Meine kaukasische Schwiegermutter
In Borodinowka an der Steppenstraße lebt die Schwiegermutter von Wladimir Kaminer. Von ihnen erzählt Kaminer so hinreißend, dass sie einem sofort ans Herz wachsen. Als dann auch noch das deutsche Fernsehen kommt, steht Borodinowka Kopf.
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Produktinformationen zu „Meine kaukasische Schwiegermutter “
In Borodinowka an der Steppenstraße lebt die Schwiegermutter von Wladimir Kaminer. Von ihnen erzählt Kaminer so hinreißend, dass sie einem sofort ans Herz wachsen. Als dann auch noch das deutsche Fernsehen kommt, steht Borodinowka Kopf.
"Wie gewohnt zeichnet sich auch das neueste Buch vor allem durch die leidenschaftliche Sprache und scharfen Beobachtungen des Schreibenden aus." -- Bremer
Lese-Probe zu „Meine kaukasische Schwiegermutter “
Meine kaukasische Schwiegermutter von Wladimir KaminerFÜR IMMER JUNG:
MEINE SCHWIEGERMUTTER UND MICK JAGGER
Im Juli hatte meine Schwiegermutter Geburtstag. Siebenundsechzig Jahre ist sie geworden. Sie wohnt
im Nordkaukasus auf einer ehemaligen Rinderfarm, auf der es aber schon seit Jahren keine Rinder mehr gibt. Hier haben sich Kosaken aus Tschetschenien eingenistet, die 1992 aus Grosny geflüchtet waren, als dort der tschetschenische Aufstand ausbrach. Kosakenfamilien halten traditionell eng zusammen, und so hatten sie in kürzester Zeit auf dem verlassenen Farmgelände Häuser gebaut, die Wasserleitungen repariert und sogar Strom von der nahegelegenen Eisen bahn linie abgezweigt. Sie pflanzten Tomaten, Kartoffeln und Wassermelonen an und besorgten sich Hühner sowie ein paar Schweine. Mittlerweile leben die Grosnyer Kosaken im Nordkaukasus wie die Götter in Frankreich. Die einheimischen Säufer im Dorf nebenan sind blass vor Neid. Sie hatten nie eine funktionierende Wasserleitung und Strom sowieso nicht. Deswegen nennen sie die Kosakensiedlung jetzt »Judenfarm«.
Meine Schwiegermutter ist Witwe, ihr Mann war noch in Grosny an Herzversagen gestorben. Aber auch allein kommt sie gut mit ihrem Riesengarten zurecht. Im Winter, wenn sie nichts zu tun hat, fährt sie nach Berlin, um uns und ihre Enkel zu besuchen. Im Som mer schuftet sie jeden Tag von früh bis spät auf ihrem Grundstück. Deswegen hatten wir bisher noch nie Gelegenheit, ihren Geburtstag zusammen zu feiern. Doch dieses Jahr hat sie eine Ausnahme gemacht.
»Ich pfeif’ auf die Tomaten«, sagte sie sich, »und auf die Kartoffeln ebenso, man lebt schließlich nur einmal.«
Also kam meine Schwiegermutter im Juni nach Deutschland. Zu ihrem Geburtstag kochte sie viele leckere Sachen. Wir tranken selbst gemachten Wein, den sie mitgebracht hatte, und sangen bei uns in der
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Küche Kosakenlieder. Der Wein aus dem Nordkaukasus ist ein besonderes Getränk – durchsichtig wie Wasser und stark wie Wodka. Man bekommt von ihm schnell weiche Knie, behält aber einen klaren Kopf.
Meine Schwiegermutter hat eine wunderbare Stimme, aus ihr hätte eine tolle Sängerin werden können. Aber in Grosny gab es solche Ausbildungsstätten nicht, nur ein Öl- und Gas-Institut. Des wegen ist sie Geologin geworden. An ihrem Geburtstag liefen im Rundfunk den ganzen Tag Stücke von den Rolling Stones. Das war kein Zufall. Mick Jagger hat nämlich am selben Tag wie meine Schwiegermutter Geburtstag. Genau wie sie wurde er am 26. Juli 1943 geboren – ich war erstaunt: Der alte Sack kam tatsächlich zusammen mit meiner Schwiegermutter zur Welt, sie in Grosny, er in Dartford. Und beide singen gern. Das ist ganz sicher kein Zufall. Die moderne Wissenschaft be hauptet ja sowieso: Es gibt keine Zufälle. Alles, was mit uns geschieht, hat einen tieferen Sinn. Vielleicht bin ich da einer neuen Theorie auf die Schliche gekommen, die uns das Geheimnis ewiger Jugend erklärt?
