Mephistos Erben
Kriminalroman
Susanna van der Neer ist eine erfolgreiche Kunsthistorikerin, sie lebt in Mainz und arbeitet auf der ganzen Welt. Doch Erinnerungen und Schuldgefühle quälen sie. In einem Institut im Taunus glaubt sie, endlich Hilfe und Zuspruch zu finden, aber...
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Produktinformationen zu „Mephistos Erben “
Susanna van der Neer ist eine erfolgreiche Kunsthistorikerin, sie lebt in Mainz und arbeitet auf der ganzen Welt. Doch Erinnerungen und Schuldgefühle quälen sie. In einem Institut im Taunus glaubt sie, endlich Hilfe und Zuspruch zu finden, aber man spielt ein erbarmungsloses Spiel mit ihr. Und eines Tages wird sie tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Selbstmord, so scheint es. Wäre da nicht auf dem Anrufbeantworter diese Nachricht: Eine männliche Stimme flüstert die Zahl '20'. Die Psychiaterin Lea Johannsen lässt der Fall nicht los. Die Ermittlungen führen sie und die Polizei zu dem eleganten Anwesen in Falkenstein. Was geschieht hier? Wer bestimmt die Regeln des Spiels? Lea begibt sich in ungeahnte Gefahr. Ist auch ihr Schicksal schon besiegelt?
Klappentext zu „Mephistos Erben “
Tatort Mainz.Susanna van der Neer ist eine erfolgreiche Kunsthistorikerin, sie lebt in Mainz und arbeitet auf der ganzen Welt. Doch Erinnerungen und Schuldgefühle quälen sie. In einem Institut im Taunus glaubt sie, endlich Hilfe und Zuspruch zu finden, aber man spielt ein erbarmungsloses Spiel mit ihr. Und eines Tages wird sie tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Selbstmord, so scheint es. Wäre da nicht auf dem Anrufbeantworter diese Nachricht: Eine männliche Stimme flüstert die Zahl '20'.
Die Psychiaterin Lea Johannsen lässt der Fall nicht los. Die Ermittlungen führen sie und die Polizei zu dem eleganten Anwesen in Falkenstein. Was geschieht hier? Wer bestimmt die Regeln des Spiels? Lea begibt sich in ungeahnte Gefahr. Ist auch ihr Schicksal schon besiegelt?
Lese-Probe zu „Mephistos Erben “
Mephistos Erben von Sophie HeegerErstes Kapitel
Sie setzte sich in den Sessel, nahm die weiße Tablette aus dem Taschentuch und schluckte sie hinunter. Das Bittere war kaum wahrnehmbar, und als sie danach einen Schluck Tee trank, schmeckte sie lediglich das Aroma des zarten Jasmins. Sie griff nach der nächsten Tablette, bis keine einzige mehr übrig war. Dann lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Vor sich sah sie Michelangelos »Jüngstes Gericht« in der Sixtinischen Kapelle. Körper, die sich krümmen, und Gesichter, die hoffen. Die einen stürzen in den Abgrund, die Glückseligen steigen in das Himmelreich auf. Ihre Atemzüge wurden tiefer, ihr Kopf fiel zur Seite. Von unten drang Straßenlärm gedämpft in die Wohnung. Das Leben draußen ging weiter.
... mehr
Endlich Herbst! Der Geruch von feuchtem Laub und letzten Blüten stieg Lea Johannsen in die Nase, leichter Dunst kühlte angenehm ihr Gesicht. Wie jeden Morgen betrat sie den weitläufigen Park mit einem aufgeregten Hund an der Leine. Das Tier streckte prüfend die Nase in die Luft, schnupperte aber sofort am Boden weiter. »Lilly, Platz!« Artig setzte sich die Retriever-Hündin und wartete. Ihre Folgsamkeit wurde mit einem Leckerbissen belohnt, wobei es letztlich unklar blieb, ob ihr Verhalten auf Gehorsam oder auf Appetit zurückzuführen war. Kaum jedoch hatte Lilly das Öffnen des Verschlusses an ihrem Halsband registriert, sprang sie begeistert los, um auf der anderen Seite der Wiese einen Cockerspaniel zu begrüßen.
Der Park war beeindruckend. Wie in einem Aquarellkasten leuchteten die Früchte von Pfaffenhütchen, Feuerdorn und Eberesche um die Wette. Die Blätter der majestätischen Kastanien, Buchen und Ahornbäume waren an den Rändern bereits gelblich oder rötlich verfärbt, und einige von ihnen hatten die Rasenfläche mit bunten Farbtupfern verziert. Tau glitzerte auf den halbzerfallenen Beeren von Heckenkirsche, Felsenbirne und Hartriegel. In der Morgensonne, die milchig durch den feinen Nebel drang, wirkte der Park wie ein Gemälde William Turners.
Nach einer Weile pfiff Lea nach dem Hund, der sich immer weiter entfernt hatte. »Lilly! «
Das Tier drehte nicht einmal den Kopf, und so blieb Lea nichts anderes übrig, als hinterherzulaufen. Die Sprechstunde der Psychiaterin begann um 9 Uhr, und bis dahin musste Lilly wieder zu Hause im Korb liegen. Diese hatte ihre Aufmerksamkeit gerade einem jungen Pärchen zugewandt, das Arm in Arm durch den Park spazierte. Schwanzwedelnd und freudig bellend sprang der Hund auf die beiden zu, woraufhin die junge Frau sich ängstlich hinter dem Rücken ihres Begleiters versteckte.
