Meine Rache wird dich finden
Eine Ausflugsfahrt wird zur Reise in den Albtraum: Dylan Sanders wird beschuldigt, seine Ex-Freundin ermordet zu haben. Doch Dylan kann sich an nichts erinnern. Er sucht Hilfe bei einem Medium. Kann Catherine die Wahrheit sehen?
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Produktinformationen zu „Meine Rache wird dich finden “
Eine Ausflugsfahrt wird zur Reise in den Albtraum: Dylan Sanders wird beschuldigt, seine Ex-Freundin ermordet zu haben. Doch Dylan kann sich an nichts erinnern. Er sucht Hilfe bei einem Medium. Kann Catherine die Wahrheit sehen?
Lese-Probe zu „Meine Rache wird dich finden “
Meine Rache wird dich finden von Barbara Freethy Prolog
Golden Gate Park, San Francisco
Sie würde sterben. Der entsetzliche Gedanke ließ sie ins Stolpern geraten, und einer ihrer Pfennigabsätze blieb in einem Riss im Pflaster hängen. Sie stürzte und fing ihren Fall mit den Händen ab. Kleine Steinsplitter bohrten sich in ihre Handteller und Knie. Für einen Augenblick war sie versucht, einfach aufzugeben. Sie fror und war so müde, doch wenn sie jetzt resignierte, würde er sie schnappen. Dann gab es kein Morgen mehr, keine zweite Chance.
Sie zwang sich aufzustehen, zog die Schuhe aus, weil ein Absatz abgebrochen war, flüchtete tiefer in den Park hinein. Das Gras unter ihren Füßen war nass, dichter Nebel hüllte die Bäume und Sträucher ein. Der feuchte Nebel mischte sich mit den Tränen, die ihr über die Wangen rannen.
Sie war nie eine Heulsuse gewesen, doch dies war einfach zu viel. Noch nie hatte sie sich so allein gefühlt oder eine solche Todesangst empfunden. Wohin sie sich auch wandte, er blieb ihr auf den Fersen. Es schien kein Entkommen zu geben. Wie schaffte er es, sie immer wieder aufzuspüren?
Sie hörte Schritte, das Knacken von Zweigen, das Geräusch eines Automotors in der Ferne. War er das?
Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, auf den belebten Großstadtstraßen zu bleiben, doch sie hatte geglaubt, die hohen Bäume und dichten Büsche würden ihr Schutz bieten, sie ein Versteck finden lassen. Doch nun musste sie erkennen, wie verlassen der Park nachts war. Keine Menschen, keine Telefonzellen, keine Lokale, in die sie hätte flüchten können. Sie war völlig allein, ganz auf sich gestellt.
... mehr
Sie schnappte erschrocken nach Luft und blieb abrupt stehen, als eine schemenhafte Gestalt aus dem Unterholz trat. Ihr Herz klopfte heftig. Der Mann kam auf sie zu, hatte eine Hand ausgestreckt. Seine Kleidung war alt und zerrissen, und er hatte einen Vollbart. Er trug eine Baseballkappe und einen Rucksack auf dem Rücken. Wahrscheinlich war er einer der Obdachlosen, die in dem Park übernachteten. Vielleicht aber auch nicht ...
»Hey, Baby, wie wär's mit einem Kuss«, sagte er im schleppenden Tonfall eines Betrunkenen.
»Lassen Sie mich in Ruhe.« Sie streckte einen Arm aus, damit er stehen blieb, doch er kam weiter auf sie zu.
»Sei ein bisschen freundlicher. Komm schon, meine Süße.«
Sie wandte sich um und rannte so schnell wie möglich in die andere Richtung, während er ihr etwas nachrief. Sie wusste nicht, ob er ihr folgte, und war zu verängstigt, um einen Blick über die Schulter zu werfen. Sie verließ den Weg, suchte nach einem verborgenen Winkel, wo sie sich verstecken konnte. Ihre Füße waren nass, und sie hatte Seitenstiche. Sie musste unbedingt eine Zuflucht finden. Zweige kratzten an ihren nackten Armen und schlugen ihr ins Gesicht, aber sie lief weiter. Es war so dunkel, dass man kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Wegen der hohen Bäume und des dichten Nebels war der Mond nicht mehr zu sehen.
Glücklicherweise hatte sie schützend eine Hand vor ihrem Körper ausgestreckt, als sie gegen eine Betonwand stieß, die hoch vor ihr aufragte. Sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen, und lauschte, aber außer ihren eigenen unregelmäßigen Atemzügen hörte sie nichts. Vielleicht war sie in Sicherheit, zumindest fürs Erste.
Sie lehnte sich gegen die kalte Betonwand und dachte darüber nach, wie es weitergehen sollte, doch sie wusste nicht, was sie tun sollte. Es gab keinen Ausweg mehr.
Wie hatte es so weit kommen können, dass sie um ihr Leben fürchtete und ganz allein auf der Flucht war? Sie hatte sich ihr Leben anders vorgestellt. Es war Dylans Schuld. Er hatte sie in diese Lage gebracht, und verdammt, wo zum Teufel war er?
Aber sie konnte nicht damit rechnen, dass er sie retten würde. Sie musste allein einen Ausweg finden. So durfte es nicht enden. Sie kämpfte nicht zum ersten Mal um ihr Leben, und bisher hatte sie den Kampf gewonnen. Sie würde es wieder schaffen.
Ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus, als sie ganz in der Nähe einen Zweig zerbrechen hörte. Jemand pfiff in der stillen Nacht. Wer immer da kam, es war ihm egal, wenn sie ihn hörte. Vor ihr trat jemand langsam aus den Büschen. Nackte Angst überkam sie. Es gab kein Entkommen mehr.
1
Zwei Tage früher - Lake Tahoe, Nevada
Dylan Sanders schlenderte zur Bar, setzte sich an die Theke und bestellte einen Whiskey. Er genoss das Brennen in der Kehle. Als er das Glas geleert hatte, orderte er sofort das nächste. Er mochte keine Hochzeiten und ließ sich sonst einiges einfallen, um nicht daran teilnehmen zu müssen, doch diesmal hatte er unmöglich kneifen können. Er war froh, der Trauzeuge seines Bruders gewesen zu sein, und in einer Stunde war sowieso alles überstanden.
Durch die offene Tür der Bar sah er auf der Terrasse der Woodlake Mountain Lodge seinen Bruder Jake und dessen Frau Sarah bei ihrem ersten Tanz als Ehepaar. Bei Kerzenlicht, in der Abenddämmerung, vor dem Hintergrund eines bläulichvioletten Himmels. Sie wirkten sehr glücklich, ganz so, als hätte es das letzte Jahr nicht gegeben. Und sie hatten diese schlimme Zeit überstanden. Ab jetzt würde alles glattgehen - zumindest hoffte er es für die beiden. Er lächelte, als eine von Sarahs Freundinnen mit Caitlyn auf die Tanzfläche trat, dem achtzehn Monate alten blonden Engel, der die Attraktion der Hochzeitsfeier war. Wie üblich wollte Caitlyn im Mittelpunkt stehen. Jake nahm sie auf den Arm, und sie tanzten zu dritt, als Familie.
Dylan kippte den nächsten Drink hinunter und verdrängte den lächerlichen Gedanken, dass er neidisch auf ihr Glück war. Er liebte seinen Bruder, sehnte sich selbst aber nicht nach Weib und Kind. Angesichts der kaputten Ehe seiner Eltern hatte er keine Lust, diese Erfahrung selbst machen zu müssen. Trotzdem hoffte er natürlich, dass bei Jake und Sarah alles gut gehen würde und dass es nicht irgendwann zur Scheidung kam.
Eine kühle abendliche Brise blies durch die offenen Türen, und er bekam eine Gänsehaut. Aber nicht der Wind machte ihn nervös, sondern die schöne Rothaarige, die sich neben ihm auf den Barhocker setzte.
»Trinken Sie auf das Wohl Ihres Bruders, oder bedauern Sie nur, dass es wieder einen Junggesellen weniger gibt?«, fragte Catherine Hilliard.
Er stellte sein Glas auf die Theke. Catherine sah heute völlig anders aus als bei ihrer ersten Begegnung. Keine mit Farbspritzern befleckten Klamotten, und sie ging nicht barfuß, sondern in Schuhen mit hohen Absätzen. Sie trug ein tolles schwarzes Kleid mit tiefem Dekolleté, das ihre wundervollen Brüste mehr als nur erahnen ließ. Er mochte die Sommersprossen auf ihrer Brust und verspürte plötzlich das unwiderstehliche Bedürfnis, sich davon zu überzeugen, ob sie überall welche hatte.
Er lockerte seine Krawatte, nicht gerade glücklich über die schlimmen Gedanken, die ihm da durch den Kopf gingen. Catherine war eine alte Freundin seiner neuen Schwägerin Sarah und daher für ihn tabu. Außerdem war sie ein bisschen verrückt. Sie malte unheimliche Bilder und hatte hellseherische Fähigkeiten. Aber sie hatte ein großes Herz und war ihren Freunden und Freundinnen gegenüber extrem loyal.
»Sie starren mich an«, sagte Catherine geradeheraus.
»Weil Sie eine faszinierende Frau sind.« Warum hatte er sich nicht auf die Zunge gebissen?
Sie lächelte. »Ein guter Anfang für unsere Plauderei. Die Trauung war wundervoll, oder? Jake und Sarah passen gut zusammen. Ich denke, sie haben eine Chance.«
»Eine Chance? Das klingt ja äußerst enthusiastisch.« Manchmal hatte auch Catherine einen Hang zum Sarkasmus.
Sie zuckte die Achseln. »Viele glückliche Ehen habe ich in meinem Leben nicht gesehen.«
»Ich auch nicht. Also, was haben Sie die letzten zwei Monate gemacht? Viel gemalt?«
»Jeden Abend. Ich habe sogar Sie gemalt. Eine ziemliche Herausforderung.«
Er hob eine Augenbraue. »Im Ernst? Möchte ich das sehen?«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Vielleicht zeige ich Ihnen das Bild irgendwann.«
»Ich bin nicht oft da oben an der Küste.« Catherine lebte in San Luis Obispo, er in San Francisco, drei Autostunden entfernt. Er musste zugeben, während der letzten Wochen häufig an sie gedacht zu haben, doch glücklicherweise hatte ihn die viele Arbeit abgelenkt. Er war Enthüllungsjournalist beim Sender KTSF Television News in San Francisco.
Der Barkeeper bot Catherine ein Glas Champagner an, und sie nahm es. »Das Bild ist in meinem Wagen. Ich möchte noch ein bisschen daran arbeiten. Ich bleibe ein paar Tage in der Woodlake Mountain Lodge.«
»Und wer wacht über Ihren Privatzoo?«, fragte er. »Ich hätte mir gar nicht vorstellen können, dass Sie die Tiere allein lassen. « Catherine hatte zwei Katzen, zwei Hunde und einen auf ärgerliche Weise geschwätzigen sprechenden Vogel. In gewisser Weise war er neidisch auf sie. Er hatte als Kind nie ein Haustier haben dürfen, und als er Catherine mit ihren Apportierhunden am Strand hinter ihrem Haus beobachtet hatte, war es ihm so erschienen, als hätte er etwas verpasst. Aber natürlich hatte er im Leben noch ganz andere Dinge verpasst. Dass er kein Haustier besaß, war die geringste seiner Sorgen.
»Meine Nachbarin Lois passt während meiner Abwesenheit auf die Tiere auf. Sie werden mir fehlen, aber die Berge hier sind wundervoll, und ich war für eine Weile nicht mehr allein weg. Im Gegensatz zum Meer bei San Luis Obispo wirkt dieser See so friedlich und geheimnisvoll. Das spricht mich sehr an. Ich möchte das alles ein paar Tage auf mich wirken lassen.«
Dylan sah den See nicht so wie sie, hatte sich hier aber immer wohlgefühlt. Jahrelang war er mit Jake und Freunden hierhergekommen, auf der Flucht vor einem tyrannischen Vater, der zu ihrem Glück nie die Stadt verließ. Es hatte ihn nicht überrascht, dass Jake hier den Bund fürs Leben schließen wollte. Das war ein guter Start in sein neues Leben. Aber Jake und Sarah würden nicht lange hierbleiben, sondern spät in der Nacht nach Hawaii fliegen, wo sie ihren Hochzeitsurlaub verbringen wollten,
Catherine riss ihn aus seinen Gedanken. »Was ist mit Ihnen? Bleiben Sie übers Wochenende?«
»Ich fahre morgen früh.«
»Sind Sie sicher?«
Seine Miene verdüsterte sich. »Was soll das heißen?«
Der Blick ihrer dunkelblauen Augen war rätselhaft. »Erinnern Sie sich daran, was ich Ihnen über die beiden Frauen erzählt habe, die in Ihr Leben treten werden? Das beginnt hier.«
»Was beginnt hier?«, fragte er, machte jedoch schnell einen Rückzieher. »Wissen Sie was? Es interessiert mich nicht. Ich glaube nicht an Ihre Visionen. Tut mir leid, aber so ist es nun mal.«
»Verstehe.« Sie trank einen Schluck.
Der Ausdruck ihrer Augen gefiel ihm nicht. Er sollte einfach vergessen, was sie gesagt hatte. Sie wollte ihn nur verrückt machen.
Jemand setzte sich auf der anderen Seite neben ihn. Als ihm die Duftwolke eines vertrauten Parfüms in die Nase stieg, drehte er sich um. Die Brünette lächelte ihn breit an. Verdammt, jetzt hatte er ein Problem.
»Vorsicht, Dylan«, flüsterte ihm Catherine ins Ohr. »Sie ist eine von den beiden.«
»Und wer ist die andere?« Catherine war schon aufgestanden. Sie antwortete nicht. Es war egal. Er glaubte die Antwort bereits zu kennen. Aber er würde es nicht zulassen, sich von Catherines Worten beeinflussen zu lassen. In seinem Leben lief alles bestens, und er wollte nicht, dass sich daran etwas änderte.
»Wir müssen reden, Dylan.«
Er wandte sich um und blickte in die hellbraunen Augen einer Frau, von der er nicht geglaubt hätte, dass er sie jemals wiedersehen würde. Erica Layton. Vor sechs Wochen hatten sie eine Nacht zusammen verbracht. Eine Nacht, die er lieber vergessen hätte. Normalerweise schlief er nicht mit seinen Informantinnen, und er hätte auch mit Erica nicht schlafen sollen, doch er hatte getrunken und war irgendwie mit ihr im Bett gelandet. Und jetzt saß sie mit einer erwartungsvollen Miene neben ihm. Was nichts Gutes bedeuten konnte, und um das zu erkennen, brauchte er keine Hellseherin.
Erica reichte ihm ein Glas Champagner.
»Ich trinke Whiskey.«
»Komm schon, wir feiern die Hochzeit deines Bruders. Zum Wohl.« Sie stieß mit ihm an.
Zögernd trank er einen Schluck Champagner. »Was hast du hier zu suchen? Du stehst nicht auf der Gästeliste.«
»Seit zwei Wochen versuche ich, dich zu erreichen und spreche auf deinen Anrufbeantworter, aber du hast nicht zurückgerufen. «
»Ich hatte viel zu tun.«
»Du hattest nicht zu viel zu tun, als du meine Hilfe brauchtest. «
Ihr scharfer Tonfall ließ ihn seufzen. »Ich weiß zu schätzen, wie sehr du mir geholfen hast, Erica, aber es war nur professionelle Zusammenarbeit. Falls du mehr willst, muss ich dich enttäuschen.« Er war überrascht, das überhaupt klarstellen zu müssen. Die gemeinsame Nacht war für beide befriedigend, aber bestimmt nicht der Beginn einer Beziehung gewesen. Und Erica hatte das verstanden. Zumindest hätte er geschworen, dass sie es begriffen hatte. Er ließ sich nie mit Frauen ein, die nicht wussten, wie er in diesen Dingen dachte.
