Mich hat keiner gefragt
Zur Ehe gezwungen - eine Türkin in Deutschland erzählt
Ayse ist 14, als sie mit ihrem Cousin Mustafa verheiratet wird. Bei dessen Familie in Deutschland erwartet sie die Hölle: In 17 Jahren Ehe erfährt sie nur Ausbeutung und Gewalt und lebt mitten in Deutschland wie eine Gefangene. Doch dann gelingt ihr die Flucht.
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Produktinformationen zu „Mich hat keiner gefragt “
Ayse ist 14, als sie mit ihrem Cousin Mustafa verheiratet wird. Bei dessen Familie in Deutschland erwartet sie die Hölle: In 17 Jahren Ehe erfährt sie nur Ausbeutung und Gewalt und lebt mitten in Deutschland wie eine Gefangene. Doch dann gelingt ihr die Flucht.
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Mich hat keiner gefragt von Ayse Ballidere
Ballidere, der Ort, in dem ich geboren bin, ist ein kleines Dorf irgendwo mitten in den Bergen von Zentralanatolien. Unser Dorf ist klein. Siebzig, achtzig Häuser vielleicht, schmiegen sich in die sanften Hügel des Pontischen Gebirges. Viele kleine Bäche fließen ins Tal, und fruchtbare Felder und Äcker umgeben das Dorf. Die Bauern hier bauen Weizen, Roggen, Mais, aber vor allem Tabak an, der im heiß-feuchten Klima der nahen Schwarzmeerküste besonders gut gedeiht. Die Winter sind kalt, und der Wind pfeift über die Berge. Übersetzt heißt Ballidere übrigens Honigteich, aber hier ist nicht das Land, wo Milch und Honig fließen. Nein, in Ballidere wie in vielen anderen Dörfern meiner Heimat herrscht bitterste Armut. Ein bisschen Wohlstand ist nur bei jenen Leuten eingekehrt, deren Söhne und Töchter vor Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland gegangen sind.
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Seit Jahrhunderten leben die Menschen unter härtesten Bedingungen. Sie bewohnen windschiefe, kleine Lehmhäuser, die, mit Holz und Steinen verstärkt, irgendwie stabil gemacht wurden. Ziegel- oder Betonbauweise kannte man lange Zeit gar nicht. Wie braune, kleine, quadratische Schachteln standen die Häuser früher an den holprigen Dorfstraßen. Unten, zur ebenen Erde, war der Stall, dort hausten ein paar Schafe und Ziegen, vielleicht noch ein Esel. Und oben, einen Stock höher, lebten die Menschen. Fünf, sechs, manchmal auch acht Personen teilten sich einen Raum. Hier wurde gekocht, gegessen und geschlafen, zu recht viel mehr hatten sie nach der harten Arbeit ohnehin keine Energie.
Auch ich bin in so einem Haus geboren worden. Das war irgendwann im Frühjahr 1964. Mein genaues Geburtsdatum
kenne ich nicht. Mein offizieller Geburtstag ist der 15. Januar, der stimmt aber nicht, sagt meine Mutter. Man habe damals einmal im Jahr die Kinder beim zuständigen Amt gemeldet, und da sie den genauen Termin vergessen hatte, hat sie eben den 15. 1. angegeben. Ich war das zweite Kind meiner Eltern. Zwei Jahre zuvor hatte meine Mutter einen Sohn zur Welt gebracht, zwei Jahre danach wurde meine kleine Schwester Hanife geboren. Danach kamen keine Kinder mehr, obwohl meine Mutter noch ein paar Mal schwanger war. Aber davon hatte ich - natürlich - nichts mitgekriegt. Diese Geschichten erfuhr ich erst sehr viel später.
Meine Geburt war schwierig gewesen. Tagelang hatte die Mutter Wehen gehabt, und irgendwann befürchtete man das Schlimmste. Drei Frauen standen ihr bei. Sie kochten Wasser ab, brachten saubere Tücher und versuchten, ihr über die ärgsten Schmerzen hinwegzuhelfen. Nein, mein Vater war nicht da. Er war - wie so oft - ins kahve gegangen. Das kahve ist ein Versammlungsort für Männer, wo sie hingehen, Tee oder Kaffee trinken, tavla, also Backgammon, spielen und sich unterhalten. Mein Vater verbrachte viele Stunden in der Woche dort.