Meine Schwiegermutter und Mick Jagger – die beiden haben vielleicht noch viel mehr Gemeinsamkeiten. Ich schlug die Autobiographie von Mick Jagger auf, um mehr über ihn zu erfahren: Er ging zur Schule – meine Schwiegermutter auch. Für Musik interessierte sich Mick Jagger lange Zeit nicht, Elvis Presley und Little Richard ließen ihn kalt. Nur ein Konzert von Buddy Holly im Jahr 1958 erregte seine Aufmerksamkeit. Meine Schwiegermutter weiß bis heute nicht, wer das ist. Mick trieb gern Sport, er spielte Basketball. Als meine Schwiegermutter zur Schule ging, war die angesagteste Sportart in Grosny das Schweinereiten. Alle Kinder veranstalteten nach der Schule Schweine-Rodeos. Wer sich auf dem Rücken eines Schweins halten und auf ihm die Straße überqueren konnte, hatte gewonnen. Bei diesen Wett bewerben war meine Schwiegermutter nicht die Schlechteste. Obwohl eher klein, hielt sie sich dabei an den Ohren der Tiere fest.
Für Musik interessierte sie sich damals nicht, stattdessen ging sie mit ihren Freundinnen gerne in das einzige Eiscafé der Stadt, Café Minütchen auf dem Platz des Sieges in Grosny. In Dartford gab es eine solche Einrichtung anscheinend nicht, des wegen hing Mick Jagger mit seinem Kumpel Keith Richard im mer am Dartforder Bahnhof herum, wie man seiner Autobiographie entnehmen kann. Er träumte damals noch nicht von einer Karriere als Musiker, ebenso wenig wie meine Schwiegermutter. Als Mick mit der Schule fertig war, studierte er an der London School of Economics. Jeden Tag fuhr er mit dem Zug zu seinen Vorlesungen, meine Schwiegermutter ging dagegen zu Fuß zu ihrem Öl- und Gas-Institut. Etwa 1961 fingen beide an, in der Öffentlichkeit zu singen, ohne sich vorher ab gesprochen zu haben: Meine Schwiegermutter sang im Chor des Öl- und Gas-Instituts auf der großen Bühne des Kulturklubs russische Volkslieder. Mick Jagger trat in den zahlreichen Klubs in und um London mit englischen Songs auf.
Was geschah mit den beiden danach? Meine Schwiegermutter heiratete und fuhr mit ihrem Mann zusammen nach Sachalin, wo die beiden fünfundzwanzig Jahre lang als Geologen nach Öl und anderen Bodenschätzen suchten. Erst als Frührentner kehrten sie 1990 in ihre Heimatstadt Grosny zurück. Sie kauften sich ein Häuschen in der Stadt, nicht weit vom zentralen Platz des Sieges entfernt. Ein Jahr später brach der Aufstand aus. Die Panzer der sowjetischen Armee rückten in die Stadt vor und wurden von den tschetschenischen Partisanen mit Stinger-Raketen außer Gefecht gesetzt. Der Mann meiner Schwiegermutter starb, und sie musste ihr Haus mit seiner alten Jagdflinte mehrmals allein gegen die Rebellen verteidigen. Inzwischen weiß alle Welt, dass eine reguläre Armee im Kampf gegen Partisanen keine Chance hat. Auch dieser Krieg endete also mit einer Niederlage der Russen. Ihr letztes Bollwerk, das Eiscafé Minütchen auf dem Platz des Sieges, wurde von den tschetschenischen Rebellen eingekesselt. Dort befand sich der Stab von General Elisarow, dem Führer des russischen Marineregiments, dem man wegen seiner Rücksichtslosigkeit den Spitznamen »Schwarzer Tiger« gegeben hatte. Seine Offiziere hatten das Eiscafé in eine Festung verwandelt. Drei Tage hintereinander versuchten die Rebellen, sie zu stürmen – vergeblich. Ihre Leichen bedeckten den Platz des Sieges. Doch dann ging den Russen die Munition aus. Der »Schwarze Tiger« schoss sich eine Kugel in den Kopf. Meine Schwiegermutter flüchtete zusammen mit fünf anderen russischen Familien über die Grenze und ließ sich auf der erwähnten Farm nieder. Jedes Mal, wenn die Kosaken dort ein Fest feiern, bitten sie meine Schwiegermutter, für den Gesang zu sorgen.