Ericas Miene verhärtete sich, und das wilde Funkeln ihrer Augen beunruhigte ihn. Was hatte sie vor?
»Wir müssen reden«, wiederholte sie.
Ihre Entschlossenheit irritierte ihn. Wenn eine Frau, mit der man vor sechs Wochen geschlafen hatte, plötzlich mit einem reden wollte, bestand die realistische Möglichkeit, dass sie schwanger war. Aber es war kein ungeschützter Sex gewesen. Es war eine Dummheit gewesen, mit ihr zu schlafen, doch der Alkohol hatte ihn nicht sorglos gemacht. Trotzdem war seine Nichte Caitlyn ein gutes Beispiel dafür, dass auf Kondome nicht immer Verlass war. Er trank einen weiteren Schluck Champagner.
Er hatte jetzt keine Lust auf dieses Gespräch. Seine Karriere nahm Fahrt auf. Gerade erst war die größte Story seines Lebens ausgestrahlt worden. Er war auf der Überholspur zum Erfolg. Alles lief wie geplant. An Komplikationen hatte er keinen Bedarf. Sein Blick glitt an Ericas Körper hinab. Sie wirkte schlank wie eh und je. Ihr Cocktailkleid war bis zur Mitte der Oberschenkel hochgerutscht. Sie trug keine Strümpfe, ihre Haut war gebräunt. Rote Stilettos, ein rotes Seidentuch. Nichts deutete darauf hin, dass sie schwanger war, doch wenn es so war, konnte er das Thema auch direkt ansprechen.
»Okay, lass uns reden.« Er gehörte nicht zu denen, die vor Problemen zurückwichen. Worum es auch ging, er würde damit klarkommen.
Erica zögerte, ihr Blick irrte unstet umher. »Nicht hier. Zu viele Leute. Lass uns einen Spaziergang machen.«
Er hatte keine Lust, wollte aber auch nicht an einem öffentlichen Ort mit ihr reden. Auch wollte er seinen Bruder nicht beunruhigen oder ihm die Hochzeitsfeier verderben. Ein Gespräch mit Erica konnte gut eskalieren. Er kannte jede Menge ruhigere und vernünftigere Frauen. Auch jetzt trommelte Erica nervös mit den Fingern auf der Theke herum, und sie blickte sich in dem Raum um, als hätte sie Angst davor, dass sie von jemandem beobachtet wurden.
Vielleicht lag er falsch. Möglicherweise ging es gar nicht um eine persönliche Angelegenheit. Erica brachte sich häufig in schwierige Situationen. Er wusste das, seit sie ihm geholfen hatte, den Senator eines Bundesstaats mit einem Mord in Verbindung zu bringen. Dafür stand er in ihrer Schuld, und deshalb konnte er ihr jetzt wenigstens zuhören.
»Hat es etwas mit Senator Ravino zu tun?«, fragte er leise.
»Natürlich nicht. Er sitzt im Gefängnis und wartet auf seinen Prozess.«
»Ich weiß, und du hast mir und der Polizei geholfen, ihn hinter Gitter zu bringen. Hat er versucht, Kontakt zu dir aufzunehmen? Fühlst du dich in irgendeiner Wese bedroht?«
»Die Polizei sagt, mir drohe keine Gefahr, aber ich kenne den Senator besser als jeder andere. Er hat jede Menge Beziehungen. «
»Was willst du von mir?«
»Ich muss mit dir reden.« Ihre Stimme klang verzweifelt. »Kommst du?«
»Okay.« Er trank sein Glas aus und stand auf.
Erica verließ die Bar. »Wir können einen Weg nehmen, der sich den Berg hinaufschlängelt. Von dort oben hat man einen spektakulären Blick.«
»Woher weißt du das?«
»Ich war früher schon mal hier und konnte mich umsehen.« Sie blickte ihn mit einer unergründlichen Miene an.
Die Woodlake Mountain Lodge war von hohen Kiefern umgeben und stand auf einem Hügel, von dem man auf den glitzernden Lake Tahoe blickte. Neben dem Hauptgebäude stand ein Dutzend rustikaler Holzhütten.
»Da drüben wohne ich. Ich wollte nicht in der Finsternis den Berg hinabfahren, also habe ich mir ein Zimmer gemietet. Schläfst du in dem Hauptgebäude?«
»Ja. Warum bist du hier, Erica? Du hättest in San Francisco Kontakt aufnehmen können. Du weißt, wo ich wohne.« Er konnte sich keinen Reim darauf machen, warum sie den langen Weg zum Lake Tahoe zurückgelegt hatte, um mit ihm zu reden.
»Lass uns den Weg da nehmen.« Sie bog nach rechts ab. »Ich musste dich überraschen. Sonst hättest du einen Vorwand gefunden, mir aus dem Weg zu gehen.«
»Du hättest bis nach der Hochzeit meines Bruders warten sollen. Für ihn ist heute ein großer Tag.«
»Du magst keine Hochzeiten, Dylan.«
»Es sei denn, mein Bruder heiratet.«
Sie rollte die Augen. »Schon klar«, antwortete sie mit einem zynischen Unterton.
Er blieb abrupt stehen. Allmählich verlor er die Geduld. »Hör zu, was immer du zu sagen hast, spuck's einfach aus. Es wird dunkel, und ich habe keine Lust, mich mit dir im Wald zu verirren.«
»Lass uns bis zum Ende des Weges gehen. Das steht eine Bank.« Sie ging weiter, ohne seine Antwort abzuwarten.
Der asphaltierte Weg wurde von kleinen Laternen gesäumt, die etwa drei Meter auseinanderstanden, doch bald war es nur noch ein einfacher Waldweg, und sie waren von Finsternis umgeben. Er wollte Erica zurufen, sie solle umkehren, doch sie war schon ein gutes Stück weg, und ihm klebte die Zunge am Gaumen. Er musste mehr getrunken haben, als ihm bewusst gewesen war.
Wo zum Teufel war die Bank, von der sie gesprochen hatte? Seine Beine waren schwer, und vor seinen Augen begann sich alles zu drehen. Er konnte kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. Was stimmte nicht? Ihm war ganz übel. Er stolperte und konnte im letzten Moment noch einen Sturz verhindern, indem er sich an einem Baumstamm festhielt.
»Erica«, murmelte er, aber er bekam das Wort kaum noch heraus.
Sie drehte sich um und blickte ihn an, machte aber keine Anstalten, zu ihm zu kommen.
»Hilf mir.« Er versuchte den Arm zu heben, doch er war zu schwer.
»Es ist deine eigene Schuld, Dylan«, sagte sie. »Mir blieb keine andere Wahl. Ich konnte nicht anders.«
»Keine andere Wahl? Wovon redest du?«
»Jeder ist sich selbst der Nächste. Du hast es selbst gesagt, Dylan. Ich muss zuerst an mich denken.«
Sie ging ein paar Schritte rückwärts, und kam dem Rand eines steilen Abhanges bedrohlich nahe. Er wollte sie warnen, bekam aber kein Wort mehr heraus. Vor seinen Augen drehte sich alles immer schneller.
Sie musste etwas in seinen Champagner gekippt haben. Er erinnerte sich an dessen zu süßlichen Geschmack. Warum? Was zum Teufel wollte sie? Bevor er sie fragen konnte, gaben seine Beine nach, und er verlor das Bewusstsein.
Catherine Hilliard wachte mitten in der Nacht schweißgebadet und mit Herzrasen auf. Sie blickte auf die Digitalanzeige des Weckers. Vier Uhr vierundvierzig. Seit zwei Monaten wurde sie nachts aus dem Schlaf gerissen, von Angst gepackt, die sie wie eine Flutwelle zu verschlingen drohte. In ihrem Kopf hallten Schreie. Erinnerungen, von denen sie befürchtete, sie nie vergessen zu können ... Aber es waren auch keine klaren, vollständigen Erinnerungen.
Die Ereignisse einer bestimmten Nacht waren vierundzwanzig Jahre lang in ihrem Unterbewusstsein verschüttet gewesen. Alle paar Jahre kamen die Albträume zurück, um sie für einige Wochen zu quälen. Dann verschwanden sie genauso schnell, wie sie gekommen waren. Aber dieses Mal war es anders. Die Albträume wurden schlimmer, und ihre Angst nahm mit jeder Nacht zu. Es war, als stünde ihr etwas Entsetzliches bevor.
Sie stand auf. Nur das Malen konnte ihr die Angst nehmen.
Auf der Staffelei wartete eine unbemalte Leinwand. Sie holte ihre Pinsel und Farben, beruhigte sich bei den vertrauten Handgriffen. Sie tauchte einen Pinsel in die Farbe, hielt einen Moment inne, begann zu malen. Der Albtraum in ihrem Kopf nahm Form an. Dicke dunkle Farbflächen, rot, grün, schwarz, blau, und mit jedem Pinselstrich ließ ihre Angst nach. Sie wusste nie, was aus ihrem Unterbewusstsein aufsteigen würde. Schließlich legte sie den Pinsel weg und trat erschöpft zwei Schritte zurück.
Das Bild, das sie soeben gemalt hatte, wäre allen ein Rätsel gewesen. Es war ein Chaos von Linien und Formen, ein dissonanter Zusammenprall von Farben, und doch glaubte sie, in ihren abstrakten Bildern ein Gesicht erahnen zu können. Dunkle, verängstigte Augen, ein Mund, der um Hilfe zu flehen schien. Tief in ihrem Inneren glaubte sie, helfen zu müssen, doch sie wusste nicht, wem oder wie.
Sie setzte sich auf die Bettkante und seufzte, als sie das Bild betrachtete. Jetzt war sie ruhiger und analysierte ihre Arbeit, wie sie es jede Nacht tat, und doch war der Aufruhr in ihrem Kopf so verwirrend wie immer.
Als sie sechs Jahre alt war, hatte sich ihr Leben für immer verändert. Ihre Wirklichkeit wurde zu einem Albtraum, und damals hatte es mit den schlimmen Träumen begonnen. Die Polizei hatte von ihr hören wollen, was genau sie in jener Nacht gesehen hatte. Ein Therapeut hatte ihr Papier und Buntstifte gegeben und gesagt, sie solle malen. Also hatte sie gemalt, doch die Bilder waren schon damals so rätselhaft gewesen wie heute. Seit jenem Tag hatte sie nicht mehr mit dem Malen aufhören können. Die Kunst war zu ihrer Zuflucht geworden, zu einer Leidenschaft, mit der sie zugleich ihren Lebensunterhalt verdiente. Ein Leben ohne die Malerei hätte sie sich überhaupt nicht vorstellen können.
Tagsüber konnte sie wundervolle Bilder schaffen - Landschaften, Stillleben, Porträts glücklicher Menschen -, doch nachts, nach den Träumen, wurde ihre Malerei düster. Nur mit dem Pinsel in der Hand konnte sie sich von der Qual der endlosen Albträume befreien.
Sie hatte es mit Umzügen versucht, doch es funktionierte nicht. Als Kind hatte sie in acht verschiedenen Heimen gelebt, und die Albträume waren ihr überallhin gefolgt. Als erwachsene Frau hatte sie in drei Städten gelebt, in immer wieder anderen Wohnungen, bis sie in das Haus am Strand von San Luis Obispo gezogen war. Doch auch dort kehrten die Träume immer wieder zurück.
Natürlich gab es auch Monate, in denen sie ungestört schlief.
Sie sehnte sich nach der Erleichterung, die sie nach diesen traumlosen Nächten empfand. Einmal hatte sie sechs Jahre lang keinen Albtraum gehabt und geglaubt, es wäre vorbei. Doch dann waren die Träume zurückgekommen, und sie hatte begriffen, dass sie nie frei sein würde, wenn sie nicht etwas tat ...
Sie hatte das Gefühl, auf irgendeine Weise handeln zu müssen - nur dann würde es ein Entkommen geben. Doch was hätte sie tun sollen? Sie wusste es nichts. Sie erkannte die auf ihren abstrakten Bildern erahnbaren Gesichter nicht. Diese Menschen stellten ihr Fragen, doch sie konnte sie nicht beantworten, weil sie nicht wusste, wer sie waren.
Aber in dieser Nacht fragte sie sich, ob das Gesicht auf ihrem Bild nicht vielleicht der Frau gehörte, die sich in der Bar neben Dylan an die Theke gesetzt hatte. Gab es da nicht eine entfernte Ähnlichkeit? Vielleicht bildete sie es sich nur ein. Oder sie hatte das Gesicht der Frau gemalt, weil sie es vor ihrem geistigen Auge gesehen hatte, während einer kurzen Vision von Dylans Zukunft - einer Zukunft, in der auch sie eine Rolle zu spielen schien. Sie war nicht scharf darauf, denn sie glaubte, dass Dylan in Schwierigkeiten war, und Probleme hatte sie selbst genug.
Sie stand auf, trat ans Fenster und zog den Vorhang zur Seite. Ihr Zimmer befand sich in der obersten Etage des zweistöckigen Gebäudes und hatte einen direkten Blick auf den mehrere Hundert Meter darunter liegenden, im Licht des Vollmonds schimmernden See. Die hohen Kiefern wirkten unheimlich und schwankten im Wind. Es lief ihr kalt den Rücken hinab. Sie glaubte an dunkle Verbindungen, an das Schicksal, das Verhängnis. Nichts beruhte auf Zufällen, alles hatte einen vorherbestimmten Ausgang. In ihrer Kindheit hatte ihr ein Psychiater gesagt, schlimme Dinge passierten eben einfach, sie solle aufhören, immer nach Gründen zu suchen. Schon damals hatte sie dem Arzt nicht geglaubt, und auch heute hielt sie nichts von dieser Sichtweise. Und deshalb konnte sie nicht ignorieren, dass etwas nicht stimmte.
Ihr war etwas kalt in ihrem dünnen Shirt, und sie verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hoffte, dass ihre Ahnung bevorstehenden Unheils nichts mit Sarah zu tun hatte. Nach allem, das sie in den letzten Jahren durchmachen musste, hatte sie es verdient, glücklich zu sein. Und Jake, Sarah und ihre Tochter waren auf dem Weg nach Hawaii, dem Land der sich im sanften Wind wiegenden Palmen und der blauen Himmel. Ihnen ging es gut. Es musste so sein.
Sie atmete ein paarmal tief durch. Wenn sie nach den Albträumen malte, war sie in der Regel so müde, dass sie bis zum Morgen durchschlief. Heute aber fühlte sie sich immer noch angespannt, ganz so, als wartete sie darauf, dass etwas passierte.
Sie ging zu einem an der Wand stehenden Koffer und zog ein Bild heraus, diesmal ein Porträt ...
Von der Leinwand starrten sie Dylans goldbraune Augen an. Ihr Blick war rätselhaft. Darin legen zugleich Schmerz, Zynismus und Belustigung. Es war schwer gewesen, seine komplexe Persönlichkeit zu erfassen, seinen Stolz, sein Misstrauen, das Nebeneinander von Güte und Großspurigkeit, und sie glaubte nicht, dass sie es schon richtig hinbekommen hatte. Sie hatten vor zwei Monaten nur ein paar Tage gemeinsam verbracht, als Dylan sie gebeten hatte, ihm bei der Suche nach Jakes und Sarahs Tochter zu helfen, doch diese paar Tage mit ihm hatten sie auf eine Weise berührt, die sie nicht ganz verstand. Sie wusste einfach, dass sie sich einander verbunden fühlten. Es gab einen Grund dafür, dass Dylan zu ihr gekommen war.
