auch Martin Luther seinen Zeitgenossen
Nikolaus Kopernikus mit Verweis auf das Buch Josua einen
»Narren« nannte.
Ist es nun Zufall, oder hat es eine geheimnisvolle Bedeutung,
dass nur fünfzig Kilometer von Frauenburg entfernt im damaligen
Königsberg ein anderer das Denken der Menschheit neu
geordnet hat? Es gibt Zusammenhänge zwischen den Lehren
von Kopernikus und Immanuel Kant, die verblüffend, wenn
nicht gar unheimlich sind. Nichts ist mehr statisch, in uns und
um uns herum ist alles in Bewegung geraten. Vielleicht liegt es
ja auch an der Gegend - so abseits vom Lärm der großen
Ballungsräume -, dass sie ein ruhiges Klima bot, um mit der
Strenge der Vernunft in Bereiche vorzudringen, die dem Blick
und den Instinkten des Menschen eigentlich verborgen sind. Es
gibt ja Orte, die eine besondere Aura haben. Jerusalem zum
Beispiel. Mir gehen die verschmitzten Worte eines Juden durch
den Kopf, der seine Gäste in dieser Stadt mit den Worten begrüßte:
»Wenn Sie mal den lieben Gott anrufen wollen, greifen
Sie einfach zum Hörer: Von hier ist es nur ein Ortsgespräch!« In
diesem Dialog mit Gott sind die Urfragen der Menschheit noch
längst nicht abschließend beantwortet, aber man ist dem Ziel
ein gutes Stück näher gekommen. Salopp ausgedrückt: Vor Kopernikus
und Kant war der Mensch verwirrt. Heute ist er zwar
immer noch verwirrt - aber auf weitaus höherem Niveau.
Was vor diesem unendlich komplizierten Hintergrund ist
nun Heimat? So eng und abgegrenzt, dass wir andere davon
ausschließen müssten, entweder meine oder deine ... Machen
wir noch einen Rundgang durch Frombork - bummeln wir
durch die Museen und Kneipen der Stadt, schauen wir im Dom
und im Bischofspalast vorbei. Gleich nach der Ankunft ruft uns
ein netter Pole zu: »Sie wollen sicher mit Lemke sprechen!«
Und ein paar Minuten später kommt Lemke auch schon angeradelt.
Er ist der letzte Deutsche im Ort: Fischer seit früher Jugend,
kräftige Statur, gut erhaltener ostpreußischer Dialekt.
Auf jede Frage beginnt seine Antwort mit den Worten: »Na,
sehn Se mal...« Josef Lemke hat schon vielen Besuchern sein
Leben erzählt, und es wird wohl seine Erfahrung sein, dass sich
kaum jemand vorzustellen vermag, was einer wie er erlebt hat.
Im Prinzip ähnelt Lemkes Geschichte der eines Fischers aus
dem Memelland, den wir später noch kennenlernen werden:
Anfang Februar 1945 zu Fuß über das Eis - Vater, Mutter und
vier Kinder. Das Tauwetter hatte schon eingesetzt, sowjetische
Artillerie schoss auf die Flüchtlingstrecks, Flugzeuge warfen
Fünf-Kilo-Bomben. Die Familie erreichte die Weichsel. In
Danzig wurde schon gekämpft, und der Weg nach Westen
war versperrt. Sie kehrten zurück nach Bodenwinkel auf der
Nehrung und zogen im Mai wieder in ihr zerstörtes Haus in
Frauenburg. Im August 1945 rückten die sowjetischen Truppen
ab und übergaben die Stadt der polnischen Verwaltung. Vier
Monate später, im Dezember, begann die Aussiedlung der
Deutschen. Viehwaggons standen auf dem Bahnhof. Aber die
Lemkes hatten Angst, dass die Züge nicht nach Westen, sondern
nach Sibirien fahren würden.
Es war für diese Familie die letzte Chance, denn: »Na, sehn
Se mal, wir waren unabkömmlich.« Die meisten der neuen Bewohner
von Frauenburg kamen aus den Bergen an der ukrainisch-
polnischen Grenze und hatten keine Ahnung, wie man in
Haff und Meer auf Fischfang geht. Lemkes Vater war der Letzte
am Ort, der sich darin auskannte. Seine Aufgabe war es, für die
neu aufgestellte Genossenschaft Fischer auszubilden: »Na, sehn
Se mal, da musste auch der Sohn mit ran.« Aber heute, im großen
Europa, da könne doch jeder reisen, wohin er wolle, werfe
ich ein. Er sei doch sicherlich wenigstens zu Besuch inzwischen
in Deutschland gewesen? »Nein«, kommt die Antwort diesmal
ohne Anlauf und längere Begründung: »Wozu?«
In einem der Bierlokale am Markt stehen mehr gefüllte
Gläser vor uns auf dem Tisch, als wir trinken können. Christof
Sznepanik, ein polnischer Kollege und Herausgeber seiner eigenen
lokalen Zeitung, hat immer fröhlich nachbestellt. »Diese
Stadt war nach dem Krieg ein Trümmerhaufen. Mindestens
achtzig Prozent aller Häuser waren zerschossen, gesprengt oder
ausgebrannt. Aber auf wundersame Weise ist der Dom einigermaßen
heil geblieben.« Wir sprechen über den Gedenkstein am
Haff, über Josef Lemke und über Polen und Deutsche, über die
vielen Menschen, die hier vor der Küste ertrunken sind. »Ach,
wissen Sie, die jungen Leute in Frombork haben schon keine
Ahnung mehr, worum es da eigentlich ging. Für sie ist das, was
damals im Krieg geschah, einfach unbegreiflich.«
Als Journalist hat er aktuellere Sorgen. Da oben, zwölf Kilometer
weiter im Nordosten, werde die Welt einfach zugenagelt.
Früher, da habe es rege wirtschaftliche und menschliche Kontakte
zur Region Kaliningrad gegeben. Heute sei alles seltsam
verstopft. Seit 2005 können Segler aus Frombork und Braniewo,
dem früheren Braunsberg, nicht mehr in die Ostsee auslaufen.
Russen brauchen teure Visa, um nach Polen einzureisen, und
Polen brauchen Visa, um Kaliningrad zu besuchen. Diese russische
Insel im Meer der EU werde immer strenger von Moskau
aus regiert. Und dort sehe man die Europäische Union nicht als
Chance für eine gute Nachbarschaft, sondern als eine Art ansteckende
Krankheit. Der Umgang mit Kaliningrad, so fasst er zusammen,
sei eine Qual.
Und dann sind wir noch mit Tadeusz Graniczka verabredet.
Er ist der Propst und Domkapitular - und somit in einer langen
Kette ein Amtsnachfolger von Nikolaus Kopernikus. Dem
Propst liegt sehr daran, dass auch in Deutschland ein treuer
Gottesmann nicht vergessen werde: Maximilian Kaller, der
letzte Bischof zu deutscher Zeit. Der habe so manches offene
Wort gegen die Nazis gewagt und Gottesdienste in Deutsch
und Polnisch abgehalten. Zum Ende des Krieges habe die Gestapo
oder die SS ihn gegen seinen Willen nach Danzig gebracht
und ihm befohlen, nach Deutschland auszureisen.3
Kaller hatte wie alle Menschen seine Stärken und seine
Schwächen. Auch in der kirchlichen Literatur wird ihm angekreidet,
sein Verhältnis zum Nationalsozialismus sei lange Zeit
von gutgläubiger Naivität gewesen. Aber er war ein mutiger
Mann. Im August 1945, als viele der zurückgebliebenen Deutschen
von Ost nach West drängten, schlug sich der Bischof in
der Gegenrichtung durch. Er wollte zurück in seine Diözese
und sein Amt wieder aufnehmen. Das wurde ihm nun vom pol-
nischen Kardinal unter Hinweis auf Order aus Rom verwehrt.
So reiste Kaller wenige Tage später wieder ab und ließ sich
schließlich in Frankfurt am Main nieder. 1946 ernannte ihn
Pius XII. zum päpstlichen Beauftragten für die heimatvertriebenen
Deutschen. In Hirtenbriefen beschwor Kaller seine
Ermländer immer wieder, am Verlust ihrer Heimat nicht zu
zerbrechen. Als Politiker den Vertriebenen noch Hoffnung auf
eine baldige Rückkehr machten, schrieb der Bischof schon im
Jahr nach der Flucht: »Es ist der Wille Gottes. Wir sind nur
Gast auf Erden...« Er starb 1947 an einem Herzschlag. In Königstein
im Taunus wurde er beigesetzt. Mehr als fünfzig Jahre
später hat seine Kirche den Prozess eingeleitet, den Bischof seligzusprechen.
»Maximilian Kaller ist in Frombork unvergessen«, versichert
der polnische Domkapitular seinen Besuchern aus Deutschland.
