Meine neue Freiheit
Von Kabul über den Laufsteg zu mir selbst
Zohre Esmaeli ist ein Top-Model, das erste, das aus Afghanistan stammt. Niemand sieht ihr heute an, welcher Weg hinter ihr liegt - auf der Flucht vor den Taliban, voller Angst und Gewalt, und auf der verzweifelten Suche nach ihrer eigenen Freiheit, als sie...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Meine neue Freiheit “
Zohre Esmaeli ist ein Top-Model, das erste, das aus Afghanistan stammt. Niemand sieht ihr heute an, welcher Weg hinter ihr liegt - auf der Flucht vor den Taliban, voller Angst und Gewalt, und auf der verzweifelten Suche nach ihrer eigenen Freiheit, als sie mit ihrer streng muslimischen Familie bricht.
Klappentext zu „Meine neue Freiheit “
Zohre ist dreizehn, als ihre Familie vor der Schreckensherrschaft der Taliban aus Afghanistan flieht. Der Weg ist lang, es erwarten sie Hunger, Gewalt und Todesangst. Endlich in Deutschland, ist sie doch nicht frei. Ihre Eltern erlauben ihr kein Internet, kein Ausgehen, nicht einmal Schwimmen oder Fahrradfahren. Zohre ist fast 17, als sie beim Shoppen angesprochen wird: Ob sie nicht modeln wolle? Doch es gilt: "Ein afghanisches Mädchen lässt sich nicht fotografieren". Wieder muss Zohre fliehen, diesmal vor den Drohungen der eigenen Brüder...Heute ist Zohre Esmaeli das einzige afghanische Topmodel der Welt. Ihr Leben vereint die größten Gegensätze, die Liebe zur Freiheit und den Respekt vor der Tradition.
Lese-Probe zu „Meine neue Freiheit “
MEINE NEUE FREIHEIT von Zohre Esmaeli mit Barbara Opitz und Kuno Kruse Von Kabul über den Laufsteg zu mir selbst
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Azadi - Freiheit
Wenn meine Freunde in unserem Dorf die Schrift und das Lesen entbehren,
wenn sie der Freude entsagen müssen,
wenn Fortschritt und Entwicklung mit 1000 Fäden an Füßen gefesselt sind,
und dazu verurteilt, auf der Stelle zu treten,
wenn die Wenigen hier auf Kosten der Vielen, die arm bleiben und unterdrückt, ihren Reichtum sichern,
dann möchte ich nicht von Freiheit reden.
Wenn meine Mutter in ihrem Haus wie im Gefängnis sitzt,
wenn meine Schwester dieses Schicksal mit ihr teilt,
wenn sie, geschmiedet an die Ketten aus Glauben, Tradition und Bräuchen, bitter weinen,
wenn so viele meiner Familie solches Schicksal erdulden,
dann möchte ich nicht von Freiheit reden.
Wenn unsere Frauen auf den Straßen unter einer Burka wie in einem Käfig bleiben,
wenn ihre Augen, Ohren und Zungen unter dem Kopftuch verborgen sind,
wenn in meiner Mutter Heimat Beleidigungen und Erniedrigungen, Peitschen und Schläge noch immer Alltag sind,
dann möchte ich nicht von Freiheit reden.
Wenn einer von der Freiheit reden will, dann lasst ihn reden, er denkt, er habe recht.
Menschen und Stämme herrschen auf ewig, und immer haben sie recht.
Die anderen ertragen Unterjochung und fallen in Not.
Hier, nein, werde ich nicht von der Freiheit reden.
Hier, in dieser Heimat, wo die Flügel der Banden, Mörder, Kriegsverbrecher und Feinde von Wissenschaft und Erziehung frei schwingen,
die Flügel aller anderen aber gebunden sind und gebrochen,
wo Leib, Seele und Würde der Menschen in den Staub getreten werden,
von den Unwürdigen, die ihre eigene Seele lange schon verkauft haben,
hier, wo rückständige Führer in schnellen Schritten und gezielt wie nie zuvor,
zurück ins Mittelalter eilen und die Nation in Strudel und Tiefe reißen,
hier, nein, da werde ich nicht von der Freiheit reden.
Die Freiheit, dieses in meiner Heimat so seltene Gut, so unauffindbar wie das Elixier eines Krauts, das nicht auf unserer Erde wächst.
Hier möchte ich nicht von Freiheit reden.
Reza Behmanesh
TEIL 1
KAPITEL 1
An der Wand, vor dem alten Tresen, hing das Telefon, beige, mit einer Drehscheibe. Es hing etwas schief, als sei es dort nur provisorisch befestigt worden. Die Schnur war so kurz, dass ich gegen die Wand starren musste, um den Hörer am Ohr halten zu können. Es war ein Montag im März 2004. Ich war seit einem Jahr nicht mehr in Kassel gewesen.
»Hallo«, sagte ich ins Telefon.
Ich hatte noch gar keine Nummer gewählt. Was sagte man jemandem, den man zu lange nicht gesprochen hatte?
Noch einmal probierte ich es: »Hallo.«
Meine Stimme hörte sich fremd an, sie hallte, so als spräche ich durch ein rostiges Rohr, wie sie früher überall herumlagen, als wir noch Kinder waren und in Kabul lebten. Sie lagen auf Schutthaufen, ragten aus lehmigen Mauern, aus denen der Regen sie langsam hervorgewaschen hatte, oder lagen am Straßenrand, im Staub.
Überall war Staub in Kabul, alles war mit dieser braungelben Schicht überzogen, selbst wenn es regnete. Dann schmierte sie, klebte auf den Schildern, auf Autos und Dächern. Ich stellte mir manchmal vor, dass alles sorgfältig mit einem großen Tuch poliert werden müsste, damit die Stadt vielleicht irgendwann wieder glänzen würde.
Wir griffen uns die Rohre und liefen hinter dem Gemüsehändler her, der jeden Tag mit seinem Karren durch unsere Straße zog und mit einem Megaphon die Frische seiner Waren anpries. Gurken, Paprika, Melonen.
»Melonen!«, rief ich durch das Rohr. Meine Stimme hörte sich fremd an, hohl, wie die eines Flaschengeistes. »Frische Melonen!«, rief ich.
In Kabul gab es Melonen, die so süß waren, dass man davon Halsschmerzen bekam. Ich konnte sie schon von Weitem riechen: ein satter, schwerer Duft, wie Parfum. Sie rochen nach Honig und Moschus. Manchmal, wenn meine Stiefmutter und meine Schwestern in der Küche verschwanden, um das Essen vorzubereiten, nahmen mein kleiner Bruder Salim und ich heimlich ein paar Münzen aus dem Krug. Sie waren als Notgroschen gedacht. Und wir kauften uns damit die größte und schönste Melone, die der Händler auf dem Karren hatte.
Es war kein Stehlen. Kein richtiges jedenfalls. Mein Vater achtete sehr darauf, dass wir Kinder genügend Obst aßen. Er kaufte viel Obst, denn wir waren sechs Kinder. Nach dem Essen stand immer eine Schale mit Orangen und prallen Nektarinen auf dem Tisch. Aber Melonen gab es selten. Und wenn Salim und ich endlich eine in den Händen hielten, versteckten wir uns unter der Steintreppe, die zum Hof führte, und aßen sie ganz allein auf, die ganze Melone, bis wir Bauchweh hatten. Nur die Kerne spuckten wir aus und legten sie in die Sonne zum Trocknen. Wenn man Melonenkerne in der Pfanne röstet und mit Salz bestreut, werden sie knusprig wie Chips. Ich habe in Deutschland nie wieder Melonenkerne geröstet, und ich habe nie wieder so süße Melonen gerochen.
Mein ältester Bruder Ramin verdiente damals schon eigenes Geld; er verkaufte Zigaretten und Kaugummis. Ramin hatte von meinem Onkel einen Bauchladen geschenkt bekommen, stabil und aus dunklem Holz, den er sich mit einem Gurt um den Nacken hängen konnte. Gleich nach der Schule sortierte er die Ware, schichtete sie sorgfältig in den dafür vorgesehenen Fächern auf und lief los.