»Der macht nichts«, rief Lea, obwohl sie sich geschworen hatte, diesen dämlichen Satz niemals auszusprechen; verspürte sie doch selbst beim Anblick fremder, bellender Hunde einen Anflug von Panik. »Lilly, hier!« Der Hund blickte zumindest in ihre Richtung und lief, als er das Rascheln der Plastiktüte mit Wurstresten hörte, erwartungsvoll auf sie zu. »Fein, Lilly, fein, jetzt müssen wir aber nach Hause gehen.« Sie klopfte auf das weiße Fell, in dem sich einige feuchte Blätter verfangen hatten, und befestigte die Leine wieder am Halsband.
Mit dem zufrieden kauenden Hund an der Seite erreichte sie wenig später ihr Haus, ein älteres, aber frisch gestrichenes Gebäude, das auf unkomplizierte Art einladend wirkte und eine riesige alte Trauerweide auf dem Grundstück beherbergte. Lea bevorzugte einfache und schnörkellose Dinge, von denen, wie sie fand, etwas Beruhigendes ausging.
Als sie die Tür aufschloss, hörte sie auf Sörens Schreibtisch das Telefon klingeln. Sie warf dem Hund die Leine über den Rücken und beeilte sich, im Arbeitszimmer ihres Mannes den Hörer abzunehmen.
»Johannsen«, meldete sie sich noch etwas außer Atem. »Frau Doktor, guten Morgen, ich hätte da kurz eine Frage.«
Wie üblich, wenn die Arzthelferin Frau Witt anrief, ging es um den Wochenplan, weil Patienten dringend einen Termin benötigten oder Angehörige verschiedene Informationen »schnell« durchsprechen mussten. Den Ansagen »schnell« oder »kurz« misstraute Lea aus Erfahrung.
»Die Kriminalpolizei ist hier mit zwei Beamten. Es geht um Frau van der Neer. Sie hatte für letzten Freitag einen Termin bei Ihnen vereinbart, den sie nicht eingehalten hat.«
»Hört sich nicht gut an. Was ist passiert?«
»Frau van der Neer wurde am Sonntagabend von ihrem Bruder tot aufgefunden. Bei der Durchsicht ihres Kalenders entdeckte er die Eintragung des Termins.«
Die polizeiliche Befragung des behandelnden Psychiaters gehörte zur Routine, und die Frage nach Selbstmord oder Fremdeinwirkung war ein wichtiges Puzzleteil im Rahmen der Ermittlungen. Da bei depressiven Patienten die Selbstmordrate immens ist, gewöhnte man sich als behandelnder Arzt zwar nicht an die Selbstmörder, die einem das Gefühl des persönlichen Versagens gaben, aber man gewöhnte sich an die regelmäßigen Besuche der Polizeibeamten. Für Lea war der Umstand, dass Patienten sich das Leben nahmen, bevor sie die Chance bekam, ihnen zu helfen, immer mal wieder Anlass gewesen, an ihrer Wahl des Fachgebietes Neurologie und Psychiatrie zu zweifeln.
»Ich werde mich beeilen. Verschieben Sie bitte die nächsten Termine jeweils eine halbe Stunde nach hinten.«
Etwa eine halbe Stunde später versuchte Lea, ihren VW Passat in eine Parklücke in der Nähe der Augustinerstraße, inmitten der Altstadt von Mainz, zu zwängen. Gute Gegend für eine Praxis. Die alten Häuser, Fachwerk und Historismus in bunter Reihe, dazwischen eine Kirche. Die Parksituation war allerdings grauenvoll, und die Damen in den blauen Uniformen mit dem Kästchen in der Hand unerbittlich. Wehe, man übersah ein Schild mit dem Hinweis auf Anwohnerparken. - »Es ist fast billiger, sich eine Wohnung mit Anwohnerparkscheinberechtigung in der Nähe der Praxis zu mieten, als die beständige Flut von Strafzetteln zu bezahlen«, hatte Lea sich bei ihrem Ehemann Sören beschwert.
»Noch ein kleines Stückchen nach vorne und links einschlagen«, rief es plötzlich von schräg hinten. Vor dem italienischen Restaurant auf der anderen Straßenseite stand Giulio und trocknete sich gerade die Finger an einem großen Küchenhandtuch ab. Lea kurbelte das Seitenfenster herunter und winkte ihm zu.
»Du sagst aber rechtzeitig Stopp und nicht erst, wenn ich auf der anderen Karosserie sitze«, rief sie ihm zu, und er grinste.
»Einen neuen Wagen könntest du schon gebrauchen. Oder willst du den fahren, bis er unter dir zusammenbricht?« Er zeigte abschätzig auf Leas Auto, das bereits zwölf Dienstjahre auf dem Buckel hatte, und von dem sie sich genauso schlecht trennen konnte wie von vielem anderen, Menschen eingeschlossen.
Nachdem Giulio sie in die Parklücke gelotst hatte, griff sie ihre Tasche, in der sie immer tausend Kleinigkeiten mit sich herumtrug und ohne die sie sich heimatlos fühlte, und ging zu ihm hinüber. Giulio war überaus gutaussehend, 1,85 groß, gewelltes, dunkles Haar und ein klassisch römisches Gesicht, obwohl er ursprünglich aus einem kleinen Ort in der Nähe von Brindisi kam. Schon im Alter von drei Jahren war er mit seinem Vater nach Mainz gekommen. Abgesehen von seltenen Temperamentsausbrüchen wirkte er, als würde er den ganzen Tag »O sole mio« vor sich hinsummen. Nachdem er das väterliche Restaurant übernommen und modernisiert hatte, war es ein wahrer Publikumsmagnet geworden; man musste Wochen im Voraus reservieren. Im Bella Romana war nicht nur die Stimmung einzigartig, auch seine italienische Küche war etwas ganz Besonderes.