Er hatte gesagt, es liege daran, dass sie und Sarah eine gemeinsame Vergangenheit hätten, das sei alles. Aber sie vermutete, dass mehr dahintersteckte. Wenn sie nur gewusst hätte, wie die Frau in der Bar ins Bild passte, das wäre nützlich gewesen ... Aber ihre Visionen waren nie so detailliert, wie sie es sich gewünscht hätte. Sie musste einfach abwarten, was als Nächstes kam.
Sie legte das Porträt weg und ging zum Fenster zurück. Wieder erschien vor ihrem inneren Auge Dylans Bild. In seinem Blick lag Angst, und seine Miene wirkte geschockt, ganz so, als wäre er Opfer eines Verrats geworden. Sie packte die Vorhänge mit beiden Händen, denn sie musste sich festhalten, weil sie sich plötzlich ganz sicher war, dass Dylan in Gefahr schwebte.
Sie warf einen Blick auf den Wecker. Eine Stunde war vergangen, seit sie aus dem Albtraum hochgeschreckt war. Es war fast sechs. Wenn die Sonne aufging, war alles überstanden. Sie würde frei atmen, sich entspannen können. Und sie konnte nachsehen, wie es Dylan ging. Am liebsten hätte sie ihn jetzt sofort angerufen, aber sie bezweifelte, dass er es geschätzt hätte, so früh aus dem Schlaf gerissen zu werden.
Flackerndes Licht fiel ins Zimmer. Sie wandte sich wieder zum Fenster und erstarrte, als sie einen Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht vor dem Hotel vorfahren sah. Sie drückte ihr Gesicht an die Scheibe und sah zwei uniformierte Polizisten in dem Gebäude verschwinden.
Ihre Angst wurde größer. Sie war hin und her gerissen. Einerseits wollte sie nach unten gehen und herausfinden, was los war, andererseits zog sie die Sicherheit ihres Zimmers vor.
Das alles ist nicht dein Problem, dachte sie. Sie musste sich nicht mit Dingen befassen, die sie nichts angingen. Es war ihr zur zweiten Natur geworden, sich von Polizisten fernzuhalten. Sie waren nicht in der Lage gewesen, sie zu beschützen, als sie noch ein Kind war, und als sie älter wurde, hatte sie gelernt, dass man sich nur auf sich selbst verlassen konnte, bestimmt nicht auf uniformierte Cops. Die hatten ihr das Leben schwer gemacht mit ihren nächtlichen Streifen, als sie auf der Straße lebte und irgendwie über die Runden kommen musste.
Sie setzte sich wieder auf das Bett und starrte das Telefon an. Es fiel ihr schwer, den Wunsch abzuschütteln, Dylan anzurufen und sich zu vergewissern, dass es ihm gut ging. Seit er mit dieser Frau die Bar verlassen hatte, war sie ihm nicht mehr begegnet. Sie hatte im weiteren Verlauf der Hochzeitsfeier noch mehrfach nach ihm gesucht, besonders am Schluss, als Jake und Sarah sich von ihm verabschieden wollten, aber es war nichts von ihm zu sehen. Jake hatte gescherzt, sein Bruder habe bestimmt eine Frau abgeschleppt. Vermutlich hatte er recht. Und trotzdem ... Dylan und Jake standen sich so nahe, wie es auch bei Brüdern kaum je vorkam. Wäre Dylan wirklich während der Hochzeitsfeier seines Bruders mit einer Frau verschwunden? Es schien ihr eher unwahrscheinlich.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, griff sie zum Telefon, rief an der Rezeption an und bat darum, sie mit Dylan Sanders zu verbinden. Das Telefon klingelte und klingelte, und irgendwann sprang der Anrufbeantworter an. Sie legte auf. Ihre Hand zitterte. Vielleicht schlief er einfach nur tief. Oder er verbrachte die Nacht mit dieser Frau.
Catherine kroch unter die Decke und zog sie bis unter ihr Kinn hoch. Sie blickte auf den Wecker und sah, wie die Minuten verstrichen. Sie wollte schlafen, wusste aber, dass es erst klappen würde, wenn die Sonne aufging und ihre Ängste sich verflüchtigten.
2
Dylan bewegte sich und spürte, dass sich etwas Spitzes in seinen Rücken bohrte. Er war benommen, ein dumpfer Schmerz strahlte von der Stirn bis in den Hals und die Schultern aus. Seine Lider waren schwer, und er brauchte einen Moment, um die Augen zu öffnen. Einen weiteren Augenblick benötigte er, um zu begreifen, dass er auf dem Boden eines Waldes lag. Er griff unter seinen Oberkörper und zog einen Tannenzapfen hervor, die Quelle seines Unbehagens.
Die Sonne stieg gerade über die Wipfel der Bäume, aber die Luft war noch kühl. Am blauen Himmel hingen nur wenige kleine Wolken. Es war früh am Morgen. Was zum Teufel war geschehen? Warum lag er hier im Wald? Hatte er so viel getrunken, dass er das Bewusstsein verloren hatte?
Mühsam setzte er sich auf. Sein anthrazitgrauer Anzug war mit Erde verschmiert. Eine Schnittwunde auf seiner Hand war geschwollen, die Haut aufgedunsen und gerötet. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es Viertel nach sieben war. Und was war das Letzte, woran er sich erinnerte?
Er atmete tief durch und zwang sich nachzudenken. Die Aussicht erinnerte ihn daran, dass er am Lake Tahoe war und dass Jake geheiratet hatte. Er hatte an der Feier teilgenommen und später in der Bar gesessen, wo er sich mit Catherine unterhalten hatte. Dann war Erica aufgetaucht. Sie hatte mit ihm sprechen wollen, hatte ihn zu einem Glas Champagner überredet. Sie hatten einen Spaziergang gemacht - einen langen Spaziergang.
Sein Puls begann zu rasen, als er sich hochrappelte. Er blickte sich um, sah aber nichts außer Bäumen und einem Abhang, der zu einem steilen Fels über dem See führte. Erica hatte ihn hierhergeführt. Sie hatte etwas davon gesagt, ihr bliebe keine andere Wahl, doch ihre anderen Worte waren ihm entfallen. Er erinnerte sich daran, dass ihm übel geworden, dass er zu müde gewesen war, um noch weitergehen zu können. Erica musste ein Betäubungsmittel in seinen Champagner gemischt haben. Genau, so musste es gewesen sein. Doch warum hätte sie so etwas tun sollen?
Er überprüfte seine Taschen. Die Brieftasche war da, mit den zweihundert Dollar, die er mitgenommen hatte. Sie hatte weder sein Geld noch seine Uhr gestohlen, und sonst hatte er nichts von Wert dabei. Aber vielleicht ging es ihr um etwas, das in seinem Zimmer lag. Er tastete seine Taschen erneut ab und bemerkte, dass seine Autoschlüssel nicht da waren. Hatte er sie im Zimmer liegen lassen? Und wo war der Zimmerschlüssel? Er hatte seinen Laptop mitgebracht, weil er etwas arbeiten wollte. Auf dem Computer waren einige Dateien über den Fall von Senator Ravino gespeichert. Hatte Erica es auf Informationen abgesehen? Hatte sie deshalb etwas in seinen Champagner gekippt und ihn in den Wald gelockt? Um ihm den Schlüssel zu stehlen und in sein Zimmer einzudringen?
Er hörte ein Rascheln von Blättern und Zweigen und drehte den Kopf. Waren es Eichhörnchen und Vögel, oder beobachtete ihn jemand? War es Erica? War sie im Begriff, den nächsten Teil ihres Plans in die Tat umzusetzen? Er musste zur Woodlake Mountain Lodge zurückkehren. Da er die Orientierung verloren hatte, nahm er sich ein paar Augenblicke Zeit, um herauszufinden, welche Richtung er einschlagen musste. Stolpernd bahnte er sich seinen Weg durch den Wald, und schließlich stieß er auf einen Weg.
Er brauchte ziemlich lange für den Rückweg. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie weit sie am letzten Abend gegangen waren. Offenbar hatte Erica sicherstellen wollen, dass ihn niemand finden würde. Aber ihm etwas in den Champagner zu kippen und dann im Wald liegen zu lassen, das schien ihm kein vollständiger Plan zu sein. Da musste noch mehr sein.
Ihm schwante Böses, als er die beiden Streifenwagen vor der Woodlake Mountain Lodge sah. Irgendetwas war passiert. Von Angst gepackt, lief er die Stufen vor dem Eingang hinauf. Er wusste nicht, was während der letzten zwölf Stunden geschehen war, und hatte keine Ahnung, ob Jake und Sarah ihre Hochzeitsreise angetreten hatten. Hatten sie sich gefragt, wo er geblieben war? Hatten sie die Polizei gerufen, weil sie sich Sorgen um ihn machten? Oder, Gott behüte, war ihnen etwas zugestoßen? War die Polizei vielleicht deshalb da?
Als er die Eingangshalle betrat, sah er einen uniformierten Polizisten und einen Mann in einem dunkelgrauen Anzug an der Rezeption stehen. Sie redeten mit dem Hotelmanager, während ein Dutzend Angestellte zuhörten. Einer davon war der Barkeeper, der ihm am letzten Abend die Drinks serviert hatte. Als sich ihre Blicke trafen, hob der Barkeeper eine Hand und zeigte auf ihn. »Das ist der Mann, der gestern Abend mit ihr die Bar verlassen hat.«
Erica. Dies alles musste etwas mit ihr zu tun haben.
»Was ist passiert?«, fragte Dylan.
Der Mann in dem grauen Anzug trat auf ihn zu. Er schien Anfang vierzig zu sein, hatte hellbraunes Haar und eine hohe Stirn. Er hatte seine Krawatte gelockert, und seine rötliche Hautfarbe deutete darauf hin, dass er genauso viel Zeit an der frischen Luft wie in seinem Büro verbrachte. Er zeigte seine Dienstmarke. »Ich bin Detective Richardson vom Washoe County Sheriff's Department«, sagte er. »Und Sie heißen ...?«
»Dylan Sanders. Was ist los?«
»Uns interessiert, wie es um das Wohlergehen eines der Gäste steht, Miss Erica Layton. Kennen Sie sie?«
Dylans Herzschlag setzte einen Moment aus. »Ja, ich kenne sie. Was ist ihr zugestoßen?«
»Das versuchen wir herauszufinden. Der Barkeeper, der gestern Abend Dienst hatte, sagt, sie hätten mit Miss Layton an der Theke gesessen und dann mit ihr die Bar verlassen. Stimmt das?«
Richardson musterte ihn von Kopf bis Fuß, und Dylan musste plötzlich an seinen verschmutzten Anzug denken, das fleckige Hemd, die an den Ärmeln hängenden Tannennadeln. Er widerstand der Versuchung, sie abzuschütteln. »Ja, das ist richtig«, murmelte er.
»Wann haben Sie Miss Layton zuletzt gesehen?«, fragte Detective Richardson.
»Etwa um halb acht gestern Abend.«
»Wo waren Sie mit ihr?«
»Im Wald. Erica und ich haben einen Spaziergang gemacht. Sie hat gesagt, sie wolle mit mir reden.«
»Worüber? Haben Sie eine Beziehung mit Miss Layton?«
»Eigentlich nicht.« Dylan zögerte. Sein Gehirn begann wieder, normal zu funktionieren. Ihm missfielen der forschende Blick des Detectives und die Richtung, die seine Fragen nahmen. »Warum fragen Sie?«
»Wie gesagt, wir machen uns Sorgen um Miss Laytons Wohlergehen. Haben Sie sie gestern Abend zu ihrer Blockhütte begleitet?«
»Nein, ich habe sie zuletzt im Wald gesehen.«
»Wo sie mit Ihnen über was reden wollte?«
»Wir haben kooperiert, als ich vor ein paar Monaten an einer Story arbeitete. Ich bin Reporter beim Sender KTSF Channel Three in San Francisco. Ich nahm an, dass sie darüber mit mir reden wollte.« Bis der Detective damit herausrückte, was los war, hatte er nicht vor, etwas von seiner persönlichen Beziehung zu Erica zu erzählen.
»Dann war Miss Layton ein Gast bei der Hochzeitsfeier Ihres Bruders?«
»Nein, sie war nicht eingeladen. Offenbar war sie nach Tahoe gekommen, um mit mir zu reden.«
»Sie haben gesagt, Sie hätten angenommen, dass sie mit Ihnen über diese Story reden wollte, bei der sie mit Ihnen zusammengearbeitet hat. Aber darum ging es ihr gar nicht, oder?«
»Ich weiß es nicht. Zu einem Gespräch ist es eigentlich nicht gekommen.«
»Warum nicht?«
»Sie ist verschwunden.«
»Haben Sie sich gestritten? War Miss Layton aufgeregt?«
Dylan runzelte die Stirn. Er wusste nicht, was Erica zugestoßen war, doch es musste irgendwelche Hinweise geben, denn sonst wäre nicht die Polizei gerufen worden, und dieser Detective würde ihn nicht befragen, als wäre er der Hauptverdächtige in einem Mordfall. Dieser Gedanke ließ seinen Puls rasen. War Erica tot?
Nein, der Detective hatte gesagt, er mache sich Sorgen um ihr Wohlergehen. Das hieß, dass sie nicht tot war, sondern vermisst wurde.
»Wo waren Sie, nachdem Miss Layton verschwunden war?«, fragte Detective Richardson.
Als Reporter hatte Dylan bei verschiedenen Gelegenheiten mit der Polizei zusammengearbeitet, und daher wusste er, dass es am besten war, die Wahrheit zu sagen, aber er musste daran denken, wie seine Erklärung klingen würde, nämlich nicht gut. Aber blieb ihm eine andere Wahl? Wenn er log, würde das die unausweichliche Enthüllung der Wahrheit allenfalls hinauszögern.
Die Tür des Aufzugs öffnete sich mit einem Bimmeln, und Dylan war überrascht, Catherine zu sehen. Sie trug Bluejeans und einen weit geschnittenen, beigefarbenen Pullover. Ihr rotblondes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Als sie den uniformierten Polizisten sah, blieb sie abrupt stehen. Ihre Miene spiegelte zugleich Erleichterung und Misstrauen.
»Mr Sanders? Ich muss Sie bitten, meine Frage zu beantworten. Wo waren sie, nachdem Miss Layton verschwunden war?«
»Nirgendwo.«
»Pardon?«
»Ich muss von vorne anfangen.« Dylan begriff, dass er erklären musste, was geschehen war.
»In Ordnung« Richardson verschränkte die Arme vor der Brust und wartete darauf, dass Dylan fortfuhr.