In Kabul gab es viele Jungen, die mit so einem Bauchladen zum Familieneinkommen beitrugen. Ramin war mächtig stolz, eigenes Geld zu verdienen und meinen Vater damit zu unterstützen. Wie ein Erwachsener fühlte er sich dann. Es war also auch Ramins Geld, das in dem Krug lag und von dem wir uns heimlich Melonen kauften. Und Salim und ich waren uns sicher - zumindest redeten wir uns das ein -, dass unser ältester Bruder bestimmt nichts dagegen haben würde, wenn wir uns ein wenig davon nähmen.
Das war wichtig. Denn unser Vater hatte uns drei Dinge beigebracht, die wir in unserem Leben unter allen Umständen einhalten mussten:
Nicht stehlen.
Nicht lügen.
Und immer zusammenhalten.
Mein Vater ist kein gebildeter Mann. Man muss nicht die Schule besucht haben, um klug zu sein. Und mein Vater ist sehr klug.
Stehlen war etwas anderes. Das habe ich auch einmal getan. Ich war fünf, und ich wusste, dass ich etwas Verbotenes tat.
Ramins Ware lagerte in der Speisekammer. Es war ein schmaler, enger Raum. Die Speisekammer war ein wunderbarer Ort, dunkel und ein wenig muffig. Dort gab es neben Linsen, Erbsen und Reis auch gebrannte Mandeln, für Gäste, die manchmal zu Besuch kamen. Und dort standen die Stöckelschuhe meiner Schwester Mina. Sie waren aus schwarzem Lack, spitz und mit Pfennig-Absätzen. Mina stopfte sie immer mit Papier aus, damit sie ihre Form behielten. Sie trug diese Schuhe sehr selten, eigentlich nur zu Hochzeiten. Für mich waren sie ein Heiligtum, das man noch nicht einmal anfassen durfte, so bedeutend.
Im obersten Fach lag Ramins Ware. Die Kaugummis, Würfel aus einer grell-pinken Masse, waren mit feinem, grauem Papier umwickelt. Kaugummis waren mit das Wertvollste, was ein Kind in Kabul besitzen konnte. Ich nahm mir gleich zwei Pakete. In jedem Paket waren acht Kaugummis. Die Hälfte davon gab ich meinem kleinen Bruder Salim ab. Wir hatten großen Spaß an diesem Tag. Wer die größeren Blasen machte, hatte gewonnen. Wir bliesen, bis sie platzten und in einem zähen, dünnen Film an Nase, Kinn und Wangen klebten.
Dann kam Mina. Mina war die Älteste von uns - und die Strengste, strenger sogar als Vater. Sie holte einen Stock. Salim und ich bekamen jeder zehn Hiebe verpasst.
»Tuba kadom, Tuba kadom,« riefen wir, was so viel heißt wie: »Bei Gott, wir werden es nie wieder tun.« Dabei zogen wir uns selbst an beiden Ohrläppchen, in Afghanistan ein Zeichen tiefer Reue. Mina sollte nicht mehr böse auf uns sein.
Mein Vater fuhr in Afghanistan Lastwagen und blieb manchmal eine ganze Woche von zu Hause weg. Ich beneidete ihn darum, einfach loszufahren in seinem Lastwagen, an fremden Menschen und bunten Landschaften vorbei. Wie frei musste er sich fühlen, dachte ich damals. Wenn wir etwas ausgefressen hatten, Salim und ich, hofften wir, dass Mina es bis zu Vaters Rückkehr vielleicht vergessen hätte. Dieses Mal vergaß sie es nicht. Aber von unserem Vater bekamen wir keine Schläge. Er sah nur sehr traurig aus, fragte: »Chejalat Namekishi, duzi kar bissar bad ast?« Diebstahl ist etwas sehr Schlimmes. Schämt ihr euch nicht? Das war schmerzhafter als jeder Stockhieb. Wir schämten uns sehr, und ich habe nie wieder von den Kaugummis gestohlen.
Das mit den Melonen hat Mina nicht herausbekommen. Es ist Salims und mein süßes Geheimnis geblieben, die ganzen Jahre lang.
Und nun, an diesem Montag im März 2004 am Telefon, zwölf Jahre später und 6795 Kilometer von Kabul entfernt, zwischen Wand und altem Tresen, klang meine Stimme plötzlich wieder wie damals durch das Rohr, als ich die Melonen anpries, wie die eines Flaschengeistes, so weit, weit weg.
Was sagt man jemandem, den man zu lange nicht gesprochen hat? Und dem man so viel angetan hat, als seien hundert Jahre nicht genug, um zu vergessen?
»Hallo«, hörte ich mich noch einmal durch den Hörer sagen. Dieses Mal hatte ich die Nummer gewählt.
Stille am anderen Ende der Leitung. Dann: »Wer ist da?«
Pause.
»Ich bin es. Zohre.«
»Wo bist du?«
Die Stimme am anderen Ende klang nicht hohl wie meine, noch nicht einmal belegt. Sie klang wie immer, als hätte ich sie vor Tagen erst gehört, tief und warm. Sie gehörte dem Menschen, den ich am meisten vermisst hatte.
»Ich bin in der Stadt«, sagte ich.
Ein Jahr war es her, dass ich die Stimme meines Vaters das letzte Mal gehört hatte. Ein Jahr, dass ich von zu Hause weggelaufen war, geflüchtet war, meine Familie verlassen hatte.
Wir lebten da schon vier Jahre in Deutschland, in Kassel, genauer gesagt in Vellmar: Sachsenring, drei Hochhäuser, je sieben Etagen hoch. Doch für mich war es Afghanistan geblieben. Nicht schwimmen, nicht telefonieren, nicht Fahrrad fahren, Brüder, die über mich wachten. Mein Vater ließ es zu. In dieser Stadt war er ein anderer geworden, irgendwo auf dem Weg zum Asylbewerberamt, in dem er die Formulare nicht lesen konnte, oder beim Zahnarzt, den er nicht verstand. Oder aber in dem Supermarkt, in dem jeden Tag die blonde Frau an der Kasse saß, mit einem Jersey-Oberteil, das gerade einmal die Brustwarzen bedeckte. Nach ein paar Wochen ging mein Vater nicht mehr in den Supermarkt, sondern zum Türken, aus Angst, dass ihm jemand Schweinefleisch verkaufte. Nur wenn ich ihn lange beobachtete, seinen Gang, immer so aufrecht, erkannte ich sie noch, diese Würde, die ihn zu einem einzigartigen Menschen machte, für mich zum wichtigsten Menschen der Welt.
Als kleines Mädchen hatte ich ihn in Kabul oft heimlich vom Fenster aus beobachtet, wenn er sich im Hof wusch, als Vorbereitung zum Gebet. Es war das Erste, was er tat, wenn er von der Arbeit kam. Nicht wie meine Brüder, die manchmal mit dem Stock überzeugt werden mussten, zumindest aber mit Belehrungen.
Einmal hatte ich geträumt, er würde sterben. Es war ein strenger Winter in Kabul. Ich war so unglücklich, eine tiefe Trauer begleitete mich an diesem Tag, so als würde es nie wieder Sommer werden. Nie hatte ich mir vorstellen können, auch nur einige Wochen ohne meinen Vater zu sein.
Mein Herz hüpfte, als ich ihn an dem Tag endlich im Hof stehen sah, wie er sich über das Becken beugte, gleich neben dem Toilettenhäuschen, in klirrender Kälte. Er krempelte seine Ärmel hoch, fuhr dann mit der linken, nassen Hand von der Stirn zum Kinn, benetzte den rechten Unterarm mit Wasser, wusch mit der rechten Hand den linken Unterarm, fuhr über die Ellenbogen bis hinunter zu den Fingerspitzen, strich sich weiter vom Scheitel bis nach vorne in Richtung Haaransatz. Zuletzt glitt er mit der Hand von den großen Zehen zu den Knöcheln, mit gleichmäßigen Bewegungen, sehr langsam, wunderschön, wie ein trauriger Tanz sah das aus.