»Soll ich euch in der Mittagspause etwas bringen?«, fragte er Lea.
»Ich weiß nicht, ich frage die anderen. Wir melden uns rechtzeitig.« Lea wandte sich Richtung Augustinerstraße und winkte ihm mit einem Lächeln zu, »bis später«.
»Ciao, bella«, klang es melodisch hinter ihr her, als sie die wenigen Schritte zu dem Haus ging, in dessen zweitem Stock sich die Gemeinschaftspraxis mit ihrem Kollegen Ullrich Köller befand. Die Praxis war vor drei Jahren renoviert worden. Jedes Mal beim Betreten der hellen Räume, die mit Birkenholzmöbeln, Spiegeln, großen Pflanzen und Lichtleisten ausgestattet waren, freute sie sich an der behaglichen Atmosphäre.
»Wenn die Patienten schon mit düsteren Stimmungen hier sitzen, brauchen wir dringend ein Gegengewicht«, hatte sie zu Ullrich vor der Renovierung gesagt. Dies hatte eine junge Innen architektin mit viel Liebe zum Detail umgesetzt. Leas Lieblingsraum war der Wartebereich, der an der Decke einen großen dunkelblauen Kreis mit eingelassenen Halogenlämpchen aufwies. Unter dem »Sternenhimmel« war an diesem Morgen jeder Platz besetzt.
»Gute Güte«, murmelte Lea, obwohl ihr klar war, dass die Praxis in der dunklen Jahreszeit Hochkonjunktur hatte. Die depressiven Erkrankungen legten in ihrer Intensität noch einmal tüchtig zu, um dann kurz vor den Weihnachtsfeiertagen Rekordniveau zu erreichen. Zusätzlich zu den täglichen Einbestellungen gab es Notfalltermine für Patienten mit Beschwerden, die sofort dia gnostisch abgeklärt oder behandelt werden mussten.
Frau Witt saß an der Anmeldung und diskutierte gerade mit einer Patientin am Telefon. »Frau Lippert«, formte sie mit ihren Lippen und hielt dabei die Muschel des Hörers zu. Lea schüttelte den Kopf und signalisierte, dass es heute keinen Termin gab. Sie hatte die Patientin erst gestern gesehen und ihr geraten, die Medikamente regelmäßig für vierzehn Tage einzunehmen. Eine Verbesserung ihrer Beschwerden konnte nicht von heute auf morgen erzielt werden, obwohl es nicht wenige Menschen gab, die dachten, ab der ersten grünen, gelben oder lilafarbenen Tablette müsse sich ihr ganzes Leben ändern.
»Also frühestens nächste Woche, Frau Lippert, wenn es ein Notfall ist, natürlich auch früher, aber erst mal müssen die Medikamente wirken, Sie müssen wirklich abwarten.«
Frau Witt war ein Profi bei der Handhabung ungeduldiger Patienten, und das traf ungefähr auf ein Drittel ihrer Klientel zu.
Als Lea ihr Sprechzimmer betrat, folgte ihr Nora Sutter, die andere Arzthelferin, die vor drei Monaten ihre Ausbildung abgeschlossen hatte. »Guten Morgen, Frau Doktor, ich habe Ihnen eine Liste mit den Patienten für heute gemacht. Im Wartezimmer sitzen die beiden Kriminalbeamten, soll ich sie zuerst hereinholen?«
Lea nickte. »Ja, machen wir es kurz und schmerzlos, bitten Sie die beiden Herren herein.«
»Ein Herr und eine Dame«, korrigierte Nora und ging in den Wartebereich, um die beiden Kriminalbeamten zu Lea zu begleiten.
Kurze Zeit darauf saßen vor Lea ein etwa fünfundvierzigjähriger Kriminalbeamter mit offenem Gesicht und interessierten, wachen Augen, und neben ihm eine jüngere Beamtin in Jeans und Lederjacke, deren jungenhafter Kurzhaarschnitt mit einer augenfälligen Liebe zu ungewöhnlichem Ohrschmuck in sonderbarem Kontrast stand. Jedes Ohr war mit einer bunten Miniskulptur geschmückt.
»Franz Bender, Kriminalkommissariat Mainz, und das ist meine Kollegin Sandra Kurz«, stellte er sich vor, reichte Lea die Hand und zückte dabei routiniert den Polizeiausweis. »Wir hätten ein paar Fragen an Sie, Frau Johannsen, da wir bei den Ermittlungen zu einem Todesfall auf Ihre Praxis gestoßen sind.«
Lea schluckte. Trotz langjähriger Routine im Umgang mit solchen Ereignissen zog sie diese Formulierung in den Dunstkreis von Verbrechen und Unrecht, was ihr stets aufs Neue ein mulmiges Gefühl bescherte.
»Es geht um Susanna van der Neer, eine Ihrer Patientinnen«, konkretisierte Kommissar Bender das Gespräch.
»Susanna van der Neer«, wiederholte Lea, »ja, sie war meine Patientin, aber ohne Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht durch die Angehörigen darf ich Ihnen keine medizinischen Details mitteilen, wie Sie wissen.«
»Natürlich.« Der Polizeibeamte zog ein gefaltetes Papier aus seinem Jackett. »Hier habe ich die schriftliche Entbindung von Ihrer Schweigepflicht, ausgestellt vom Bruder der Toten, Alexander van der Neer.«
Lea war verblüfft, denn so fix war die Polizei selten. Bender schien ihre Reaktion richtig zu deuten und lächelte amüsiert. »Manchmal sind wir richtig schnell.«
Wenn er lächelt, sieht er mindestens zehn Jahre jünger aus, stellte Lea überrascht fest.