Manchmal denke ich, ich wollte nicht in diese Welt. Vielleicht habe ich damals schon geahnt, was mich erwartet. Aber irgendwann - mitten in der Nacht - bin ich dann doch gekommen. Als meine Mutter mich schließlich in den Armen hielt, war sie überglücklich. Ich war ihr Wunschkind gewesen. Bei meinem Vater war das anders. Ich glaube, dass er weder mich noch meinen Bruder geliebt hat. Im Gegenteil, manchmal denke ich, er hat uns gehasst. Erst als meine kleine Schwester zur Welt kam, habe ich erfahren, dass auch mein Vater zu so etwas wie Vaterliebe fähig war. Aber ich habe davon nie etwas abgekriegt. An mir ließ er nur seine Wut aus. Und zornig war mein Vater oft. Wenn er wütend wurde, brüllte er das halbe Dorf zusammen, und dann haute er zu. Zuerst meine Mutter, später auch uns, meinen Bruder und mich. Nur Hanife hat er nie geschlagen. Sie war eben sein Lieblingskind.
»Warum hast du so viele Kinder gekriegt?«, habe ich meine Mutter einmal gefragt. »Weil ich immer gehofft habe, dass es dann besser wird«, hat sie geantwortet. Und das wurde es wohl auch - kurzfristig zumindest. Immer wenn sie ein Kind unter ihrem Herzen trug, schien er etwas milder gestimmt. Er schrie nicht mehr so viel, und auch geschlagen hat er sie nicht. Aber nur bis zur Geburt. Danach ging es weiter wie zuvor. Mit jeder Schwangerschaft hat sie auch ein bisschen Hoffnung verloren.
Ich war ein ruhiges, pflegeleichtes Kind. Im ersten Sommer hat mich meine Mutter mit aufs Feld genommen und mir zwischen den Bäumen eine Schaukel gebaut. So hat sie mich den ganzen Tag bei sich gehabt. Während mein Bruder schon laufen konnte und in ihrer Nähe spielte, habe ich selig in meinem Babysitz geschlummert. Das waren die wenigen Momente des Glücks im Leben meiner Mutter.
Kinder großzuziehen, das war damals schwierig. Die Erwachsenen mussten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang schwer arbeiten, und zu essen hatten sie immer zu wenig. Lebenserleichternde Mittel wie Babynahrung oder gar Pampers gab es damals natürlich auch nicht. So hatten die Mütter bei uns ein ganz eigenes System der Säuglingshygiene entwickelt: Meine Geschwister und ich wurden als Babys in eine Wiege mit Erde gelegt, ein Tuch drüber und fertig. War das Tuch schmutzig, wurde es gesäubert und gewaschen. Und hin und wieder hat anne, meine Mutter, die Erde ausgetauscht. Gestillt hat sie uns alle, aber nicht besonders lange. Dazu war sie wohl selbst zu schlecht ernährt. Nach der Stillzeit hat sie uns mit Mehlsuppe aufgepäppelt.
Als ich zwei Jahre alt war, bin ich sehr krank geworden. Ich hatte hohes Fieber, war apathisch und habe mich kaum mehr bewegt. Völlig panisch ist meine Mutter damals zu ihrer Schwägerin und Freundin Songül gelaufen. Zu Songül verband sie in jener Zeit eine innige Freundschaft, das sollte sich im Laufe der Jahre ändern, aber das ist eine andere Geschichte. Damals jedenfalls standen sich die beiden Frauen nah, sie waren verschwägert und lebten Tür an Tür. Songül hat also ihren Mann, meinen Onkel, organisiert, der dann die beiden Frauen und mich mit dem Traktor über eine holprige Schotterpiste in die nächste Stadt gefahren hat. Als sie uns schließlich beim Arzt abgesetzt hatten, ist Songül einfach weitergefahren. Wahrscheinlich hat sie gedacht, das werde sowieso nichts mehr mit diesem Kind. Aber da sollte sie sich geirrt haben. Der Arzt untersuchte mich gründlich und fand auch schnell die Ursache, ich hatte eine eitrige Angina und Fieberkrämpfe. Er gab meiner Mutter Medizin und schickte sie wieder nach Hause. Dort erwachten meine Lebensgeister relativ schnell. Als ich nach Brot verlangte, wusste meine Mutter, >jetzt ist sie über dem Berg!. Mit meiner Tante Songül hat sie darüber nicht mehr gesprochen. Sie war einfach nur froh, dass ich überlebt hatte.
Bei uns im Dorf gibt es einen Brauch: Wenn ein Kind schwer krank ist oder sich schlecht entwickelt, soll es Brot von sieben verschiedenen Familien essen. Die Zahl sieben ist wichtig, aber ich weiß bis heute nicht wieso. Das haben sie damals mit mir also auch gemacht. Nachdem ich die Krankheit einigermaßen überwunden hatte, aber noch ziemlich schwach war, kamen sieben Nachbarn und brachten mir Brot, das ich mit großem Appetit verspeist haben soll. Danach wurde ich vollständig gesund.