Dylan wandte den Blick von Catherine ab. Im Moment musste er sich auf eine andere problematische Frau konzentrieren. »Erica hat sich in der Bar zu mir gesetzt. Wie gesagt, wir haben vor ein paar Monaten bei einer meiner Storys zusammengearbeitet. Ich war überrascht, sie auf der Hochzeitsfeier meines Bruders zu sehen, weil wir seit Wochen keinen Kontakt mehr hatten. Sie reichte mir ein Glas Champagner und sagte, sie müsse mit mir reden, aber in der Bar sei es zu laut und zu voll. Also haben wir einen Spaziergang gemacht. Nach ein paar Minuten wurde mir übel. Mir war schwindelig, als hätte ich zu viel getrunken. Aber Erica ging einfach weiter, lockte mich tiefer in den Wald hinein. Ich verlor die Orientierung, wusste nicht mehr, wie weit wir gegangen waren. Ich bin gestolpert, und das ist das Letzte, woran ich mich erinnere, bevor ich vor einer halben Stunde wieder aufwachte. Ich bin sofort hierher zurückgekommen. Ich glaube, dass Erica etwas in meinen Champagner gekippt hat.«
»Moment. Wollen Sie sagen, dass Miss Layton Ihnen irgendein Betäubungsmittel verabreicht hat? Warum hätte sie das tun sollen?« Richardsons braune Augen blickten ihn nachdenklich an. »Ich dachte, Sie wären mit ihr befreundet.«
»Das habe ich auch gedacht. Ich weiß nicht, warum sie es getan hat. Ich erinnere mich vage daran, dass sie gesagt hat, es bliebe ihr keine andere Wahl, aber der Rest ist mir entfallen.«
»Eine ziemlich merkwürdige Story«, sagte Richardson skeptisch.
»Es ist die Wahrheit. Genauso ist es gewesen.«
»Also war Miss Layton wütend auf Sie.«
»Ich glaube nicht, etwas davon gesagt zu haben, dass sie wütend war.«
»Nein?«, konterte der Detective. »Warum sonst hätte sie ein Betäubungsmittel in Ihren Champagner mischen sollen? Sehr freundschaftlich finde ich das nicht.«
»Als sie sich neben mich an die Bar setzte, wirkte sie weder wütend noch erregt, allenfalls etwas nervös.«
»Ihre Beziehung war nicht rein geschäftlich, oder, Mr Sanders? «
Er hatte ein Gefühl, als würde sich eine Schlinge um seinen Hals zusammenziehen. Er brauchte Zeit zum Nachdenken, bezweifelte aber, dass Richardson sie ihm lassen würde. »Muss ich mir einen Anwalt nehmen?««
»Ich weiß es nicht. Was meinen Sie?«
»Hören Sie, ich war außer Gefecht gesetzt, weil sie dem Champagner ein Betäubungsmittel beigemischt hatte. Ich weiß nicht, was Erica zugestoßen ist - wenn es denn so sein sollte. Wenn Sie mir nicht glauben, lasse ich einen Bluttest machen.« Er musste seine Unschuld beweisen, und das war die perfekte Idee. »Ich werde das sofort veranlassen.«
»Das würden Sie tun?«
»Selbstverständlich. Ich habe nichts zu verbergen.«
»Wenn Sie nichts zu verbergen hätten, würden Sie nicht von einem Anwalt reden«, sagte Richardson mit einem kühlen Lächeln. Er schwieg einen Augenblick und nickte dann. »Ich schicke einen meiner Deputys mit Ihnen zum hiesigen Krankenhaus. Er kann das mit den Tests regeln. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.«
Dylan atmete auf, als Richardson verschwand. Er hoffte, dass das mit dem Bluttest kein Fehler gewesen war, aber ihm fiel keine andere Möglichkeit ein, um zu beweisen, dass er in seinem Zustand unfähig gewesen war, jemandem etwas anzutun. Ihm fiel auf, dass Catherine ihn beobachtete, und er trat zu ihr.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt. »Sie haben Erde im Haar und sehen aus, als hätten Sie die Nacht durchgemacht.«
Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, und jede Menge Tannennadeln fielen auf den Teppich. »Offensichtlich ist nicht alles in Ordnung. Was wissen Sie über Erica?«
»War das die Frau in der Bar?«
»Stellen Sie sich nicht dumm, Catherine. Sie wissen, dass irgendetwas im Gange ist. Deshalb sind Sie nach unten gekommen. Außerdem haben Sie Ericas Ankunft vorausgesagt, schon vergessen?«
»Nein. Ich erinnere mich. Ich vergesse meine Visionen nie.« Ihre blauen Augen blickten ihn an. »Ich kannte ihr Gesicht, aber nicht ihren Namen.«
»Wirklich nicht?«, fragte er. »Sie haben gesagt, zwischen uns allen gebe es eine Verbindung. Warum habe ich das Gefühl, dass Sie mich reinlegen?«
»Warum sollte ich? Sie sind Jakes Bruder, Sarahs Schwager. Sarah würde mich umbringen, wenn ich versuchen würde, Ihnen zu schaden.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Und außerdem, was für einen Grund sollte ich haben, sie wegen irgendwas hereinzulegen? Ich kennen Sie kaum.«
Dafür konnte er sich auch keinen Grund vorstellen, doch er wusste, dass er ihr nicht hundertprozentig vertraute. »Warum sind Sie gestern verschwunden, wenn Sie wussten, dass Erica Probleme machen würde? Sie hätten in der Bar bleiben und mir helfen können.«
»Das alles ging mich nichts an, und Sie schienen sie zu kennen. Mit Sicherheit habe ich nicht damit gerechnet, dass sie etwas in Ihren Champagner kippen und Sie in den Wald locken würde. Wenn es denn so war. Ich habe gehört, was Sie zu dem Detective gesagt haben. Besonders leise haben Sie nicht gesprochen. Ich bin sicher, dass alle hier gehört haben, was Sie sagten.«
»Es ist ja kein Geheimnis«, erwiderte er verärgert, obwohl er sich jetzt schon wünschte, irgendwo mit dem Detective unter vier Augen gesprochen zu haben. Die Angestellten blickten ihn alle sehr misstrauisch an.
Catherines Blick irrte umher, als würde sie darauf warten, dass etwas geschah. Wusste sie, was kommen würde? Hatte sie in ihrer Vision noch etwas gesehen?
Er hatte noch nie an Hellseherei oder Visionen geglaubt, und Catherines Vorhersage, dass zwei Frauen in sein Leben treten und ihm Schwierigkeiten machen würden, war so vage, dass sie sich jederzeit bewahrheiten konnte. Schließlich lernte er ständig Frauen kennen. Aber ihn beunruhigte, dass Catherine Erica als die Frau erkannte, die sie in ihrer Vision gesehen hatte. Besonders jetzt, wo Erica spurlos verschwunden war. Hatte sie bloß ins Blaue hinein geredet und mit ihrer Vorhersage Glück gehabt? Hatte Catherine, als Erica in die Bar trat, ihm nur deshalb erzählt, sie sei die Frau aus ihrer Vision, um ihm zu beweisen, dass sie wirklich eine Hellseherin war? Hatte es mit ihren Visionen überhaupt irgendetwas auf sich?
»Also, was wird als Nächstes passieren?«, fragte er. »Offenbar verfügen Sie im Gegensatz zu uns normalen Sterblichen ja über die Gabe, in die Zukunft zu blicken.«
»Sie glauben offensichtlich nicht daran«, erwiderte sie gereizt. »Ich weiß nicht, warum ich heruntergekommen bin.«
»Ja, warum? Oder wollen Sie behaupten, Ihr Grund sei das Frühstück gewesen?«
»Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht«, antwortete sie nach kurzem Zögern. »Aus dem Fenster meines Zimmers habe ich den Streifenwagen gesehen, und da wusste ich, dass etwas passiert sein musste.«
»Und Sie haben geglaubt, ich sei in Schwierigkeiten.«
»Ich hatte ein ungutes Gefühl.«
»Wer hätte das gedacht«, sagte er müde. »Können Sie nicht mal offen und ehrlich antworten?«
»Es ist eine ehrliche Antwort. Ich verlasse mich immer auf meine Intuition, Dylan. Und sie haben größere Probleme, als sich darüber den Kopf zu zerbrechen, warum ich nach unten gekommen bin.«
»Das können Sie zweimal sagen.« Er seufzte. »Ich wünschte zu wissen, was Erica zugestoßen ist und warum die Polizei benachrichtigt wurde.«
»Die Cops sind vor einer guten Stunde eingetroffen«, sagte Catherine.
»Sie sind schon so lange hier? Warum waren Sie so früh auf?«
»Ich konnte nicht schlafen.«
Eine knappe Antwort. Er glaubte, dass sie eigentlich mehr hatte sagen wollen, und wahrscheinlich hätte es etwas mit ihrem unguten Gefühl zu tun gehabt.
»Ich habe in Ihrem Zimmer anzurufen versucht«, fügte sie hinzu. »Aber Sie sind nicht drangegangen.«
»Weil ich bewusstlos im Wald gelegen habe, was ohne einen Zeugen nicht leicht zu beweisen sein wird. Deshalb muss ich durch einen Bluttest bestätigen lassen, dass Erica mir irgendwas verabreicht hat.« Er war innerlich unruhig, denn irgendjemand versuchte ihn definitiv hereinzulegen, aus welchem Grund auch immer. »Sind Jake und Sarah wie geplant in ihren Hochzeitsurlaub aufgebrochen? Haben sie sich gewundert, warum ich verschwunden war?«
»Sarah hat mich gefragt, ob ich Sie gesehen hätte, und ich habe geantwortet, Sie hätten mit einer Frau an der Bar ein Glas getrunken. Jake hat gelacht und gesagt, Sie hätten bei Hochzeiten immer Glück bei der Damenwelt. Vermutlich hat er gedacht, Sie würden sich irgendwo gut amüsieren.«
»Glück ... Ja, im Moment bin ich richtig glücklich. Aber ich bin froh, dass die beiden wie geplant abgereist sind. Ich möchte nicht, dass Jake in meine Schwierigkeiten hineingezogen wird.« Er hatte nicht vor, Jake und Sarah den Honeymoon zu verderben.
Detective Richardson und der uniformierte Polizist traten zu ihnen. »Deputy Barnes wird Sie ins Krankenhaus begleiten «, sagte Richardson. »Wir reden weiter, wenn wir die Ergebnisse der Tests haben. Ich hoffe, Sie haben nicht vor, die Gegend zu verlassen.«
»Ich wollte heute nach San Francisco zurückfahren«, antwortete Dylan.
»Ich wüsste es zu schätzen, wenn Sie bis zu unserem nächsten Gespräch hierbleiben würden. Wie werden den Wald durchkämmen, aber wir könnten Sie brauchen, weil wir wissen müssen, wo Sie sich zuletzt zusammen mit Miss Layton aufgehalten haben.«
Richardsons Stimme klang freundlich, doch zugleich sehr bestimmt. Wenn er sich nicht bereit erklärte, freiwillig zu bleiben, würde der Detective vermutlich einen Weg finden, ihn hier festzuhalten.
»Okay, ich bleibe, bis wir das geklärt haben.«
»Gut. Jetzt erzählen Sie mir noch mal, wo Sie gestern Abend mit Miss Layton hingegangen sind, nachdem Sie mit ihr die Bar verlassen hatten.«
»Wir haben den Weg genommen, der vor dem Haus beginnt und später zu einem einfachen Waldweg wird. Wir sind länger gegangen, und als ich heute Morgen aufwachte, lag ich etwa drei Meter von der Kante eines steilen Felsens entfernt.«
»Würden Sie die Stelle wiederfinden?«
»Ich weiß es nicht.« Ihm war klar, dass diese Antwort nicht eben gut klang. »Ich könnte es versuchen, doch als ich aufwachte, war ich immer noch benebelt. Deshalb habe ich den Rückweg nicht sofort gefunden und bestimmt nicht den direkten Weg genommen.«
»In Ordnung. Wir werden sehen, was wir herausfinden können. Und wir reden, wenn Sie vom Krankenhaus zurück sind.« Richardson wandte sich Catherine zu. »Darf ich nach Ihrem Namen fragen, Ma'am?«
Catherine blickte ihn überrascht an. Es schien ihr gar nicht zu gefallen, in diese Geschichte hineingezogen zu werden. »Catherine Hilliard«, antwortete sie leicht verunsichert.
»Wo haben Sie Mr Sanders getroffen?«
»Auf der Hochzeit einer Freundin. Sie hat gestern seinen Bruder geheiratet.«
»Dann haben Sie die Hochzeitsfeier besucht?«
»Ja.«
»Haben Sie mit Miss Erica Layton gesprochen?«
»Der Name sagt mir nichts«, antwortete Catherine.
»Miss Layton hat die Bar mit Mr Sanders verlassen«, sagte Richardson. »Wir machen uns Sorgen um ihr Wohlergehen und müssen sie so schnell wie möglich finden.«
»Ich habe gesehen, dass Dylan an der Theke mit einer Frau gesprochen hat, aber nicht, wie sie die Bar verlassen haben. Dylan hat mich ihr nicht vorgestellt.«
Ihre Stimme klang angespannt, doch Dylan bewunderte ihre knappen, präzisen Antworten. Die meisten Leute plapperten drauflos, wenn sie von der Polizei vernommen wurden, doch Catherine sagte nur das, wonach sie gefragt wurde. Und sie schien auch nicht scharf darauf zu sein, der Polizei zu helfen. Tatsächlich schien sie am liebsten die Flucht ergreifen zu wollen.
Warum war sie so nervös? Hatte sie etwas zu verbergen?
»Danke für Ihre Hilfe.« Richardson wandte sich wieder Dylan zu. »Wir sprechen später, Mr Sanders. Deputy Barnes wartet vor dem Eingang auf Sie. Er fährt Sie zum Krankenhaus.«
Nachdem der Detective verschwunden war, blickte Dylan Catherine an. »Begleiten Sie mich zum Krankenhaus«, sagte er spontan.
»Warum?«, fragte sie überrascht. »Das ist doch wohl überflüssig. «
»Ich wüsste es zu schätzen, eine Freundin dabeizuhaben.«
»Wir sind nicht gerade befreundet«, gab sie zu bedenken. »Vor einer Minute haben Sie mich noch beschuldigt, etwas mit Ihren Problemen zu tun zu haben.«
»War nicht so gemeint«, sagte er schnell. Er wusste nicht, warum er Catherine an seiner Seite haben wollte, aber es war so. »Sie sind noch am ehesten eine Verbündete, und vielleicht können wir gemeinsam herausfinden, was los ist.«
Sie runzelte die Stirn, und ihr Blick wirkte zögerlich. »Ja, vermutlich könnte ich Ihnen helfen«, murmelte sie.
»Okay, los geht's.« Er packte ihre Hand, bevor sie es sich anders überlegte.
Doch als sie sich draußen dem Streifenwagen näherten, wurden ihr Schritte langsamer. Dann blieb sie ganz stehen und befreite sich aus seinem Griff.
Er blickte sie an und sah beunruhigt, wie bleich sie war. »Was stimmt denn nicht?«
»Ich kann nicht in diesen Wagen steigen.« Sie hob eine Hand, als wollte sie ihn abwehren.
»Der Deputy bringt uns nur zum Krankenhaus. Das ist keine große Sache.«
»Es geht nicht. Wir sehen uns später hier.« Sie trat zurück und schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann nicht in diesen Wagen steigen. Versuchen Sie nicht, mich zu zwingen.«
»Haben Sie wieder eine Vision?«, fragte er. »Wird der Wagen verunglücken? Was sehen Sie?«
»Ich sehe Blut, jede Menge Blut, und mittendrin steht ein kleines Mädchen.«
»Wovon reden Sie?«
Seine Frage blieb unbeantwortet. Sie wandte sich ab und rannte zum Hotel zurück. Irgendetwas hatte ihr Angst gemacht, aber ein kleines Mädchen inmitten einer Blutlache?