»Im vorliegenden Fall kam uns der Zufall zu Hilfe«, klärte Kommissar Bender Lea auf. »Herr van der Neer selbst entdeckte die Eintragung des Arzttermins im Terminkalender seiner Schwester, und da er als Anwalt mit den bürokratischen Erfordernissen unserer Ermittlungsarbeit vertraut ist, mussten wir dem Schreiben ausnahmsweise mal nicht hinterherlaufen.«
Die junge Kollegin, Polizeikommissarin Sandra Kurz, schaltete sich ein: »Herr van der Neer hat seine Schwester am gestrigen Sonntagabend gegen 19 Uhr in ihrer Wohnung gefunden. Er war mit ihr verabredet, und da sie nicht öffnete, hat er mit einem Schlüssel, den er für Notfälle bekommen hatte, die Tür geöffnet. Er fand seine Schwester im Wohnzimmer, auf einem Sessel sitzend. Leblos.« Die junge Beamtin unterbrach ihre Schilderung, so dass die Pause wie eine spontane Gedenkminute für die Tote wirkte. Dann räusperte sie sich und fuhr fort. »Herr van der Neer rief den Notarztwagen und sofort auch die Polizei. Der Notarzt stellte fest, dass der Tod offensichtlich schon eine ganze Zeit vorher eingetreten war, da die Totenstarre bereits vollständig ausgebildet war. Er kennzeichnete den Leichenschauschein, wie in solchen Fällen üblich, mit dem Hinweis auf eine unklare Todesursache, und die weitere gerichtsmedizinische Untersuchung wurde angeordnet.« Sie nickte Kommissar Bender zu, der den Bericht fortsetzte. »Nichts in der Wohnung deutete auf eine Gewalttat hin, und die äußere Unversehrtheit der Toten wies ebenfalls nicht in eine solche Richtung. Also, ein plötzlicher Tod natürlicher Ursache ... oder ein Selbstmord. Auch wenn wir die Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchungen abwarten müssen, halten wir einen natürlichen Tod für nicht sehr wahrscheinlich, da nach Angaben ihres Bruders Frau van der Neer bei guter körperlicher Gesundheit war.«
»Bleibt Selbstmord«, gab Frau Kurz das nächste Stichwort. »Genau daran aber will der Bruder der Toten nicht glauben.«
Lea nickte. Sie kannte dieses Phänomen. Ein Selbstmord in der Familie konnte selten akzeptiert werden. Dem ersten Schock folgten die Schuldgefühle. Diese überfielen die nächsten Angehörigen jedes Mal, wenn es zu einer solchen Tat kam, und machten den Schicksalsschlag doppelt schwer. Die Frage, warum niemand aus der nächsten Umgebung gespürt hatte, dass Sohn, Mutter oder Schwester in einen seelischen Abgrund gestürzt waren, aus dessen quälender Tiefe nur Selbstmord als Ausweg erschien, war selten zu beantworten.
»Was möchten Sie von mir wissen?«, fragte Lea, bei allem Verständnis für die Angehörigen, in der Hoffnung, dass die Fragen nach Depressionen, Suizidgefahr, Psychose oder Medikamentenabhängigkeit in diesem Fall schnell zu beantworten waren. Ihr Praxisalltag war auch ohne Stechuhr streng getaktet.
»Fangen wir am besten bei den Fakten an«, schlug Kommissar Bender vor, während seine junge Kollegin sich mit geschultem Blick in Leas Sprechzimmer umsah. »Frau van der Neer hatte am Freitag, den 10. Oktober, um 10 Uhr einen Termin bei Ihnen. An diesem oder dem folgenden Tag ist sie gestorben.« Franz Bender zückte seinen Kugelschreiber und schlug einen schon etwas ramponierten Notizblock auf. »In welcher Verfassung war Frau van der Neer an jenem Morgen, und worüber haben Sie gesprochen?« Lea schaute auf die Karteikarte mit der Terminübersicht. »Über gar nichts«, beantwortete sie die Frage.
»Wieso über nichts, was war denn ihr Anliegen?« Bender hob seinen Kugelschreiber, den er schon zum Schreiben aufgesetzt hatte, wieder hoch.
