Meine hungernde Seele
Veras Körper ist ihr Feind, denn sie hat nur ein Ziel: schlank zu werden
Veras Körper ist ihr Feind. Sie hat nur eines im Kopf: Schlank zu werden. Heißhungerattacken wechseln sich mit Diäten ab. Erst nach Jahren erkennt sie, dass sie an Bulimie leidet. Damit beginnt für sie ein langer Weg von der...
Leider schon ausverkauft
Weltbild Ausgabe
2.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Meine hungernde Seele “
Veras Körper ist ihr Feind. Sie hat nur eines im Kopf: Schlank zu werden. Heißhungerattacken wechseln sich mit Diäten ab. Erst nach Jahren erkennt sie, dass sie an Bulimie leidet. Damit beginnt für sie ein langer Weg von der Diagnose bis zur Heilung. Und sie macht sich gleichzeitig auf die Suche nach den Ursachen für ihre Krankheit.
Lese-Probe zu „Meine hungernde Seele “
Meine hungernde Seele von Vera TomscheVorwort
... mehr
Viele Frauen haben ein Problem mit ihrer Figur. Von allen Seiten wird ihnen eingeredet, sie seien zu dick. Sie versuchen, weniger zu essen, machen eine erste Diät, später eine zweite und dann die dritte. Vielleicht nehmen sie ab, vielleicht ist die Mühe auch umsonst. Auf jeden Fall lernt der Körper bald, mit dem Wenigen, das ihm gegönnt wird, hauszuhalten, und läuft nur noch auf Sparflamme. Und eines Tages schauen diese Frauen in den Spiegel und sehen sich so, wie sie vor der Hungerkur waren: zu dick.
Manche Frauen beschäftigen sich intensiver als andere mit ihrer Figur, ihrer Ernährung und ihrem Essverhalten. Ihre Gedanken und ihre gesamte Aufmerksamkeit drehen sich ums Essen und Hungern, ums Ab- und Zunehmen. Essstörungen gelten als die modernen Frauenkrankheiten. Wenn auch die Krankheitsbilder nicht neu sind - die Zahl der Frauen mit Essstörungen wächst ständig. Die Symptome sind unterschiedlich:
Die Magersucht (Anorexie) ist eine sehr auffällige Essstörung: Magersüchtige leugnen ihren Hunger und verweigern die Nahrung, so dass sie sichtbar abmagern; teilweise wird die Auszehrung lebensbedrohlich.
Der Magersucht diametral gegenüber steht die Fettsucht (Adipositas): Fettsüchtige Frauen essen viel und wiegen viel, teilweise überschreiten sie ihr Idealgewicht um 25 Prozent. Nur durch heroische Anstrengungen gelingt es ihnen, Fett abzubauen.
Noch anders verhält es sich mit der Esssucht, der Bulimie. Die betroffenen Frauen leiden unter Heißhungeranfällen, wobei sie enorme Mengen an Lebensmitteln verschlingen. Gleichzeitig sind sie bemüht, abzunehmen bzw. ihr Gewicht zu halten, weshalb sie immer wieder Diät leben oder hungern, exzessiv Sport treiben, Abführmittel nehmen und das Gegessene willentlich erbrechen. Dabei sind es in der Regel nur die Bulimikerinnen selbst, die ihren Körper als »zu fett« empfinden. Die Selbstwahrnehmung dieser Frauen ist verzerrt. Ihr Gewicht entspricht oft dem sogenannten Normalwert oder weicht nur geringfügig davon ab.
Etwa 300.000 Frauen in der Bundesrepublik Deutschland leiden unter Bulimie, schätzen derzeit Mediziner und Therapeuten. Weil die Betroffenen meist peinlich darauf achten, ihren unfassbaren Hunger vor der Umwelt zu verbergen, liegt die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher.
Wenn ich heute auf die Geschichte meiner Essstörung zurückblicke, staune ich darüber, wie lange ich in diesem Netz aus Sucht und Heimlichkeit gefangen war. Es dauerte Jahre, bis ich erkannte, dass nicht allein das Essen mein Problem ist, sondern dass Bulimie stets Ausdruck eines seelischen Konfliktes ist. Und dass genau darin die Chance liegt, die diese Krankheit in sich birgt.
Dieses Buch beschreibt die mühevolle Suche nach dem eigenen Ich. Sie ist für mich bis heute nicht beendet ...
Willkommen in meiner Welt
Ich fühlte, dass es Herbst wurde, und schloss den Kragen meines Trenchcoats. Die Stimmen der Kinder, die sich auf den Stufen vor der Kathedrale von Sacré Cœur zu akrobatischen Mutproben mit ihren Skateboards anfeuerten, verklangen hohl im nebligen Nachmittag.
Jean-Claude schwieg. So still hatte ich ihn nur einmal erlebt, an jenem Abend in New York, als bei einer Kunstauktion jemand »seinen« Brancusi ersteigert hatte, jenes Objekt des rumänischen Bildhauers, für dessen Erwerb er so hart gearbeitet hatte.
»Und das geht schon so, seit du bei mir bist?« Er zog an seiner Zigarette, ohne den Blick von seinen Schuhspitzen zu heben. Mit meiner Offenheit hatte ich ihn überrascht. Doch es schien ihm zu imponieren, mit welch klaren Worten ich über meinen Rückfall sprach. Seine Reaktion war positiver, als ich erwartet hatte.