»Vielleicht wird er eines Tages hier im Dom bestattet. In
der Erlöserkapelle im Untergeschoss der Kathedrale haben wir
noch viel Platz. Hundertvierzig Bischöfe und Kanoniker sind
hier beigesetzt - Polen und Deutsche. Unter ihnen auch Nikolaus
Kopernikus.«
Ja, der Dom: Für meinen Geschmack ist das Innere etwas
überladen und wirkt dadurch enger - wenn man es an seinem
imposanten Äußeren misst. »Es war wie ein Wunder, dass ausgerechnet
das größte Bauwerk und markanteste Ziel für die
Bomberpiloten und Kanoniere im Krieg nicht zerstört wurde«,
sagt der Propst, »aber es war viel Arbeit, es nach und nach wieder
herzurichten. In sowjetischer Zeit wurde das Kirchenschiff
als Pferdestall genutzt, und das Militär hat sich wenig Mühe gemacht,
gelegentlich auch mal auszumisten. Die Fenster waren
kaputt, Feuchtigkeit war in die Wände gezogen. Und Baumaterial
gab es ja erst einmal nicht.«
Wir sprechen noch über den Stein am Ufer des Haffs. Über
ein solches Symbol des Gedenkens in Berlin sei doch wie-
derholt heftiger Streit zwischen Deutschland und Polen entbrannt
- auf polnischer Seite von der Sorge getragen, die Deutschen
könnten sechzig Jahre nach dem großen Krieg aus der
Rolle der Täter in die Rolle von Opfern hinüberwechseln. Hat
es je in der Bevölkerung von Frombork einen Streit darüber gegeben,
ob man der Ostpreußen gedenken dürfe, die hier auf der
Flucht gestorben sind? »Nein«, erwidert der Propst. »Der Stein
wird von uns in Ehren gehalten. Es macht uns nachdenklich, an
ein so grausames Schicksal vor unserer Haustür erinnert zu werden.
Und doch haben sich die Zeiten geändert. Wir können uns
nur noch schwer vorstellen, was damals geschah. Wissen Sie,
sogar das Klima hat sich verändert. Die Winter sind nicht mehr
so kalt wie damals, das Haff friert heute nur noch selten zu.
Ein junger Pole kann es sich kaum vorstellen, dass einmal Tausende
von Pferdewagen über diese riesige Wasserfläche gefahren
sind.«
Und dann verabschiedet er uns mit einem verschmitzten
Lächeln und dem guten Rat, doch unbedingt noch einmal im
ehemaligen Kutschenschuppen des Bischofs vorbeizuschauen.
Dort sollten wir eine Dame kennenlernen, die uns bestimmt gefallen
werde. Das Gebäude befindet sich nur ein paar Schritte
entfernt, nahe dem Tor des bischöflichen Palastes. »Schätze
vom Dachboden« steht an der Tür. Auf den ersten Blick erscheint
die Sache wenig spannend: ein großer Raum voller
Schränke, Töpfe, Bügeleisen, Nähmaschinen, Häkeldeckchen...
Beschweren kann sich der Besucher nicht, es ist ja alles so, wie
es an der Tür versprochen war: Hausrat und sentimentales Gerümpel
- eben das, was man so auf dem Dachboden findet,
wenn ein paar Jahrzehnte lang niemand mehr die Luke geöffnet
hat, um es wieder ans Licht zu holen und abzustauben.
Die eigentliche Attraktion ist sie: Suzanna Falinska, eine
ältere Dame von zarter Statur, Brille, kurz geschnittenes weißes
Haar. Sie war achtzehn, als sie kurz nach dem Krieg aus
einem Dorf in der Nähe von Lublin nach Frombork kam und
versuchte, hier Arbeit zu finden oder irgendetwas Vernünftiges
zu tun. Es waren wilde Zeiten. Aus allen Himmelsrichtungen
Polens, aus Litauen, der Ukraine und Weißrussland, aus zerbombten
Städten und Gefängnissen strömten die Menschen in
den »neuen Westen« des Landes. Die einen kamen freiwillig,
die anderen unter Zwang. Die Neuankömmlinge suchten sich
ein Dach über dem Kopf, viele wechselten in den ersten Jahren
mehrmals ihre Unterkunft. Festen Wohnraum gab es kaum, die
noch brauchbaren Ziegel aus den Ruinen wurden zusammengetragen,
abgeklopft und zum Wiederaufbau Warschaus abtransportiert.
Diebesbanden zogen durch die vom Krieg verwüstete
Stadt. Viele Polen, so erinnert sich Suzanna, fühlten sich in der
ihnen zugewiesenen neuen Heimat weder sicher noch zu Hause.
Die meisten hatten Angst. Eines Tages würden die Deutschen
ja doch wiederkehren und sie aus Frombork vertreiben.
In diesem sprachlichen und kulturellen Durcheinander zog
die junge Frau durch die Ruinen, wühlte in den Trümmern und
sammelte ein, was ihr Interesse weckte und was man vielleicht
irgendwie verwerten konnte. Zunächst war es noch Teil des
Überlebenskampfes, dann wurde es eine archäologische Mission:
aus noch Brauchbarem, Weggeworfenem und später auch
Geschenktem eine Art Völkerwanderungsmuseum zusammenzustellen,
um auch Enkeln und Urenkeln ein Gespür dafür zu
vermitteln, wer hier alles durchgezogen war, hier starb, sich niederließ,
floh oder vertrieben wurde, und Zeugnisse davon zu bewahren.
Kleiderbügel liegen herum - einer mit dem Aufdruck
»W. Stein Osterode/Ostpreußen«, ein anderer mit dem Schriftzug
»Sklad Mebli Mlawa«. Trachten aus Sibirien, Karelien und
Kasachstan, Häkeldeckchen aus Vilnius in Litauen sind auf
Truhen und Koffern aus Moskau oder Lublin ausgebreitet oder
kunstvoll auf einer Wäschemangel aus der Gegend von Krakau
drapiert. Die rührige Museumsdirektorin hält einen aus Birkenholz
geschnitzten Topf in die Höhe: »Den hat meine Tante
aus Kasachstan mitgebracht. Dorthin hatte man sie und ihren
Sohn verschleppt, und in diesem Topf haben sie im Arbeitslager
ihre Essensrationen empfangen... Hier eine Stampfmühle russischer
Fabrikation. Auch die hat jemand aus einer fernen Gegend
herangeschleppt, um damit Getreide für Grütze oder
sonst irgendetwas zu mahlen.«
Wir gehen vorbei an Ermländer Trachten und alten Fotos.
Hier zeigt Frau Falinska auf einen Lübecker Teller, dort auf
einen Bierhumpen mit der Aufschrift »Bavaria Bräu«; und
schließlich fasst sie den Sinn und Zweck ihrer Schatzsammlung
so zusammen: »Ich möchte für kommende Generationen die
Erinnerungen an all die Menschen bewahren, aus denen diese
Stadt zusammengeschmolzen ist. Für mich macht es keinen
Unterschied, ob sie Deutsche, Polen, Juden oder Russen waren.
Politik interessiert mich nicht, ich will nichts politisch oder historisch
beweisen. Nur zeigen, was hier alles im Boden liegt.«
Noch ein Wort zu Nikolaus Kopernikus. War er eigentlich
Deutscher, oder war er Pole? Als wir zum ersten Mal mit der
Fernsehkarawane durch Masuren zogen, hatte das ZDF gerade
für eine große Unterhaltungsshow eine Liste berühmter Namen
in Umlauf gebracht, um in einer Art von Meinungsumfrage herauszufinden:
»Wer sind oder waren die größten Deutschen?«
Mozart war dabei, auch Schiller und Thomas Mann. Sie brachten
es weit in der Publikumsgunst, wenn auch nicht ganz so
weit wie Daniel Küblböck oder Dieter Bohlen. Gesiegt hat am
Ende Konrad Adenauer vor Martin Luther. Einem polnischen
Boulevardblatt war ein anderer Name auf dieser Liste aufgefallen,
und es protestierte mit einer dicken Schlagzeile auf der Titelseite:
»Nein, nicht er! Er gehört uns!« Nach dem Geschmack
unserer Tage hätte Nikolaus Kopernikus ohnehin keine Chance
gehabt, einen solchen Popularitätswettbewerb zu gewinnen.
Denn ob sich nun die Erde um die Sonne oder die Sonne um
die Erde dreht, hat gerade bei der für die Werbung so wichtigen
Zielgruppen einen viel zu geringen Unterhaltungswert.
Ein Streit um die Nationalität des großen Entdeckers hat da
schon erheblich mehr Reizpotenzial. Zu seiner Zeit hätte solch
eine Frage übrigens auch keine große Rolle gespielt. Er war
Mitglied des Ermländer Domkapitels. Und da das Ermland
damals zu Preußen gehörte, war er eine Art preußischer Standesgenosse.