»Die Patientin ist nicht zum Termin erschienen.«
»Hat sie ihn abgesagt?«
»Nein, sie ist einfach nicht erschienen.«
Kommissar Bender machte sich eine Notiz, während Lea fortfuhr: »Dabei hatte Frau van der Neer ihren Terminwunsch erst kurz vorher auf dem Anrufbeantworter der Praxis hinterlassen.« Lea überflog die Eintragungen. »Sie hat am Donnerstagabend - die Daten werden gespeichert - - um 22 Uhr 50 auf den Anrufbeantworter der Praxis gesprochen und um einen Termin für den darauffolgenden Tag gebeten.«
»Zu dem sie dann nicht erschienen ist?«
»Genau.«
Kommissar Bender notierte die Fakten. Er benutzte offensichtlich eine Art Kurzschrift, denn nach wenigen Zeichen schaute er auf. »Wann und wo sind Sie Frau van der Neer zum ersten Mal begegnet? Kannten Sie sie nur als Patientin oder auch privat?«
»Ich kannte sie nur als Patientin.«
»Erzählen Sie uns bitte von Ihrem ersten Kontakt mit ihr.«
Lea erinnerte sich recht gut an diesen Katastrophenvormittag vor einem Jahr. Ihr Nesthäkchen Frederike, damals gerade 9 Jahre alt, hatte am Morgen über Bauchweh und Kopfschmerzen geklagt. »Ich kann nicht zur Schule, Mama«, hatte sie gejammert. Statt Kakao hatte sie nach Fencheltee verlangt. Da dies ein sicheres Indiz für »echte« Bauchschmerzen war, hatte Lea in der Schule angerufen und ihre Tochter entschuldigt. Die Termine in der Praxis konnten so kurzfristig nicht verschoben werden, und so hatte Lea das Kind samt Wärmflasche und Thermoskanne mit Fencheltee in ihren Passat gepackt. Als sie von der Rheinstraße in die Holzstraße abgebogen war, hatte sie Frederikes leidende Stimme vom Rücksitz vernommen: »Mama, ich glaube, ich muss mich übergeben.« - »Moment, mein Schatz, ich suche eine Tüte, schaffst du es solange?« Im Handschuhfach fand Lea eine leere Hundekeks-Tüte. »Hier, halt dir die vor den Mund!« Keinen Augenblick zu spät, denn Frederike erbrach sich, glücklicherweise zielsicher, in die Tüte.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Endlich Herbst! Der Geruch von feuchtem Laub und letzten Blüten stieg Lea Johannsen in die Nase, leichter Dunst kühlte angenehm ihr Gesicht. Wie jeden Morgen betrat sie den weitläufigen Park mit einem aufgeregten Hund an der Leine. Das Tier streckte prüfend die Nase in die Luft, schnupperte aber sofort am Boden weiter. »Lilly, Platz!« Artig setzte sich die Retriever-Hündin und wartete. Ihre Folgsamkeit wurde mit einem Leckerbissen belohnt, wobei es letztlich unklar blieb, ob ihr Verhalten auf Gehorsam oder auf Appetit zurückzuführen war. Kaum jedoch hatte Lilly das Öffnen des Verschlusses an ihrem Halsband registriert, sprang sie begeistert los, um auf der anderen Seite der Wiese einen Cockerspaniel zu begrüßen.
Der Park war beeindruckend. Wie in einem Aquarellkasten leuchteten die Früchte von Pfaffenhütchen, Feuerdorn und Eberesche um die Wette. Die Blätter der majestätischen Kastanien, Buchen und Ahornbäume waren an den Rändern bereits gelblich oder rötlich verfärbt, und einige von ihnen hatten die Rasenfläche mit bunten Farbtupfern verziert. Tau glitzerte auf den halbzerfallenen Beeren von Heckenkirsche, Felsenbirne und Hartriegel. In der Morgensonne, die milchig durch den feinen Nebel drang, wirkte der Park wie ein Gemälde William Turners.
Nach einer Weile pfiff Lea nach dem Hund, der sich immer weiter entfernt hatte. »Lilly! «
Das Tier drehte nicht einmal den Kopf, und so blieb Lea nichts anderes übrig, als hinterherzulaufen. Die Sprechstunde der Psychiaterin begann um 9 Uhr, und bis dahin musste Lilly wieder zu Hause im Korb liegen. Diese hatte ihre Aufmerksamkeit gerade einem jungen Pärchen zugewandt, das Arm in Arm durch den Park spazierte. Schwanzwedelnd und freudig bellend sprang der Hund auf die beiden zu, woraufhin die junge Frau sich ängstlich hinter dem Rücken ihres Begleiters versteckte.
»Der macht nichts«, rief Lea, obwohl sie sich geschworen hatte, diesen dämlichen Satz niemals auszusprechen; verspürte sie doch selbst beim Anblick fremder, bellender Hunde einen Anflug von Panik. »Lilly, hier!« Der Hund blickte zumindest in ihre Richtung und lief, als er das Rascheln der Plastiktüte mit Wurstresten hörte, erwartungsvoll auf sie zu. »Fein, Lilly, fein, jetzt müssen wir aber nach Hause gehen.« Sie klopfte auf das weiße Fell, in dem sich einige feuchte Blätter verfangen hatten, und befestigte die Leine wieder am Halsband.
Mit dem zufrieden kauenden Hund an der Seite erreichte sie wenig später ihr Haus, ein älteres, aber frisch gestrichenes Gebäude, das auf unkomplizierte Art einladend wirkte und eine riesige alte Trauerweide auf dem Grundstück beherbergte. Lea bevorzugte einfache und schnörkellose Dinge, von denen, wie sie fand, etwas Beruhigendes ausging.
Als sie die Tür aufschloss, hörte sie auf Sörens Schreibtisch das Telefon klingeln. Sie warf dem Hund die Leine über den Rücken und beeilte sich, im Arbeitszimmer ihres Mannes den Hörer abzunehmen.
»Johannsen«, meldete sie sich noch etwas außer Atem. »Frau Doktor, guten Morgen, ich hätte da kurz eine Frage.«
Wie üblich, wenn die Arzthelferin Frau Witt anrief, ging es um den Wochenplan, weil Patienten dringend einen Termin benötigten oder Angehörige verschiedene Informationen »schnell« durchsprechen mussten. Den Ansagen »schnell« oder »kurz« misstraute Lea aus Erfahrung.