Mick Jagger hat in der Zeit auch nicht geschlafen. Er wurde professioneller Sänger, gründete die Band Rolling Stones, wurde damit weltberühmt und heiratete mehrmals. Auch nach vierzig Jahren tritt er noch auf allen möglichen Bühnen auf. In einem goldenen Anzug singt und tanzt und springt er wie ein Teenager herum. Genau wie meine Schwiegermutter wird auch er einfach nicht alt.
Die russische Volkspost
Als ich heiratete, merkte ich, dass die Familie mei - ner Frau viel komplizierter gestrickt war als
meine. Diese Familie war viel größer und dehnte sich geographisch über zehntausende von Kilometer aus – nach Süden und Norden über die ganze ehemalige Sowjetunion. Die Mitglieder hielten immer zusammen, selbst wenn sie einander kaum verstanden. Im neunzehnten Jahrhundert war die Familie wahrscheinlich noch größer gewesen. Als ich sie kennenlernte, sah der aktuelle Stand folgendermaßen aus: Im Zentrum der Familie stand Wassa Petrowna, die Großmutter meiner Frau. Sie hatte zwei Mal geheiratet, einmal vor und einmal nach dem Krieg, nachdem ihr erster Mann gefallen war. Den zwei Ehen entstammten drei Töchter und ein Sohn. Die älteste Tochter, Anastasia, heiratete ebenfalls zwei Mal, zuerst einen Traktoristen und dann einen Jongleur aus einem Wanderzirkus. Sie bekam zwei Kinder. Ihr Sohn kam sehr früh vom rechten Weg ab und saß zwei Mal wegen missglückter Raubüberfälle im Knast. Später bereute er seine kriminelle Karriere zwar, konnte sich aber trotzdem keinen anderen Job vorstellen. Wir haben uns einmal bei einer Familienfeier kennengelernt. Der Mann stand nüchtern und leise auf dem Hof vor dem Grill und starrte ins Feuer, während die anderen am Tisch Lieder sangen.
»Tolle Uhr!«, sagte meine Frau zu ihm und zeigte auf seine Armbanduhr, eine Rolex.
»Kannst du haben«, erwiderte er und krempelte die Ärmel hoch. Am Arm trug er noch zehn weitere Uhren. Außer Uhren hatte er noch eine Frau und ein Kind in Weißrussland. Die Frau hatte er während seiner Knast-zeit kennengelernt. Noch während er einsaß, bekam er einen Brief von einer Unbekannten. Die Frau fühlte sich in der Freiheit wie im Gefängnis und wollte einem richtigen Knacki Briefe schreiben. Sie schrieben einander fünf Jahre lang, und sie wartete auf ihn, bis er entlassen wurde. Dann heirateten die beiden, aber die Romantik war inzwischen verflogen. Ohne Briefe funktionierte ihre Beziehung nicht.
Die Tochter von Anastasia heiratete das erste Mal ebenfalls unglücklich, bekam ein Kind und wollte ihre Heimatstadt Grosny so schnell wie möglich verlassen. Sie fuhr nach Lettland zu meiner Frau, die damals dort studierte, und wohnte mit ihr in einem winzigen Zimmerchen unter unmöglichen Bedingungen. Sie arbeitete auf einer Baustelle, sang in ihrer Freizeit im Kirchenchor, lernte dort einen Soziologieprofessor kennen und heiratete ihn. Ihr Kind aus erster Ehe wuchs zu einem sehr hübschen Jungen heran, der später eine Tochter aus reichem Haus heiratete. Ihre Familie war der größte Wodkaproduzent Lettlands. Er studierte internationales Recht und arbeitete dann zusammen mit seiner Frau in Washington bei der UNO.