In den vergangenen Wochen hatte ich häufig gereizt reagiert, und Jean-Claude erklärte sich meine Launen damit, dass ich kaum Folgeaufträge von den Magazinen bekam, für die ich schreiben wollte. Das stimmte, doch es war nur die halbe Wahrheit. Seit ich Jean-Claude vor drei Monaten von New York nach Paris gefolgt war, hatte ich heimlich mehrere Heißhungeranfälle gehabt. Ich musste mir eingestehen, dass ich immer noch süchtig war.
»Wann hat das alles begonnen, ich meine mit dieser Bulimie?« Jean-Claude wirkte etwas ratlos und unbeholfen.
Wie erklärt man einem Außenstehenden die hemmungslose Gier nach Essen und die panische Angst davor, dick zu werden. Die zur fixen Idee gewordene Sehnsucht nach einem schönen, schlanken Körper, jene unzähligen schweißtreibenden Gymnastikstunden und dann wieder die Momente, in denen man wie ein Industriestaubsauger Torten, süße Kekse, pikantes Olivenmus und Berge von Pasta in sich hineinschlingt - um sie umgehend wieder auszukotzen, heilfroh, dem Körper ein Schnippchen geschlagen zu haben, der so schnell kaum eine Kalorie der Nahrung hat aufnehmen können? Wie sollte ich Jean-Claude vermitteln, was es bedeutet, zwanghaft Diäten zu machen?
»Angefangen hat alles mit einer Joghurtdiät, als ich ungefähr zwölf Jahre alt war. «
Jean-Claude zog den rechten Mundwinkel nach oben, sein Zeichen, dass er verstand. Er lebte selbst manchmal nach einer Diät. Auch viele seiner Bekannten hielten sich ab und zu etwas zurück.
Ich löste die Hände vom Riemen meiner Umhängetasche und legte sie in meinen Schoß. Vor uns, auf der Rue Cardinal Dubois, rollten die Autos vorüber. Jean-Claude lehnte sich zurück und sah den Kindern zu; ein Junge mit Rollerblades übersprang ein Hindernis. Wo liegt also ihr Problem?, meinte ich, ihn denken zu hören. Ich begann zu erzählen. Jean-Claude hörte schweigend zu. Nur einmal unterbrach er mich, als ich beschrieb, dass ich an manchen Tagen bis zu acht Fressanfälle gehabt hatte.
»Wie schaffst du das? Ohne zuzunehmen?«
»Indem ich kotze.« Er verstand also doch nicht. Oder er hörte nicht zu. Ich wusste plötzlich nicht mehr, ob er mich überhaupt ernst nahm.
»Du erzählst von Stimmen, die dich zwingen zu essen, du sagst, du bist am Ende - bislang habe ich dich immer als eine Frau erlebt, die alles im Griff hat. «
»Hör mir zu, Jean-Claude.« Meine Stimme klang brüchig. »Ich bin nicht am Ende. Aber ich will so nicht weiterleben.«
Er würde mich für pervers halten. Er würde, wenn ich weiterredete, alles in Zweifel ziehen, mich, unsere Liebe. Es würde ihn verletzen zu hören, dass ich während seiner Vernissagen nicht auf die Bilder geachtet hatte, sondern darauf, dass niemand sah, wie viele Häppchen ich verdrückte. Dass ich bei der anschließenden Feier im Restaurant zuerst zur Toilette geeilt war, um mich zu übergeben. Und wenn ich ihm erzählte, wie sehr ich meinen Körper hasste, meinen fetten, ekelhaften Leib, würde er fragen, wie ich es ertrug, wenn er genau diesen Körper liebkoste. Ich würde auf diese Frage keine Antworten wissen.
Ich band mein Kopftuch um, im Nacken geknotet. Jean-Claude lächelte; er liebte es, mich so zu sehen. Wenn wir versuchten zu diskutieren, endete das oft mit Missverständnissen und Verstimmtheit auf beiden Seiten. Jean-Claude verlangte nach Fakten, um zu begreifen. Nach nüchternen Beschreibungen, die ich selten geben konnte. In mir herrschte immer ein Gefühlschaos, ich deutete eher an, blieb vage. Verlangte er dann weiterhin klare Aussagen, verletzte mich seine Schroffheit. Am Ende warf mir Jean-Claude in der Regel vor, ich würde ihn oder andere für meine Pro bleme verantwortlich machen.
Ich fand es sehr mutig von mir, das Wort »Bulimie« diesmal überhaupt ausgesprochen zu haben. Ich wollte mich mitteilen, wollte, dass er verstand. Ich wollte ihn einweihen, ihn einladen in meine bulimische Welt mit ihren Fressanfällen und den Aufenthalten auf der Toilette.
Jean-Claude berührte meinen Arm. Er zog mich zu sich hoch und führte mich die Treppen hinunter zu seinem Wagen.
»Ich habe den Kindern versprochen, sie heute noch zu besuchen. Am Wochenende werde ich keine Zeit haben - die Vorbereitungen für die neue Ausstellung sind aufwendig.«
Ich erhob mich, nickte und verstand. Wie immer. Das war unser stillschweigendes Übereinkommen.