»Die Kriminalpolizei ist hier mit zwei Beamten. Es geht um Frau van der Neer. Sie hatte für letzten Freitag einen Termin bei Ihnen vereinbart, den sie nicht eingehalten hat.«
»Hört sich nicht gut an. Was ist passiert?«
»Frau van der Neer wurde am Sonntagabend von ihrem Bruder tot aufgefunden. Bei der Durchsicht ihres Kalenders entdeckte er die Eintragung des Termins.«
Die polizeiliche Befragung des behandelnden Psychiaters gehörte zur Routine, und die Frage nach Selbstmord oder Fremdeinwirkung war ein wichtiges Puzzleteil im Rahmen der Ermittlungen. Da bei depressiven Patienten die Selbstmordrate immens ist, gewöhnte man sich als behandelnder Arzt zwar nicht an die Selbstmörder, die einem das Gefühl des persönlichen Versagens gaben, aber man gewöhnte sich an die regelmäßigen Besuche der Polizeibeamten. Für Lea war der Umstand, dass Patienten sich das Leben nahmen, bevor sie die Chance bekam, ihnen zu helfen, immer mal wieder Anlass gewesen, an ihrer Wahl des Fachgebietes Neurologie und Psychiatrie zu zweifeln.
»Ich werde mich beeilen. Verschieben Sie bitte die nächsten Termine jeweils eine halbe Stunde nach hinten.«
Etwa eine halbe Stunde später versuchte Lea, ihren VW Passat in eine Parklücke in der Nähe der Augustinerstraße, inmitten der Altstadt von Mainz, zu zwängen. Gute Gegend für eine Praxis. Die alten Häuser, Fachwerk und Historismus in bunter Reihe, dazwischen eine Kirche. Die Parksituation war allerdings grauenvoll, und die Damen in den blauen Uniformen mit dem Kästchen in der Hand unerbittlich. Wehe, man übersah ein Schild mit dem Hinweis auf Anwohnerparken. - »Es ist fast billiger, sich eine Wohnung mit Anwohnerparkscheinberechtigung in der Nähe der Praxis zu mieten, als die beständige Flut von Strafzetteln zu bezahlen«, hatte Lea sich bei ihrem Ehemann Sören beschwert.
»Noch ein kleines Stückchen nach vorne und links einschlagen«, rief es plötzlich von schräg hinten. Vor dem italienischen Restaurant auf der anderen Straßenseite stand Giulio und trocknete sich gerade die Finger an einem großen Küchenhandtuch ab. Lea kurbelte das Seitenfenster herunter und winkte ihm zu.
»Du sagst aber rechtzeitig Stopp und nicht erst, wenn ich auf der anderen Karosserie sitze«, rief sie ihm zu, und er grinste.
»Einen neuen Wagen könntest du schon gebrauchen. Oder willst du den fahren, bis er unter dir zusammenbricht?« Er zeigte abschätzig auf Leas Auto, das bereits zwölf Dienstjahre auf dem Buckel hatte, und von dem sie sich genauso schlecht trennen konnte wie von vielem anderen, Menschen eingeschlossen.
Nachdem Giulio sie in die Parklücke gelotst hatte, griff sie ihre Tasche, in der sie immer tausend Kleinigkeiten mit sich herumtrug und ohne die sie sich heimatlos fühlte, und ging zu ihm hinüber. Giulio war überaus gutaussehend, 1,85 groß, gewelltes, dunkles Haar und ein klassisch römisches Gesicht, obwohl er ursprünglich aus einem kleinen Ort in der Nähe von Brindisi kam. Schon im Alter von drei Jahren war er mit seinem Vater nach Mainz gekommen. Abgesehen von seltenen Temperamentsausbrüchen wirkte er, als würde er den ganzen Tag »O sole mio« vor sich hinsummen. Nachdem er das väterliche Restaurant übernommen und modernisiert hatte, war es ein wahrer Publikumsmagnet geworden; man musste Wochen im Voraus reservieren. Im Bella Romana war nicht nur die Stimmung einzigartig, auch seine italienische Küche war etwas ganz Besonderes.
»Soll ich euch in der Mittagspause etwas bringen?«, fragte er Lea.
»Ich weiß nicht, ich frage die anderen. Wir melden uns rechtzeitig.« Lea wandte sich Richtung Augustinerstraße und winkte ihm mit einem Lächeln zu, »bis später«.
»Ciao, bella«, klang es melodisch hinter ihr her, als sie die wenigen Schritte zu dem Haus ging, in dessen zweitem Stock sich die Gemeinschaftspraxis mit ihrem Kollegen Ullrich Köller befand. Die Praxis war vor drei Jahren renoviert worden. Jedes Mal beim Betreten der hellen Räume, die mit Birkenholzmöbeln, Spiegeln, großen Pflanzen und Lichtleisten ausgestattet waren, freute sie sich an der behaglichen Atmosphäre.
»Wenn die Patienten schon mit düsteren Stimmungen hier sitzen, brauchen wir dringend ein Gegengewicht«, hatte sie zu Ullrich vor der Renovierung gesagt. Dies hatte eine junge Innen architektin mit viel Liebe zum Detail umgesetzt. Leas Lieblingsraum war der Wartebereich, der an der Decke einen großen dunkelblauen Kreis mit eingelassenen Halogenlämpchen aufwies. Unter dem »Sternenhimmel« war an diesem Morgen jeder Platz besetzt.