Die mittlere Tochter von Wassa Petrowna studierte in Grosny zusammen mit ihrer jüngeren Schwester, meiner späteren Schwiegermutter, »geologische Schürf - arbeit« im dortigen Öl- und Gas-Institut. Nach dem Studium ging sie nach Sachalin, wo man als Geologe das beste Gehalt bekam, und holte zwei Jahre später meine Schwiegermutter nach. Auf Sachalin heirateten die beiden Schwestern schnurrbärtige Geologen, der eine kam aus Leningrad, der andere aus einem Vorort von Wladiwostok. Wegen der schwierigen Wetterbedingungen zählte auf Sachalin ein Arbeitsjahr für zwei. Man konnte also theoretisch schon mit fünfzig in Rente gehen. Urlaube waren allerdings ein Problem. Wegen der großen Entfernung lohnte es sich nicht, jedes Jahr für zwei Wochen Urlaub in Richtung Sonne zu fahren. Beide Wochen brauchte man eigentlich allein für den Hin- und Rückweg. Deswegen sparten die Sachalinbewohner ihre Urlaubstage an und sammelten Urlaubszeit, wie man anderswo Briefmarken sammelt. Und für ein paar zusätzliche Urlaubstage spendeten sie sogar regelmäßig Blut. Für dreihundert Milliliter Blut bekam man nämlich nicht nur einen Schein für ein Mittagessen im Restaurant, es gab auch zwei Tage zusätzlichen Urlaub.
Mit fünfzig verließen die meisten Geologen die Insel. Die Familie der mittleren Schwester zog mit ihrem Mann und den zwei Söhnen nach St. Petersburg, die Familie meiner Schwiegermutter ging nach Grosny zurück. Der einzige Sohn der Urmutter Wassa Petrowna – Georgij Ivanowitsch – ging nirgendwohin. Er blieb die ganze Zeit bei seiner Mutter, was ihn aber nicht daran hinderte, zwei Mal in Grosny zu heiraten – einmal unglücklich und einmal glücklich – und Vater von zwei Töchtern zu werden, die inzwischen auch eine Art Familie haben: Die eine hat einen Mann und die andere ein Kind.
Diese Kurzfassung des Familienstammbaums beschreibt nur einen Teil der Sippe. Viele Verwandte, die Brüder der Ehemänner, die Kinder der Kinder und eine Unmenge von Haustieren, zu denen unter anderem Igel, Füchse und Papageien zählen, konnte ich in dieser Beschreibung nicht berücksichtigen. Zahlreiche Familienmitglieder kenne ich bis heute nicht. Doch eines war mir sofort klar, dass ich es hier mit einer kompliziert gebauten Arche Noah zu tun hatte. Meine eigene Moskauer Familie, die aus drei Menschen und einer Katze bestand, wirkte im Vergleich zur Sippe meiner Frau wie ein Nussknacker gegen einen Eisbrecher. Die Großfamilie funktionierte tatsächlich wie ein Rettungsschiff. Alle, die dazugehörten, zogen einander gegenseitig hoch, und sie hatten immer auch klare Vorstellungen und Konzepte zur Lösung alltäglicher Probleme. Der Wohlstand der Familie erwuchs aus sehr unterschiedlichen Quellen: Die Arbeit auf ei ner staatlichen Baustelle half beim Bau eigener Häuser, und die Arbeit auf Sachalin, wo es zwar viel Geld, aber nichts zu kaufen gab, stärkte die Kaufkraft der Familie in Grosny, wo es umgekehrt kein Geld, aber viel zu kaufen gab.
Dieser Zusammenhalt, der bis heute gut funktioniert, beeindruckte mich sehr. In Berlin und auch früher in Moskau wohnten die Menschen lose nebeneinanderher. Irgendjemand mit irgendjemandem. Man konnte nur rätseln, was diese Menschen verband – eigentlich nichts außer der Sprache und dem Fernsehen. Die Familie meiner Frau dagegen ist wie ein lebendiger Organismus, der sich unaufhörlich weiterentwickelt. Inzwischen hat der Organismus seine Filialen in Berlin, Washington und Riga. Die Zentrale bleibt nach wie vor im Nordkaukasus auf der ehemaligen Rinderfarm Nummer 5 in der Steppenstraße. Dort wurde vor einem Jahr das jüngste Mitglied der Familie, die Enkeltochter von Onkel Joe, geboren: Baby Sonja. Für Baby Sonja und zwei andere Kinder im Dorf schicken wir von Berlin aus regelmäßig große Pakete mit Kindersachen. Unsere zwei Kinder wachsen nämlich so schnell, dass sie die meisten coolen Klamotten, die wir ihnen kaufen, immer nur kurze Zeit tragen können.