Das Tier in mir lächelt nie. Es kennt kein Maß. Ein Brot. Ein Glas Marmelade. Es treibt zur Eile. Das Tier fordert sein Recht und will mehr.
Krümel auf dem Tisch. Lasagne. Zwei Brioche. Ein Stück Weichkäse, eingetunkt in orientalische Sauce. Ein Glas Abführtee. Der Magen bläht sich auf. Er ist ein Müllschlucker, ein Vakuum. Auf englisch heißt Staubsauger vacuum cleaner.
Sahne im Mundwinkel. Sanft rinnt sie hinab. Einbreien. Man muss alles einbreien, dann lässt sich das Mus besser auskotzen. Gleitet besser beim Hochwürgen. Pasta - Pasta eignet sich gut, und Sahne, und Butterbrot. Croissants. Ganz Paris ist voller Croissants. Vom ersten Moment an hatte ich in meinem Kopf ein Netz von Bäckereien errichtet. Bulimikerinnen denken strategisch.
Das asiatische Delikatessengeschäft an der Ecke. Immer freundlich, diese Menschen. Wundern sich nie über die Mengen von Glückskeksen, die diese Frau kauft. Lächeln bloß.
Sahne tropft. Die Torte ist weg, der Hunger lärmt. Hunger. Ein nicht zu füllendes Loch in meiner Seele.
Mit einem Kuss hatte Jean-Claude mich vor der Haustür verabschiedet.
»Bist du okay?« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Soll ich später noch einmal vorbeischauen?« Das war seine Art, einer Fortsetzung unseres Gesprächs aus dem Weg zu gehen. Er wusste, dass ich ihn nicht ertragen konnte, wenn er von einem Treffen mit seiner Ex-Frau kam. Normalerweise überhäuften sie sich gegenseitig mit Vorwürfen, zermürbten sich, und Jean-Claude war hinterher aufgewühlt und haltlos.
Ich schüttelte den Kopf. Sein Bemühen, sich aus der Affäre zu ziehen, kam mir ausnahmsweise gelegen.
An diesem Abend lag ich im Bett, neben mir eine Tasse dünnen Pfefferminztee, um die wiederkehrenden Magenkrämpfe zu lindern. Ich hatte den Moment verpasst, den Rückfall aufzuhalten, mich zu schützen. Die Ratschläge meiner Therapeutin waren ungehört verhallt, sie drangen nicht durch den Chor der Stimmen in meinem Kopf, die mich aufforderten zu essen. Trotzdem war es mir für einen Moment sehr, sehr gut ergangen.
Essen beruhigt. Als ich alles aufaß, was ich in der Küche fand, plagten mich keine Gewissensbisse. Ich war frei von jedem Verantwortungsgefühl, frei von dem Druck, stets überlegt handeln zu müssen, berechenbar und vernünftig zu sein. Ich genoss diese innere Ruhe. Für niemanden musste ich Geduld aufbringen, niemanden wollte ich beeindrucken. Ich aß nur. Im Hintergrund liefen die Fernsehnachrichten.
Anschließend erbrach ich mich. Dann putzte ich die Toilette, beseitigte alle Spuren und hängte einen neuen Duftstein auf. Ich ging unter die Dusche. Die vorangegangene Stunde meines Lebens versickerte still in der städtischen Kanalisation.
Als ich Paula, meiner Therapeutin, eines Nachmittags in ihrer New Yorker Praxis erzählt hatte, dass ich zu Jean-Claude nach Paris ziehen wollte, tat sie nichts, um mich davon abzuhalten.
Sie warnte mich nur: »Vielleicht werden die ersten Eindrücke in einer neuen Stadt deine Sucht eine Weile über decken. Aber deinen krankhaften Mechanismus nimmst du mit. Unterschätze ihn nicht.«
Ungläubig hatte ich Paulas Worte beiseitegewischt. Nach zwölf zunächst magersüchtigen und später bulimischen Jahren blickte ich damals optimistisch in die Zukunft. Ich war mir sicher, so weit geheilt zu sein, dass ich ein normales Leben würde führen können. In Paris wartete ein Mann auf mich, der mich liebte, dem ich mich verwandt fühlte, dessen charismatische Art mich anzog und bei dem ich mich geborgen fühlte. Jean-Claude war - auch wegen seines Alters, er war fast 5 0 - manchmal wie ein Vater für mich. Wir teilten ein gemeinsames Interesse an moderner Kunst, und ich würde in seiner Galerie im Künstlerviertel Marais halbtags aushelfen; so war es abgemacht. Darüber hinaus schmiedete ich eigene Pläne: Ich wollte Journalistin werden und hatte bereits einige Artikel für verschiedene Zeitungen und Magazine in meiner Heimat Österreich geschrieben.
Und jetzt fand ich mich vor dem Kühlschrank wieder. Alles war anders, als ich es mir ausgemalt hatte. Ich verschlang cremige Torten und dick belegte Brote und sah mir dabei zu, wie ich meine Umgebung belog und betrog bei dem Versuch, meine exzessiven Fressanfälle zu verheimlichen. Gebannt starrte ich auf den Zeiger der Waage und wurde panisch. Ich war unruhig, unzufrieden, unausgeglichen, ich wusste nichts mit mir anzufangen. Die Tage troffen träge dahin wie dicke Soße, der Sprachkurs schleppte sich von einer Stunde zur nächsten. Jean-Claude war unterdessen sehr beschäftigt - seine Kinder, die Galerie, alles hatte Priorität. Und ich - ich aß und kotzte für mein Seelenheil. Wie in alten Tagen versuchte ich, die empfindliche Balance zwischen meinem Bedürfnis nach innerer Ruhe und dem Wunsch nach einer schlanken Figur zu halten - schlang hinunter, würgte hoch.