Als er endlich die Wohnstube betrat, stürmte ich auf ihn zu, umarmte und küsste ihn. »Was ist los, meine Kleine?«, fragte er. Ich erzählte von meinem Traum, und er nahm mich noch fester in den Arm. »Weißt du, Zohre«, sagte er, »es ist gut, dass du das geträumt hast. Denn immer wenn jemand so etwas träumt, dann lebt derjenige, der im Traum gestorben ist, im wahren Leben noch länger.«
Der Tag, an dem ich ihn verließ, war kalt. Ich stand um 6.30 Uhr auf, wie jeden Morgen, wenn ich zur Schule ging, wusch mein Gesicht, ging in die Küche, aß eine Scheibe Graubrot mit Erdbeermarmelade, wie ich es jeden Morgen getan hatte, seit wir in Deutschland lebten. Es war wie immer, nur, dass ich am Abend zuvor meine schwarze Reisetasche im Hausflur versteckt hatte, damit niemand, der morgens aufwachte, Verdacht schöpfte. Als ich in den Morgen trat, waren die Bäume mit Raureif überzogen. Nur einmal drehte ich mich noch um. Das ganze Hochhaus war noch dunkel. Wie ein Riese warf es mit dem ersten Tageslicht seinen Schatten auf mich, als wollte es mich einfangen. Doch ich ließ mich nicht mehr fangen.
Es gibt Dinge, die auch Afghanen nicht verzeihen. Dann fallen Mädchen von Brücken, oder Autos fahren sie an, so etwas passiert in meiner Kultur. Meine Brüder würden mich suchen, das wusste ich.
Und an diesem Montag vor dem Telefon, im März 2004, wusste ich nicht, ob genug Zeit verstrichen war, ob ein Jahr genug war, um Frieden zu schließen mit dem, was ich getan hatte. Mit dem, was ich heute war.
Ich hatte ihn verlassen. Einfach so. Es hatte sich entwickelt. Und es hatte diesen einen Abend gegeben, an dem alles zu viel wurde und an dem ich entschied zu gehen. Mein Vater und ich stritten, ich weiß nicht mehr worüber, vielleicht war es das Internet, das ich nicht nutzen durfte und es trotzdem tat. Oder aber die Stunde, die ich länger gebraucht hatte, auf dem Weg von der Schule nach Hause, in der ich heimlich durch die Stadt schlenderte und durch die Geschäfte. Es fielen schlimme Worte, so schlimme Worte, wie sie in Deutschland keiner sagen würde. Afghanen können sehr gemeine Worte sagen, böse, laut und dreckig.
Wie ich sie gehasst habe, diese Worte, die ich von den Frauen kannte in Kabul, die im fettigen Dunst der Küche lästerten, so entsetzlich laut und böse. Frauen in Afghanistan konnten besonders gut schimpfen, gnadenlos, vielleicht, weil sie im Haus sonst nicht viel erlebten. Aus dem Mund meines Vaters hatte ich solche Worte noch nie gehört. Sie trafen mich, rammten sich tief in meinen Magen, wühlten in mir, sodass mir übel wurde. Und sie waren so böse und dreckig, dass ich sie bis heute nicht aussprechen kann. Sie bezeichneten etwas, was Männer denken, afghanische Männer, das abscheulichste über Frauen, die in Hamburg auf der Reeperbahn oder in Kassel an der Schillerstraße ihr Geld verdienen. Ich glaube nicht, dass Afghanen böser sind als Deutsche, nur weil sie diese Worte sagen. Sie gehen mit ihren Emotionen nur anders um, wie Kinder, benutzen Schimpfwörter schneller, wütender. Afghanen sind aber auch schneller im Verzeihen.
Ich bin, war immer schon, anders. Und an diesem Abend, als mein Vater diese bösen Worte zu mir sagte, merkte ich, dass ich nicht schnell verzeihen würde. Ich musste gehen.
KAPITEL 2
Ich war dreizehn, als ich das erste Mal mein Zuhause verließ, als wir aus Kabul fortgingen, weg von den Taliban. Die meisten meiner Geschwister waren schon geflüchtet. Mein Vater, meine Stiefmutter, mein kleinster Bruder Salim und ich, die Jüngste von allen, waren noch da. Und meine Schwester Mina, die schon einen Mann hatte und zwei Babys.
Einige Male schon hatten wir Kinder, Salim und ich, mitbekommen, wenn mein Vater mit meinen Onkeln darüber gesprochen hatte, dass es in Afghanistan keine Hoffnung mehr gäbe. Dass wir weg müssten aus Kabul. Sie saßen auf dem Teppich neben dem Ofen, machten ernste Gesichter und tranken Assam-Tee. Für mich waren es nichts als leere Versprechungen, eine Art Hinhaltetaktik, ausgedacht von meinen Eltern, damit ich artig bliebe. Immer wenn ich auf dem Markt mit den vielen schönen Dingen, den bunten Stoffen, schönen Tüchern, dem Schmuck, etwas haben wollte, bettelte, dass meine Stiefmutter mir doch bitte etwas kaufe, hieß es, das brauchen wir nicht mehr, wer weiß, ob wir nicht doch nach Deutschland gehen.
An diesem Nachmittag war es anders. Die Stirn meines Vaters warf tiefe Falten, er saß in einer Wolke aus blauem Dunst, rauchte, was er sonst nie tat. Und schließlich wurden wir Kinder aufgefordert, uns in die Männerrunde zu begeben; auch das passierte sonst nie. Und als Vater dann sagte: »Wir gehen nach Deutschland«, einfach so, ohne Erklärung, ohne Einschränkung, ohne das Wort »wenn«, da wusste ich, dieses Mal würde es wahr.
In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Salim ging es ebenso, wir redeten nicht darüber, aber er wälzte sich neben mir auf seiner Toshak. In Afghanistan gab es keine Betten, sondern Matten. Sie waren selbstgenäht und mit Wolle ausgestopft, die meine Stiefmutter aus alten Pullovern auftrennte. Da wir nur einen Raum hatten, in dem wir lebten und schliefen, waren die Toshaks praktisch. Am Tag sitzt man darauf oder rollt sie zusammen und verstaut sie in der Ecke. Salim und ich waren dafür zuständig. Manchmal stritten wir so heftig darüber, wer sie am Morgen ausklopfen und verstauen musste, dass wir uns schubsten und schlugen. Und ich glaube, in dieser Nacht schliefen auch mein Vater und meine Stiefmutter nicht, sondern dachten nach, jeder für sich, auf seiner Toshak.
Europa, das waren für mich die Kleider meiner Tante, die längst in Frankfurt wohnte und die uns zwei Mal besucht hatte. Wir Afghanen haben sehr viele Tanten, Onkel und Cousins. Es kam oft vor, dass Cousins oder Cousinen älter waren als Tanten und Onkel, das war bei uns so.
Diese Tante aber war eine besondere, weil sie aus Europa kam. Sie brachte immer Zahnbürsten und Paste mit, die nach Pfefferminze schmeckte, nicht nach Seife wie die aus Kabul. Und Gummibärchen für Salim und mich. Ein Jahr lang hielten sie und waren am Ende so hart, dass man sie im Mund mit Spucke aufweichen lassen musste, bevor man sie kaute. Meine Stiefmutter bewahrte sie in einer Truhe aus Metall auf, die man mit einem Schlüssel verschließen konnte und in der sie alles aufbewahrte, was ihr gehörte, die goldene Kette und ihre Kleidung. Die schnürte sie zu Paketen, bevor sie in die Truhe kamen, immer Hose und Kleid zu einem Paket. In Afghanistan trugen Frauen unter dem Kleid nämlich auch noch eine Hose. Und so musste meine Stiefmutter morgens nur einmal in die Truhe greifen.
Tücher und Burkas dagegen - meine Stiefmutter besaß eine himmelblaue wie ich auch - hingen direkt am Eingang, damit wir sie schnell überstülpen konnten, wenn wir auf die Straße treten mussten oder jemand klopfte, was nicht besonders oft geschah. Aber wenn es geschah, waren wir Frauen sehr aufgeregt, und es war wie ein Spiel. »Wo ist mein Kopftuch, schnell, wirf es herüber«, riefen wir dann alle durcheinander, kicherten. Ich fand die Aufregung immer ein wenig übertrieben, vielleicht verhielten wir uns so, weil sonst nicht viel passierte. Auf der anderen Seite wussten wir, wie gefährlich es war, die Tür mit verrutschtem Tuch zu öffnen. Es war in Afghanistan nämlich streng verboten, dass Frauen Fremden auch nur ein Haar zeigten.