Für diese Postsendungen nutzen wir nicht die Deut sche Post. Auch die russische Post kommt nicht in Frage. Die Adresse von Baby Sonja ist zu kompliziert, die Farm liegt abseits von der kaukasischen Zivi lisation, und man erreicht sie die meiste Zeit des Jahres nur mit dem Traktor. Dazu muss man auch noch über einen Berg fahren und an der richtigen, unauffälligen und nicht ausgeschilderten Stelle rechts abbiegen, sonst fällt man mit dem Traktor in die ehemalige Baugrube des Pferdekombinats. Solche Adressen kann man keiner staatlichen Post anvertrauen. Für unsere Kindersachenpakete heuern wir daher die sogenannte russische Volkspost an. Mit ihr dauert es zwar länger, ist aber sicher, und die Sachen kommen immer an.
Die russische Volkspost funktioniert wie die Familien-Arche nach dem Prinzip der gegenseitigen Solidarität. Ich weiß nicht, seit wann es die russische Volkspost in Deutschland gibt. Ich glaube, es hat sie schon immer hier gegeben. Sobald ein dritter Russe deutschen Boden betrat, wollte der zweite zurück, und der erste wollte mit dem zweiten etwas zu seinen Verwandten nach Hause schicken. Die russische Volkspost ist eine typische Emigrantenvereinigung, in der man einander hilft. Es gibt in Deutschland bestimmt auch eine türkische und eine vietnamesische Volkspost. Die ganze Welt besteht doch aus schwer zugänglichen Ecken, die die staatliche Post nicht erreicht. Aber ich selbst kenne nur die russische Variante. Sie funktioniert so:
…
Copyright © dieser Ausgabe 2010
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Meine Schwiegermutter hat eine wunderbare Stimme, aus ihr hätte eine tolle Sängerin werden können. Aber in Grosny gab es solche Ausbildungsstätten nicht, nur ein Öl- und Gas-Institut. Des wegen ist sie Geologin geworden. An ihrem Geburtstag liefen im Rundfunk den ganzen Tag Stücke von den Rolling Stones. Das war kein Zufall. Mick Jagger hat nämlich am selben Tag wie meine Schwiegermutter Geburtstag. Genau wie sie wurde er am 26. Juli 1943 geboren – ich war erstaunt: Der alte Sack kam tatsächlich zusammen mit meiner Schwiegermutter zur Welt, sie in Grosny, er in Dartford. Und beide singen gern. Das ist ganz sicher kein Zufall. Die moderne Wissenschaft be hauptet ja sowieso: Es gibt keine Zufälle. Alles, was mit uns geschieht, hat einen tieferen Sinn. Vielleicht bin ich da einer neuen Theorie auf die Schliche gekommen, die uns das Geheimnis ewiger Jugend erklärt?
Meine Schwiegermutter und Mick Jagger – die beiden haben vielleicht noch viel mehr Gemeinsamkeiten. Ich schlug die Autobiographie von Mick Jagger auf, um mehr über ihn zu erfahren: Er ging zur Schule – meine Schwiegermutter auch. Für Musik interessierte sich Mick Jagger lange Zeit nicht, Elvis Presley und Little Richard ließen ihn kalt. Nur ein Konzert von Buddy Holly im Jahr 1958 erregte seine Aufmerksamkeit. Meine Schwiegermutter weiß bis heute nicht, wer das ist. Mick trieb gern Sport, er spielte Basketball. Als meine Schwiegermutter zur Schule ging, war die angesagteste Sportart in Grosny das Schweinereiten. Alle Kinder veranstalteten nach der Schule Schweine-Rodeos. Wer sich auf dem Rücken eines Schweins halten und auf ihm die Straße überqueren konnte, hatte gewonnen. Bei diesen Wett bewerben war meine Schwiegermutter nicht die Schlechteste. Obwohl eher klein, hielt sie sich dabei an den Ohren der Tiere fest.
Für Musik interessierte sie sich damals nicht, stattdessen ging sie mit ihren Freundinnen gerne in das einzige Eiscafé der Stadt, Café Minütchen auf dem Platz des Sieges in Grosny. In Dartford gab es eine solche Einrichtung anscheinend nicht, des wegen hing Mick Jagger mit seinem Kumpel Keith Richard im mer am Dartforder Bahnhof herum, wie man seiner Autobiographie entnehmen kann. Er träumte damals noch nicht von einer Karriere als Musiker, ebenso wenig wie meine Schwiegermutter. Als Mick mit der Schule fertig war, studierte er an der London School of Economics. Jeden Tag fuhr er mit dem Zug zu seinen Vorlesungen, meine Schwiegermutter ging dagegen zu Fuß zu ihrem Öl- und Gas-Institut. Etwa 1961 fingen beide an, in der Öffentlichkeit zu singen, ohne sich vorher ab gesprochen zu haben: Meine Schwiegermutter sang im Chor des Öl- und Gas-Instituts auf der großen Bühne des Kulturklubs russische Volkslieder. Mick Jagger trat in den zahlreichen Klubs in und um London mit englischen Songs auf.