Das Telefon klingelte.
»Salut!« Jean-Claude lud mich ins Kino ein. »Sie zeigen einen Film von Roman Polanski, und ich kann mir heute Abend freinehmen.«
»Mmh, schön, ja ...«
»Hast du bereits etwas vor? «
»Nein, nein, ich habe noch nichts vor ...«
»Also dann: um sieben Uhr an der Metrostation Opéra, wie immer. Ich freue mich. Küsschen!«
Es klickte in der Leitung, er hatte aufgelegt. Sieben Uhr - das war in einer Stunde. Vor einer Dreiviertelstunde hatte ich in der nahe gelegenen Bäckerei eingekauft und es mir mit fünf Croissants und zwei Hefezöpfen an dem kleinen Tisch im Wohnzimmer neben der geöffneten Balkontür gemütlich gemacht. Unten spielten die Kinder, während ich im Licht der untergehenden Sonne Essen in meine leere Seele stopfte.
Ich hatte bisher noch nicht einmal gekotzt. All das weiche, weiße Brot blähte sich in meinem Bauch. Meine satte Zufriedenheit schlug plötzlich in Panik um. Wie von einem für solche Fälle genetisch vorgesehenen Instinkt gesteuert, schaltete mein Hirn auf »Notprogramm«: Zuerst kotzen! Die Ringe unter meinen Augen vom Würgen würden sicher zwei Stunden brauchen, um abzuklingen - also Pfefferminzteekompressen vorbereiten. Und duschen, bloß nicht nach Erbrochenem riechen. Parfüm! Und was ziehe ich an? Gehen wir nur ins Kino oder treffen wir anschließend noch Bekannte? Wenn ja, wo? Im Bistro. Dann reicht die Jeans. Im Restaurant, da müsste es schon ein Kleid sein. Doch die meisten meiner Kleider passen nicht mehr, sie spannen um die Hüften. Das Bouclékostüm, ja, das ginge.
In dieser Hektik half mir meine jahrelange Routine. Punkt sieben stieg ich aus der Metro.
»Salut.« Jean-Claude lehnte an einem Geländer, unter dem Arm seine braune Kalbsledertasche. Er war direkt aus der Galerie gekommen. »Was ist, gibst du mir keinen Kuss?«
»Doch.« Flüchtig streifte ich seine Wange.
Der Film war verwirrend, die Handlung abstrus, die Untertitel irritierend. Zudem hatte ich ständig Angst, Jean-Claude könnte irgendwie bemerken, dass ich vor einer guten Stunde noch über der Toilette gehangen hatte. Seit dem missglückten ersten Versuch auf den Stufen von Sacré Cœur hatten wir noch ein paarmal über meine Bulimie gesprochen. Trotzdem konnte ich nicht einschätzen, wie er reagieren würde, wenn er wüsste, dass ich vor zwei Stunden noch in einem süßen semmelbraunen Weißbrotrausch geschwelgt hatte. Hoffentlich war mein Parfüm nicht zu aufdringlich.
»Na, wie hat dir der Film gefallen? Sag nicht, das Beste sei der nackte Oberkörper des Tänzers gewesen.« Jean-Claude lachte. Aber mir war nicht nach Scherzen. Ich schwieg.
»Wie auch immer. Hast du schon gegessen? Ich kenne ein Bistro in der Nähe. Warte hier, ich hole schnell den Wagen.«
Ich war ihm dankbar für die kleine Pause. Im Schaufenster eines Schuhgeschäftes kontrollierte ich meine Aufmachung. Erleichtert stellte ich fest, dass es so schlecht gar nicht um mich stand. Lange Beine, die Füße in eleganten Pumps, das Bouclékostüm. Besser, als ich gedacht hatte. Sehr ladylike. Und darauf legte Jean-Claude großen Wert. Er stammte aus einer reichen Familie, in der man ein großes Standesbewusstsein hatte und erheblichen Wert auf die äußere Erscheinung legte. Außerdem war er Macho genug, um eine »richtige Frau« an seiner Seite zu wollen; ich hatte alle Freiheiten, solange ich mich hübsch zurechtmachte.
Der dunkelgrüne Oldtimer bog um die Ecke, und ich ließ meinen Lippenstift in der Handtasche verschwinden. Jean-Claude stieg aus und öffnete mir die Beifahrertür. Lachend und mit gekonntem Schwung ließ ich mich auf den weichen Ledersitz gleiten. Ich war wieder die Frau, in die er sich verliebt hatte. Feminin, fröhlich, selbstbewusst.