Diese eine Tante jedenfalls trug keine Burka, obwohl fast alle Frauen in Kabul jetzt eine trugen. Sie bedeckte die Haare mit einem Tuch, das sie fest unter dem Kinn zusammenband, und trug dazu einen langen Mantel. Ich fand das mutig.
Wenn sie den Mantel ablegte, sah ich ihre Kleider. Sie waren so elegant, ich hatte so schöne Kleider noch nie gesehen. Und wie sie rochen, so sauber und frisch, wie nach Europa! Das letzte Mal ließ sie ihre Lederschuhe zurück, rot mit einem apfelgrünen Streifen in der Mitte. Sie waren mir viel zu groß, aber dennoch bin ich damit herumgelaufen, habe in der ganzen Nachbarschaft damit angegeben: Schuhe, die aus Deutschland kamen.
In dieser Nacht stellte ich mir vor, alles in Deutschland wäre so wie die Farben dieser Schuhe. Ich würde jeden Tag Saft trinken, mir eine Safttüte aus dem Kühlschrank nehmen und ein großes Glas damit füllen. Orangensaft, Traube oder Multivitamin. Meine Tante hatte davon erzählt. In Afghanistan gab es keinen solchen Saft aus Tüten. Wir tranken Wasser aus dem Tank, der am Ende unserer Straße stand und zu dem wir Kinder mit großen Tonkrügen geschickt wurden. Wir hatten auch einen eigenen Brunnen im Hof, doch der war voller Kakerlaken, das Wasser benutzten wir lediglich zum Putzen, Wäschewaschen oder gossen Bäume damit. In Deutschland würde Wasser aus einem Hahn fließen, wie ich es im Fernsehen gesehen hatte. Und ich würde mit offenen Haaren und in Jeans auf Gehwegen schlendern, entlang der Straßen, die mit glattem Asphalt überzogen sein würden, die Häuserfassaden würden sauber sein, aus Glas. Ich war sehr aufgeregt in dieser Nacht. Und gleichzeitig tief traurig. Keine Zeit in Afghanistan habe ich so intensiv erlebt wie diese acht Wochen bis zu unserer Flucht.
Wenn meine Stiefmutter mich zum Bäcker schickte, dachte ich jedes Mal, es könnte das letzte Mal sein. Ich ging über den Hof, in dem ich im Winter Schneehäuser baute, als ich meiner Stiefmutter noch nicht in der Küche helfen musste. Im Frühling, wenn der Schnee taute, blühten dort ein Kirsch- und ein Apfelbaum. Sogar Trauben hatten wir, die zwar sauer und daher ungenießbar waren, deren Blätter aber im Sommer Schatten spendeten. Wie oft hatte ich darum gebettelt, einmal im Hof schlafen zu dürfen, unter freiem Himmel, die Sterne zählen, von denen es in Kabul besonders viele gab, wenn wieder einmal Stromausfall war.
Ich ging an den Pappeln vorbei, die unsere Straße säumten und an die Zeit erinnerten, in der es in Kabul noch friedlich zuging. Ich hatte gehört, dass es früher einmal viel mehr Bäume in Kabul gegeben haben musste, vor dem Krieg und lange vor den Taliban. Doch die Sommer waren heiß und Wasser zu kostbar, um junge Bäume zu gießen. Und im Winter ist es kalt in Kabul, bitterkalt. Die Menschen brauchen Holz für ihre Öfen. Ich sog noch einmal den Duft der Stadt auf, die Gerüche von frischem Obst, Frittiertem und Abgasen, die sich mischten mit dem erbärmlichen Gestank aus den Rinnsalen neben den Gehwegen, die wie faule Eier rochen und nach Kot. Ich hörte das Knattern der alten Mofas, auf denen junge Männer saßen, um schneller durch den Stadtverkehr zu kommen.
Früher haben wir unser Brot selbst gebacken. Meine Stiefmutter konnte so gut Brot backen, dass sogar Nachbarn vorbeikamen, um es ihr abzukaufen. Im Hof, links neben der Treppe, unter der Salim und ich heimlich die Melonen aßen, war ein Loch im Boden eingelassen, in dem ein großer, bauchiger Tonbehälter steckte, unter dem man Feuer machte. Meine Stiefmutter teilte den Teig in gleich große Portionen, formte sie zu Kugeln, um sie dann von einer Hand in die andere zu klatschen, damit sie wieder flach würden. Sie war dabei so schnell, dass es beinahe aussah, als bliebe der Teig in der Luft stehen. Ich habe ein paarmal versucht, es nachzumachen, gab es aber bald auf: Niemals würde ich es so beherrschen wie meine Stiefmutter. Wenn der Teig flach genug war, warf sie ihn in der Mulde gegen die Tonwand, wo er kleben blieb und Blasen warf.
Die Brote schmeckten köstlich, besonders wenn sie mit Knoblauchöl bestrichen waren. Salim und ich bekamen zum Abendessen immer eigene Brote, ein wenig kleiner als die anderen, Kinderbrote. Wenn wir sie zwischen dem Fladenberg nicht gleich entdeckten, schrien wir schon: »Wo sind unsere? Wo sind unsere Brote?« Wir liebten es, eigene Brote zu bekommen, sie nicht mit anderen teilen zu müssen, sie ganz für uns zu haben.
Irgendwann übernahm der Bäcker die Arbeit unserer Stiefmutter, und von da an gab es auch keine Kinderbrote mehr. Wir seien zu alt dafür geworden, meinte auch Vater. Der Bäcker hatte auch so einen Ofen wie wir, nur war der viel größer. Den Teig brachten wir mit. Ich wurde nur sehr selten zum Bäcker geschickt; Mädchen durften sich nicht allein, ohne männliche Begleitung, außer Haus aufhalten. Nur im Notfall, wenn Vater und Salim nicht zu Hause waren und meine Mutter kochte, wurde ich geschickt. Im Laden warteten sie schon in einer langen Schlange, bis der Bäcker, schwitzend und mit weißer Haube auf dem Kopf, die Brote aus dem Ofen holte. Ich fand den Besuch immer sehr spannend. Besonders, weil ich dort Leute traf. Man beobachtete, musterte einander, vor allem die Frauen, sie gingen schließlich nicht oft aus. Trotz der Burka erkannte man sich anhand der Bewegungen - und der Schuhe. In Afghanistan haben die Frauen nicht gleich mehrere Paare, und Schuhe konnte man viele Jahre lang besitzen. Und wenn man in so einer Schlange stand, dann tratschte man, sodass man immer die neuesten Geschichten aus der Nachbarschaft kannte, wenn man vom Bäcker kam.
Ein einziges Mal nahm ich nicht den direkten Weg zurück zum Haus. Ein Gefühl stieg in mir auf, das passierte mir einfach ab und zu, es war etwas zwischen einer leichten Unruhe und der puren Freude, auf der Welt zu sein. Ich dachte, sie sei zu schön, um nicht erforscht zu werden. Meine Stiefmutter beschwor meinen Vater immer wieder, doch etwas dagegen zu unternehmen. Gegen diese Neugierde, die so gar nicht zu einem afghanischen Mädchen passte. Damit würde ich ihnen allen noch einmal viele Probleme bereiten. Sie hatte recht. Ich war nicht das brave Mädchen, das sie sich erhofft hatten, nicht in Kabul und schon gar nicht in Kassel. Damals hoffte ich, meine Eltern würden von diesem Ausflug nichts erfahren, was auch tatsächlich nie geschah.