Was geschah mit den beiden danach? Meine Schwiegermutter heiratete und fuhr mit ihrem Mann zusammen nach Sachalin, wo die beiden fünfundzwanzig Jahre lang als Geologen nach Öl und anderen Bodenschätzen suchten. Erst als Frührentner kehrten sie 1990 in ihre Heimatstadt Grosny zurück. Sie kauften sich ein Häuschen in der Stadt, nicht weit vom zentralen Platz des Sieges entfernt. Ein Jahr später brach der Aufstand aus. Die Panzer der sowjetischen Armee rückten in die Stadt vor und wurden von den tschetschenischen Partisanen mit Stinger-Raketen außer Gefecht gesetzt. Der Mann meiner Schwiegermutter starb, und sie musste ihr Haus mit seiner alten Jagdflinte mehrmals allein gegen die Rebellen verteidigen. Inzwischen weiß alle Welt, dass eine reguläre Armee im Kampf gegen Partisanen keine Chance hat. Auch dieser Krieg endete also mit einer Niederlage der Russen. Ihr letztes Bollwerk, das Eiscafé Minütchen auf dem Platz des Sieges, wurde von den tschetschenischen Rebellen eingekesselt. Dort befand sich der Stab von General Elisarow, dem Führer des russischen Marineregiments, dem man wegen seiner Rücksichtslosigkeit den Spitznamen »Schwarzer Tiger« gegeben hatte. Seine Offiziere hatten das Eiscafé in eine Festung verwandelt. Drei Tage hintereinander versuchten die Rebellen, sie zu stürmen – vergeblich. Ihre Leichen bedeckten den Platz des Sieges. Doch dann ging den Russen die Munition aus. Der »Schwarze Tiger« schoss sich eine Kugel in den Kopf. Meine Schwiegermutter flüchtete zusammen mit fünf anderen russischen Familien über die Grenze und ließ sich auf der erwähnten Farm nieder. Jedes Mal, wenn die Kosaken dort ein Fest feiern, bitten sie meine Schwiegermutter, für den Gesang zu sorgen.
Mick Jagger hat in der Zeit auch nicht geschlafen. Er wurde professioneller Sänger, gründete die Band Rolling Stones, wurde damit weltberühmt und heiratete mehrmals. Auch nach vierzig Jahren tritt er noch auf allen möglichen Bühnen auf. In einem goldenen Anzug singt und tanzt und springt er wie ein Teenager herum. Genau wie meine Schwiegermutter wird auch er einfach nicht alt.
Die russische Volkspost
Als ich heiratete, merkte ich, dass die Familie mei - ner Frau viel komplizierter gestrickt war als
meine. Diese Familie war viel größer und dehnte sich geographisch über zehntausende von Kilometer aus – nach Süden und Norden über die ganze ehemalige Sowjetunion. Die Mitglieder hielten immer zusammen, selbst wenn sie einander kaum verstanden. Im neunzehnten Jahrhundert war die Familie wahrscheinlich noch größer gewesen. Als ich sie kennenlernte, sah der aktuelle Stand folgendermaßen aus: Im Zentrum der Familie stand Wassa Petrowna, die Großmutter meiner Frau. Sie hatte zwei Mal geheiratet, einmal vor und einmal nach dem Krieg, nachdem ihr erster Mann gefallen war. Den zwei Ehen entstammten drei Töchter und ein Sohn. Die älteste Tochter, Anastasia, heiratete ebenfalls zwei Mal, zuerst einen Traktoristen und dann einen Jongleur aus einem Wanderzirkus. Sie bekam zwei Kinder. Ihr Sohn kam sehr früh vom rechten Weg ab und saß zwei Mal wegen missglückter Raubüberfälle im Knast. Später bereute er seine kriminelle Karriere zwar, konnte sich aber trotzdem keinen anderen Job vorstellen. Wir haben uns einmal bei einer Familienfeier kennengelernt. Der Mann stand nüchtern und leise auf dem Hof vor dem Grill und starrte ins Feuer, während die anderen am Tisch Lieder sangen.
»Tolle Uhr!«, sagte meine Frau zu ihm und zeigte auf seine Armbanduhr, eine Rolex.