Im Restaurant bestellte ich Salat und ein Pfirsichsorbet. Jean-Claude erzählte vom Geschäft. Die letzten Bilder für die bevorstehende Ausstellung waren eingetroffen. Ich hörte zu und stach die Gabel in ein Blatt Chicorée. Ich aß langsam, ohne ein Zeichen von Hektik. Nicht die kleinste Geste verriet meine heimliche Perversion. Ich lächelte, nippte am Wein und betrachtete aufmerksam Jean-Claudes Gesicht. Ich genoss seine Nähe, seine Präsenz und seine weltgewandte Haltung; aus seiner Welt konnte ich mir holen, was ich in meiner eigenen nicht fand.
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Viele Frauen haben ein Problem mit ihrer Figur. Von allen Seiten wird ihnen eingeredet, sie seien zu dick. Sie versuchen, weniger zu essen, machen eine erste Diät, später eine zweite und dann die dritte. Vielleicht nehmen sie ab, vielleicht ist die Mühe auch umsonst. Auf jeden Fall lernt der Körper bald, mit dem Wenigen, das ihm gegönnt wird, hauszuhalten, und läuft nur noch auf Sparflamme. Und eines Tages schauen diese Frauen in den Spiegel und sehen sich so, wie sie vor der Hungerkur waren: zu dick.
Manche Frauen beschäftigen sich intensiver als andere mit ihrer Figur, ihrer Ernährung und ihrem Essverhalten. Ihre Gedanken und ihre gesamte Aufmerksamkeit drehen sich ums Essen und Hungern, ums Ab- und Zunehmen. Essstörungen gelten als die modernen Frauenkrankheiten. Wenn auch die Krankheitsbilder nicht neu sind - die Zahl der Frauen mit Essstörungen wächst ständig. Die Symptome sind unterschiedlich:
Die Magersucht (Anorexie) ist eine sehr auffällige Essstörung: Magersüchtige leugnen ihren Hunger und verweigern die Nahrung, so dass sie sichtbar abmagern; teilweise wird die Auszehrung lebensbedrohlich.
Der Magersucht diametral gegenüber steht die Fettsucht (Adipositas): Fettsüchtige Frauen essen viel und wiegen viel, teilweise überschreiten sie ihr Idealgewicht um 25 Prozent. Nur durch heroische Anstrengungen gelingt es ihnen, Fett abzubauen.
Noch anders verhält es sich mit der Esssucht, der Bulimie. Die betroffenen Frauen leiden unter Heißhungeranfällen, wobei sie enorme Mengen an Lebensmitteln verschlingen. Gleichzeitig sind sie bemüht, abzunehmen bzw. ihr Gewicht zu halten, weshalb sie immer wieder Diät leben oder hungern, exzessiv Sport treiben, Abführmittel nehmen und das Gegessene willentlich erbrechen. Dabei sind es in der Regel nur die Bulimikerinnen selbst, die ihren Körper als »zu fett« empfinden. Die Selbstwahrnehmung dieser Frauen ist verzerrt. Ihr Gewicht entspricht oft dem sogenannten Normalwert oder weicht nur geringfügig davon ab.
Etwa 300.000 Frauen in der Bundesrepublik Deutschland leiden unter Bulimie, schätzen derzeit Mediziner und Therapeuten. Weil die Betroffenen meist peinlich darauf achten, ihren unfassbaren Hunger vor der Umwelt zu verbergen, liegt die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher.
Wenn ich heute auf die Geschichte meiner Essstörung zurückblicke, staune ich darüber, wie lange ich in diesem Netz aus Sucht und Heimlichkeit gefangen war. Es dauerte Jahre, bis ich erkannte, dass nicht allein das Essen mein Problem ist, sondern dass Bulimie stets Ausdruck eines seelischen Konfliktes ist. Und dass genau darin die Chance liegt, die diese Krankheit in sich birgt.
Dieses Buch beschreibt die mühevolle Suche nach dem eigenen Ich. Sie ist für mich bis heute nicht beendet ...
Willkommen in meiner Welt
Ich fühlte, dass es Herbst wurde, und schloss den Kragen meines Trenchcoats. Die Stimmen der Kinder, die sich auf den Stufen vor der Kathedrale von Sacré Cœur zu akrobatischen Mutproben mit ihren Skateboards anfeuerten, verklangen hohl im nebligen Nachmittag.
Jean-Claude schwieg. So still hatte ich ihn nur einmal erlebt, an jenem Abend in New York, als bei einer Kunstauktion jemand »seinen« Brancusi ersteigert hatte, jenes Objekt des rumänischen Bildhauers, für dessen Erwerb er so hart gearbeitet hatte.
»Und das geht schon so, seit du bei mir bist?« Er zog an seiner Zigarette, ohne den Blick von seinen Schuhspitzen zu heben. Mit meiner Offenheit hatte ich ihn überrascht. Doch es schien ihm zu imponieren, mit welch klaren Worten ich über meinen Rückfall sprach. Seine Reaktion war positiver, als ich erwartet hatte.
In den vergangenen Wochen hatte ich häufig gereizt reagiert, und Jean-Claude erklärte sich meine Launen damit, dass ich kaum Folgeaufträge von den Magazinen bekam, für die ich schreiben wollte. Das stimmte, doch es war nur die halbe Wahrheit. Seit ich Jean-Claude vor drei Monaten von New York nach Paris gefolgt war, hatte ich heimlich mehrere Heißhungeranfälle gehabt. Ich musste mir eingestehen, dass ich immer noch süchtig war.
»Wann hat das alles begonnen, ich meine mit dieser Bulimie?« Jean-Claude wirkte etwas ratlos und unbeholfen.