Wenn mein Vater nicht arbeitete und einige Tage in Kabul blieb, dann gingen wir zusammen in einen der Telefonläden, die es an jeder Straßenecke gab, meine Stiefmutter, mein Vater und ich, weil ich darauf bestand, mitgehen zu dürfen. Aus diesen Läden konnte man überall hin telefonieren, sogar nach Europa. Sie heißen Mochaberat, man ging hinein, zog eine Nummer und wartete dann ziemlich lange, denn wie beim Bäcker gab es immer eine Schlange. Und wie beim Bäcker beobachtete man sich. Musterte sich von Kopf bis Fuß. Nur dass man sich in einem Mochaberat irgendwie besonders fühlte, wichtiger als beim Bäcker. Schließlich wussten alle, man würde vielleicht gleich mit jemandem aus dem Ausland sprechen. Wir waren wegen meines Bruders Ramin dort, der mittlerweile in Deutschland lebte. Wenn es so weit war, bekamen wir eine Kabine zugewiesen. Zu dritt war es schrecklich eng darin. Ich wollte auch mit Ramin sprechen und habe gebettelt, auch an den Hörer zu dürfen. Meine Stiefmutter verneinte meist, sie sagte, das koste zu viel. Dabei wollte ich nur kurz einmal Ramins Stimme hören.
© 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln
Azadi - Freiheit
Wenn meine Freunde in unserem Dorf die Schrift und das Lesen entbehren,
wenn sie der Freude entsagen müssen,
wenn Fortschritt und Entwicklung mit 1000 Fäden an Füßen gefesselt sind,
und dazu verurteilt, auf der Stelle zu treten,
wenn die Wenigen hier auf Kosten der Vielen, die arm bleiben und unterdrückt, ihren Reichtum sichern,
dann möchte ich nicht von Freiheit reden.
Wenn meine Mutter in ihrem Haus wie im Gefängnis sitzt,
wenn meine Schwester dieses Schicksal mit ihr teilt,
wenn sie, geschmiedet an die Ketten aus Glauben, Tradition und Bräuchen, bitter weinen,
wenn so viele meiner Familie solches Schicksal erdulden,
dann möchte ich nicht von Freiheit reden.
Wenn unsere Frauen auf den Straßen unter einer Burka wie in einem Käfig bleiben,
wenn ihre Augen, Ohren und Zungen unter dem Kopftuch verborgen sind,
wenn in meiner Mutter Heimat Beleidigungen und Erniedrigungen, Peitschen und Schläge noch immer Alltag sind,
dann möchte ich nicht von Freiheit reden.
Wenn einer von der Freiheit reden will, dann lasst ihn reden, er denkt, er habe recht.
Menschen und Stämme herrschen auf ewig, und immer haben sie recht.
Die anderen ertragen Unterjochung und fallen in Not.
Hier, nein, werde ich nicht von der Freiheit reden.
Hier, in dieser Heimat, wo die Flügel der Banden, Mörder, Kriegsverbrecher und Feinde von Wissenschaft und Erziehung frei schwingen,
die Flügel aller anderen aber gebunden sind und gebrochen,
wo Leib, Seele und Würde der Menschen in den Staub getreten werden,
von den Unwürdigen, die ihre eigene Seele lange schon verkauft haben,
hier, wo rückständige Führer in schnellen Schritten und gezielt wie nie zuvor,
zurück ins Mittelalter eilen und die Nation in Strudel und Tiefe reißen,
hier, nein, da werde ich nicht von der Freiheit reden.
Die Freiheit, dieses in meiner Heimat so seltene Gut, so unauffindbar wie das Elixier eines Krauts, das nicht auf unserer Erde wächst.
Hier möchte ich nicht von Freiheit reden.
Reza Behmanesh
TEIL 1
KAPITEL 1
An der Wand, vor dem alten Tresen, hing das Telefon, beige, mit einer Drehscheibe. Es hing etwas schief, als sei es dort nur provisorisch befestigt worden. Die Schnur war so kurz, dass ich gegen die Wand starren musste, um den Hörer am Ohr halten zu können. Es war ein Montag im März 2004. Ich war seit einem Jahr nicht mehr in Kassel gewesen.
»Hallo«, sagte ich ins Telefon.
Ich hatte noch gar keine Nummer gewählt. Was sagte man jemandem, den man zu lange nicht gesprochen hatte?
Noch einmal probierte ich es: »Hallo.«
Meine Stimme hörte sich fremd an, sie hallte, so als spräche ich durch ein rostiges Rohr, wie sie früher überall herumlagen, als wir noch Kinder waren und in Kabul lebten. Sie lagen auf Schutthaufen, ragten aus lehmigen Mauern, aus denen der Regen sie langsam hervorgewaschen hatte, oder lagen am Straßenrand, im Staub.
Überall war Staub in Kabul, alles war mit dieser braungelben Schicht überzogen, selbst wenn es regnete. Dann schmierte sie, klebte auf den Schildern, auf Autos und Dächern. Ich stellte mir manchmal vor, dass alles sorgfältig mit einem großen Tuch poliert werden müsste, damit die Stadt vielleicht irgendwann wieder glänzen würde.
Wir griffen uns die Rohre und liefen hinter dem Gemüsehändler her, der jeden Tag mit seinem Karren durch unsere Straße zog und mit einem Megaphon die Frische seiner Waren anpries. Gurken, Paprika, Melonen.
»Melonen!«, rief ich durch das Rohr. Meine Stimme hörte sich fremd an, hohl, wie die eines Flaschengeistes. »Frische Melonen!«, rief ich.
In Kabul gab es Melonen, die so süß waren, dass man davon Halsschmerzen bekam. Ich konnte sie schon von Weitem riechen: ein satter, schwerer Duft, wie Parfum. Sie rochen nach Honig und Moschus. Manchmal, wenn meine Stiefmutter und meine Schwestern in der Küche verschwanden, um das Essen vorzubereiten, nahmen mein kleiner Bruder Salim und ich heimlich ein paar Münzen aus dem Krug. Sie waren als Notgroschen gedacht. Und wir kauften uns damit die größte und schönste Melone, die der Händler auf dem Karren hatte.
Es war kein Stehlen. Kein richtiges jedenfalls. Mein Vater achtete sehr darauf, dass wir Kinder genügend Obst aßen. Er kaufte viel Obst, denn wir waren sechs Kinder. Nach dem Essen stand immer eine Schale mit Orangen und prallen Nektarinen auf dem Tisch. Aber Melonen gab es selten. Und wenn Salim und ich endlich eine in den Händen hielten, versteckten wir uns unter der Steintreppe, die zum Hof führte, und aßen sie ganz allein auf, die ganze Melone, bis wir Bauchweh hatten. Nur die Kerne spuckten wir aus und legten sie in die Sonne zum Trocknen. Wenn man Melonenkerne in der Pfanne röstet und mit Salz bestreut, werden sie knusprig wie Chips. Ich habe in Deutschland nie wieder Melonenkerne geröstet, und ich habe nie wieder so süße Melonen gerochen.
Mein ältester Bruder Ramin verdiente damals schon eigenes Geld; er verkaufte Zigaretten und Kaugummis. Ramin hatte von meinem Onkel einen Bauchladen geschenkt bekommen, stabil und aus dunklem Holz, den er sich mit einem Gurt um den Nacken hängen konnte. Gleich nach der Schule sortierte er die Ware, schichtete sie sorgfältig in den dafür vorgesehenen Fächern auf und lief los.
In Kabul gab es viele Jungen, die mit so einem Bauchladen zum Familieneinkommen beitrugen. Ramin war mächtig stolz, eigenes Geld zu verdienen und meinen Vater damit zu unterstützen. Wie ein Erwachsener fühlte er sich dann. Es war also auch Ramins Geld, das in dem Krug lag und von dem wir uns heimlich Melonen kauften. Und Salim und ich waren uns sicher - zumindest redeten wir uns das ein -, dass unser ältester Bruder bestimmt nichts dagegen haben würde, wenn wir uns ein wenig davon nähmen.
Das war wichtig. Denn unser Vater hatte uns drei Dinge beigebracht, die wir in unserem Leben unter allen Umständen einhalten mussten:
Nicht stehlen.
Nicht lügen.
Und immer zusammenhalten.
Mein Vater ist kein gebildeter Mann. Man muss nicht die Schule besucht haben, um klug zu sein. Und mein Vater ist sehr klug.
Stehlen war etwas anderes. Das habe ich auch einmal getan. Ich war fünf, und ich wusste, dass ich etwas Verbotenes tat.