»Was ist los mit Ihrer Freundin?«, fragte der Deputy, als er Dylan die Hintertür des Streifenwagens aufhielt.
»Sie fährt mit Ihrem eigenen Auto zum Krankenhaus.«
»Hört sich für mich so an, als wären Sie auf sich allein gestellt. «
»Ja«, murmelte Dylan, als er sich auf die Rückbank zwängte.
Es war nicht das erste Mal, dass er auf sich allein gestellt war, und er saß auch nicht zum ersten Mal in einem Streifenwagen. Mit siebzehn hatte er Probleme mit der Polizei gehabt, doch Jake hatte die Kaution bezahlt und ihn herausgehauen. Damals war er ein dummer, sorgloser Jugendlicher gewesen, doch er hatte immer gewusst, was er auf dem Kerbholz hatte. Diesmal wusste er nicht, was er verbrochen haben sollte.
Er hatte keine Ahnung, was Erica von ihm gewollt hatte, und der einzige Mensch, der ihm vielleicht helfen konnte, hatte gerade die Flucht ergriffen.
© 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Sie schnappte erschrocken nach Luft und blieb abrupt stehen, als eine schemenhafte Gestalt aus dem Unterholz trat. Ihr Herz klopfte heftig. Der Mann kam auf sie zu, hatte eine Hand ausgestreckt. Seine Kleidung war alt und zerrissen, und er hatte einen Vollbart. Er trug eine Baseballkappe und einen Rucksack auf dem Rücken. Wahrscheinlich war er einer der Obdachlosen, die in dem Park übernachteten. Vielleicht aber auch nicht ...
»Hey, Baby, wie wär's mit einem Kuss«, sagte er im schleppenden Tonfall eines Betrunkenen.
»Lassen Sie mich in Ruhe.« Sie streckte einen Arm aus, damit er stehen blieb, doch er kam weiter auf sie zu.
»Sei ein bisschen freundlicher. Komm schon, meine Süße.«
Sie wandte sich um und rannte so schnell wie möglich in die andere Richtung, während er ihr etwas nachrief. Sie wusste nicht, ob er ihr folgte, und war zu verängstigt, um einen Blick über die Schulter zu werfen. Sie verließ den Weg, suchte nach einem verborgenen Winkel, wo sie sich verstecken konnte. Ihre Füße waren nass, und sie hatte Seitenstiche. Sie musste unbedingt eine Zuflucht finden. Zweige kratzten an ihren nackten Armen und schlugen ihr ins Gesicht, aber sie lief weiter. Es war so dunkel, dass man kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Wegen der hohen Bäume und des dichten Nebels war der Mond nicht mehr zu sehen.
Glücklicherweise hatte sie schützend eine Hand vor ihrem Körper ausgestreckt, als sie gegen eine Betonwand stieß, die hoch vor ihr aufragte. Sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen, und lauschte, aber außer ihren eigenen unregelmäßigen Atemzügen hörte sie nichts. Vielleicht war sie in Sicherheit, zumindest fürs Erste.
Sie lehnte sich gegen die kalte Betonwand und dachte darüber nach, wie es weitergehen sollte, doch sie wusste nicht, was sie tun sollte. Es gab keinen Ausweg mehr.
Wie hatte es so weit kommen können, dass sie um ihr Leben fürchtete und ganz allein auf der Flucht war? Sie hatte sich ihr Leben anders vorgestellt. Es war Dylans Schuld. Er hatte sie in diese Lage gebracht, und verdammt, wo zum Teufel war er?
Aber sie konnte nicht damit rechnen, dass er sie retten würde. Sie musste allein einen Ausweg finden. So durfte es nicht enden. Sie kämpfte nicht zum ersten Mal um ihr Leben, und bisher hatte sie den Kampf gewonnen. Sie würde es wieder schaffen.
Ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus, als sie ganz in der Nähe einen Zweig zerbrechen hörte. Jemand pfiff in der stillen Nacht. Wer immer da kam, es war ihm egal, wenn sie ihn hörte. Vor ihr trat jemand langsam aus den Büschen. Nackte Angst überkam sie. Es gab kein Entkommen mehr.
1
Zwei Tage früher - Lake Tahoe, Nevada
Dylan Sanders schlenderte zur Bar, setzte sich an die Theke und bestellte einen Whiskey. Er genoss das Brennen in der Kehle. Als er das Glas geleert hatte, orderte er sofort das nächste. Er mochte keine Hochzeiten und ließ sich sonst einiges einfallen, um nicht daran teilnehmen zu müssen, doch diesmal hatte er unmöglich kneifen können. Er war froh, der Trauzeuge seines Bruders gewesen zu sein, und in einer Stunde war sowieso alles überstanden.
Durch die offene Tür der Bar sah er auf der Terrasse der Woodlake Mountain Lodge seinen Bruder Jake und dessen Frau Sarah bei ihrem ersten Tanz als Ehepaar. Bei Kerzenlicht, in der Abenddämmerung, vor dem Hintergrund eines bläulichvioletten Himmels. Sie wirkten sehr glücklich, ganz so, als hätte es das letzte Jahr nicht gegeben. Und sie hatten diese schlimme Zeit überstanden. Ab jetzt würde alles glattgehen - zumindest hoffte er es für die beiden. Er lächelte, als eine von Sarahs Freundinnen mit Caitlyn auf die Tanzfläche trat, dem achtzehn Monate alten blonden Engel, der die Attraktion der Hochzeitsfeier war. Wie üblich wollte Caitlyn im Mittelpunkt stehen. Jake nahm sie auf den Arm, und sie tanzten zu dritt, als Familie.
Dylan kippte den nächsten Drink hinunter und verdrängte den lächerlichen Gedanken, dass er neidisch auf ihr Glück war. Er liebte seinen Bruder, sehnte sich selbst aber nicht nach Weib und Kind. Angesichts der kaputten Ehe seiner Eltern hatte er keine Lust, diese Erfahrung selbst machen zu müssen. Trotzdem hoffte er natürlich, dass bei Jake und Sarah alles gut gehen würde und dass es nicht irgendwann zur Scheidung kam.
Eine kühle abendliche Brise blies durch die offenen Türen, und er bekam eine Gänsehaut. Aber nicht der Wind machte ihn nervös, sondern die schöne Rothaarige, die sich neben ihm auf den Barhocker setzte.
»Trinken Sie auf das Wohl Ihres Bruders, oder bedauern Sie nur, dass es wieder einen Junggesellen weniger gibt?«, fragte Catherine Hilliard.
Er stellte sein Glas auf die Theke. Catherine sah heute völlig anders aus als bei ihrer ersten Begegnung. Keine mit Farbspritzern befleckten Klamotten, und sie ging nicht barfuß, sondern in Schuhen mit hohen Absätzen. Sie trug ein tolles schwarzes Kleid mit tiefem Dekolleté, das ihre wundervollen Brüste mehr als nur erahnen ließ. Er mochte die Sommersprossen auf ihrer Brust und verspürte plötzlich das unwiderstehliche Bedürfnis, sich davon zu überzeugen, ob sie überall welche hatte.
Er lockerte seine Krawatte, nicht gerade glücklich über die schlimmen Gedanken, die ihm da durch den Kopf gingen. Catherine war eine alte Freundin seiner neuen Schwägerin Sarah und daher für ihn tabu. Außerdem war sie ein bisschen verrückt. Sie malte unheimliche Bilder und hatte hellseherische Fähigkeiten. Aber sie hatte ein großes Herz und war ihren Freunden und Freundinnen gegenüber extrem loyal.
»Sie starren mich an«, sagte Catherine geradeheraus.
»Weil Sie eine faszinierende Frau sind.« Warum hatte er sich nicht auf die Zunge gebissen?
Sie lächelte. »Ein guter Anfang für unsere Plauderei. Die Trauung war wundervoll, oder? Jake und Sarah passen gut zusammen. Ich denke, sie haben eine Chance.«
»Eine Chance? Das klingt ja äußerst enthusiastisch.« Manchmal hatte auch Catherine einen Hang zum Sarkasmus.
Sie zuckte die Achseln. »Viele glückliche Ehen habe ich in meinem Leben nicht gesehen.«
»Ich auch nicht. Also, was haben Sie die letzten zwei Monate gemacht? Viel gemalt?«
»Jeden Abend. Ich habe sogar Sie gemalt. Eine ziemliche Herausforderung.«
Er hob eine Augenbraue. »Im Ernst? Möchte ich das sehen?«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Vielleicht zeige ich Ihnen das Bild irgendwann.«
»Ich bin nicht oft da oben an der Küste.« Catherine lebte in San Luis Obispo, er in San Francisco, drei Autostunden entfernt. Er musste zugeben, während der letzten Wochen häufig an sie gedacht zu haben, doch glücklicherweise hatte ihn die viele Arbeit abgelenkt. Er war Enthüllungsjournalist beim Sender KTSF Television News in San Francisco.
Der Barkeeper bot Catherine ein Glas Champagner an, und sie nahm es. »Das Bild ist in meinem Wagen. Ich möchte noch ein bisschen daran arbeiten. Ich bleibe ein paar Tage in der Woodlake Mountain Lodge.«
»Und wer wacht über Ihren Privatzoo?«, fragte er. »Ich hätte mir gar nicht vorstellen können, dass Sie die Tiere allein lassen. « Catherine hatte zwei Katzen, zwei Hunde und einen auf ärgerliche Weise geschwätzigen sprechenden Vogel. In gewisser Weise war er neidisch auf sie. Er hatte als Kind nie ein Haustier haben dürfen, und als er Catherine mit ihren Apportierhunden am Strand hinter ihrem Haus beobachtet hatte, war es ihm so erschienen, als hätte er etwas verpasst. Aber natürlich hatte er im Leben noch ganz andere Dinge verpasst. Dass er kein Haustier besaß, war die geringste seiner Sorgen.
»Meine Nachbarin Lois passt während meiner Abwesenheit auf die Tiere auf. Sie werden mir fehlen, aber die Berge hier sind wundervoll, und ich war für eine Weile nicht mehr allein weg. Im Gegensatz zum Meer bei San Luis Obispo wirkt dieser See so friedlich und geheimnisvoll. Das spricht mich sehr an. Ich möchte das alles ein paar Tage auf mich wirken lassen.«
Dylan sah den See nicht so wie sie, hatte sich hier aber immer wohlgefühlt. Jahrelang war er mit Jake und Freunden hierhergekommen, auf der Flucht vor einem tyrannischen Vater, der zu ihrem Glück nie die Stadt verließ. Es hatte ihn nicht überrascht, dass Jake hier den Bund fürs Leben schließen wollte. Das war ein guter Start in sein neues Leben. Aber Jake und Sarah würden nicht lange hierbleiben, sondern spät in der Nacht nach Hawaii fliegen, wo sie ihren Hochzeitsurlaub verbringen wollten,
Catherine riss ihn aus seinen Gedanken. »Was ist mit Ihnen? Bleiben Sie übers Wochenende?«
»Ich fahre morgen früh.«
»Sind Sie sicher?«
Seine Miene verdüsterte sich. »Was soll das heißen?«
Der Blick ihrer dunkelblauen Augen war rätselhaft. »Erinnern Sie sich daran, was ich Ihnen über die beiden Frauen erzählt habe, die in Ihr Leben treten werden? Das beginnt hier.«
»Was beginnt hier?«, fragte er, machte jedoch schnell einen Rückzieher. »Wissen Sie was? Es interessiert mich nicht. Ich glaube nicht an Ihre Visionen. Tut mir leid, aber so ist es nun mal.«
»Verstehe.« Sie trank einen Schluck.
Der Ausdruck ihrer Augen gefiel ihm nicht. Er sollte einfach vergessen, was sie gesagt hatte. Sie wollte ihn nur verrückt machen.
Jemand setzte sich auf der anderen Seite neben ihn. Als ihm die Duftwolke eines vertrauten Parfüms in die Nase stieg, drehte er sich um. Die Brünette lächelte ihn breit an. Verdammt, jetzt hatte er ein Problem.
»Vorsicht, Dylan«, flüsterte ihm Catherine ins Ohr. »Sie ist eine von den beiden.«
»Und wer ist die andere?« Catherine war schon aufgestanden. Sie antwortete nicht. Es war egal. Er glaubte die Antwort bereits zu kennen. Aber er würde es nicht zulassen, sich von Catherines Worten beeinflussen zu lassen. In seinem Leben lief alles bestens, und er wollte nicht, dass sich daran etwas änderte.
»Wir müssen reden, Dylan.«
Er wandte sich um und blickte in die hellbraunen Augen einer Frau, von der er nicht geglaubt hätte, dass er sie jemals wiedersehen würde. Erica Layton. Vor sechs Wochen hatten sie eine Nacht zusammen verbracht. Eine Nacht, die er lieber vergessen hätte. Normalerweise schlief er nicht mit seinen Informantinnen, und er hätte auch mit Erica nicht schlafen sollen, doch er hatte getrunken und war irgendwie mit ihr im Bett gelandet. Und jetzt saß sie mit einer erwartungsvollen Miene neben ihm. Was nichts Gutes bedeuten konnte, und um das zu erkennen, brauchte er keine Hellseherin.
Erica reichte ihm ein Glas Champagner.
»Ich trinke Whiskey.«
»Komm schon, wir feiern die Hochzeit deines Bruders. Zum Wohl.« Sie stieß mit ihm an.
Zögernd trank er einen Schluck Champagner. »Was hast du hier zu suchen? Du stehst nicht auf der Gästeliste.«
»Seit zwei Wochen versuche ich, dich zu erreichen und spreche auf deinen Anrufbeantworter, aber du hast nicht zurückgerufen. «
»Ich hatte viel zu tun.«
»Du hattest nicht zu viel zu tun, als du meine Hilfe brauchtest. «
Ihr scharfer Tonfall ließ ihn seufzen. »Ich weiß zu schätzen, wie sehr du mir geholfen hast, Erica, aber es war nur professionelle Zusammenarbeit. Falls du mehr willst, muss ich dich enttäuschen.« Er war überrascht, das überhaupt klarstellen zu müssen. Die gemeinsame Nacht war für beide befriedigend, aber bestimmt nicht der Beginn einer Beziehung gewesen. Und Erica hatte das verstanden. Zumindest hätte er geschworen, dass sie es begriffen hatte. Er ließ sich nie mit Frauen ein, die nicht wussten, wie er in diesen Dingen dachte.
Ericas Miene verhärtete sich, und das wilde Funkeln ihrer Augen beunruhigte ihn. Was hatte sie vor?
»Wir müssen reden«, wiederholte sie.
Ihre Entschlossenheit irritierte ihn. Wenn eine Frau, mit der man vor sechs Wochen geschlafen hatte, plötzlich mit einem reden wollte, bestand die realistische Möglichkeit, dass sie schwanger war. Aber es war kein ungeschützter Sex gewesen. Es war eine Dummheit gewesen, mit ihr zu schlafen, doch der Alkohol hatte ihn nicht sorglos gemacht. Trotzdem war seine Nichte Caitlyn ein gutes Beispiel dafür, dass auf Kondome nicht immer Verlass war. Er trank einen weiteren Schluck Champagner.
Er hatte jetzt keine Lust auf dieses Gespräch. Seine Karriere nahm Fahrt auf. Gerade erst war die größte Story seines Lebens ausgestrahlt worden. Er war auf der Überholspur zum Erfolg. Alles lief wie geplant. An Komplikationen hatte er keinen Bedarf. Sein Blick glitt an Ericas Körper hinab. Sie wirkte schlank wie eh und je. Ihr Cocktailkleid war bis zur Mitte der Oberschenkel hochgerutscht. Sie trug keine Strümpfe, ihre Haut war gebräunt. Rote Stilettos, ein rotes Seidentuch. Nichts deutete darauf hin, dass sie schwanger war, doch wenn es so war, konnte er das Thema auch direkt ansprechen.