Wie erklärt man einem Außenstehenden die hemmungslose Gier nach Essen und die panische Angst davor, dick zu werden. Die zur fixen Idee gewordene Sehnsucht nach einem schönen, schlanken Körper, jene unzähligen schweißtreibenden Gymnastikstunden und dann wieder die Momente, in denen man wie ein Industriestaubsauger Torten, süße Kekse, pikantes Olivenmus und Berge von Pasta in sich hineinschlingt - um sie umgehend wieder auszukotzen, heilfroh, dem Körper ein Schnippchen geschlagen zu haben, der so schnell kaum eine Kalorie der Nahrung hat aufnehmen können? Wie sollte ich Jean-Claude vermitteln, was es bedeutet, zwanghaft Diäten zu machen?
»Angefangen hat alles mit einer Joghurtdiät, als ich ungefähr zwölf Jahre alt war. «
Jean-Claude zog den rechten Mundwinkel nach oben, sein Zeichen, dass er verstand. Er lebte selbst manchmal nach einer Diät. Auch viele seiner Bekannten hielten sich ab und zu etwas zurück.
Ich löste die Hände vom Riemen meiner Umhängetasche und legte sie in meinen Schoß. Vor uns, auf der Rue Cardinal Dubois, rollten die Autos vorüber. Jean-Claude lehnte sich zurück und sah den Kindern zu; ein Junge mit Rollerblades übersprang ein Hindernis. Wo liegt also ihr Problem?, meinte ich, ihn denken zu hören. Ich begann zu erzählen. Jean-Claude hörte schweigend zu. Nur einmal unterbrach er mich, als ich beschrieb, dass ich an manchen Tagen bis zu acht Fressanfälle gehabt hatte.
»Wie schaffst du das? Ohne zuzunehmen?«
»Indem ich kotze.« Er verstand also doch nicht. Oder er hörte nicht zu. Ich wusste plötzlich nicht mehr, ob er mich überhaupt ernst nahm.
»Du erzählst von Stimmen, die dich zwingen zu essen, du sagst, du bist am Ende - bislang habe ich dich immer als eine Frau erlebt, die alles im Griff hat. «
»Hör mir zu, Jean-Claude.« Meine Stimme klang brüchig. »Ich bin nicht am Ende. Aber ich will so nicht weiterleben.«
Er würde mich für pervers halten. Er würde, wenn ich weiterredete, alles in Zweifel ziehen, mich, unsere Liebe. Es würde ihn verletzen zu hören, dass ich während seiner Vernissagen nicht auf die Bilder geachtet hatte, sondern darauf, dass niemand sah, wie viele Häppchen ich verdrückte. Dass ich bei der anschließenden Feier im Restaurant zuerst zur Toilette geeilt war, um mich zu übergeben. Und wenn ich ihm erzählte, wie sehr ich meinen Körper hasste, meinen fetten, ekelhaften Leib, würde er fragen, wie ich es ertrug, wenn er genau diesen Körper liebkoste. Ich würde auf diese Frage keine Antworten wissen.
Ich band mein Kopftuch um, im Nacken geknotet. Jean-Claude lächelte; er liebte es, mich so zu sehen. Wenn wir versuchten zu diskutieren, endete das oft mit Missverständnissen und Verstimmtheit auf beiden Seiten. Jean-Claude verlangte nach Fakten, um zu begreifen. Nach nüchternen Beschreibungen, die ich selten geben konnte. In mir herrschte immer ein Gefühlschaos, ich deutete eher an, blieb vage. Verlangte er dann weiterhin klare Aussagen, verletzte mich seine Schroffheit. Am Ende warf mir Jean-Claude in der Regel vor, ich würde ihn oder andere für meine Pro bleme verantwortlich machen.
Ich fand es sehr mutig von mir, das Wort »Bulimie« diesmal überhaupt ausgesprochen zu haben. Ich wollte mich mitteilen, wollte, dass er verstand. Ich wollte ihn einweihen, ihn einladen in meine bulimische Welt mit ihren Fressanfällen und den Aufenthalten auf der Toilette.
Jean-Claude berührte meinen Arm. Er zog mich zu sich hoch und führte mich die Treppen hinunter zu seinem Wagen.
»Ich habe den Kindern versprochen, sie heute noch zu besuchen. Am Wochenende werde ich keine Zeit haben - die Vorbereitungen für die neue Ausstellung sind aufwendig.«
Ich erhob mich, nickte und verstand. Wie immer. Das war unser stillschweigendes Übereinkommen.
Das Tier in mir lächelt nie. Es kennt kein Maß. Ein Brot. Ein Glas Marmelade. Es treibt zur Eile. Das Tier fordert sein Recht und will mehr.
Krümel auf dem Tisch. Lasagne. Zwei Brioche. Ein Stück Weichkäse, eingetunkt in orientalische Sauce. Ein Glas Abführtee. Der Magen bläht sich auf. Er ist ein Müllschlucker, ein Vakuum. Auf englisch heißt Staubsauger vacuum cleaner.