Ramins Ware lagerte in der Speisekammer. Es war ein schmaler, enger Raum. Die Speisekammer war ein wunderbarer Ort, dunkel und ein wenig muffig. Dort gab es neben Linsen, Erbsen und Reis auch gebrannte Mandeln, für Gäste, die manchmal zu Besuch kamen. Und dort standen die Stöckelschuhe meiner Schwester Mina. Sie waren aus schwarzem Lack, spitz und mit Pfennig-Absätzen. Mina stopfte sie immer mit Papier aus, damit sie ihre Form behielten. Sie trug diese Schuhe sehr selten, eigentlich nur zu Hochzeiten. Für mich waren sie ein Heiligtum, das man noch nicht einmal anfassen durfte, so bedeutend.
Im obersten Fach lag Ramins Ware. Die Kaugummis, Würfel aus einer grell-pinken Masse, waren mit feinem, grauem Papier umwickelt. Kaugummis waren mit das Wertvollste, was ein Kind in Kabul besitzen konnte. Ich nahm mir gleich zwei Pakete. In jedem Paket waren acht Kaugummis. Die Hälfte davon gab ich meinem kleinen Bruder Salim ab. Wir hatten großen Spaß an diesem Tag. Wer die größeren Blasen machte, hatte gewonnen. Wir bliesen, bis sie platzten und in einem zähen, dünnen Film an Nase, Kinn und Wangen klebten.
Dann kam Mina. Mina war die Älteste von uns - und die Strengste, strenger sogar als Vater. Sie holte einen Stock. Salim und ich bekamen jeder zehn Hiebe verpasst.
»Tuba kadom, Tuba kadom,« riefen wir, was so viel heißt wie: »Bei Gott, wir werden es nie wieder tun.« Dabei zogen wir uns selbst an beiden Ohrläppchen, in Afghanistan ein Zeichen tiefer Reue. Mina sollte nicht mehr böse auf uns sein.
Mein Vater fuhr in Afghanistan Lastwagen und blieb manchmal eine ganze Woche von zu Hause weg. Ich beneidete ihn darum, einfach loszufahren in seinem Lastwagen, an fremden Menschen und bunten Landschaften vorbei. Wie frei musste er sich fühlen, dachte ich damals. Wenn wir etwas ausgefressen hatten, Salim und ich, hofften wir, dass Mina es bis zu Vaters Rückkehr vielleicht vergessen hätte. Dieses Mal vergaß sie es nicht. Aber von unserem Vater bekamen wir keine Schläge. Er sah nur sehr traurig aus, fragte: »Chejalat Namekishi, duzi kar bissar bad ast?« Diebstahl ist etwas sehr Schlimmes. Schämt ihr euch nicht? Das war schmerzhafter als jeder Stockhieb. Wir schämten uns sehr, und ich habe nie wieder von den Kaugummis gestohlen.
Das mit den Melonen hat Mina nicht herausbekommen. Es ist Salims und mein süßes Geheimnis geblieben, die ganzen Jahre lang.
Und nun, an diesem Montag im März 2004 am Telefon, zwölf Jahre später und 6795 Kilometer von Kabul entfernt, zwischen Wand und altem Tresen, klang meine Stimme plötzlich wieder wie damals durch das Rohr, als ich die Melonen anpries, wie die eines Flaschengeistes, so weit, weit weg.
Was sagt man jemandem, den man zu lange nicht gesprochen hat? Und dem man so viel angetan hat, als seien hundert Jahre nicht genug, um zu vergessen?
»Hallo«, hörte ich mich noch einmal durch den Hörer sagen. Dieses Mal hatte ich die Nummer gewählt.
Stille am anderen Ende der Leitung. Dann: »Wer ist da?«
Pause.
»Ich bin es. Zohre.«
»Wo bist du?«
Die Stimme am anderen Ende klang nicht hohl wie meine, noch nicht einmal belegt. Sie klang wie immer, als hätte ich sie vor Tagen erst gehört, tief und warm. Sie gehörte dem Menschen, den ich am meisten vermisst hatte.
»Ich bin in der Stadt«, sagte ich.
Ein Jahr war es her, dass ich die Stimme meines Vaters das letzte Mal gehört hatte. Ein Jahr, dass ich von zu Hause weggelaufen war, geflüchtet war, meine Familie verlassen hatte.
Wir lebten da schon vier Jahre in Deutschland, in Kassel, genauer gesagt in Vellmar: Sachsenring, drei Hochhäuser, je sieben Etagen hoch. Doch für mich war es Afghanistan geblieben. Nicht schwimmen, nicht telefonieren, nicht Fahrrad fahren, Brüder, die über mich wachten. Mein Vater ließ es zu. In dieser Stadt war er ein anderer geworden, irgendwo auf dem Weg zum Asylbewerberamt, in dem er die Formulare nicht lesen konnte, oder beim Zahnarzt, den er nicht verstand. Oder aber in dem Supermarkt, in dem jeden Tag die blonde Frau an der Kasse saß, mit einem Jersey-Oberteil, das gerade einmal die Brustwarzen bedeckte. Nach ein paar Wochen ging mein Vater nicht mehr in den Supermarkt, sondern zum Türken, aus Angst, dass ihm jemand Schweinefleisch verkaufte. Nur wenn ich ihn lange beobachtete, seinen Gang, immer so aufrecht, erkannte ich sie noch, diese Würde, die ihn zu einem einzigartigen Menschen machte, für mich zum wichtigsten Menschen der Welt.
Als kleines Mädchen hatte ich ihn in Kabul oft heimlich vom Fenster aus beobachtet, wenn er sich im Hof wusch, als Vorbereitung zum Gebet. Es war das Erste, was er tat, wenn er von der Arbeit kam. Nicht wie meine Brüder, die manchmal mit dem Stock überzeugt werden mussten, zumindest aber mit Belehrungen.
Einmal hatte ich geträumt, er würde sterben. Es war ein strenger Winter in Kabul. Ich war so unglücklich, eine tiefe Trauer begleitete mich an diesem Tag, so als würde es nie wieder Sommer werden. Nie hatte ich mir vorstellen können, auch nur einige Wochen ohne meinen Vater zu sein.
Mein Herz hüpfte, als ich ihn an dem Tag endlich im Hof stehen sah, wie er sich über das Becken beugte, gleich neben dem Toilettenhäuschen, in klirrender Kälte. Er krempelte seine Ärmel hoch, fuhr dann mit der linken, nassen Hand von der Stirn zum Kinn, benetzte den rechten Unterarm mit Wasser, wusch mit der rechten Hand den linken Unterarm, fuhr über die Ellenbogen bis hinunter zu den Fingerspitzen, strich sich weiter vom Scheitel bis nach vorne in Richtung Haaransatz. Zuletzt glitt er mit der Hand von den großen Zehen zu den Knöcheln, mit gleichmäßigen Bewegungen, sehr langsam, wunderschön, wie ein trauriger Tanz sah das aus.
Als er endlich die Wohnstube betrat, stürmte ich auf ihn zu, umarmte und küsste ihn. »Was ist los, meine Kleine?«, fragte er. Ich erzählte von meinem Traum, und er nahm mich noch fester in den Arm. »Weißt du, Zohre«, sagte er, »es ist gut, dass du das geträumt hast. Denn immer wenn jemand so etwas träumt, dann lebt derjenige, der im Traum gestorben ist, im wahren Leben noch länger.«
Der Tag, an dem ich ihn verließ, war kalt. Ich stand um 6.30 Uhr auf, wie jeden Morgen, wenn ich zur Schule ging, wusch mein Gesicht, ging in die Küche, aß eine Scheibe Graubrot mit Erdbeermarmelade, wie ich es jeden Morgen getan hatte, seit wir in Deutschland lebten. Es war wie immer, nur, dass ich am Abend zuvor meine schwarze Reisetasche im Hausflur versteckt hatte, damit niemand, der morgens aufwachte, Verdacht schöpfte. Als ich in den Morgen trat, waren die Bäume mit Raureif überzogen. Nur einmal drehte ich mich noch um. Das ganze Hochhaus war noch dunkel. Wie ein Riese warf es mit dem ersten Tageslicht seinen Schatten auf mich, als wollte es mich einfangen. Doch ich ließ mich nicht mehr fangen.