Nur mit dem Laufen hatte ich es nicht eilig. Ich war inzwischen drei Jahre alt, aber verbrachte die meiste Zeit sitzend oder bewegte mich krabbelnd vorwärts. Erklären konnte sich das niemand. Eines Tages, es muss im März oder April gewesen sein, kam eine Tante zu Besuch. Ich saß wie üblich in einer Ecke des Raumes und spielte ruhig vor mich hin. Sie stand in der Nähe des Ofens und plauderte mit meiner Mutter, da nahm sie plötzlich das Schüreisen und warf es nach mir. Ich war wohl so entsetzt, als ich das Eisenteil in meine Richtung fliegen sah, dass ich kurzerhand aufsprang und aus dem Raum lief. Von da an war ich nur
noch sehr selten zu Hause.
Jetzt begann die glücklichste Zeit meiner Kindheit. Ich verbrachte die meiste Zeit draußen und spielte mit meinen Cousins und Cousinen. Wir waren insgesamt zu fünft oder sechst im gleichen Alter und lebten in unmittelbarer Nachbarschaft. Vor allem meine Cousine Fidan und ich waren viel zusammen. Immer fanden wir etwas zu tun. Wir saßen auf der Wiese im Garten hinterm Haus, pflückten Blumen oder spielten mit den anderen Fangen oder Verstecken. Spielzeuge kannten wir nicht. Als wir größer wurden, haben wir uns Puppen gebastelt und ihnen aus alten Stoffen Kleider genäht. Die waren aus Holz und hatten wenig Ähnlichkeit mit den Puppen, die die Kinder hier kennen. Aber das war uns egal. Wir waren glücklich mit dem, was wir hatten. Am liebsten spielten wir Familie. Oft liefen wir die Hügel hinauf und nahmen »unsere Kinder« mit, schaukelten sie in unseren Armen und fütterten sie mit ein paar Stückchen Brot, das wir unseren Müttern stibitzt hatten. Später wollte ich mal zwei Kinder haben, mehr nicht. Anders meine Freundin Fidan, sie wollte immer einen ganzen Stall voller Kinder.
Aber das Glück währte nicht lange. Als ich fünf, sechs Jahre alt war, wurde ich zum Arbeiten eingespannt. Meinem Vater war es ein Dorn im Auge gewesen, dass ich immer noch spielte und - in seinen Augen - unnütz in der Gegend herumlief. Ich sollte endlich im Haus und auf dem Feld mithelfen. Wozu hatte man schließlich Frauen im Haus? Dazu muss ich sagen, dass bei uns die Frauen einen Großteil der Arbeit erledigen. Gut, die Männer arbeiten schon auch, aber längst nicht so viel wie ihre Frauen. Meine Mutter zum Beispiel stand immer morgens um fünf auf. Während mein Vater noch schlief, versorgte sie schon das Vieh. Wir hatten damals ein paar Hühner, fünf oder sechs Ziegen und einen Esel. Wenn das erledigt war, heizte sie ein und kümmerte sich ums Frühstück. Anders im Sommer, da ging sie oft schon vor Sonnenaufgang aufs Feld und hatte schon zwei, drei Stunden gearbeitet, bevor sie das Frühstück richtete. Daneben musste sie natürlich die ganze Hausarbeit erledigen, Kochen, Waschen, Putzen. Ihr Tag war nie lang genug. Abends um neun oder zehn Uhr war sie schließlich fertig. Im Sommer hatte sie dann vielleicht noch ein bisschen Zeit, um mit den Nachbarinnen und Freundinnen zu plaudern. Aber das war auch nur möglich, wenn mein Vater nicht da war, denn Müßiggang duldete er nicht.
Copyright der Originalausgabe © 2005 by Blanvalet Verlag, München
Auch ich bin in so einem Haus geboren worden. Das war irgendwann im Frühjahr 1964. Mein genaues Geburtsdatum
kenne ich nicht. Mein offizieller Geburtstag ist der 15. Januar, der stimmt aber nicht, sagt meine Mutter. Man habe damals einmal im Jahr die Kinder beim zuständigen Amt gemeldet, und da sie den genauen Termin vergessen hatte, hat sie eben den 15. 1. angegeben. Ich war das zweite Kind meiner Eltern. Zwei Jahre zuvor hatte meine Mutter einen Sohn zur Welt gebracht, zwei Jahre danach wurde meine kleine Schwester Hanife geboren. Danach kamen keine Kinder mehr, obwohl meine Mutter noch ein paar Mal schwanger war. Aber davon hatte ich - natürlich - nichts mitgekriegt. Diese Geschichten erfuhr ich erst sehr viel später.