Dies aber wiederum unter der Oberhoheit der polnischen
Krone. Wie das alles zusammenpasst, versteht heute
kaum noch jemand. Seit dem Ersten Weltkrieg kam es dann in
Mode, nationale Geschichte aus der Gegenwart heraus in die
Vergangenheit zu verlängern und auch den Menschen früherer
Jahrhunderte Nationalitäten auf den Leib zu schneidern, die bei
einem Streit oder nach einem Krieg zu den jeweils aktuellen
Ansprüchen passten.5
Eine tröstliche und aufmunternde Geschichte über die Nationalität
des Nikolaus Kopernikus erzählte mir der Historiker
Arnulf Baring. Er hatte an der Universität von Torun, dem früheren
Thorn, gemeinsam mit einem polnischen Professor ein
national gemischtes Seminar abgehalten. Am 19. Februar 1473
wurde Kopernikus in dieser Stadt geboren. War er nun Deutscher?
Oder war er Pole? Die Professoren hatten eine originelle
Idee: Sie gaben den polnischen Studenten den Auftrag, alle historischen
Umstände und Daten zusammenzutragen, aus denen
sich schlüssig ergeben könne, dass er ein Deutscher gewesen sei;
die deutschen Studenten sollten, ebenfalls anhand historischer
Fakten und Belege, nachweisen, Kopernikus sei Pole gewesen.
Beide Gruppen haben die ihnen gestellte Aufgabe mit Bravour
gelöst.
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Für mich ist das Heimat. Aber was ist Heimat in einem
Herumtreiberleben? Viele Antworten bieten sich an: immer da,
wo die Familie gerade lebt und wo deine Möbel und Bücher
stehen; der Ort, der im Personalausweis als Wohnsitz oder als
Geburtsort eingetragen ist; der Stammsitz deiner Vorfahren.
Unbestimmte Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit steckt
darin. Vielleicht hat uns eine Landschaft geprägt: echter Bayer,
handfester Schwabe, Nordfriese - zupackend und wortkarg -,
typisch rheinische Frohnatur. Dürfen wir es uns denn aussuchen?
Ist der Begriff bei jedem Umzug von hier nach dort übertragbar?
Und wie könnte wohl die Mehrzahl von Heimat lauten?
Wortanalytische Nachschlagewerke helfen nicht weiter.
Heimate, Heimaten ... Jeder Versuch endet irgendwie seltsam.
Eigentlich widerspricht das ja auch der Emotion. Der Klang
zielt auf etwas Einmaliges hin - eher vom Schicksal bestimmt
als von uns, mehr gefühlt als vermessbar. Der Mensch muss sich
entscheiden, oder es ist von höheren Mächten für ihn entschieden
worden: entweder dies oder das! Ich zum Beispiel bin in
Berlin geboren. Aber danach ging es schnell wieder raus aus der
Stadt. Und wenn ich gelegentlich mal mit der Taxe an dem
Häusergebirge der Großklinik vorbeifahre, in der ich meine ersten
Schreie tat, regen sich keine sentimentalen Gefühle in mir.
Machen wir's kurz: »Du bist ein Ostpreuße, ein Masure!«,
haben mir meine Eltern mit auf den Weg gegeben. Ich habe es
ihnen versprochen, ich werde das Versprechen halten. Aber
auch das ist natürlich leichter gesagt als empfunden. Und doch
hat es einen lockenden Reiz. Das Ferne, Verlorene, im Strudel
der Geschichte Versunkene kann dem Menschen in einer sich
rasch verändernden Welt intensiverer Halt und Heimat sein als
die alltägliche, selbstverständliche, einen immer und zu jeder
Zeit umgebende Kulisse. Es macht mich sogar ein bisschen
stolz, ein Ostpreuße zu sein. Denn eine solche Heimat hat nicht
jeder.
Und noch etwas hebt sie heraus. Während über Jahrzehnte
in dem Anspruch »meine Heimat« die Betonung sehr stark auf
dem Wörtchen »meine« lag - sie gehört mir und keinem anderen!
-, habe ich auf meinen Reisen festgestellt, dass in einem
zusammenwachsenden Europa der Begriff »Heimat« selbst
zwischen Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, etwas
Versöhnliches und Verbindendes sein kann. Marion Gräfin
Dönhoff, ein leuchtender Name in der wechselhaften Geschichte
dieser Region, hat uns gelehrt, dass man auch lieben
kann, ohne zu besitzen.1 Ich stimme ihr aus vollem Herzen zu,
obgleich mein Verhältnis zu dieser gemeinsamen Heimat nicht
unbedingt typisch ist. Es ist geprägt von schwärmerischer Erinnerung
und jugendlichem Drang in die Ferne. Und von einem
Erlebnis auf der Flucht, durch das mir klar wurde, wie zufällig
der Mensch auf diese oder jene Seite nationaler Leidenschaften
geraten kann.
Denk ich an Ostpreußen, so tauchen Weite, Stille und Einsamkeit
in meiner Erinnerung auf. Heiße Sommer und kalte
Winter. Und um es aus den Erzählungen meiner Eltern und
Verwandten zusammenzufassen: Dort war eigentlich alles schöner
als irgendwo sonst auf der Welt! Dann der abrupte Bruch:
von ländlicher Geborgenheit durch das Feuer eines Krieges in
ein Leben als wanderndes Volk, das an die Türen fremder Häuser
klopfte und keine eigenen Betten mehr hatte. Das Gehirn
des Menschen ist ein verblüffender Speicher des Erlebten. Du
fährst durch fremde Orte, machst neue Bekanntschaften, und
schon nach einer Stunde hast du ihre Namen vergessen. Und
dann wiederum wird Erlebtes aus der Tiefe der frühen Kindheit
hochgespült, angelockt durch träges Sonnenlicht, durch ferne
Lichter in der Nacht oder durch Geräusche und Gerüche, die
mir vertraut sind, ohne dass ich weiß, woher. Ich war siebeneinhalb,
als meine Mutter allerlei Sachen in Koffer und Kisten
packte und erklärte: »Wir fahren zu Tante Lilo nach Allenstein!«
Mutters Stimmung, so nehme ich an, wird gedrückt gewesen
sein, als der Kutscher ein letztes Mal anspannte, um uns
zum Bahnhof zu bringen. Ich dagegen bin immer gern nach Allenstein
gefahren. Das Leben in der Einsamkeit war mir häufig
recht eintönig. Und Allenstein war eine richtige Stadt. Meine
Vettern und Cousinen wohnten dort - Sabine, Dore, Eberhard
und Winfried, der in meinem Alter ist. Jahrzehnte danach haben
Winfried und ich einmal versucht, unsere Erinnerungen
abzugleichen. So ganz ist es uns nicht gelungen. Was mir klar
und lebhaft vor der Seele stand, konnte in seinem Gedächtnis
gelöscht sein oder umgekehrt. Nur gelegentlich deckten sich
unsere Geschichten.
Es war sicherlich klug von unseren Eltern, dass sie mit uns
Kindern nicht über Krieg und über Politik redeten. Und schon
gar nicht über etwas so Heikles wie die militärische Lage. Nach
der Propaganda der Nazis siegte Deutschland ja an allen Fronten,
allenfalls da und dort gab es ein paar Umgruppierungen
und taktische Manöver im Einklang mit Adolf Hitlers genialer
Strategie. Und zunächst war ja auch Allenstein eine behagliche,
interessante Zwischenstation. Die Wohnung meiner Tante Liselotte
war groß und warm, keiner musste hungern, wir Kinder
spielten, und manchmal zankten wir uns auch. Ich trottete
für ein paar Wochen mit Winfried in die zweite Klasse seiner
Schule, an Geschäften vorbei durch belebte, schon früh am
Abend beleuchtete Straßen. An die Kriegsweihnacht 1944 kann
ich mich besonders klar erinnern - sie war so anheimelnd und
festlich wie immer, vielleicht sogar noch schöner, weil der Kreis
unter dem Tannenbaum größer war als in den Jahren davor.
Weihnachten und Ostpreußen - ein Fest im Schnee abseits der
lauten Welt -, das passte so stimmungsvoll zusammen. Noch
kurz zuvor hatten Berliner Familien ihre Kinder zu Verwandten
nach Osten aufs Land verschickt, weil sie dort vermeintlich
sicherer waren als in der von nächtlichen Bomben bedrohten
Hauptstadt. Und dann, der Tannenbaum mag noch im Wohnzimmer
gestanden haben, wurden wieder die Koffer gepackt.
Diesmal jedoch für eine richtig lange Reise.
Die erste Etappe war kurz, und es ging in die falsche Richtung:
nach Klein-Bertung auf ein Gut von Verwandten mütterlicherseits.
Überhaupt: Aus allen Erzählungen erscheint mir
Ostpreußen wie eine Landkarte der Verwandtschaften. Wie genau
diese Linien verliefen, hat mich als Kind nicht weiter interessiert.
Die meisten, die sich mir als Onkel oder Großtanten
vorstellten, brachten immer etwas mit, und das machte sie mir
schon ohne Familienerforschung sympathisch. Einige Besucher
blieben recht lange, die Gutshäuser auf dem Lande hatten ja
Zimmer genug. Klein-Bertung - heute Bartazek - liegt etwa
zehn Kilometer südlich von Allenstein. Das Unheil aber lauerte
im Westen und Norden.