»Okay, lass uns reden.« Er gehörte nicht zu denen, die vor Problemen zurückwichen. Worum es auch ging, er würde damit klarkommen.
Erica zögerte, ihr Blick irrte unstet umher. »Nicht hier. Zu viele Leute. Lass uns einen Spaziergang machen.«
Er hatte keine Lust, wollte aber auch nicht an einem öffentlichen Ort mit ihr reden. Auch wollte er seinen Bruder nicht beunruhigen oder ihm die Hochzeitsfeier verderben. Ein Gespräch mit Erica konnte gut eskalieren. Er kannte jede Menge ruhigere und vernünftigere Frauen. Auch jetzt trommelte Erica nervös mit den Fingern auf der Theke herum, und sie blickte sich in dem Raum um, als hätte sie Angst davor, dass sie von jemandem beobachtet wurden.
Vielleicht lag er falsch. Möglicherweise ging es gar nicht um eine persönliche Angelegenheit. Erica brachte sich häufig in schwierige Situationen. Er wusste das, seit sie ihm geholfen hatte, den Senator eines Bundesstaats mit einem Mord in Verbindung zu bringen. Dafür stand er in ihrer Schuld, und deshalb konnte er ihr jetzt wenigstens zuhören.
»Hat es etwas mit Senator Ravino zu tun?«, fragte er leise.
»Natürlich nicht. Er sitzt im Gefängnis und wartet auf seinen Prozess.«
»Ich weiß, und du hast mir und der Polizei geholfen, ihn hinter Gitter zu bringen. Hat er versucht, Kontakt zu dir aufzunehmen? Fühlst du dich in irgendeiner Wese bedroht?«
»Die Polizei sagt, mir drohe keine Gefahr, aber ich kenne den Senator besser als jeder andere. Er hat jede Menge Beziehungen. «
»Was willst du von mir?«
»Ich muss mit dir reden.« Ihre Stimme klang verzweifelt. »Kommst du?«
»Okay.« Er trank sein Glas aus und stand auf.
Erica verließ die Bar. »Wir können einen Weg nehmen, der sich den Berg hinaufschlängelt. Von dort oben hat man einen spektakulären Blick.«
»Woher weißt du das?«
»Ich war früher schon mal hier und konnte mich umsehen.« Sie blickte ihn mit einer unergründlichen Miene an.
Die Woodlake Mountain Lodge war von hohen Kiefern umgeben und stand auf einem Hügel, von dem man auf den glitzernden Lake Tahoe blickte. Neben dem Hauptgebäude stand ein Dutzend rustikaler Holzhütten.
»Da drüben wohne ich. Ich wollte nicht in der Finsternis den Berg hinabfahren, also habe ich mir ein Zimmer gemietet. Schläfst du in dem Hauptgebäude?«
»Ja. Warum bist du hier, Erica? Du hättest in San Francisco Kontakt aufnehmen können. Du weißt, wo ich wohne.« Er konnte sich keinen Reim darauf machen, warum sie den langen Weg zum Lake Tahoe zurückgelegt hatte, um mit ihm zu reden.
»Lass uns den Weg da nehmen.« Sie bog nach rechts ab. »Ich musste dich überraschen. Sonst hättest du einen Vorwand gefunden, mir aus dem Weg zu gehen.«
»Du hättest bis nach der Hochzeit meines Bruders warten sollen. Für ihn ist heute ein großer Tag.«
»Du magst keine Hochzeiten, Dylan.«
»Es sei denn, mein Bruder heiratet.«
Sie rollte die Augen. »Schon klar«, antwortete sie mit einem zynischen Unterton.
Er blieb abrupt stehen. Allmählich verlor er die Geduld. »Hör zu, was immer du zu sagen hast, spuck's einfach aus. Es wird dunkel, und ich habe keine Lust, mich mit dir im Wald zu verirren.«
»Lass uns bis zum Ende des Weges gehen. Das steht eine Bank.« Sie ging weiter, ohne seine Antwort abzuwarten.
Der asphaltierte Weg wurde von kleinen Laternen gesäumt, die etwa drei Meter auseinanderstanden, doch bald war es nur noch ein einfacher Waldweg, und sie waren von Finsternis umgeben. Er wollte Erica zurufen, sie solle umkehren, doch sie war schon ein gutes Stück weg, und ihm klebte die Zunge am Gaumen. Er musste mehr getrunken haben, als ihm bewusst gewesen war.
Wo zum Teufel war die Bank, von der sie gesprochen hatte? Seine Beine waren schwer, und vor seinen Augen begann sich alles zu drehen. Er konnte kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. Was stimmte nicht? Ihm war ganz übel. Er stolperte und konnte im letzten Moment noch einen Sturz verhindern, indem er sich an einem Baumstamm festhielt.
»Erica«, murmelte er, aber er bekam das Wort kaum noch heraus.
Sie drehte sich um und blickte ihn an, machte aber keine Anstalten, zu ihm zu kommen.
»Hilf mir.« Er versuchte den Arm zu heben, doch er war zu schwer.
»Es ist deine eigene Schuld, Dylan«, sagte sie. »Mir blieb keine andere Wahl. Ich konnte nicht anders.«
»Keine andere Wahl? Wovon redest du?«
»Jeder ist sich selbst der Nächste. Du hast es selbst gesagt, Dylan. Ich muss zuerst an mich denken.«
Sie ging ein paar Schritte rückwärts, und kam dem Rand eines steilen Abhanges bedrohlich nahe. Er wollte sie warnen, bekam aber kein Wort mehr heraus. Vor seinen Augen drehte sich alles immer schneller.
Sie musste etwas in seinen Champagner gekippt haben. Er erinnerte sich an dessen zu süßlichen Geschmack. Warum? Was zum Teufel wollte sie? Bevor er sie fragen konnte, gaben seine Beine nach, und er verlor das Bewusstsein.
Catherine Hilliard wachte mitten in der Nacht schweißgebadet und mit Herzrasen auf. Sie blickte auf die Digitalanzeige des Weckers. Vier Uhr vierundvierzig. Seit zwei Monaten wurde sie nachts aus dem Schlaf gerissen, von Angst gepackt, die sie wie eine Flutwelle zu verschlingen drohte. In ihrem Kopf hallten Schreie. Erinnerungen, von denen sie befürchtete, sie nie vergessen zu können ... Aber es waren auch keine klaren, vollständigen Erinnerungen.
Die Ereignisse einer bestimmten Nacht waren vierundzwanzig Jahre lang in ihrem Unterbewusstsein verschüttet gewesen. Alle paar Jahre kamen die Albträume zurück, um sie für einige Wochen zu quälen. Dann verschwanden sie genauso schnell, wie sie gekommen waren. Aber dieses Mal war es anders. Die Albträume wurden schlimmer, und ihre Angst nahm mit jeder Nacht zu. Es war, als stünde ihr etwas Entsetzliches bevor.
Sie stand auf. Nur das Malen konnte ihr die Angst nehmen.
Auf der Staffelei wartete eine unbemalte Leinwand. Sie holte ihre Pinsel und Farben, beruhigte sich bei den vertrauten Handgriffen. Sie tauchte einen Pinsel in die Farbe, hielt einen Moment inne, begann zu malen. Der Albtraum in ihrem Kopf nahm Form an. Dicke dunkle Farbflächen, rot, grün, schwarz, blau, und mit jedem Pinselstrich ließ ihre Angst nach. Sie wusste nie, was aus ihrem Unterbewusstsein aufsteigen würde. Schließlich legte sie den Pinsel weg und trat erschöpft zwei Schritte zurück.
Das Bild, das sie soeben gemalt hatte, wäre allen ein Rätsel gewesen. Es war ein Chaos von Linien und Formen, ein dissonanter Zusammenprall von Farben, und doch glaubte sie, in ihren abstrakten Bildern ein Gesicht erahnen zu können. Dunkle, verängstigte Augen, ein Mund, der um Hilfe zu flehen schien. Tief in ihrem Inneren glaubte sie, helfen zu müssen, doch sie wusste nicht, wem oder wie.
Sie setzte sich auf die Bettkante und seufzte, als sie das Bild betrachtete. Jetzt war sie ruhiger und analysierte ihre Arbeit, wie sie es jede Nacht tat, und doch war der Aufruhr in ihrem Kopf so verwirrend wie immer.
Als sie sechs Jahre alt war, hatte sich ihr Leben für immer verändert. Ihre Wirklichkeit wurde zu einem Albtraum, und damals hatte es mit den schlimmen Träumen begonnen. Die Polizei hatte von ihr hören wollen, was genau sie in jener Nacht gesehen hatte. Ein Therapeut hatte ihr Papier und Buntstifte gegeben und gesagt, sie solle malen. Also hatte sie gemalt, doch die Bilder waren schon damals so rätselhaft gewesen wie heute. Seit jenem Tag hatte sie nicht mehr mit dem Malen aufhören können. Die Kunst war zu ihrer Zuflucht geworden, zu einer Leidenschaft, mit der sie zugleich ihren Lebensunterhalt verdiente. Ein Leben ohne die Malerei hätte sie sich überhaupt nicht vorstellen können.
Tagsüber konnte sie wundervolle Bilder schaffen - Landschaften, Stillleben, Porträts glücklicher Menschen -, doch nachts, nach den Träumen, wurde ihre Malerei düster. Nur mit dem Pinsel in der Hand konnte sie sich von der Qual der endlosen Albträume befreien.
Sie hatte es mit Umzügen versucht, doch es funktionierte nicht. Als Kind hatte sie in acht verschiedenen Heimen gelebt, und die Albträume waren ihr überallhin gefolgt. Als erwachsene Frau hatte sie in drei Städten gelebt, in immer wieder anderen Wohnungen, bis sie in das Haus am Strand von San Luis Obispo gezogen war. Doch auch dort kehrten die Träume immer wieder zurück.
Natürlich gab es auch Monate, in denen sie ungestört schlief.
Sie sehnte sich nach der Erleichterung, die sie nach diesen traumlosen Nächten empfand. Einmal hatte sie sechs Jahre lang keinen Albtraum gehabt und geglaubt, es wäre vorbei. Doch dann waren die Träume zurückgekommen, und sie hatte begriffen, dass sie nie frei sein würde, wenn sie nicht etwas tat ...
Sie hatte das Gefühl, auf irgendeine Weise handeln zu müssen - nur dann würde es ein Entkommen geben. Doch was hätte sie tun sollen? Sie wusste es nichts. Sie erkannte die auf ihren abstrakten Bildern erahnbaren Gesichter nicht. Diese Menschen stellten ihr Fragen, doch sie konnte sie nicht beantworten, weil sie nicht wusste, wer sie waren.
Aber in dieser Nacht fragte sie sich, ob das Gesicht auf ihrem Bild nicht vielleicht der Frau gehörte, die sich in der Bar neben Dylan an die Theke gesetzt hatte. Gab es da nicht eine entfernte Ähnlichkeit? Vielleicht bildete sie es sich nur ein. Oder sie hatte das Gesicht der Frau gemalt, weil sie es vor ihrem geistigen Auge gesehen hatte, während einer kurzen Vision von Dylans Zukunft - einer Zukunft, in der auch sie eine Rolle zu spielen schien. Sie war nicht scharf darauf, denn sie glaubte, dass Dylan in Schwierigkeiten war, und Probleme hatte sie selbst genug.
Sie stand auf, trat ans Fenster und zog den Vorhang zur Seite. Ihr Zimmer befand sich in der obersten Etage des zweistöckigen Gebäudes und hatte einen direkten Blick auf den mehrere Hundert Meter darunter liegenden, im Licht des Vollmonds schimmernden See. Die hohen Kiefern wirkten unheimlich und schwankten im Wind. Es lief ihr kalt den Rücken hinab. Sie glaubte an dunkle Verbindungen, an das Schicksal, das Verhängnis. Nichts beruhte auf Zufällen, alles hatte einen vorherbestimmten Ausgang. In ihrer Kindheit hatte ihr ein Psychiater gesagt, schlimme Dinge passierten eben einfach, sie solle aufhören, immer nach Gründen zu suchen. Schon damals hatte sie dem Arzt nicht geglaubt, und auch heute hielt sie nichts von dieser Sichtweise. Und deshalb konnte sie nicht ignorieren, dass etwas nicht stimmte.
Ihr war etwas kalt in ihrem dünnen Shirt, und sie verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hoffte, dass ihre Ahnung bevorstehenden Unheils nichts mit Sarah zu tun hatte. Nach allem, das sie in den letzten Jahren durchmachen musste, hatte sie es verdient, glücklich zu sein. Und Jake, Sarah und ihre Tochter waren auf dem Weg nach Hawaii, dem Land der sich im sanften Wind wiegenden Palmen und der blauen Himmel. Ihnen ging es gut. Es musste so sein.
Sie atmete ein paarmal tief durch. Wenn sie nach den Albträumen malte, war sie in der Regel so müde, dass sie bis zum Morgen durchschlief. Heute aber fühlte sie sich immer noch angespannt, ganz so, als wartete sie darauf, dass etwas passierte.
Sie ging zu einem an der Wand stehenden Koffer und zog ein Bild heraus, diesmal ein Porträt ...
Von der Leinwand starrten sie Dylans goldbraune Augen an. Ihr Blick war rätselhaft. Darin legen zugleich Schmerz, Zynismus und Belustigung. Es war schwer gewesen, seine komplexe Persönlichkeit zu erfassen, seinen Stolz, sein Misstrauen, das Nebeneinander von Güte und Großspurigkeit, und sie glaubte nicht, dass sie es schon richtig hinbekommen hatte. Sie hatten vor zwei Monaten nur ein paar Tage gemeinsam verbracht, als Dylan sie gebeten hatte, ihm bei der Suche nach Jakes und Sarahs Tochter zu helfen, doch diese paar Tage mit ihm hatten sie auf eine Weise berührt, die sie nicht ganz verstand. Sie wusste einfach, dass sie sich einander verbunden fühlten. Es gab einen Grund dafür, dass Dylan zu ihr gekommen war.
Er hatte gesagt, es liege daran, dass sie und Sarah eine gemeinsame Vergangenheit hätten, das sei alles. Aber sie vermutete, dass mehr dahintersteckte. Wenn sie nur gewusst hätte, wie die Frau in der Bar ins Bild passte, das wäre nützlich gewesen ... Aber ihre Visionen waren nie so detailliert, wie sie es sich gewünscht hätte. Sie musste einfach abwarten, was als Nächstes kam.
Sie legte das Porträt weg und ging zum Fenster zurück. Wieder erschien vor ihrem inneren Auge Dylans Bild. In seinem Blick lag Angst, und seine Miene wirkte geschockt, ganz so, als wäre er Opfer eines Verrats geworden. Sie packte die Vorhänge mit beiden Händen, denn sie musste sich festhalten, weil sie sich plötzlich ganz sicher war, dass Dylan in Gefahr schwebte.
Sie warf einen Blick auf den Wecker. Eine Stunde war vergangen, seit sie aus dem Albtraum hochgeschreckt war. Es war fast sechs. Wenn die Sonne aufging, war alles überstanden. Sie würde frei atmen, sich entspannen können. Und sie konnte nachsehen, wie es Dylan ging. Am liebsten hätte sie ihn jetzt sofort angerufen, aber sie bezweifelte, dass er es geschätzt hätte, so früh aus dem Schlaf gerissen zu werden.