Sahne im Mundwinkel. Sanft rinnt sie hinab. Einbreien. Man muss alles einbreien, dann lässt sich das Mus besser auskotzen. Gleitet besser beim Hochwürgen. Pasta - Pasta eignet sich gut, und Sahne, und Butterbrot. Croissants. Ganz Paris ist voller Croissants. Vom ersten Moment an hatte ich in meinem Kopf ein Netz von Bäckereien errichtet. Bulimikerinnen denken strategisch.
Das asiatische Delikatessengeschäft an der Ecke. Immer freundlich, diese Menschen. Wundern sich nie über die Mengen von Glückskeksen, die diese Frau kauft. Lächeln bloß.
Sahne tropft. Die Torte ist weg, der Hunger lärmt. Hunger. Ein nicht zu füllendes Loch in meiner Seele.
Mit einem Kuss hatte Jean-Claude mich vor der Haustür verabschiedet.
»Bist du okay?« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Soll ich später noch einmal vorbeischauen?« Das war seine Art, einer Fortsetzung unseres Gesprächs aus dem Weg zu gehen. Er wusste, dass ich ihn nicht ertragen konnte, wenn er von einem Treffen mit seiner Ex-Frau kam. Normalerweise überhäuften sie sich gegenseitig mit Vorwürfen, zermürbten sich, und Jean-Claude war hinterher aufgewühlt und haltlos.
Ich schüttelte den Kopf. Sein Bemühen, sich aus der Affäre zu ziehen, kam mir ausnahmsweise gelegen.
An diesem Abend lag ich im Bett, neben mir eine Tasse dünnen Pfefferminztee, um die wiederkehrenden Magenkrämpfe zu lindern. Ich hatte den Moment verpasst, den Rückfall aufzuhalten, mich zu schützen. Die Ratschläge meiner Therapeutin waren ungehört verhallt, sie drangen nicht durch den Chor der Stimmen in meinem Kopf, die mich aufforderten zu essen. Trotzdem war es mir für einen Moment sehr, sehr gut ergangen.
Essen beruhigt. Als ich alles aufaß, was ich in der Küche fand, plagten mich keine Gewissensbisse. Ich war frei von jedem Verantwortungsgefühl, frei von dem Druck, stets überlegt handeln zu müssen, berechenbar und vernünftig zu sein. Ich genoss diese innere Ruhe. Für niemanden musste ich Geduld aufbringen, niemanden wollte ich beeindrucken. Ich aß nur. Im Hintergrund liefen die Fernsehnachrichten.
Anschließend erbrach ich mich. Dann putzte ich die Toilette, beseitigte alle Spuren und hängte einen neuen Duftstein auf. Ich ging unter die Dusche. Die vorangegangene Stunde meines Lebens versickerte still in der städtischen Kanalisation.
Als ich Paula, meiner Therapeutin, eines Nachmittags in ihrer New Yorker Praxis erzählt hatte, dass ich zu Jean-Claude nach Paris ziehen wollte, tat sie nichts, um mich davon abzuhalten.
Sie warnte mich nur: »Vielleicht werden die ersten Eindrücke in einer neuen Stadt deine Sucht eine Weile über decken. Aber deinen krankhaften Mechanismus nimmst du mit. Unterschätze ihn nicht.«
Ungläubig hatte ich Paulas Worte beiseitegewischt. Nach zwölf zunächst magersüchtigen und später bulimischen Jahren blickte ich damals optimistisch in die Zukunft. Ich war mir sicher, so weit geheilt zu sein, dass ich ein normales Leben würde führen können. In Paris wartete ein Mann auf mich, der mich liebte, dem ich mich verwandt fühlte, dessen charismatische Art mich anzog und bei dem ich mich geborgen fühlte. Jean-Claude war - auch wegen seines Alters, er war fast 5 0 - manchmal wie ein Vater für mich. Wir teilten ein gemeinsames Interesse an moderner Kunst, und ich würde in seiner Galerie im Künstlerviertel Marais halbtags aushelfen; so war es abgemacht. Darüber hinaus schmiedete ich eigene Pläne: Ich wollte Journalistin werden und hatte bereits einige Artikel für verschiedene Zeitungen und Magazine in meiner Heimat Österreich geschrieben.
Und jetzt fand ich mich vor dem Kühlschrank wieder. Alles war anders, als ich es mir ausgemalt hatte. Ich verschlang cremige Torten und dick belegte Brote und sah mir dabei zu, wie ich meine Umgebung belog und betrog bei dem Versuch, meine exzessiven Fressanfälle zu verheimlichen. Gebannt starrte ich auf den Zeiger der Waage und wurde panisch. Ich war unruhig, unzufrieden, unausgeglichen, ich wusste nichts mit mir anzufangen. Die Tage troffen träge dahin wie dicke Soße, der Sprachkurs schleppte sich von einer Stunde zur nächsten. Jean-Claude war unterdessen sehr beschäftigt - seine Kinder, die Galerie, alles hatte Priorität. Und ich - ich aß und kotzte für mein Seelenheil. Wie in alten Tagen versuchte ich, die empfindliche Balance zwischen meinem Bedürfnis nach innerer Ruhe und dem Wunsch nach einer schlanken Figur zu halten - schlang hinunter, würgte hoch.
Das Telefon klingelte.