Ich weiß nicht mehr, ob es noch in derselben Nacht weiterging
oder erst am Tag darauf. Aber an die Beförderungsmittel
erinnere ich mich genau: ein Konvoi offener oder mit Planen
gedeckter Kastenwagen, von dampfenden Pferden gezogen,
setzte sich über verschneite Straßen in Bewegung. Der Winter
1944/45 soll einer der strengsten in der Geschichte Ostpreußens
gewesen sein. Meine Mutter erzählte später von mehr als zwanzig
Grad unter null und starkem Ostwind. Alles, was die Planung,
den Verlauf, die Hindernisse und Umwege, die Gefahren
und glückhaften Wendungen dieses Flüchtlingstrecks betrifft,
bekommt für mich seine nachträgliche Klarheit im Wesentlichen
durch die Erinnerungen meiner Mutter. In den Jahren
danach haben die Erwachsenen natürlich immer wieder davon
erzählt, aber wir Jüngeren hörten selten mit der nötigen Aufmerksamkeit
hin. Es waren eben Geschichten, von denen wir
glaubten, sie schon tausendmal gehört und ein für alle Mal begriffen
zu haben.
Es musste fünfzig Jahre später jemand kommen, den es nicht
persönlich betraf, um meine Erinnerungen zu ordnen. Eines
Tages meldete sich eine Kollegin vom »History Bus« des ZDF,
dessen Mannschaft durch die Lande zuckelt, um Zeitzeugen aller
Art zu ihren jeweiligen Themen auszufragen und ihre Geschichten
dann früher oder später in große Dokumentationen
einzuflechten. Aus dem Interview mit meiner Mutter entstand
ein Protokoll, das in vielem einer dramatischen Fernsehverfilmung
der ARD realistisch nahekam: Deutschland vom Teufel
befallen, Schuld und Sühne einer verführten und verwirrten
Nation, die Stunde der Frauen, die große Flucht...
Als Moderator von Nachrichtensendungen habe ich es mir
angewöhnt, nie etwas Schlaues über ein Land oder eine Gegend
zu verkünden, ohne wenigstens zu wissen, wo das Land oder die
Gegend überhaupt liegen. Schaue ich heute auf die Landkarte
des Ostseeraums, so kommt mir das verzweifelte Unternehmen
dieser Flucht hoffnungslos vor. Die Männer waren beim Militär,
und verlässliche Nachrichten über die Lage an den vielen
Fronten und die Chancen, irgendwo durchzukommen, gab es
keine. Vorbereitungen zum Aufbruch durften nicht getroffen
werden, weil das als Zweifel, wenn nicht gar als Verrat am Führer
galt, der diesen Krieg ja noch gewinnen werde. Und dann
der plötzliche Zusammenbruch eines Systems aus Siegesrausch
und Größenwahn. Panische Angst trieb die Menschen ins Ungewisse,
und die Gefahr, auf der Strecke zu bleiben, war eigentlich
größer als die Möglichkeit zu überleben: ein Slalom zwischen
Kanonenrohren - mal von vorn und mal im Rücken die
Rache und der schreckliche Ruf der sowjetischen Armee. Viele,
vor allem die Alten, sahen sich nur noch vor die Wahl gestellt,
zu Hause zu sterben oder draußen in der Kälte.
Denn als Ostpreußen sich überstürzt auf die Flucht machte,
war es eigentlich schon zu spät. Bei Elbing waren die sowjetischen
Panzer zum Frischen Haff vorgestoßen und hatten den
Weg in die Räume gnädigerer Sieger abgeriegelt. Die Kühnheit
des Ausbruchsversuchs ist eigentlich nur zu erfassen, wenn man
gleichsam mit dem Zeigefinger über die Landkarte fährt. Wo
liegt überhaupt dieses Elbing und heutige Elblag? Wo Allenstein,
das heute Olsztyn heißt? Was ist ein Haff, und was die
dazugehörende Nehrung?
Die Küste der Ostsee ist ein verblüffendes Kunstwerk. An
mehreren Stellen haben die Elemente die Uferlinie zu seltsamen
Kringeln und Schleifen geformt. Unter anderem entstanden
zwei Buchten - eben Haffs oder Binnenseen -, die jeweils
von einem schmalen, an einer Seite offenen Streifen gegen das
Meer abgeschirmt sind. Es ist kein Bollwerk aus Fels, das
den anbrandenden Wellen widerstanden hätte. Die Theorie der
Entstehung solcher Nehrungen besagt eher, dass das Meer, aus
welcher Laune auch immer, den ausgewaschenen Buchten
nachträglich einen zarten Sandriegel vorgeschoben habe. Woher
das Wort Nehrung kommt, ist nicht geklärt. Möglicherweise
leitet es sich vom frühhochdeutschen »Nerge« (Enge) ab.
Das zum Fluchtweg. Und nun zur militärischen Lage: Bis
zum westlichen, dem sogenannten Frischen Haff zwischen Königsberg
und Danzig, dem heutigen Gdansk, hatten die sowjetischen
Panzer Mitte Januar 1945 einen Keil getrieben. Der einzige
Weg an ihnen vorbei führte nach Norden zum Frischen
Haff und dann kilometerweit über das Eis auf den rettenden
Küstenstreifen, der nach Westen zum Festland und in Richtung
Danzig führte.
Die weniger glückliche Alternative war der Umweg über
Königsberg und seinen Hafen Pillau - sozusagen ein Stück zurück
nach Osten -, um mit dem Schiff aus der Falle zu entkommen.
Aber davon hörte man schreckliche Geschichten. Sowjetische
U-Boote lauerten in der Tiefe. Am 30.Januar 1945 - es
muss ein paar Tage vor oder nach unserem Aufbruch zur Flucht
gewesen sein - wurde die »Wilhelm Gustloff« ein Opfer ihrer
Torpedos. Neuntausend Menschen ertranken im eiskalten
Wasser. Zehn Tage später traf es den Passagierdampfer »General
Steuben«. Zudem hatte sich herumgesprochen, dass in Pillau
Chaos herrschte. Tausende drängten sich dort um die wenigen
Plätze zum Roulettespiel mit dem Tod.
Unser Treck quälte sich von Allenstein erst einmal siebzig
oder achtzig Kilometer nach Norden, sechs oder zehn Kilometer
über das Haff und dann sozusagen nach links in Richtung
Westen um die sowjetischen Panzer herum, die mit ihren dreißig
Tonnen Gewicht nicht auf das Eis vorstoßen konnten. Für
den heutigen Autoreisenden mögen solche Distanzen eine Sache
von ein paar Stunden sein. Aber bei Glatteis im Pferde-
wagen auf engen, von knorrigen Bäumen gesäumten und Tausenden
solcher Fuhrwerke verstopften, kopfsteingepflasterten
Straßen war es eine Unendlichkeit. Meine Mutter schildert die
Verhältnisse so: »Die Straße war eine Perlenschnur von Wagen.
Man sah keinen Anfang und kein Ende. Immer wieder standen
wir, manchmal tagelang. Entweder hatten sich die Treckwagen
ineinander verkeilt und es ging nicht vorwärts, oder das Militär
sperrte die Straße, weil irgendwo wieder einmal der Russe
durchgebrochen war und eine neue Front aufgebaut wurde. Bis
auf einen halben Kilometer ist unser Treck an die sowjetischen
Panzerspitzen herangekommen. An einer Stelle hatten die deutschen
Truppen schon die Straßen vermint. Soldaten hoben unseren
Wagen als letzten über den gefährlichen Riegel...«
Meinem Cousin Winfried, seinen Geschwistern und mir
waren diese Gefahren nie ganz bewusst. Eine fremde, aufregende
und oft sogar interessante Welt zog an uns vorüber. Jede
Rast in einer überfüllten Schule oder Halle war ein neues Abenteuer.
Gelegentlich gab es Anweisungen oder Ermahnungen:
»Tut dies, tut das, Kopf unter die Decke, jetzt alle austreten,
nicht toben, nicht zanken, am besten schlafen!« Und so erinnere
ich mich an wildes oder auch stilles Geschaukel und stundenlanges
Warten, an ferne Lichter in klarer Nacht, an gefrorene
Milchsuppen und ebenso hartes Brot, an enges Aneinanderschmiegen,
um sich gegenseitig zu wärmen, an Donnergrollen -
mal näher, mal weiter entfernt - und an die Nervosität der Erwachsenen,
wenn es wieder einmal so aussah, als gehe es nun
endgültig nicht mehr weiter.