Es gibt Dinge, die auch Afghanen nicht verzeihen. Dann fallen Mädchen von Brücken, oder Autos fahren sie an, so etwas passiert in meiner Kultur. Meine Brüder würden mich suchen, das wusste ich.
Und an diesem Montag vor dem Telefon, im März 2004, wusste ich nicht, ob genug Zeit verstrichen war, ob ein Jahr genug war, um Frieden zu schließen mit dem, was ich getan hatte. Mit dem, was ich heute war.
Ich hatte ihn verlassen. Einfach so. Es hatte sich entwickelt. Und es hatte diesen einen Abend gegeben, an dem alles zu viel wurde und an dem ich entschied zu gehen. Mein Vater und ich stritten, ich weiß nicht mehr worüber, vielleicht war es das Internet, das ich nicht nutzen durfte und es trotzdem tat. Oder aber die Stunde, die ich länger gebraucht hatte, auf dem Weg von der Schule nach Hause, in der ich heimlich durch die Stadt schlenderte und durch die Geschäfte. Es fielen schlimme Worte, so schlimme Worte, wie sie in Deutschland keiner sagen würde. Afghanen können sehr gemeine Worte sagen, böse, laut und dreckig.
Wie ich sie gehasst habe, diese Worte, die ich von den Frauen kannte in Kabul, die im fettigen Dunst der Küche lästerten, so entsetzlich laut und böse. Frauen in Afghanistan konnten besonders gut schimpfen, gnadenlos, vielleicht, weil sie im Haus sonst nicht viel erlebten. Aus dem Mund meines Vaters hatte ich solche Worte noch nie gehört. Sie trafen mich, rammten sich tief in meinen Magen, wühlten in mir, sodass mir übel wurde. Und sie waren so böse und dreckig, dass ich sie bis heute nicht aussprechen kann. Sie bezeichneten etwas, was Männer denken, afghanische Männer, das abscheulichste über Frauen, die in Hamburg auf der Reeperbahn oder in Kassel an der Schillerstraße ihr Geld verdienen. Ich glaube nicht, dass Afghanen böser sind als Deutsche, nur weil sie diese Worte sagen. Sie gehen mit ihren Emotionen nur anders um, wie Kinder, benutzen Schimpfwörter schneller, wütender. Afghanen sind aber auch schneller im Verzeihen.
Ich bin, war immer schon, anders. Und an diesem Abend, als mein Vater diese bösen Worte zu mir sagte, merkte ich, dass ich nicht schnell verzeihen würde. Ich musste gehen.
KAPITEL 2
Ich war dreizehn, als ich das erste Mal mein Zuhause verließ, als wir aus Kabul fortgingen, weg von den Taliban. Die meisten meiner Geschwister waren schon geflüchtet. Mein Vater, meine Stiefmutter, mein kleinster Bruder Salim und ich, die Jüngste von allen, waren noch da. Und meine Schwester Mina, die schon einen Mann hatte und zwei Babys.
Einige Male schon hatten wir Kinder, Salim und ich, mitbekommen, wenn mein Vater mit meinen Onkeln darüber gesprochen hatte, dass es in Afghanistan keine Hoffnung mehr gäbe. Dass wir weg müssten aus Kabul. Sie saßen auf dem Teppich neben dem Ofen, machten ernste Gesichter und tranken Assam-Tee. Für mich waren es nichts als leere Versprechungen, eine Art Hinhaltetaktik, ausgedacht von meinen Eltern, damit ich artig bliebe. Immer wenn ich auf dem Markt mit den vielen schönen Dingen, den bunten Stoffen, schönen Tüchern, dem Schmuck, etwas haben wollte, bettelte, dass meine Stiefmutter mir doch bitte etwas kaufe, hieß es, das brauchen wir nicht mehr, wer weiß, ob wir nicht doch nach Deutschland gehen.
An diesem Nachmittag war es anders. Die Stirn meines Vaters warf tiefe Falten, er saß in einer Wolke aus blauem Dunst, rauchte, was er sonst nie tat. Und schließlich wurden wir Kinder aufgefordert, uns in die Männerrunde zu begeben; auch das passierte sonst nie. Und als Vater dann sagte: »Wir gehen nach Deutschland«, einfach so, ohne Erklärung, ohne Einschränkung, ohne das Wort »wenn«, da wusste ich, dieses Mal würde es wahr.
In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Salim ging es ebenso, wir redeten nicht darüber, aber er wälzte sich neben mir auf seiner Toshak. In Afghanistan gab es keine Betten, sondern Matten. Sie waren selbstgenäht und mit Wolle ausgestopft, die meine Stiefmutter aus alten Pullovern auftrennte. Da wir nur einen Raum hatten, in dem wir lebten und schliefen, waren die Toshaks praktisch. Am Tag sitzt man darauf oder rollt sie zusammen und verstaut sie in der Ecke. Salim und ich waren dafür zuständig. Manchmal stritten wir so heftig darüber, wer sie am Morgen ausklopfen und verstauen musste, dass wir uns schubsten und schlugen. Und ich glaube, in dieser Nacht schliefen auch mein Vater und meine Stiefmutter nicht, sondern dachten nach, jeder für sich, auf seiner Toshak.
Europa, das waren für mich die Kleider meiner Tante, die längst in Frankfurt wohnte und die uns zwei Mal besucht hatte. Wir Afghanen haben sehr viele Tanten, Onkel und Cousins. Es kam oft vor, dass Cousins oder Cousinen älter waren als Tanten und Onkel, das war bei uns so.
Diese Tante aber war eine besondere, weil sie aus Europa kam. Sie brachte immer Zahnbürsten und Paste mit, die nach Pfefferminze schmeckte, nicht nach Seife wie die aus Kabul. Und Gummibärchen für Salim und mich. Ein Jahr lang hielten sie und waren am Ende so hart, dass man sie im Mund mit Spucke aufweichen lassen musste, bevor man sie kaute. Meine Stiefmutter bewahrte sie in einer Truhe aus Metall auf, die man mit einem Schlüssel verschließen konnte und in der sie alles aufbewahrte, was ihr gehörte, die goldene Kette und ihre Kleidung. Die schnürte sie zu Paketen, bevor sie in die Truhe kamen, immer Hose und Kleid zu einem Paket. In Afghanistan trugen Frauen unter dem Kleid nämlich auch noch eine Hose. Und so musste meine Stiefmutter morgens nur einmal in die Truhe greifen.
Tücher und Burkas dagegen - meine Stiefmutter besaß eine himmelblaue wie ich auch - hingen direkt am Eingang, damit wir sie schnell überstülpen konnten, wenn wir auf die Straße treten mussten oder jemand klopfte, was nicht besonders oft geschah. Aber wenn es geschah, waren wir Frauen sehr aufgeregt, und es war wie ein Spiel. »Wo ist mein Kopftuch, schnell, wirf es herüber«, riefen wir dann alle durcheinander, kicherten. Ich fand die Aufregung immer ein wenig übertrieben, vielleicht verhielten wir uns so, weil sonst nicht viel passierte. Auf der anderen Seite wussten wir, wie gefährlich es war, die Tür mit verrutschtem Tuch zu öffnen. Es war in Afghanistan nämlich streng verboten, dass Frauen Fremden auch nur ein Haar zeigten.
Diese eine Tante jedenfalls trug keine Burka, obwohl fast alle Frauen in Kabul jetzt eine trugen. Sie bedeckte die Haare mit einem Tuch, das sie fest unter dem Kinn zusammenband, und trug dazu einen langen Mantel. Ich fand das mutig.
Wenn sie den Mantel ablegte, sah ich ihre Kleider. Sie waren so elegant, ich hatte so schöne Kleider noch nie gesehen. Und wie sie rochen, so sauber und frisch, wie nach Europa! Das letzte Mal ließ sie ihre Lederschuhe zurück, rot mit einem apfelgrünen Streifen in der Mitte. Sie waren mir viel zu groß, aber dennoch bin ich damit herumgelaufen, habe in der ganzen Nachbarschaft damit angegeben: Schuhe, die aus Deutschland kamen.