Flackerndes Licht fiel ins Zimmer. Sie wandte sich wieder zum Fenster und erstarrte, als sie einen Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht vor dem Hotel vorfahren sah. Sie drückte ihr Gesicht an die Scheibe und sah zwei uniformierte Polizisten in dem Gebäude verschwinden.
Ihre Angst wurde größer. Sie war hin und her gerissen. Einerseits wollte sie nach unten gehen und herausfinden, was los war, andererseits zog sie die Sicherheit ihres Zimmers vor.
Das alles ist nicht dein Problem, dachte sie. Sie musste sich nicht mit Dingen befassen, die sie nichts angingen. Es war ihr zur zweiten Natur geworden, sich von Polizisten fernzuhalten. Sie waren nicht in der Lage gewesen, sie zu beschützen, als sie noch ein Kind war, und als sie älter wurde, hatte sie gelernt, dass man sich nur auf sich selbst verlassen konnte, bestimmt nicht auf uniformierte Cops. Die hatten ihr das Leben schwer gemacht mit ihren nächtlichen Streifen, als sie auf der Straße lebte und irgendwie über die Runden kommen musste.
Sie setzte sich wieder auf das Bett und starrte das Telefon an. Es fiel ihr schwer, den Wunsch abzuschütteln, Dylan anzurufen und sich zu vergewissern, dass es ihm gut ging. Seit er mit dieser Frau die Bar verlassen hatte, war sie ihm nicht mehr begegnet. Sie hatte im weiteren Verlauf der Hochzeitsfeier noch mehrfach nach ihm gesucht, besonders am Schluss, als Jake und Sarah sich von ihm verabschieden wollten, aber es war nichts von ihm zu sehen. Jake hatte gescherzt, sein Bruder habe bestimmt eine Frau abgeschleppt. Vermutlich hatte er recht. Und trotzdem ... Dylan und Jake standen sich so nahe, wie es auch bei Brüdern kaum je vorkam. Wäre Dylan wirklich während der Hochzeitsfeier seines Bruders mit einer Frau verschwunden? Es schien ihr eher unwahrscheinlich.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, griff sie zum Telefon, rief an der Rezeption an und bat darum, sie mit Dylan Sanders zu verbinden. Das Telefon klingelte und klingelte, und irgendwann sprang der Anrufbeantworter an. Sie legte auf. Ihre Hand zitterte. Vielleicht schlief er einfach nur tief. Oder er verbrachte die Nacht mit dieser Frau.
Catherine kroch unter die Decke und zog sie bis unter ihr Kinn hoch. Sie blickte auf den Wecker und sah, wie die Minuten verstrichen. Sie wollte schlafen, wusste aber, dass es erst klappen würde, wenn die Sonne aufging und ihre Ängste sich verflüchtigten.
2
Dylan bewegte sich und spürte, dass sich etwas Spitzes in seinen Rücken bohrte. Er war benommen, ein dumpfer Schmerz strahlte von der Stirn bis in den Hals und die Schultern aus. Seine Lider waren schwer, und er brauchte einen Moment, um die Augen zu öffnen. Einen weiteren Augenblick benötigte er, um zu begreifen, dass er auf dem Boden eines Waldes lag. Er griff unter seinen Oberkörper und zog einen Tannenzapfen hervor, die Quelle seines Unbehagens.
Die Sonne stieg gerade über die Wipfel der Bäume, aber die Luft war noch kühl. Am blauen Himmel hingen nur wenige kleine Wolken. Es war früh am Morgen. Was zum Teufel war geschehen? Warum lag er hier im Wald? Hatte er so viel getrunken, dass er das Bewusstsein verloren hatte?
Mühsam setzte er sich auf. Sein anthrazitgrauer Anzug war mit Erde verschmiert. Eine Schnittwunde auf seiner Hand war geschwollen, die Haut aufgedunsen und gerötet. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es Viertel nach sieben war. Und was war das Letzte, woran er sich erinnerte?
Er atmete tief durch und zwang sich nachzudenken. Die Aussicht erinnerte ihn daran, dass er am Lake Tahoe war und dass Jake geheiratet hatte. Er hatte an der Feier teilgenommen und später in der Bar gesessen, wo er sich mit Catherine unterhalten hatte. Dann war Erica aufgetaucht. Sie hatte mit ihm sprechen wollen, hatte ihn zu einem Glas Champagner überredet. Sie hatten einen Spaziergang gemacht - einen langen Spaziergang.
Sein Puls begann zu rasen, als er sich hochrappelte. Er blickte sich um, sah aber nichts außer Bäumen und einem Abhang, der zu einem steilen Fels über dem See führte. Erica hatte ihn hierhergeführt. Sie hatte etwas davon gesagt, ihr bliebe keine andere Wahl, doch ihre anderen Worte waren ihm entfallen. Er erinnerte sich daran, dass ihm übel geworden, dass er zu müde gewesen war, um noch weitergehen zu können. Erica musste ein Betäubungsmittel in seinen Champagner gemischt haben. Genau, so musste es gewesen sein. Doch warum hätte sie so etwas tun sollen?
Er überprüfte seine Taschen. Die Brieftasche war da, mit den zweihundert Dollar, die er mitgenommen hatte. Sie hatte weder sein Geld noch seine Uhr gestohlen, und sonst hatte er nichts von Wert dabei. Aber vielleicht ging es ihr um etwas, das in seinem Zimmer lag. Er tastete seine Taschen erneut ab und bemerkte, dass seine Autoschlüssel nicht da waren. Hatte er sie im Zimmer liegen lassen? Und wo war der Zimmerschlüssel? Er hatte seinen Laptop mitgebracht, weil er etwas arbeiten wollte. Auf dem Computer waren einige Dateien über den Fall von Senator Ravino gespeichert. Hatte Erica es auf Informationen abgesehen? Hatte sie deshalb etwas in seinen Champagner gekippt und ihn in den Wald gelockt? Um ihm den Schlüssel zu stehlen und in sein Zimmer einzudringen?
Er hörte ein Rascheln von Blättern und Zweigen und drehte den Kopf. Waren es Eichhörnchen und Vögel, oder beobachtete ihn jemand? War es Erica? War sie im Begriff, den nächsten Teil ihres Plans in die Tat umzusetzen? Er musste zur Woodlake Mountain Lodge zurückkehren. Da er die Orientierung verloren hatte, nahm er sich ein paar Augenblicke Zeit, um herauszufinden, welche Richtung er einschlagen musste. Stolpernd bahnte er sich seinen Weg durch den Wald, und schließlich stieß er auf einen Weg.
Er brauchte ziemlich lange für den Rückweg. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie weit sie am letzten Abend gegangen waren. Offenbar hatte Erica sicherstellen wollen, dass ihn niemand finden würde. Aber ihm etwas in den Champagner zu kippen und dann im Wald liegen zu lassen, das schien ihm kein vollständiger Plan zu sein. Da musste noch mehr sein.
Ihm schwante Böses, als er die beiden Streifenwagen vor der Woodlake Mountain Lodge sah. Irgendetwas war passiert. Von Angst gepackt, lief er die Stufen vor dem Eingang hinauf. Er wusste nicht, was während der letzten zwölf Stunden geschehen war, und hatte keine Ahnung, ob Jake und Sarah ihre Hochzeitsreise angetreten hatten. Hatten sie sich gefragt, wo er geblieben war? Hatten sie die Polizei gerufen, weil sie sich Sorgen um ihn machten? Oder, Gott behüte, war ihnen etwas zugestoßen? War die Polizei vielleicht deshalb da?
Als er die Eingangshalle betrat, sah er einen uniformierten Polizisten und einen Mann in einem dunkelgrauen Anzug an der Rezeption stehen. Sie redeten mit dem Hotelmanager, während ein Dutzend Angestellte zuhörten. Einer davon war der Barkeeper, der ihm am letzten Abend die Drinks serviert hatte. Als sich ihre Blicke trafen, hob der Barkeeper eine Hand und zeigte auf ihn. »Das ist der Mann, der gestern Abend mit ihr die Bar verlassen hat.«
Erica. Dies alles musste etwas mit ihr zu tun haben.
»Was ist passiert?«, fragte Dylan.
Der Mann in dem grauen Anzug trat auf ihn zu. Er schien Anfang vierzig zu sein, hatte hellbraunes Haar und eine hohe Stirn. Er hatte seine Krawatte gelockert, und seine rötliche Hautfarbe deutete darauf hin, dass er genauso viel Zeit an der frischen Luft wie in seinem Büro verbrachte. Er zeigte seine Dienstmarke. »Ich bin Detective Richardson vom Washoe County Sheriff's Department«, sagte er. »Und Sie heißen ...?«
»Dylan Sanders. Was ist los?«
»Uns interessiert, wie es um das Wohlergehen eines der Gäste steht, Miss Erica Layton. Kennen Sie sie?«
Dylans Herzschlag setzte einen Moment aus. »Ja, ich kenne sie. Was ist ihr zugestoßen?«
»Das versuchen wir herauszufinden. Der Barkeeper, der gestern Abend Dienst hatte, sagt, sie hätten mit Miss Layton an der Theke gesessen und dann mit ihr die Bar verlassen. Stimmt das?«
Richardson musterte ihn von Kopf bis Fuß, und Dylan musste plötzlich an seinen verschmutzten Anzug denken, das fleckige Hemd, die an den Ärmeln hängenden Tannennadeln. Er widerstand der Versuchung, sie abzuschütteln. »Ja, das ist richtig«, murmelte er.
»Wann haben Sie Miss Layton zuletzt gesehen?«, fragte Detective Richardson.
»Etwa um halb acht gestern Abend.«
»Wo waren Sie mit ihr?«
»Im Wald. Erica und ich haben einen Spaziergang gemacht. Sie hat gesagt, sie wolle mit mir reden.«
»Worüber? Haben Sie eine Beziehung mit Miss Layton?«
»Eigentlich nicht.« Dylan zögerte. Sein Gehirn begann wieder, normal zu funktionieren. Ihm missfielen der forschende Blick des Detectives und die Richtung, die seine Fragen nahmen. »Warum fragen Sie?«
»Wie gesagt, wir machen uns Sorgen um Miss Laytons Wohlergehen. Haben Sie sie gestern Abend zu ihrer Blockhütte begleitet?«
»Nein, ich habe sie zuletzt im Wald gesehen.«
»Wo sie mit Ihnen über was reden wollte?«
»Wir haben kooperiert, als ich vor ein paar Monaten an einer Story arbeitete. Ich bin Reporter beim Sender KTSF Channel Three in San Francisco. Ich nahm an, dass sie darüber mit mir reden wollte.« Bis der Detective damit herausrückte, was los war, hatte er nicht vor, etwas von seiner persönlichen Beziehung zu Erica zu erzählen.
»Dann war Miss Layton ein Gast bei der Hochzeitsfeier Ihres Bruders?«
»Nein, sie war nicht eingeladen. Offenbar war sie nach Tahoe gekommen, um mit mir zu reden.«
»Sie haben gesagt, Sie hätten angenommen, dass sie mit Ihnen über diese Story reden wollte, bei der sie mit Ihnen zusammengearbeitet hat. Aber darum ging es ihr gar nicht, oder?«
»Ich weiß es nicht. Zu einem Gespräch ist es eigentlich nicht gekommen.«
»Warum nicht?«
»Sie ist verschwunden.«
»Haben Sie sich gestritten? War Miss Layton aufgeregt?«
Dylan runzelte die Stirn. Er wusste nicht, was Erica zugestoßen war, doch es musste irgendwelche Hinweise geben, denn sonst wäre nicht die Polizei gerufen worden, und dieser Detective würde ihn nicht befragen, als wäre er der Hauptverdächtige in einem Mordfall. Dieser Gedanke ließ seinen Puls rasen. War Erica tot?
Nein, der Detective hatte gesagt, er mache sich Sorgen um ihr Wohlergehen. Das hieß, dass sie nicht tot war, sondern vermisst wurde.
»Wo waren Sie, nachdem Miss Layton verschwunden war?«, fragte Detective Richardson.
Als Reporter hatte Dylan bei verschiedenen Gelegenheiten mit der Polizei zusammengearbeitet, und daher wusste er, dass es am besten war, die Wahrheit zu sagen, aber er musste daran denken, wie seine Erklärung klingen würde, nämlich nicht gut. Aber blieb ihm eine andere Wahl? Wenn er log, würde das die unausweichliche Enthüllung der Wahrheit allenfalls hinauszögern.
Die Tür des Aufzugs öffnete sich mit einem Bimmeln, und Dylan war überrascht, Catherine zu sehen. Sie trug Bluejeans und einen weit geschnittenen, beigefarbenen Pullover. Ihr rotblondes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Als sie den uniformierten Polizisten sah, blieb sie abrupt stehen. Ihre Miene spiegelte zugleich Erleichterung und Misstrauen.
»Mr Sanders? Ich muss Sie bitten, meine Frage zu beantworten. Wo waren sie, nachdem Miss Layton verschwunden war?«
»Nirgendwo.«
»Pardon?«
»Ich muss von vorne anfangen.« Dylan begriff, dass er erklären musste, was geschehen war.
»In Ordnung« Richardson verschränkte die Arme vor der Brust und wartete darauf, dass Dylan fortfuhr.
Dylan wandte den Blick von Catherine ab. Im Moment musste er sich auf eine andere problematische Frau konzentrieren. »Erica hat sich in der Bar zu mir gesetzt. Wie gesagt, wir haben vor ein paar Monaten bei einer meiner Storys zusammengearbeitet. Ich war überrascht, sie auf der Hochzeitsfeier meines Bruders zu sehen, weil wir seit Wochen keinen Kontakt mehr hatten. Sie reichte mir ein Glas Champagner und sagte, sie müsse mit mir reden, aber in der Bar sei es zu laut und zu voll. Also haben wir einen Spaziergang gemacht. Nach ein paar Minuten wurde mir übel. Mir war schwindelig, als hätte ich zu viel getrunken. Aber Erica ging einfach weiter, lockte mich tiefer in den Wald hinein. Ich verlor die Orientierung, wusste nicht mehr, wie weit wir gegangen waren. Ich bin gestolpert, und das ist das Letzte, woran ich mich erinnere, bevor ich vor einer halben Stunde wieder aufwachte. Ich bin sofort hierher zurückgekommen. Ich glaube, dass Erica etwas in meinen Champagner gekippt hat.«
»Moment. Wollen Sie sagen, dass Miss Layton Ihnen irgendein Betäubungsmittel verabreicht hat? Warum hätte sie das tun sollen?« Richardsons braune Augen blickten ihn nachdenklich an. »Ich dachte, Sie wären mit ihr befreundet.«
»Das habe ich auch gedacht. Ich weiß nicht, warum sie es getan hat. Ich erinnere mich vage daran, dass sie gesagt hat, es bliebe ihr keine andere Wahl, aber der Rest ist mir entfallen.«
»Eine ziemlich merkwürdige Story«, sagte Richardson skeptisch.