Auf einem Bauernhof bei Groß-Rödersdorf wurden wir
freundlich aufgenommen und großzügig bewirtet, bis das Eis
des Haffs so dick war, dass es für Pferdewagen freigegeben werden
konnte, von denen man alles irgendwie Verzichtbare abgeworfen
hatte, um ihr Gewicht zu verringern. Ich habe Groß-
Rödersdorf lange auf den Landkarten gesucht. Es heißt heute
Novozelovo und liegt ungefähr vier Kilometer nördlich der polnisch-
russischen Grenze im Verwaltungsbezirk Kaliningrad.
Von dort sind es noch etwa zehn Kilometer bis zum Haff. Ich
erinnere mich an strahlenden Sonnenschein und glitzerndes
Weiß, als wir die ersten vorsichtigen Schritte auf die Eisfläche
taten. Meine Mutter erzählte später von Jagdbombern, die aus
dem blauem Himmel auf uns hinabstießen und Bomben warfen,
von Menschen und Pferden, deren Leichen halb versunken
die Strecke säumten. In meinem Gedächtnis sind solche Bilder
glücklicherweise gelöscht.
Als ich mit den Kamerateams des ZDF noch zwei Mal an
diese Orte der Kindheit und der Flucht gezogen war, bekam ich
nach den Sendungen Hunderte von Briefen. Weit mehr als
nach irgendeiner Sendung zuvor. Und während es sonst bei solcher
Zuschauerpost meist um Lob oder Tadel geht oder um
das Richtigstellen oder Besserwissen in diesem oder jenem Detail,
fiel mir dieses Mal das Antworten außerordentlich schwer.
Denn die meisten, die mir schrieben, nahmen die Reportagen
eigentlich nur zum Anlass, um noch einmal ihr Leben zu erzählen.
Sie schickten Aufzeichnungen, Tagebücher, Buchmanuskripte,
alte Urkunden und Fotos. Tieftraurig war das meiste,
berührend war einfach alles. Und aus dieser Flut von ostpreußi-
schen Erinnerungen wurde mir klar, dass ich in jenem Winter
1944 /45 am Rande des Abgrunds entlanggewandert bin. So viele
sind hineingestürzt, und ihr Leid hätte auch mein Schicksal
werden können, wenn nicht an diesem oder jenem Kreuzweg jemand
seine schützende Hand über mich gehalten hätte.
Ein solches Schicksal, ein solcher Bericht erreichte mich aus
Amerika. Aus Chicago schickte mir Günter Nitsch, ein Auswanderer
und späterer Marketingberater deutscher und amerikanischer
Firmen, seine Erinnerungen, die wohl auf Deutsch
den Titel haben könnten: »Unkraut vergeht nicht!«2 Was er
über seine Erinnerungen an die Überquerung des Frischen
Haffs schreibt, deckt sich in groben Zügen mit meinem Erleben
an diesem gigantischen Wassergrab. Eine Art Fluss hatte der
kleine Günter erwartet, den es im Pferdefuhrwerk zu überwinden
galt. Was er sah, war ein glitzerndes Meer. Sie zogen bei
Mondlicht über das Eis - wahrscheinlich noch ein paar Tage
später als wir. Leichen und tote Pferde säumten den Weg, man
hörte bedrohliches Knacken. Doch als sie am frühen Morgen
wieder festes Land erreichten, traf sein Großvater eine verhängnisvolle
Entscheidung: An dem Punkt, an dem meine Mutter
und meine Tante Lieselotte links abbogen, fuhren sie nach
rechts in Richtung Pillau. Allein dieser instinktive oder auch
verhängnisvoll durchdachte Entschluss hatte für Günter Nitsch
und seine Familie drei grauenvolle Jahre unter sowjetischer Militärherrschaft
zur Folge.
Das ist nur eine von vielen düsteren Möglichkeiten, die mir
ein gütiges Schicksal ersparte. Millionen von Menschen sind
während des Krieges und in den Jahren danach über zwei Kontinente
hin und her geschoben worden - Sieger und Besiegte:
aus der Ukraine nach Polen, von überall her in Osteuropa nach
Sibirien, von der Wolga und dem Ural nach Kirgisien, Kasachstan,
Usbekistan ... Und es hätte nicht viel gefehlt, dass auch ich
als Kriegswaise in einer fernen Gegend gelandet wäre und ir-
gendwann vergessen hätte, wer ich eigentlich war. Denn da gab
es eine Nacht in Danzig, in der für mich die Tore der Zukunft in
alle Richtungen offen standen und in der die Karten des Schicksals
noch einmal völlig neu gemischt worden wären, hätte ich
nicht außergewöhnlich viel Glück gehabt. Das Erlebnis hat
mein Denken als Journalist geprägt, wann immer einmal wieder
unter den Völkern und Nationalitäten Streit oder gar Krieg ausbrach.
Unser Treck hatte es glücklich bis kurz vor Danzig geschafft.
Die Pferde waren erschöpft, und wir kletterten in eine Art Vorortzug,
um in die große Stadt zu gelangen - die Vettern und
Cousinen, unsere Großmutter, Tante Lieselotte, meine Mutter
und ich. Als wir in Danzig eintrafen, war es Nacht, und wie es
nun weitergehen sollte, war nicht ganz klar. Erst einmal irgendwohin,
wo es warm war und es vielleicht sogar etwas zu essen
gab... Die Erwachsenen gingen voraus ins unbekannte Dunkel.
Großmutter und wir Kinder bekamen die strenge Anweisung,
uns an den Händen zu halten und zu folgen. Ich war der
Letzte in der Kette: ein Kind vom Lande, das eine so große
Stadt noch nie gesehen hatte. Ich staunte, träumte vor mich hin,
ließ die Hand vor mir los und blieb stehen, um die faszinierende
Umgebung genauer zu betrachten. Und plötzlich war ich allein.
Das Weitere ist nur zu verstehen, wenn man an Wunder
glaubt und sich in das Denken und die Logik eines Kindes
hineinversetzen kann. Ich heulte, fror und hatte genug von der
Herumzieherei in der Kälte. Ich wollte einfach wieder nach
Hause. Statt dort stehen zu bleiben, wo man mich sicher bald
wieder aufgesammelt hätte, suchte ich den Weg zurück zum
Bahnhof. Auf einem der Gleise stand noch der Zug, mit dem
wir in Danzig angekommen waren, in den stieg ich ein. Menschen
saßen darin, schweigsam, mit müden Gesichtern, und
warteten auf die Abfahrt. Wohin, darüber hatte ich mir nicht
die geringsten Gedanken gemacht. Einfach nach Hause. Der
Zug aber fuhr nicht. Denn in den letzten Wochen des Krieges
standen die Züge mehr, als dass sie fuhren. Ich weiß nicht mehr,
wie lange wir so gewartet haben. Doch plötzlich hörte ich die
Stimme meiner Mutter. Passanten hatten ihr erzählt, da sei ein
kleiner Junge heulend in Richtung Bahnhof gelaufen.
Seither beschäftigt mich der Gedanke, was wohl aus mir geworden
wäre, wenn der Zug den Bahnhof verlassen hätte. Wo
hätte er mich ausgeladen? Wer hätte sich irgendwo nahe der
Front eines elternlosen Knaben angenommen? Vielleicht hätten
mich Soldaten auf einen Militärlastwagen gehoben und auf
dem Rückzug nach Westen mitgenommen. Vielleicht hätten
russische Panzer den Zug schon auf halber Strecke zum Halten
gebracht. Vielleicht hätte mich irgendwann nach dem Ende des
Krieges eine mitleidige Familie adoptiert. Vielleicht wäre ich
in ein Heim gekommen. Vielleicht wäre ich heute Pole oder
Russe. Viele Kinder, die der Krieg von ihren Eltern trennte, irrten
damals hungernd und bettelnd in einem verwüsteten Land
umher. In Litauen, so hieß es später, seien die Überlebenschancen
dieser sogenannten Wolfskinder noch am größten gewesen.
Wer sortiert die Schicksale und Völker, die durch einen
Landstrich fluteten, der einmal Ostpreußen war? Auf meinen
Reisen mit dem Fernsehteam habe ich an viele Türen geklopft
und einen Eindruck vom Ausmaß dieser Völkerverschiebung
bekommen. Die meisten - Sieger wie Besiegte eines sinnlosen
Krieges - hat das Schicksal erheblich härter getroffen als mich.
Sie haben mir ihre Geschichten erzählt, uns verbindet eine gemeinsame
Heimat. So viele dieser Geschichten könnten auch
mein Leben gewesen sein, wenn ein Zug in jener Nacht in Danzig
etwas früher abgefahren wäre.
2. Der Blick ins Universum
Frauenburg ist ein Erlebnis! Eine Stadt ist es eigentlich
nicht, die Einwohnerzahl von Frombork - wie es heute polnisch
heißt - mag irgendwo zwischen drei- und viertausend
liegen. Es besteht aus einer wuchtigen Festung und Kathedrale
sowie einem kleinen Hafen und ein paar Gaststätten und
Wohnhäusern drum herum. Das backsteinrote Gebirge des
Doms hängt über Ort und Haff, und auf dem zum Wasser abfallenden
Hang schaut eine Gestalt in eine unbestimmte
Weite: Nikolaus Kopernikus. Man hat seinem ehernen Denkmal
vier schmale, quadratische Felsklötze untergesetzt - als
wollte man ihm eine Kiste unter die Füße stellen, damit er
als Kundschafter der Menschheit noch besser ins Universum
schauen kann.