In dieser Nacht stellte ich mir vor, alles in Deutschland wäre so wie die Farben dieser Schuhe. Ich würde jeden Tag Saft trinken, mir eine Safttüte aus dem Kühlschrank nehmen und ein großes Glas damit füllen. Orangensaft, Traube oder Multivitamin. Meine Tante hatte davon erzählt. In Afghanistan gab es keinen solchen Saft aus Tüten. Wir tranken Wasser aus dem Tank, der am Ende unserer Straße stand und zu dem wir Kinder mit großen Tonkrügen geschickt wurden. Wir hatten auch einen eigenen Brunnen im Hof, doch der war voller Kakerlaken, das Wasser benutzten wir lediglich zum Putzen, Wäschewaschen oder gossen Bäume damit. In Deutschland würde Wasser aus einem Hahn fließen, wie ich es im Fernsehen gesehen hatte. Und ich würde mit offenen Haaren und in Jeans auf Gehwegen schlendern, entlang der Straßen, die mit glattem Asphalt überzogen sein würden, die Häuserfassaden würden sauber sein, aus Glas. Ich war sehr aufgeregt in dieser Nacht. Und gleichzeitig tief traurig. Keine Zeit in Afghanistan habe ich so intensiv erlebt wie diese acht Wochen bis zu unserer Flucht.
Wenn meine Stiefmutter mich zum Bäcker schickte, dachte ich jedes Mal, es könnte das letzte Mal sein. Ich ging über den Hof, in dem ich im Winter Schneehäuser baute, als ich meiner Stiefmutter noch nicht in der Küche helfen musste. Im Frühling, wenn der Schnee taute, blühten dort ein Kirsch- und ein Apfelbaum. Sogar Trauben hatten wir, die zwar sauer und daher ungenießbar waren, deren Blätter aber im Sommer Schatten spendeten. Wie oft hatte ich darum gebettelt, einmal im Hof schlafen zu dürfen, unter freiem Himmel, die Sterne zählen, von denen es in Kabul besonders viele gab, wenn wieder einmal Stromausfall war.
Ich ging an den Pappeln vorbei, die unsere Straße säumten und an die Zeit erinnerten, in der es in Kabul noch friedlich zuging. Ich hatte gehört, dass es früher einmal viel mehr Bäume in Kabul gegeben haben musste, vor dem Krieg und lange vor den Taliban. Doch die Sommer waren heiß und Wasser zu kostbar, um junge Bäume zu gießen. Und im Winter ist es kalt in Kabul, bitterkalt. Die Menschen brauchen Holz für ihre Öfen. Ich sog noch einmal den Duft der Stadt auf, die Gerüche von frischem Obst, Frittiertem und Abgasen, die sich mischten mit dem erbärmlichen Gestank aus den Rinnsalen neben den Gehwegen, die wie faule Eier rochen und nach Kot. Ich hörte das Knattern der alten Mofas, auf denen junge Männer saßen, um schneller durch den Stadtverkehr zu kommen.
Früher haben wir unser Brot selbst gebacken. Meine Stiefmutter konnte so gut Brot backen, dass sogar Nachbarn vorbeikamen, um es ihr abzukaufen. Im Hof, links neben der Treppe, unter der Salim und ich heimlich die Melonen aßen, war ein Loch im Boden eingelassen, in dem ein großer, bauchiger Tonbehälter steckte, unter dem man Feuer machte. Meine Stiefmutter teilte den Teig in gleich große Portionen, formte sie zu Kugeln, um sie dann von einer Hand in die andere zu klatschen, damit sie wieder flach würden. Sie war dabei so schnell, dass es beinahe aussah, als bliebe der Teig in der Luft stehen. Ich habe ein paarmal versucht, es nachzumachen, gab es aber bald auf: Niemals würde ich es so beherrschen wie meine Stiefmutter. Wenn der Teig flach genug war, warf sie ihn in der Mulde gegen die Tonwand, wo er kleben blieb und Blasen warf.
Die Brote schmeckten köstlich, besonders wenn sie mit Knoblauchöl bestrichen waren. Salim und ich bekamen zum Abendessen immer eigene Brote, ein wenig kleiner als die anderen, Kinderbrote. Wenn wir sie zwischen dem Fladenberg nicht gleich entdeckten, schrien wir schon: »Wo sind unsere? Wo sind unsere Brote?« Wir liebten es, eigene Brote zu bekommen, sie nicht mit anderen teilen zu müssen, sie ganz für uns zu haben.
Irgendwann übernahm der Bäcker die Arbeit unserer Stiefmutter, und von da an gab es auch keine Kinderbrote mehr. Wir seien zu alt dafür geworden, meinte auch Vater. Der Bäcker hatte auch so einen Ofen wie wir, nur war der viel größer. Den Teig brachten wir mit. Ich wurde nur sehr selten zum Bäcker geschickt; Mädchen durften sich nicht allein, ohne männliche Begleitung, außer Haus aufhalten. Nur im Notfall, wenn Vater und Salim nicht zu Hause waren und meine Mutter kochte, wurde ich geschickt. Im Laden warteten sie schon in einer langen Schlange, bis der Bäcker, schwitzend und mit weißer Haube auf dem Kopf, die Brote aus dem Ofen holte. Ich fand den Besuch immer sehr spannend. Besonders, weil ich dort Leute traf. Man beobachtete, musterte einander, vor allem die Frauen, sie gingen schließlich nicht oft aus. Trotz der Burka erkannte man sich anhand der Bewegungen - und der Schuhe. In Afghanistan haben die Frauen nicht gleich mehrere Paare, und Schuhe konnte man viele Jahre lang besitzen. Und wenn man in so einer Schlange stand, dann tratschte man, sodass man immer die neuesten Geschichten aus der Nachbarschaft kannte, wenn man vom Bäcker kam.
Ein einziges Mal nahm ich nicht den direkten Weg zurück zum Haus. Ein Gefühl stieg in mir auf, das passierte mir einfach ab und zu, es war etwas zwischen einer leichten Unruhe und der puren Freude, auf der Welt zu sein. Ich dachte, sie sei zu schön, um nicht erforscht zu werden. Meine Stiefmutter beschwor meinen Vater immer wieder, doch etwas dagegen zu unternehmen. Gegen diese Neugierde, die so gar nicht zu einem afghanischen Mädchen passte. Damit würde ich ihnen allen noch einmal viele Probleme bereiten. Sie hatte recht. Ich war nicht das brave Mädchen, das sie sich erhofft hatten, nicht in Kabul und schon gar nicht in Kassel. Damals hoffte ich, meine Eltern würden von diesem Ausflug nichts erfahren, was auch tatsächlich nie geschah.
Wenn mein Vater nicht arbeitete und einige Tage in Kabul blieb, dann gingen wir zusammen in einen der Telefonläden, die es an jeder Straßenecke gab, meine Stiefmutter, mein Vater und ich, weil ich darauf bestand, mitgehen zu dürfen. Aus diesen Läden konnte man überall hin telefonieren, sogar nach Europa. Sie heißen Mochaberat, man ging hinein, zog eine Nummer und wartete dann ziemlich lange, denn wie beim Bäcker gab es immer eine Schlange. Und wie beim Bäcker beobachtete man sich. Musterte sich von Kopf bis Fuß. Nur dass man sich in einem Mochaberat irgendwie besonders fühlte, wichtiger als beim Bäcker. Schließlich wussten alle, man würde vielleicht gleich mit jemandem aus dem Ausland sprechen. Wir waren wegen meines Bruders Ramin dort, der mittlerweile in Deutschland lebte. Wenn es so weit war, bekamen wir eine Kabine zugewiesen. Zu dritt war es schrecklich eng darin. Ich wollte auch mit Ramin sprechen und habe gebettelt, auch an den Hörer zu dürfen. Meine Stiefmutter verneinte meist, sie sagte, das koste zu viel. Dabei wollte ich nur kurz einmal Ramins Stimme hören.
© 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln
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Bibliographische Angaben
- Autor: Zohre Esmaeli
- 2014, 4. Aufl., 254 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404607724
- ISBN-13: 9783404607723
- Erscheinungsdatum: 14.02.2014
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