»Gute Güte«, murmelte Lea, obwohl ihr klar war, dass die Praxis in der dunklen Jahreszeit Hochkonjunktur hatte. Die depressiven Erkrankungen legten in ihrer Intensität noch einmal tüchtig zu, um dann kurz vor den Weihnachtsfeiertagen Rekordniveau zu erreichen. Zusätzlich zu den täglichen Einbestellungen gab es Notfalltermine für Patienten mit Beschwerden, die sofort dia gnostisch abgeklärt oder behandelt werden mussten.
Frau Witt saß an der Anmeldung und diskutierte gerade mit einer Patientin am Telefon. »Frau Lippert«, formte sie mit ihren Lippen und hielt dabei die Muschel des Hörers zu. Lea schüttelte den Kopf und signalisierte, dass es heute keinen Termin gab. Sie hatte die Patientin erst gestern gesehen und ihr geraten, die Medikamente regelmäßig für vierzehn Tage einzunehmen. Eine Verbesserung ihrer Beschwerden konnte nicht von heute auf morgen erzielt werden, obwohl es nicht wenige Menschen gab, die dachten, ab der ersten grünen, gelben oder lilafarbenen Tablette müsse sich ihr ganzes Leben ändern.
»Also frühestens nächste Woche, Frau Lippert, wenn es ein Notfall ist, natürlich auch früher, aber erst mal müssen die Medikamente wirken, Sie müssen wirklich abwarten.«
Frau Witt war ein Profi bei der Handhabung ungeduldiger Patienten, und das traf ungefähr auf ein Drittel ihrer Klientel zu.
Als Lea ihr Sprechzimmer betrat, folgte ihr Nora Sutter, die andere Arzthelferin, die vor drei Monaten ihre Ausbildung abgeschlossen hatte. »Guten Morgen, Frau Doktor, ich habe Ihnen eine Liste mit den Patienten für heute gemacht. Im Wartezimmer sitzen die beiden Kriminalbeamten, soll ich sie zuerst hereinholen?«
Lea nickte. »Ja, machen wir es kurz und schmerzlos, bitten Sie die beiden Herren herein.«
»Ein Herr und eine Dame«, korrigierte Nora und ging in den Wartebereich, um die beiden Kriminalbeamten zu Lea zu begleiten.
Kurze Zeit darauf saßen vor Lea ein etwa fünfundvierzigjähriger Kriminalbeamter mit offenem Gesicht und interessierten, wachen Augen, und neben ihm eine jüngere Beamtin in Jeans und Lederjacke, deren jungenhafter Kurzhaarschnitt mit einer augenfälligen Liebe zu ungewöhnlichem Ohrschmuck in sonderbarem Kontrast stand. Jedes Ohr war mit einer bunten Miniskulptur geschmückt.
»Franz Bender, Kriminalkommissariat Mainz, und das ist meine Kollegin Sandra Kurz«, stellte er sich vor, reichte Lea die Hand und zückte dabei routiniert den Polizeiausweis. »Wir hätten ein paar Fragen an Sie, Frau Johannsen, da wir bei den Ermittlungen zu einem Todesfall auf Ihre Praxis gestoßen sind.«
Lea schluckte. Trotz langjähriger Routine im Umgang mit solchen Ereignissen zog sie diese Formulierung in den Dunstkreis von Verbrechen und Unrecht, was ihr stets aufs Neue ein mulmiges Gefühl bescherte.
»Es geht um Susanna van der Neer, eine Ihrer Patientinnen«, konkretisierte Kommissar Bender das Gespräch.
»Susanna van der Neer«, wiederholte Lea, »ja, sie war meine Patientin, aber ohne Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht durch die Angehörigen darf ich Ihnen keine medizinischen Details mitteilen, wie Sie wissen.«
»Natürlich.« Der Polizeibeamte zog ein gefaltetes Papier aus seinem Jackett. »Hier habe ich die schriftliche Entbindung von Ihrer Schweigepflicht, ausgestellt vom Bruder der Toten, Alexander van der Neer.«
Lea war verblüfft, denn so fix war die Polizei selten. Bender schien ihre Reaktion richtig zu deuten und lächelte amüsiert. »Manchmal sind wir richtig schnell.«
Wenn er lächelt, sieht er mindestens zehn Jahre jünger aus, stellte Lea überrascht fest.
»Im vorliegenden Fall kam uns der Zufall zu Hilfe«, klärte Kommissar Bender Lea auf. »Herr van der Neer selbst entdeckte die Eintragung des Arzttermins im Terminkalender seiner Schwester, und da er als Anwalt mit den bürokratischen Erfordernissen unserer Ermittlungsarbeit vertraut ist, mussten wir dem Schreiben ausnahmsweise mal nicht hinterherlaufen.«
Die junge Kollegin, Polizeikommissarin Sandra Kurz, schaltete sich ein: »Herr van der Neer hat seine Schwester am gestrigen Sonntagabend gegen 19 Uhr in ihrer Wohnung gefunden. Er war mit ihr verabredet, und da sie nicht öffnete, hat er mit einem Schlüssel, den er für Notfälle bekommen hatte, die Tür geöffnet. Er fand seine Schwester im Wohnzimmer, auf einem Sessel sitzend. Leblos.« Die junge Beamtin unterbrach ihre Schilderung, so dass die Pause wie eine spontane Gedenkminute für die Tote wirkte. Dann räusperte sie sich und fuhr fort. »Herr van der Neer rief den Notarztwagen und sofort auch die Polizei. Der Notarzt stellte fest, dass der Tod offensichtlich schon eine ganze Zeit vorher eingetreten war, da die Totenstarre bereits vollständig ausgebildet war. Er kennzeichnete den Leichenschauschein, wie in solchen Fällen üblich, mit dem Hinweis auf eine unklare Todesursache, und die weitere gerichtsmedizinische Untersuchung wurde angeordnet.« Sie nickte Kommissar Bender zu, der den Bericht fortsetzte. »Nichts in der Wohnung deutete auf eine Gewalttat hin, und die äußere Unversehrtheit der Toten wies ebenfalls nicht in eine solche Richtung. Also, ein plötzlicher Tod natürlicher Ursache ... oder ein Selbstmord. Auch wenn wir die Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchungen abwarten müssen, halten wir einen natürlichen Tod für nicht sehr wahrscheinlich, da nach Angaben ihres Bruders Frau van der Neer bei guter körperlicher Gesundheit war.«
»Bleibt Selbstmord«, gab Frau Kurz das nächste Stichwort. »Genau daran aber will der Bruder der Toten nicht glauben.«
Lea nickte. Sie kannte dieses Phänomen. Ein Selbstmord in der Familie konnte selten akzeptiert werden. Dem ersten Schock folgten die Schuldgefühle. Diese überfielen die nächsten Angehörigen jedes Mal, wenn es zu einer solchen Tat kam, und machten den Schicksalsschlag doppelt schwer. Die Frage, warum niemand aus der nächsten Umgebung gespürt hatte, dass Sohn, Mutter oder Schwester in einen seelischen Abgrund gestürzt waren, aus dessen quälender Tiefe nur Selbstmord als Ausweg erschien, war selten zu beantworten.