Sechs spitze Türmchen strecken sich vom Dach des Gotteshauses
in den Himmel. Der siebente Turm, davon abgesetzt in
einer Ecke der Festungsmauer, überragt sie alle. Es ist ein bisschen
anstrengend, diesen Glockenturm zu besteigen. Aber die
Mühe lohnt sich. Schon in der unteren Etage wird der Besucher
auf etwas eingestimmt, das jedem, der sich mit der Unruhe unseres
Planeten noch nie so recht befasst hat, wie Zauberei erscheinen
muss: Hoch oben an der Decke ist ein Seil befestigt,
an dessen unterem Ende eine Kugel in sanftem Rhythmus hin-
und herpendelt. Ein Motor oder irgendeine Mechanik, die das
Ganze antreiben könnte, ist nicht zu sehen. Und während diesem
einschläfernden Hin und Her verändert das Pendel auch
noch seine Richtung. Das, so sagt der Führer mit Bestimmtheit,
sei der Beweis, dass sich die Erde um die eigene Achse drehe.
Nicht jedem leuchtet das auf Anhieb ein, aber der staunende
Betrachter bekommt eine Ahnung, womit sich derjenige be-
schäftigt hat, dem dieses Museum und eigentlich der ganze Ort
gewidmet ist.
Oben auf der Brüstung des Turmes hat der Besucher weit
über Frombork hinaus alles im Blick: viel Wald und Wasser,
dazwischengestreut ein paar bunte Häuschen. Die Gegend ist
ideal zum Angeln, zum Wandern und um Reiterferien zu machen.
Zu Füßen des Betrachters das Frische Haff mit sanft geschwungener
Uferlinie. In der Ferne ist jener feine Sandstreifen,
die Nehrung, zu erkennen - eine etwa siebzig Kilometer
lange Landzunge, die nur nach links, nach Westen, Anschluss
an das Festland hat. In der Gegenrichtung ist der Riegel offen,
dort ist die Ausfahrt zum Meer. Doch nicht für polnische
Schiffe und Fischerboote, denn die Öffnung des Frischen
Haffs zur Ostsee hin liegt jenseits einer EU-Außengrenze.
Und seit Polen Mitglied der europäischen Familie ist, blockieren
Bojen und Wachboote die Weiterfahrt. Denn etwa zwölf
Kilometer östlich von Frombork beginnt russisches Hoheitsgebiet.
Schwere Gedanken gehen mir durch den Kopf, wenn ich
von diesem Turm aus auf das freundlich blinkende Wasser
schaue. Da, irgendwo weiter rechts, sind wir damals über das
Eis gezogen ... Dieses liebliche Haff ist eines der größten Massengräber
Europas. Wie viele Menschen dort im Januar, Februar
und März 1945 versanken, hat niemand gezählt. Ein Stein
am Ufer erinnert auf Polnisch und auf Deutsch:
»450000 ostpreußische Flüchtlinge flohen über Haff und
Nehrung, gejagt vom unerbittlichen Krieg. Viele ertranken, andere
starben in Eis und Schnee. Ihr Opfer mahnt zu Verständigung
und Frieden.«
Und dann der Blick nach oben. Von hier, von diesem Domgebirge
aus, hat ein Mensch vor fast fünfhundert Jahren ein
Fenster zum Himmel aufgerissen: Nikolaus Kopernikus. Er ist
ein Gelehrter gewesen, wie es sie in unseren Tagen kaum noch
gibt: Theologe, Mathematiker, Arzt und Jurist. Sein Onkel war
Bischof im Ermland und hatte ihn zum Domherrn und Verwaltungschef
des Bistums ernannt. Und während wir sonst mit allem,
was den Namen oder auch nur den Zusatz »Preußen« trägt,
ganz automatisch das Schnörkellose des evangelischen Glaubens
verbinden, stellt das Ermland - grob umrissen die Gegend
zwischen Elbing, Allenstein und Frauenburg - seit acht Jahrhunderten
eine Bastion des Katholizismus dar. Und ausgerechnet
hier und ausgerechnet durch einen Würdenträger der Kirche
wurde den Hütern der Glaubenslehre das Monopol auf die
ewige Wahrheit streitig gemacht.
In den Himmel zu schauen war - bei all seinen sonstigen
Aufgaben und Talenten - sozusagen das Hobby des Nikolaus
Kopernikus. Er war ein Mann, der alles prüfen und nachrechnen
musste, was andere für selbstverständlich nahmen. Leute
wie er kamen einfach mit dem herkömmlichen Kalender nicht
klar. Die Drehungen der Gestirne, an denen wir unsere Tage
und Jahre bemessen, wiesen Unregelmäßigkeiten auf, für die die
Wissenschaft seiner Zeit hilflos nach Erklärungen suchte. So
ließ er Schlitze in die Wand seines Arbeitszimmers schlagen
und vermaß mit selbst gebastelten Instrumenten über Monate
und Jahre den Verlauf der Kurven, die das Sonnenlicht an
die Mauer gegenüber malte. Und dabei fand er bestätigt, was
eigentlich schon andere vor ihm herausgefunden hatten: dass
die Sonne und all die bekannten Lichter am Himmel in seltsam
schlingernden Kurven ihre Bahnen ziehen.
Mathematisch ergab das keinen Sinn, es war keine exakte,
verlässliche Logik herauszulesen, wenn man dem ehernen Gesetz
des Griechen Ptolemäus folgen wollte, dass die Erde der
ruhende Pol und Mittelpunkt des Universums sei und sich alles
andere artig um sie drehte. Und so kam Kopernikus auf die
Idee, ein seit mehr als tausend Jahren geltendes System einfach
umzukehren: Er stellte die Sonne in den Mittelpunkt, brachte
sie damit zum Stehen und setzte die Erde um diese große
Lichtquelle herum in kreisende Bewegung.
In Rom hatte man das Revolutionäre dieser Entdeckung
nicht sofort begriffen, aber nach und nach erhoben die Schriftgelehrten
Einspruch. Denn es stand doch geschrieben im
Buche Josua 10, Vers 12, dass Josua in der Schlacht gegen die
Amoriter der Sonne befahl: »Stehe still!« Und die Sonne und
der Mond standen still, »bis sich das Volk an seinen Feinden
rächte«. Wozu aber hätte Josua - und dazu noch mit dem Segen
Gottes - der Sonne solch einen Befehl erteilen sollen, wenn
diese doch ohnehin immer stillstand? Für die Kirche war das
Ganze keine Frage der Astronomie oder der Mathematik, sondern
des Prinzips: Die Bibel war das Grundgesetz aller Wahrheit
und Wissenschaft, sie konnte und durfte nicht irren.
Kopernikus starb im Mai 1543, Jahrzehnte bevor die Heilige
Inquisition gegründet wurde, die seine Lehre für Ketzerei erklärte
und denen, die ihr folgten, mit dem Scheiterhaufen
drohte. Hundert Jahre später musste Galileo Galilei in dieser
Angelegenheit vor das Inquisitionsgericht. Erst im 18.Jahrhundert
lenkte die Kirche langsam ein, bis schließlich 1992 ein polnischer
Papst für die Irrtümer und Sünden der Kirche um Vergebung
bat und sich - wenn man so will - bei Kopernikus
entschuldigte. Der religiösen Fairness halber sei an dieser Stelle
noch angemerkt, dass auch Martin Luther seinen Zeitgenossen
Nikolaus Kopernikus mit Verweis auf das Buch Josua einen
»Narren« nannte.
Ist es nun Zufall, oder hat es eine geheimnisvolle Bedeutung,
dass nur fünfzig Kilometer von Frauenburg entfernt im damaligen
Königsberg ein anderer das Denken der Menschheit neu
geordnet hat? Es gibt Zusammenhänge zwischen den Lehren
von Kopernikus und Immanuel Kant, die verblüffend, wenn
nicht gar unheimlich sind. Nichts ist mehr statisch, in uns und
um uns herum ist alles in Bewegung geraten. Vielleicht liegt es
ja auch an der Gegend - so abseits vom Lärm der großen
Ballungsräume -, dass sie ein ruhiges Klima bot, um mit der
Strenge der Vernunft in Bereiche vorzudringen, die dem Blick
und den Instinkten des Menschen eigentlich verborgen sind. Es
gibt ja Orte, die eine besondere Aura haben. Jerusalem zum
Beispiel. Mir gehen die verschmitzten Worte eines Juden durch
den Kopf, der seine Gäste in dieser Stadt mit den Worten begrüßte:
»Wenn Sie mal den lieben Gott anrufen wollen, greifen
Sie einfach zum Hörer: Von hier ist es nur ein Ortsgespräch!« In
diesem Dialog mit Gott sind die Urfragen der Menschheit noch
längst nicht abschließend beantwortet, aber man ist dem Ziel
ein gutes Stück näher gekommen. Salopp ausgedrückt: Vor Kopernikus
und Kant war der Mensch verwirrt. Heute ist er zwar
immer noch verwirrt - aber auf weitaus höherem Niveau.