»Kannst du haben«, erwiderte er und krempelte die Ärmel hoch. Am Arm trug er noch zehn weitere Uhren. Außer Uhren hatte er noch eine Frau und ein Kind in Weißrussland. Die Frau hatte er während seiner Knast-zeit kennengelernt. Noch während er einsaß, bekam er einen Brief von einer Unbekannten. Die Frau fühlte sich in der Freiheit wie im Gefängnis und wollte einem richtigen Knacki Briefe schreiben. Sie schrieben einander fünf Jahre lang, und sie wartete auf ihn, bis er entlassen wurde. Dann heirateten die beiden, aber die Romantik war inzwischen verflogen. Ohne Briefe funktionierte ihre Beziehung nicht.
Die Tochter von Anastasia heiratete das erste Mal ebenfalls unglücklich, bekam ein Kind und wollte ihre Heimatstadt Grosny so schnell wie möglich verlassen. Sie fuhr nach Lettland zu meiner Frau, die damals dort studierte, und wohnte mit ihr in einem winzigen Zimmerchen unter unmöglichen Bedingungen. Sie arbeitete auf einer Baustelle, sang in ihrer Freizeit im Kirchenchor, lernte dort einen Soziologieprofessor kennen und heiratete ihn. Ihr Kind aus erster Ehe wuchs zu einem sehr hübschen Jungen heran, der später eine Tochter aus reichem Haus heiratete. Ihre Familie war der größte Wodkaproduzent Lettlands. Er studierte internationales Recht und arbeitete dann zusammen mit seiner Frau in Washington bei der UNO.
Die mittlere Tochter von Wassa Petrowna studierte in Grosny zusammen mit ihrer jüngeren Schwester, meiner späteren Schwiegermutter, »geologische Schürf - arbeit« im dortigen Öl- und Gas-Institut. Nach dem Studium ging sie nach Sachalin, wo man als Geologe das beste Gehalt bekam, und holte zwei Jahre später meine Schwiegermutter nach. Auf Sachalin heirateten die beiden Schwestern schnurrbärtige Geologen, der eine kam aus Leningrad, der andere aus einem Vorort von Wladiwostok. Wegen der schwierigen Wetterbedingungen zählte auf Sachalin ein Arbeitsjahr für zwei. Man konnte also theoretisch schon mit fünfzig in Rente gehen. Urlaube waren allerdings ein Problem. Wegen der großen Entfernung lohnte es sich nicht, jedes Jahr für zwei Wochen Urlaub in Richtung Sonne zu fahren. Beide Wochen brauchte man eigentlich allein für den Hin- und Rückweg. Deswegen sparten die Sachalinbewohner ihre Urlaubstage an und sammelten Urlaubszeit, wie man anderswo Briefmarken sammelt. Und für ein paar zusätzliche Urlaubstage spendeten sie sogar regelmäßig Blut. Für dreihundert Milliliter Blut bekam man nämlich nicht nur einen Schein für ein Mittagessen im Restaurant, es gab auch zwei Tage zusätzlichen Urlaub.
Mit fünfzig verließen die meisten Geologen die Insel. Die Familie der mittleren Schwester zog mit ihrem Mann und den zwei Söhnen nach St. Petersburg, die Familie meiner Schwiegermutter ging nach Grosny zurück. Der einzige Sohn der Urmutter Wassa Petrowna – Georgij Ivanowitsch – ging nirgendwohin. Er blieb die ganze Zeit bei seiner Mutter, was ihn aber nicht daran hinderte, zwei Mal in Grosny zu heiraten – einmal unglücklich und einmal glücklich – und Vater von zwei Töchtern zu werden, die inzwischen auch eine Art Familie haben: Die eine hat einen Mann und die andere ein Kind.
Diese Kurzfassung des Familienstammbaums beschreibt nur einen Teil der Sippe. Viele Verwandte, die Brüder der Ehemänner, die Kinder der Kinder und eine Unmenge von Haustieren, zu denen unter anderem Igel, Füchse und Papageien zählen, konnte ich in dieser Beschreibung nicht berücksichtigen. Zahlreiche Familienmitglieder kenne ich bis heute nicht. Doch eines war mir sofort klar, dass ich es hier mit einer kompliziert gebauten Arche Noah zu tun hatte. Meine eigene Moskauer Familie, die aus drei Menschen und einer Katze bestand, wirkte im Vergleich zur Sippe meiner Frau wie ein Nussknacker gegen einen Eisbrecher. Die Großfamilie funktionierte tatsächlich wie ein Rettungsschiff. Alle, die dazugehörten, zogen einander gegenseitig hoch, und sie hatten immer auch klare Vorstellungen und Konzepte zur Lösung alltäglicher Probleme. Der Wohlstand der Familie erwuchs aus sehr unterschiedlichen Quellen: Die Arbeit auf ei ner staatlichen Baustelle half beim Bau eigener Häuser, und die Arbeit auf Sachalin, wo es zwar viel Geld, aber nichts zu kaufen gab, stärkte die Kaufkraft der Familie in Grosny, wo es umgekehrt kein Geld, aber viel zu kaufen gab.