»Salut!« Jean-Claude lud mich ins Kino ein. »Sie zeigen einen Film von Roman Polanski, und ich kann mir heute Abend freinehmen.«
»Mmh, schön, ja ...«
»Hast du bereits etwas vor? «
»Nein, nein, ich habe noch nichts vor ...«
»Also dann: um sieben Uhr an der Metrostation Opéra, wie immer. Ich freue mich. Küsschen!«
Es klickte in der Leitung, er hatte aufgelegt. Sieben Uhr - das war in einer Stunde. Vor einer Dreiviertelstunde hatte ich in der nahe gelegenen Bäckerei eingekauft und es mir mit fünf Croissants und zwei Hefezöpfen an dem kleinen Tisch im Wohnzimmer neben der geöffneten Balkontür gemütlich gemacht. Unten spielten die Kinder, während ich im Licht der untergehenden Sonne Essen in meine leere Seele stopfte.
Ich hatte bisher noch nicht einmal gekotzt. All das weiche, weiße Brot blähte sich in meinem Bauch. Meine satte Zufriedenheit schlug plötzlich in Panik um. Wie von einem für solche Fälle genetisch vorgesehenen Instinkt gesteuert, schaltete mein Hirn auf »Notprogramm«: Zuerst kotzen! Die Ringe unter meinen Augen vom Würgen würden sicher zwei Stunden brauchen, um abzuklingen - also Pfefferminzteekompressen vorbereiten. Und duschen, bloß nicht nach Erbrochenem riechen. Parfüm! Und was ziehe ich an? Gehen wir nur ins Kino oder treffen wir anschließend noch Bekannte? Wenn ja, wo? Im Bistro. Dann reicht die Jeans. Im Restaurant, da müsste es schon ein Kleid sein. Doch die meisten meiner Kleider passen nicht mehr, sie spannen um die Hüften. Das Bouclékostüm, ja, das ginge.
In dieser Hektik half mir meine jahrelange Routine. Punkt sieben stieg ich aus der Metro.
»Salut.« Jean-Claude lehnte an einem Geländer, unter dem Arm seine braune Kalbsledertasche. Er war direkt aus der Galerie gekommen. »Was ist, gibst du mir keinen Kuss?«
»Doch.« Flüchtig streifte ich seine Wange.
Der Film war verwirrend, die Handlung abstrus, die Untertitel irritierend. Zudem hatte ich ständig Angst, Jean-Claude könnte irgendwie bemerken, dass ich vor einer guten Stunde noch über der Toilette gehangen hatte. Seit dem missglückten ersten Versuch auf den Stufen von Sacré Cœur hatten wir noch ein paarmal über meine Bulimie gesprochen. Trotzdem konnte ich nicht einschätzen, wie er reagieren würde, wenn er wüsste, dass ich vor zwei Stunden noch in einem süßen semmelbraunen Weißbrotrausch geschwelgt hatte. Hoffentlich war mein Parfüm nicht zu aufdringlich.
»Na, wie hat dir der Film gefallen? Sag nicht, das Beste sei der nackte Oberkörper des Tänzers gewesen.« Jean-Claude lachte. Aber mir war nicht nach Scherzen. Ich schwieg.
»Wie auch immer. Hast du schon gegessen? Ich kenne ein Bistro in der Nähe. Warte hier, ich hole schnell den Wagen.«
Ich war ihm dankbar für die kleine Pause. Im Schaufenster eines Schuhgeschäftes kontrollierte ich meine Aufmachung. Erleichtert stellte ich fest, dass es so schlecht gar nicht um mich stand. Lange Beine, die Füße in eleganten Pumps, das Bouclékostüm. Besser, als ich gedacht hatte. Sehr ladylike. Und darauf legte Jean-Claude großen Wert. Er stammte aus einer reichen Familie, in der man ein großes Standesbewusstsein hatte und erheblichen Wert auf die äußere Erscheinung legte. Außerdem war er Macho genug, um eine »richtige Frau« an seiner Seite zu wollen; ich hatte alle Freiheiten, solange ich mich hübsch zurechtmachte.
Der dunkelgrüne Oldtimer bog um die Ecke, und ich ließ meinen Lippenstift in der Handtasche verschwinden. Jean-Claude stieg aus und öffnete mir die Beifahrertür. Lachend und mit gekonntem Schwung ließ ich mich auf den weichen Ledersitz gleiten. Ich war wieder die Frau, in die er sich verliebt hatte. Feminin, fröhlich, selbstbewusst.
Im Restaurant bestellte ich Salat und ein Pfirsichsorbet. Jean-Claude erzählte vom Geschäft. Die letzten Bilder für die bevorstehende Ausstellung waren eingetroffen. Ich hörte zu und stach die Gabel in ein Blatt Chicorée. Ich aß langsam, ohne ein Zeichen von Hektik. Nicht die kleinste Geste verriet meine heimliche Perversion. Ich lächelte, nippte am Wein und betrachtete aufmerksam Jean-Claudes Gesicht. Ich genoss seine Nähe, seine Präsenz und seine weltgewandte Haltung; aus seiner Welt konnte ich mir holen, was ich in meiner eigenen nicht fand.
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Vera Tomsche
- 192 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863651642
- ISBN-13: 9783863651640
Kommentare zu "Meine hungernde Seele"
0 Gebrauchte Artikel zu „Meine hungernde Seele“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
3.5 von 5 Sternen
5 Sterne 1Schreiben Sie einen Kommentar zu "Meine hungernde Seele".
Kommentar verfassen