Was vor diesem unendlich komplizierten Hintergrund ist
nun Heimat? So eng und abgegrenzt, dass wir andere davon
ausschließen müssten, entweder meine oder deine ... Machen
wir noch einen Rundgang durch Frombork - bummeln wir
durch die Museen und Kneipen der Stadt, schauen wir im Dom
und im Bischofspalast vorbei. Gleich nach der Ankunft ruft uns
ein netter Pole zu: »Sie wollen sicher mit Lemke sprechen!«
Und ein paar Minuten später kommt Lemke auch schon angeradelt.
Er ist der letzte Deutsche im Ort: Fischer seit früher Jugend,
kräftige Statur, gut erhaltener ostpreußischer Dialekt.
Auf jede Frage beginnt seine Antwort mit den Worten: »Na,
sehn Se mal...« Josef Lemke hat schon vielen Besuchern sein
Leben erzählt, und es wird wohl seine Erfahrung sein, dass sich
kaum jemand vorzustellen vermag, was einer wie er erlebt hat.
Im Prinzip ähnelt Lemkes Geschichte der eines Fischers aus
dem Memelland, den wir später noch kennenlernen werden:
Anfang Februar 1945 zu Fuß über das Eis - Vater, Mutter und
vier Kinder. Das Tauwetter hatte schon eingesetzt, sowjetische
Artillerie schoss auf die Flüchtlingstrecks, Flugzeuge warfen
Fünf-Kilo-Bomben. Die Familie erreichte die Weichsel. In
Danzig wurde schon gekämpft, und der Weg nach Westen
war versperrt. Sie kehrten zurück nach Bodenwinkel auf der
Nehrung und zogen im Mai wieder in ihr zerstörtes Haus in
Frauenburg. Im August 1945 rückten die sowjetischen Truppen
ab und übergaben die Stadt der polnischen Verwaltung. Vier
Monate später, im Dezember, begann die Aussiedlung der
Deutschen. Viehwaggons standen auf dem Bahnhof. Aber die
Lemkes hatten Angst, dass die Züge nicht nach Westen, sondern
nach Sibirien fahren würden.
Es war für diese Familie die letzte Chance, denn: »Na, sehn
Se mal, wir waren unabkömmlich.« Die meisten der neuen Bewohner
von Frauenburg kamen aus den Bergen an der ukrainisch-
polnischen Grenze und hatten keine Ahnung, wie man in
Haff und Meer auf Fischfang geht. Lemkes Vater war der Letzte
am Ort, der sich darin auskannte. Seine Aufgabe war es, für die
neu aufgestellte Genossenschaft Fischer auszubilden: »Na, sehn
Se mal, da musste auch der Sohn mit ran.« Aber heute, im großen
Europa, da könne doch jeder reisen, wohin er wolle, werfe
ich ein. Er sei doch sicherlich wenigstens zu Besuch inzwischen
in Deutschland gewesen? »Nein«, kommt die Antwort diesmal
ohne Anlauf und längere Begründung: »Wozu?«
In einem der Bierlokale am Markt stehen mehr gefüllte
Gläser vor uns auf dem Tisch, als wir trinken können. Christof
Sznepanik, ein polnischer Kollege und Herausgeber seiner eigenen
lokalen Zeitung, hat immer fröhlich nachbestellt. »Diese
Stadt war nach dem Krieg ein Trümmerhaufen. Mindestens
achtzig Prozent aller Häuser waren zerschossen, gesprengt oder
ausgebrannt. Aber auf wundersame Weise ist der Dom einigermaßen
heil geblieben.« Wir sprechen über den Gedenkstein am
Haff, über Josef Lemke und über Polen und Deutsche, über die
vielen Menschen, die hier vor der Küste ertrunken sind. »Ach,
wissen Sie, die jungen Leute in Frombork haben schon keine
Ahnung mehr, worum es da eigentlich ging. Für sie ist das, was
damals im Krieg geschah, einfach unbegreiflich.«
Als Journalist hat er aktuellere Sorgen. Da oben, zwölf Kilometer
weiter im Nordosten, werde die Welt einfach zugenagelt.
Früher, da habe es rege wirtschaftliche und menschliche Kontakte
zur Region Kaliningrad gegeben. Heute sei alles seltsam
verstopft. Seit 2005 können Segler aus Frombork und Braniewo,
dem früheren Braunsberg, nicht mehr in die Ostsee auslaufen.
Russen brauchen teure Visa, um nach Polen einzureisen, und
Polen brauchen Visa, um Kaliningrad zu besuchen. Diese russische
Insel im Meer der EU werde immer strenger von Moskau
aus regiert. Und dort sehe man die Europäische Union nicht als
Chance für eine gute Nachbarschaft, sondern als eine Art ansteckende
Krankheit. Der Umgang mit Kaliningrad, so fasst er zusammen,
sei eine Qual.
Und dann sind wir noch mit Tadeusz Graniczka verabredet.
Er ist der Propst und Domkapitular - und somit in einer langen
Kette ein Amtsnachfolger von Nikolaus Kopernikus. Dem
Propst liegt sehr daran, dass auch in Deutschland ein treuer
Gottesmann nicht vergessen werde: Maximilian Kaller, der
letzte Bischof zu deutscher Zeit. Der habe so manches offene
Wort gegen die Nazis gewagt und Gottesdienste in Deutsch
und Polnisch abgehalten. Zum Ende des Krieges habe die Gestapo
oder die SS ihn gegen seinen Willen nach Danzig gebracht
und ihm befohlen, nach Deutschland auszureisen.3
Kaller hatte wie alle Menschen seine Stärken und seine
Schwächen. Auch in der kirchlichen Literatur wird ihm angekreidet,
sein Verhältnis zum Nationalsozialismus sei lange Zeit
von gutgläubiger Naivität gewesen. Aber er war ein mutiger
Mann. Im August 1945, als viele der zurückgebliebenen Deutschen
von Ost nach West drängten, schlug sich der Bischof in
der Gegenrichtung durch. Er wollte zurück in seine Diözese
und sein Amt wieder aufnehmen. Das wurde ihm nun vom pol-
nischen Kardinal unter Hinweis auf Order aus Rom verwehrt.
So reiste Kaller wenige Tage später wieder ab und ließ sich
schließlich in Frankfurt am Main nieder. 1946 ernannte ihn
Pius XII. zum päpstlichen Beauftragten für die heimatvertriebenen
Deutschen. In Hirtenbriefen beschwor Kaller seine
Ermländer immer wieder, am Verlust ihrer Heimat nicht zu
zerbrechen. Als Politiker den Vertriebenen noch Hoffnung auf
eine baldige Rückkehr machten, schrieb der Bischof schon im
Jahr nach der Flucht: »Es ist der Wille Gottes. Wir sind nur
Gast auf Erden...« Er starb 1947 an einem Herzschlag. In Königstein
im Taunus wurde er beigesetzt. Mehr als fünfzig Jahre
später hat seine Kirche den Prozess eingeleitet, den Bischof seligzusprechen.
»Maximilian Kaller ist in Frombork unvergessen«, versichert
der polnische Domkapitular seinen Besuchern aus Deutschland.
»Vielleicht wird er eines Tages hier im Dom bestattet. In
der Erlöserkapelle im Untergeschoss der Kathedrale haben wir
noch viel Platz. Hundertvierzig Bischöfe und Kanoniker sind
hier beigesetzt - Polen und Deutsche. Unter ihnen auch Nikolaus
Kopernikus.«
Ja, der Dom: Für meinen Geschmack ist das Innere etwas
überladen und wirkt dadurch enger - wenn man es an seinem
imposanten Äußeren misst. »Es war wie ein Wunder, dass ausgerechnet
das größte Bauwerk und markanteste Ziel für die
Bomberpiloten und Kanoniere im Krieg nicht zerstört wurde«,
sagt der Propst, »aber es war viel Arbeit, es nach und nach wieder
herzurichten. In sowjetischer Zeit wurde das Kirchenschiff
als Pferdestall genutzt, und das Militär hat sich wenig Mühe gemacht,
gelegentlich auch mal auszumisten. Die Fenster waren
kaputt, Feuchtigkeit war in die Wände gezogen. Und Baumaterial
gab es ja erst einmal nicht.«
Wir sprechen noch über den Stein am Ufer des Haffs. Über
ein solches Symbol des Gedenkens in Berlin sei doch wie-
derholt heftiger Streit zwischen Deutschland und Polen entbrannt
- auf polnischer Seite von der Sorge getragen, die Deutschen
könnten sechzig Jahre nach dem großen Krieg aus der
Rolle der Täter in die Rolle von Opfern hinüberwechseln. Hat
es je in der Bevölkerung von Frombork einen Streit darüber gegeben,
ob man der Ostpreußen gedenken dürfe, die hier auf der
Flucht gestorben sind? »Nein«, erwidert der Propst. »Der Stein
wird von uns in Ehren gehalten. Es macht uns nachdenklich, an
ein so grausames Schicksal vor unserer Haustür erinnert zu werden.