»Was möchten Sie von mir wissen?«, fragte Lea, bei allem Verständnis für die Angehörigen, in der Hoffnung, dass die Fragen nach Depressionen, Suizidgefahr, Psychose oder Medikamentenabhängigkeit in diesem Fall schnell zu beantworten waren. Ihr Praxisalltag war auch ohne Stechuhr streng getaktet.
»Fangen wir am besten bei den Fakten an«, schlug Kommissar Bender vor, während seine junge Kollegin sich mit geschultem Blick in Leas Sprechzimmer umsah. »Frau van der Neer hatte am Freitag, den 10. Oktober, um 10 Uhr einen Termin bei Ihnen. An diesem oder dem folgenden Tag ist sie gestorben.« Franz Bender zückte seinen Kugelschreiber und schlug einen schon etwas ramponierten Notizblock auf. »In welcher Verfassung war Frau van der Neer an jenem Morgen, und worüber haben Sie gesprochen?« Lea schaute auf die Karteikarte mit der Terminübersicht. »Über gar nichts«, beantwortete sie die Frage.
»Wieso über nichts, was war denn ihr Anliegen?« Bender hob seinen Kugelschreiber, den er schon zum Schreiben aufgesetzt hatte, wieder hoch.
»Die Patientin ist nicht zum Termin erschienen.«
»Hat sie ihn abgesagt?«
»Nein, sie ist einfach nicht erschienen.«
Kommissar Bender machte sich eine Notiz, während Lea fortfuhr: »Dabei hatte Frau van der Neer ihren Terminwunsch erst kurz vorher auf dem Anrufbeantworter der Praxis hinterlassen.« Lea überflog die Eintragungen. »Sie hat am Donnerstagabend - die Daten werden gespeichert - - um 22 Uhr 50 auf den Anrufbeantworter der Praxis gesprochen und um einen Termin für den darauffolgenden Tag gebeten.«
»Zu dem sie dann nicht erschienen ist?«
»Genau.«
Kommissar Bender notierte die Fakten. Er benutzte offensichtlich eine Art Kurzschrift, denn nach wenigen Zeichen schaute er auf. »Wann und wo sind Sie Frau van der Neer zum ersten Mal begegnet? Kannten Sie sie nur als Patientin oder auch privat?«
»Ich kannte sie nur als Patientin.«
»Erzählen Sie uns bitte von Ihrem ersten Kontakt mit ihr.«
Lea erinnerte sich recht gut an diesen Katastrophenvormittag vor einem Jahr. Ihr Nesthäkchen Frederike, damals gerade 9 Jahre alt, hatte am Morgen über Bauchweh und Kopfschmerzen geklagt. »Ich kann nicht zur Schule, Mama«, hatte sie gejammert. Statt Kakao hatte sie nach Fencheltee verlangt. Da dies ein sicheres Indiz für »echte« Bauchschmerzen war, hatte Lea in der Schule angerufen und ihre Tochter entschuldigt. Die Termine in der Praxis konnten so kurzfristig nicht verschoben werden, und so hatte Lea das Kind samt Wärmflasche und Thermoskanne mit Fencheltee in ihren Passat gepackt. Als sie von der Rheinstraße in die Holzstraße abgebogen war, hatte sie Frederikes leidende Stimme vom Rücksitz vernommen: »Mama, ich glaube, ich muss mich übergeben.« - »Moment, mein Schatz, ich suche eine Tüte, schaffst du es solange?« Im Handschuhfach fand Lea eine leere Hundekeks-Tüte. »Hier, halt dir die vor den Mund!« Keinen Augenblick zu spät, denn Frederike erbrach sich, glücklicherweise zielsicher, in die Tüte.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Autoren-Porträt von Sophie Heeger
Die Autorin, geboren 1958 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Fachärztin für Allgemeinmedizin in Mainz. »Mephistos Erben« ist ihr erster Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sophie Heeger
- 2012, 1. Auflage., 480 Seiten, Maße: 13,5 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: FISCHER HC
- ISBN-10: 3100870050
- ISBN-13: 9783100870056
- Erscheinungsdatum: 08.03.2012
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