»Es ist die Wahrheit. Genauso ist es gewesen.«
»Also war Miss Layton wütend auf Sie.«
»Ich glaube nicht, etwas davon gesagt zu haben, dass sie wütend war.«
»Nein?«, konterte der Detective. »Warum sonst hätte sie ein Betäubungsmittel in Ihren Champagner mischen sollen? Sehr freundschaftlich finde ich das nicht.«
»Als sie sich neben mich an die Bar setzte, wirkte sie weder wütend noch erregt, allenfalls etwas nervös.«
»Ihre Beziehung war nicht rein geschäftlich, oder, Mr Sanders? «
Er hatte ein Gefühl, als würde sich eine Schlinge um seinen Hals zusammenziehen. Er brauchte Zeit zum Nachdenken, bezweifelte aber, dass Richardson sie ihm lassen würde. »Muss ich mir einen Anwalt nehmen?««
»Ich weiß es nicht. Was meinen Sie?«
»Hören Sie, ich war außer Gefecht gesetzt, weil sie dem Champagner ein Betäubungsmittel beigemischt hatte. Ich weiß nicht, was Erica zugestoßen ist - wenn es denn so sein sollte. Wenn Sie mir nicht glauben, lasse ich einen Bluttest machen.« Er musste seine Unschuld beweisen, und das war die perfekte Idee. »Ich werde das sofort veranlassen.«
»Das würden Sie tun?«
»Selbstverständlich. Ich habe nichts zu verbergen.«
»Wenn Sie nichts zu verbergen hätten, würden Sie nicht von einem Anwalt reden«, sagte Richardson mit einem kühlen Lächeln. Er schwieg einen Augenblick und nickte dann. »Ich schicke einen meiner Deputys mit Ihnen zum hiesigen Krankenhaus. Er kann das mit den Tests regeln. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.«
Dylan atmete auf, als Richardson verschwand. Er hoffte, dass das mit dem Bluttest kein Fehler gewesen war, aber ihm fiel keine andere Möglichkeit ein, um zu beweisen, dass er in seinem Zustand unfähig gewesen war, jemandem etwas anzutun. Ihm fiel auf, dass Catherine ihn beobachtete, und er trat zu ihr.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt. »Sie haben Erde im Haar und sehen aus, als hätten Sie die Nacht durchgemacht.«
Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, und jede Menge Tannennadeln fielen auf den Teppich. »Offensichtlich ist nicht alles in Ordnung. Was wissen Sie über Erica?«
»War das die Frau in der Bar?«
»Stellen Sie sich nicht dumm, Catherine. Sie wissen, dass irgendetwas im Gange ist. Deshalb sind Sie nach unten gekommen. Außerdem haben Sie Ericas Ankunft vorausgesagt, schon vergessen?«
»Nein. Ich erinnere mich. Ich vergesse meine Visionen nie.« Ihre blauen Augen blickten ihn an. »Ich kannte ihr Gesicht, aber nicht ihren Namen.«
»Wirklich nicht?«, fragte er. »Sie haben gesagt, zwischen uns allen gebe es eine Verbindung. Warum habe ich das Gefühl, dass Sie mich reinlegen?«
»Warum sollte ich? Sie sind Jakes Bruder, Sarahs Schwager. Sarah würde mich umbringen, wenn ich versuchen würde, Ihnen zu schaden.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Und außerdem, was für einen Grund sollte ich haben, sie wegen irgendwas hereinzulegen? Ich kennen Sie kaum.«
Dafür konnte er sich auch keinen Grund vorstellen, doch er wusste, dass er ihr nicht hundertprozentig vertraute. »Warum sind Sie gestern verschwunden, wenn Sie wussten, dass Erica Probleme machen würde? Sie hätten in der Bar bleiben und mir helfen können.«
»Das alles ging mich nichts an, und Sie schienen sie zu kennen. Mit Sicherheit habe ich nicht damit gerechnet, dass sie etwas in Ihren Champagner kippen und Sie in den Wald locken würde. Wenn es denn so war. Ich habe gehört, was Sie zu dem Detective gesagt haben. Besonders leise haben Sie nicht gesprochen. Ich bin sicher, dass alle hier gehört haben, was Sie sagten.«
»Es ist ja kein Geheimnis«, erwiderte er verärgert, obwohl er sich jetzt schon wünschte, irgendwo mit dem Detective unter vier Augen gesprochen zu haben. Die Angestellten blickten ihn alle sehr misstrauisch an.
Catherines Blick irrte umher, als würde sie darauf warten, dass etwas geschah. Wusste sie, was kommen würde? Hatte sie in ihrer Vision noch etwas gesehen?
Er hatte noch nie an Hellseherei oder Visionen geglaubt, und Catherines Vorhersage, dass zwei Frauen in sein Leben treten und ihm Schwierigkeiten machen würden, war so vage, dass sie sich jederzeit bewahrheiten konnte. Schließlich lernte er ständig Frauen kennen. Aber ihn beunruhigte, dass Catherine Erica als die Frau erkannte, die sie in ihrer Vision gesehen hatte. Besonders jetzt, wo Erica spurlos verschwunden war. Hatte sie bloß ins Blaue hinein geredet und mit ihrer Vorhersage Glück gehabt? Hatte Catherine, als Erica in die Bar trat, ihm nur deshalb erzählt, sie sei die Frau aus ihrer Vision, um ihm zu beweisen, dass sie wirklich eine Hellseherin war? Hatte es mit ihren Visionen überhaupt irgendetwas auf sich?
»Also, was wird als Nächstes passieren?«, fragte er. »Offenbar verfügen Sie im Gegensatz zu uns normalen Sterblichen ja über die Gabe, in die Zukunft zu blicken.«
»Sie glauben offensichtlich nicht daran«, erwiderte sie gereizt. »Ich weiß nicht, warum ich heruntergekommen bin.«
»Ja, warum? Oder wollen Sie behaupten, Ihr Grund sei das Frühstück gewesen?«
»Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht«, antwortete sie nach kurzem Zögern. »Aus dem Fenster meines Zimmers habe ich den Streifenwagen gesehen, und da wusste ich, dass etwas passiert sein musste.«
»Und Sie haben geglaubt, ich sei in Schwierigkeiten.«
»Ich hatte ein ungutes Gefühl.«
»Wer hätte das gedacht«, sagte er müde. »Können Sie nicht mal offen und ehrlich antworten?«
»Es ist eine ehrliche Antwort. Ich verlasse mich immer auf meine Intuition, Dylan. Und sie haben größere Probleme, als sich darüber den Kopf zu zerbrechen, warum ich nach unten gekommen bin.«
»Das können Sie zweimal sagen.« Er seufzte. »Ich wünschte zu wissen, was Erica zugestoßen ist und warum die Polizei benachrichtigt wurde.«
»Die Cops sind vor einer guten Stunde eingetroffen«, sagte Catherine.
»Sie sind schon so lange hier? Warum waren Sie so früh auf?«
»Ich konnte nicht schlafen.«
Eine knappe Antwort. Er glaubte, dass sie eigentlich mehr hatte sagen wollen, und wahrscheinlich hätte es etwas mit ihrem unguten Gefühl zu tun gehabt.
»Ich habe in Ihrem Zimmer anzurufen versucht«, fügte sie hinzu. »Aber Sie sind nicht drangegangen.«
»Weil ich bewusstlos im Wald gelegen habe, was ohne einen Zeugen nicht leicht zu beweisen sein wird. Deshalb muss ich durch einen Bluttest bestätigen lassen, dass Erica mir irgendwas verabreicht hat.« Er war innerlich unruhig, denn irgendjemand versuchte ihn definitiv hereinzulegen, aus welchem Grund auch immer. »Sind Jake und Sarah wie geplant in ihren Hochzeitsurlaub aufgebrochen? Haben sie sich gewundert, warum ich verschwunden war?«
»Sarah hat mich gefragt, ob ich Sie gesehen hätte, und ich habe geantwortet, Sie hätten mit einer Frau an der Bar ein Glas getrunken. Jake hat gelacht und gesagt, Sie hätten bei Hochzeiten immer Glück bei der Damenwelt. Vermutlich hat er gedacht, Sie würden sich irgendwo gut amüsieren.«
»Glück ... Ja, im Moment bin ich richtig glücklich. Aber ich bin froh, dass die beiden wie geplant abgereist sind. Ich möchte nicht, dass Jake in meine Schwierigkeiten hineingezogen wird.« Er hatte nicht vor, Jake und Sarah den Honeymoon zu verderben.
Detective Richardson und der uniformierte Polizist traten zu ihnen. »Deputy Barnes wird Sie ins Krankenhaus begleiten «, sagte Richardson. »Wir reden weiter, wenn wir die Ergebnisse der Tests haben. Ich hoffe, Sie haben nicht vor, die Gegend zu verlassen.«
»Ich wollte heute nach San Francisco zurückfahren«, antwortete Dylan.
»Ich wüsste es zu schätzen, wenn Sie bis zu unserem nächsten Gespräch hierbleiben würden. Wie werden den Wald durchkämmen, aber wir könnten Sie brauchen, weil wir wissen müssen, wo Sie sich zuletzt zusammen mit Miss Layton aufgehalten haben.«
Richardsons Stimme klang freundlich, doch zugleich sehr bestimmt. Wenn er sich nicht bereit erklärte, freiwillig zu bleiben, würde der Detective vermutlich einen Weg finden, ihn hier festzuhalten.
»Okay, ich bleibe, bis wir das geklärt haben.«
»Gut. Jetzt erzählen Sie mir noch mal, wo Sie gestern Abend mit Miss Layton hingegangen sind, nachdem Sie mit ihr die Bar verlassen hatten.«
»Wir haben den Weg genommen, der vor dem Haus beginnt und später zu einem einfachen Waldweg wird. Wir sind länger gegangen, und als ich heute Morgen aufwachte, lag ich etwa drei Meter von der Kante eines steilen Felsens entfernt.«
»Würden Sie die Stelle wiederfinden?«
»Ich weiß es nicht.« Ihm war klar, dass diese Antwort nicht eben gut klang. »Ich könnte es versuchen, doch als ich aufwachte, war ich immer noch benebelt. Deshalb habe ich den Rückweg nicht sofort gefunden und bestimmt nicht den direkten Weg genommen.«
»In Ordnung. Wir werden sehen, was wir herausfinden können. Und wir reden, wenn Sie vom Krankenhaus zurück sind.« Richardson wandte sich Catherine zu. »Darf ich nach Ihrem Namen fragen, Ma'am?«
Catherine blickte ihn überrascht an. Es schien ihr gar nicht zu gefallen, in diese Geschichte hineingezogen zu werden. »Catherine Hilliard«, antwortete sie leicht verunsichert.
»Wo haben Sie Mr Sanders getroffen?«
»Auf der Hochzeit einer Freundin. Sie hat gestern seinen Bruder geheiratet.«
»Dann haben Sie die Hochzeitsfeier besucht?«
»Ja.«
»Haben Sie mit Miss Erica Layton gesprochen?«
»Der Name sagt mir nichts«, antwortete Catherine.
»Miss Layton hat die Bar mit Mr Sanders verlassen«, sagte Richardson. »Wir machen uns Sorgen um ihr Wohlergehen und müssen sie so schnell wie möglich finden.«
»Ich habe gesehen, dass Dylan an der Theke mit einer Frau gesprochen hat, aber nicht, wie sie die Bar verlassen haben. Dylan hat mich ihr nicht vorgestellt.«
Ihre Stimme klang angespannt, doch Dylan bewunderte ihre knappen, präzisen Antworten. Die meisten Leute plapperten drauflos, wenn sie von der Polizei vernommen wurden, doch Catherine sagte nur das, wonach sie gefragt wurde. Und sie schien auch nicht scharf darauf zu sein, der Polizei zu helfen. Tatsächlich schien sie am liebsten die Flucht ergreifen zu wollen.
Warum war sie so nervös? Hatte sie etwas zu verbergen?
»Danke für Ihre Hilfe.« Richardson wandte sich wieder Dylan zu. »Wir sprechen später, Mr Sanders. Deputy Barnes wartet vor dem Eingang auf Sie. Er fährt Sie zum Krankenhaus.«
Nachdem der Detective verschwunden war, blickte Dylan Catherine an. »Begleiten Sie mich zum Krankenhaus«, sagte er spontan.
»Warum?«, fragte sie überrascht. »Das ist doch wohl überflüssig. «
»Ich wüsste es zu schätzen, eine Freundin dabeizuhaben.«
»Wir sind nicht gerade befreundet«, gab sie zu bedenken. »Vor einer Minute haben Sie mich noch beschuldigt, etwas mit Ihren Problemen zu tun zu haben.«
»War nicht so gemeint«, sagte er schnell. Er wusste nicht, warum er Catherine an seiner Seite haben wollte, aber es war so. »Sie sind noch am ehesten eine Verbündete, und vielleicht können wir gemeinsam herausfinden, was los ist.«
Sie runzelte die Stirn, und ihr Blick wirkte zögerlich. »Ja, vermutlich könnte ich Ihnen helfen«, murmelte sie.
»Okay, los geht's.« Er packte ihre Hand, bevor sie es sich anders überlegte.
Doch als sie sich draußen dem Streifenwagen näherten, wurden ihr Schritte langsamer. Dann blieb sie ganz stehen und befreite sich aus seinem Griff.
Er blickte sie an und sah beunruhigt, wie bleich sie war. »Was stimmt denn nicht?«
»Ich kann nicht in diesen Wagen steigen.« Sie hob eine Hand, als wollte sie ihn abwehren.
»Der Deputy bringt uns nur zum Krankenhaus. Das ist keine große Sache.«
»Es geht nicht. Wir sehen uns später hier.« Sie trat zurück und schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann nicht in diesen Wagen steigen. Versuchen Sie nicht, mich zu zwingen.«
»Haben Sie wieder eine Vision?«, fragte er. »Wird der Wagen verunglücken? Was sehen Sie?«
»Ich sehe Blut, jede Menge Blut, und mittendrin steht ein kleines Mädchen.«
»Wovon reden Sie?«
Seine Frage blieb unbeantwortet. Sie wandte sich ab und rannte zum Hotel zurück. Irgendetwas hatte ihr Angst gemacht, aber ein kleines Mädchen inmitten einer Blutlache?
»Was ist los mit Ihrer Freundin?«, fragte der Deputy, als er Dylan die Hintertür des Streifenwagens aufhielt.
»Sie fährt mit Ihrem eigenen Auto zum Krankenhaus.«
»Hört sich für mich so an, als wären Sie auf sich allein gestellt. «
»Ja«, murmelte Dylan, als er sich auf die Rückbank zwängte.
Es war nicht das erste Mal, dass er auf sich allein gestellt war, und er saß auch nicht zum ersten Mal in einem Streifenwagen. Mit siebzehn hatte er Probleme mit der Polizei gehabt, doch Jake hatte die Kaution bezahlt und ihn herausgehauen. Damals war er ein dummer, sorgloser Jugendlicher gewesen, doch er hatte immer gewusst, was er auf dem Kerbholz hatte. Diesmal wusste er nicht, was er verbrochen haben sollte.
Er hatte keine Ahnung, was Erica von ihm gewollt hatte, und der einzige Mensch, der ihm vielleicht helfen konnte, hatte gerade die Flucht ergriffen.
© 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Barbara Freethy
Barbara Freethy schrieb ihren ersten Roman, während sie mit ihrem ersten Kind schwanger war. Seitdem hat sie zahlreiche Bücher veröffentlicht, die mit Preisen ausgezeichnet wurden und auf den amerikanischen Bestsellerlisten standen. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern im Norden Kaliforniens.
Bibliographische Angaben
- Autor: Barbara Freethy
- 2013, 1, 336 Seiten, Taschenbuch
- ISBN-10: 3863653068
- ISBN-13: 9783863653064
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