Und doch haben sich die Zeiten geändert. Wir können uns
nur noch schwer vorstellen, was damals geschah. Wissen Sie,
sogar das Klima hat sich verändert. Die Winter sind nicht mehr
so kalt wie damals, das Haff friert heute nur noch selten zu.
Ein junger Pole kann es sich kaum vorstellen, dass einmal Tausende
von Pferdewagen über diese riesige Wasserfläche gefahren
sind.«
Und dann verabschiedet er uns mit einem verschmitzten
Lächeln und dem guten Rat, doch unbedingt noch einmal im
ehemaligen Kutschenschuppen des Bischofs vorbeizuschauen.
Dort sollten wir eine Dame kennenlernen, die uns bestimmt gefallen
werde. Das Gebäude befindet sich nur ein paar Schritte
entfernt, nahe dem Tor des bischöflichen Palastes. »Schätze
vom Dachboden« steht an der Tür. Auf den ersten Blick erscheint
die Sache wenig spannend: ein großer Raum voller
Schränke, Töpfe, Bügeleisen, Nähmaschinen, Häkeldeckchen...
Beschweren kann sich der Besucher nicht, es ist ja alles so, wie
es an der Tür versprochen war: Hausrat und sentimentales Gerümpel
- eben das, was man so auf dem Dachboden findet,
wenn ein paar Jahrzehnte lang niemand mehr die Luke geöffnet
hat, um es wieder ans Licht zu holen und abzustauben.
Die eigentliche Attraktion ist sie: Suzanna Falinska, eine
ältere Dame von zarter Statur, Brille, kurz geschnittenes weißes
Haar. Sie war achtzehn, als sie kurz nach dem Krieg aus
einem Dorf in der Nähe von Lublin nach Frombork kam und
versuchte, hier Arbeit zu finden oder irgendetwas Vernünftiges
zu tun. Es waren wilde Zeiten. Aus allen Himmelsrichtungen
Polens, aus Litauen, der Ukraine und Weißrussland, aus zerbombten
Städten und Gefängnissen strömten die Menschen in
den »neuen Westen« des Landes. Die einen kamen freiwillig,
die anderen unter Zwang. Die Neuankömmlinge suchten sich
ein Dach über dem Kopf, viele wechselten in den ersten Jahren
mehrmals ihre Unterkunft. Festen Wohnraum gab es kaum, die
noch brauchbaren Ziegel aus den Ruinen wurden zusammengetragen,
abgeklopft und zum Wiederaufbau Warschaus abtransportiert.
Diebesbanden zogen durch die vom Krieg verwüstete
Stadt. Viele Polen, so erinnert sich Suzanna, fühlten sich in der
ihnen zugewiesenen neuen Heimat weder sicher noch zu Hause.
Die meisten hatten Angst. Eines Tages würden die Deutschen
ja doch wiederkehren und sie aus Frombork vertreiben.
In diesem sprachlichen und kulturellen Durcheinander zog
die junge Frau durch die Ruinen, wühlte in den Trümmern und
sammelte ein, was ihr Interesse weckte und was man vielleicht
irgendwie verwerten konnte. Zunächst war es noch Teil des
Überlebenskampfes, dann wurde es eine archäologische Mission:
aus noch Brauchbarem, Weggeworfenem und später auch
Geschenktem eine Art Völkerwanderungsmuseum zusammenzustellen,
um auch Enkeln und Urenkeln ein Gespür dafür zu
vermitteln, wer hier alles durchgezogen war, hier starb, sich niederließ,
floh oder vertrieben wurde, und Zeugnisse davon zu bewahren.
Kleiderbügel liegen herum - einer mit dem Aufdruck
»W. Stein Osterode/Ostpreußen«, ein anderer mit dem Schriftzug
»Sklad Mebli Mlawa«. Trachten aus Sibirien, Karelien und
Kasachstan, Häkeldeckchen aus Vilnius in Litauen sind auf
Truhen und Koffern aus Moskau oder Lublin ausgebreitet oder
kunstvoll auf einer Wäschemangel aus der Gegend von Krakau
drapiert. Die rührige Museumsdirektorin hält einen aus Birkenholz
geschnitzten Topf in die Höhe: »Den hat meine Tante
aus Kasachstan mitgebracht. Dorthin hatte man sie und ihren
Sohn verschleppt, und in diesem Topf haben sie im Arbeitslager
ihre Essensrationen empfangen... Hier eine Stampfmühle russischer
Fabrikation. Auch die hat jemand aus einer fernen Gegend
herangeschleppt, um damit Getreide für Grütze oder
sonst irgendetwas zu mahlen.«
Wir gehen vorbei an Ermländer Trachten und alten Fotos.
Hier zeigt Frau Falinska auf einen Lübecker Teller, dort auf
einen Bierhumpen mit der Aufschrift »Bavaria Bräu«; und
schließlich fasst sie den Sinn und Zweck ihrer Schatzsammlung
so zusammen: »Ich möchte für kommende Generationen die
Erinnerungen an all die Menschen bewahren, aus denen diese
Stadt zusammengeschmolzen ist. Für mich macht es keinen
Unterschied, ob sie Deutsche, Polen, Juden oder Russen waren.
Politik interessiert mich nicht, ich will nichts politisch oder historisch
beweisen. Nur zeigen, was hier alles im Boden liegt.«
Noch ein Wort zu Nikolaus Kopernikus. War er eigentlich
Deutscher, oder war er Pole? Als wir zum ersten Mal mit der
Fernsehkarawane durch Masuren zogen, hatte das ZDF gerade
für eine große Unterhaltungsshow eine Liste berühmter Namen
in Umlauf gebracht, um in einer Art von Meinungsumfrage herauszufinden:
»Wer sind oder waren die größten Deutschen?«
Mozart war dabei, auch Schiller und Thomas Mann. Sie brachten
es weit in der Publikumsgunst, wenn auch nicht ganz so
weit wie Daniel Küblböck oder Dieter Bohlen. Gesiegt hat am
Ende Konrad Adenauer vor Martin Luther. Einem polnischen
Boulevardblatt war ein anderer Name auf dieser Liste aufgefallen,
und es protestierte mit einer dicken Schlagzeile auf der Titelseite:
»Nein, nicht er! Er gehört uns!« Nach dem Geschmack
unserer Tage hätte Nikolaus Kopernikus ohnehin keine Chance
gehabt, einen solchen Popularitätswettbewerb zu gewinnen.
Denn ob sich nun die Erde um die Sonne oder die Sonne um
die Erde dreht, hat gerade bei der für die Werbung so wichtigen
Zielgruppen einen viel zu geringen Unterhaltungswert.
Ein Streit um die Nationalität des großen Entdeckers hat da
schon erheblich mehr Reizpotenzial. Zu seiner Zeit hätte solch
eine Frage übrigens auch keine große Rolle gespielt. Er war
Mitglied des Ermländer Domkapitels. Und da das Ermland
damals zu Preußen gehörte, war er eine Art preußischer Standesgenosse.
Dies aber wiederum unter der Oberhoheit der polnischen
Krone. Wie das alles zusammenpasst, versteht heute
kaum noch jemand. Seit dem Ersten Weltkrieg kam es dann in
Mode, nationale Geschichte aus der Gegenwart heraus in die
Vergangenheit zu verlängern und auch den Menschen früherer
Jahrhunderte Nationalitäten auf den Leib zu schneidern, die bei
einem Streit oder nach einem Krieg zu den jeweils aktuellen
Ansprüchen passten.5
Eine tröstliche und aufmunternde Geschichte über die Nationalität
des Nikolaus Kopernikus erzählte mir der Historiker
Arnulf Baring. Er hatte an der Universität von Torun, dem früheren
Thorn, gemeinsam mit einem polnischen Professor ein
national gemischtes Seminar abgehalten. Am 19. Februar 1473
wurde Kopernikus in dieser Stadt geboren. War er nun Deutscher?
Oder war er Pole? Die Professoren hatten eine originelle
Idee: Sie gaben den polnischen Studenten den Auftrag, alle historischen
Umstände und Daten zusammenzutragen, aus denen
sich schlüssig ergeben könne, dass er ein Deutscher gewesen sei;
die deutschen Studenten sollten, ebenfalls anhand historischer
Fakten und Belege, nachweisen, Kopernikus sei Pole gewesen.
Beide Gruppen haben die ihnen gestellte Aufgabe mit Bravour
gelöst.
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2014 2013 2012 2011
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Wolf von Lojewski
- 237 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868006281
- ISBN-13: 9783868006285
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