Dieser Zusammenhalt, der bis heute gut funktioniert, beeindruckte mich sehr. In Berlin und auch früher in Moskau wohnten die Menschen lose nebeneinanderher. Irgendjemand mit irgendjemandem. Man konnte nur rätseln, was diese Menschen verband – eigentlich nichts außer der Sprache und dem Fernsehen. Die Familie meiner Frau dagegen ist wie ein lebendiger Organismus, der sich unaufhörlich weiterentwickelt. Inzwischen hat der Organismus seine Filialen in Berlin, Washington und Riga. Die Zentrale bleibt nach wie vor im Nordkaukasus auf der ehemaligen Rinderfarm Nummer 5 in der Steppenstraße. Dort wurde vor einem Jahr das jüngste Mitglied der Familie, die Enkeltochter von Onkel Joe, geboren: Baby Sonja. Für Baby Sonja und zwei andere Kinder im Dorf schicken wir von Berlin aus regelmäßig große Pakete mit Kindersachen. Unsere zwei Kinder wachsen nämlich so schnell, dass sie die meisten coolen Klamotten, die wir ihnen kaufen, immer nur kurze Zeit tragen können.
Für diese Postsendungen nutzen wir nicht die Deut sche Post. Auch die russische Post kommt nicht in Frage. Die Adresse von Baby Sonja ist zu kompliziert, die Farm liegt abseits von der kaukasischen Zivi lisation, und man erreicht sie die meiste Zeit des Jahres nur mit dem Traktor. Dazu muss man auch noch über einen Berg fahren und an der richtigen, unauffälligen und nicht ausgeschilderten Stelle rechts abbiegen, sonst fällt man mit dem Traktor in die ehemalige Baugrube des Pferdekombinats. Solche Adressen kann man keiner staatlichen Post anvertrauen. Für unsere Kindersachenpakete heuern wir daher die sogenannte russische Volkspost an. Mit ihr dauert es zwar länger, ist aber sicher, und die Sachen kommen immer an.
Die russische Volkspost funktioniert wie die Familien-Arche nach dem Prinzip der gegenseitigen Solidarität. Ich weiß nicht, seit wann es die russische Volkspost in Deutschland gibt. Ich glaube, es hat sie schon immer hier gegeben. Sobald ein dritter Russe deutschen Boden betrat, wollte der zweite zurück, und der erste wollte mit dem zweiten etwas zu seinen Verwandten nach Hause schicken. Die russische Volkspost ist eine typische Emigrantenvereinigung, in der man einander hilft. Es gibt in Deutschland bestimmt auch eine türkische und eine vietnamesische Volkspost. Die ganze Welt besteht doch aus schwer zugänglichen Ecken, die die staatliche Post nicht erreicht. Aber ich selbst kenne nur die russische Variante. Sie funktioniert so:
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Autoren-Porträt von Wladimir Kaminer
Wladimir Kaminer, geb. 1967 in Moskau, absolvierte eine Ausbildung zum Toningenieur für Theater und Rundfunk und studierte anschließend Dramaturgie am Moskauer Theaterinstitut. Seit 1990 lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin. Er veröffentlicht regelmäßig Texte in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften und organisiert Veranstaltungen wie seine mittlerweile international berühmte 'Russendisko'. Mit der gleichnamigen Erzählsammlung sowie zahlreichen weiteren Büchern avancierte er zu einem der beliebtesten und gefragtesten Autoren Deutschlands. Alle seine Bücher gibt es als Hörbuch, von ihm selbst gelesen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Wladimir Kaminer
- 2010, 1, 222 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 13,4 x 19,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Illustration: Konstantinov, Vitali P.
- Verlag: MANHATTAN
- ISBN-10: 3442546567
- ISBN-13: 9783442546565
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