Meine Geburt war schwierig gewesen. Tagelang hatte die Mutter Wehen gehabt, und irgendwann befürchtete man das Schlimmste. Drei Frauen standen ihr bei. Sie kochten Wasser ab, brachten saubere Tücher und versuchten, ihr über die ärgsten Schmerzen hinwegzuhelfen. Nein, mein Vater war nicht da. Er war - wie so oft - ins kahve gegangen. Das kahve ist ein Versammlungsort für Männer, wo sie hingehen, Tee oder Kaffee trinken, tavla, also Backgammon, spielen und sich unterhalten. Mein Vater verbrachte viele Stunden in der Woche dort.
Manchmal denke ich, ich wollte nicht in diese Welt. Vielleicht habe ich damals schon geahnt, was mich erwartet. Aber irgendwann - mitten in der Nacht - bin ich dann doch gekommen. Als meine Mutter mich schließlich in den Armen hielt, war sie überglücklich. Ich war ihr Wunschkind gewesen. Bei meinem Vater war das anders. Ich glaube, dass er weder mich noch meinen Bruder geliebt hat. Im Gegenteil, manchmal denke ich, er hat uns gehasst. Erst als meine kleine Schwester zur Welt kam, habe ich erfahren, dass auch mein Vater zu so etwas wie Vaterliebe fähig war. Aber ich habe davon nie etwas abgekriegt. An mir ließ er nur seine Wut aus. Und zornig war mein Vater oft. Wenn er wütend wurde, brüllte er das halbe Dorf zusammen, und dann haute er zu. Zuerst meine Mutter, später auch uns, meinen Bruder und mich. Nur Hanife hat er nie geschlagen. Sie war eben sein Lieblingskind.
»Warum hast du so viele Kinder gekriegt?«, habe ich meine Mutter einmal gefragt. »Weil ich immer gehofft habe, dass es dann besser wird«, hat sie geantwortet. Und das wurde es wohl auch - kurzfristig zumindest. Immer wenn sie ein Kind unter ihrem Herzen trug, schien er etwas milder gestimmt. Er schrie nicht mehr so viel, und auch geschlagen hat er sie nicht. Aber nur bis zur Geburt. Danach ging es weiter wie zuvor. Mit jeder Schwangerschaft hat sie auch ein bisschen Hoffnung verloren.
Ich war ein ruhiges, pflegeleichtes Kind. Im ersten Sommer hat mich meine Mutter mit aufs Feld genommen und mir zwischen den Bäumen eine Schaukel gebaut. So hat sie mich den ganzen Tag bei sich gehabt. Während mein Bruder schon laufen konnte und in ihrer Nähe spielte, habe ich selig in meinem Babysitz geschlummert. Das waren die wenigen Momente des Glücks im Leben meiner Mutter.
Kinder großzuziehen, das war damals schwierig. Die Erwachsenen mussten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang schwer arbeiten, und zu essen hatten sie immer zu wenig. Lebenserleichternde Mittel wie Babynahrung oder gar Pampers gab es damals natürlich auch nicht. So hatten die Mütter bei uns ein ganz eigenes System der Säuglingshygiene entwickelt: Meine Geschwister und ich wurden als Babys in eine Wiege mit Erde gelegt, ein Tuch drüber und fertig. War das Tuch schmutzig, wurde es gesäubert und gewaschen. Und hin und wieder hat anne, meine Mutter, die Erde ausgetauscht. Gestillt hat sie uns alle, aber nicht besonders lange. Dazu war sie wohl selbst zu schlecht ernährt. Nach der Stillzeit hat sie uns mit Mehlsuppe aufgepäppelt.
Als ich zwei Jahre alt war, bin ich sehr krank geworden. Ich hatte hohes Fieber, war apathisch und habe mich kaum mehr bewegt. Völlig panisch ist meine Mutter damals zu ihrer Schwägerin und Freundin Songül gelaufen. Zu Songül verband sie in jener Zeit eine innige Freundschaft, das sollte sich im Laufe der Jahre ändern, aber das ist eine andere Geschichte. Damals jedenfalls standen sich die beiden Frauen nah, sie waren verschwägert und lebten Tür an Tür. Songül hat also ihren Mann, meinen Onkel, organisiert, der dann die beiden Frauen und mich mit dem Traktor über eine holprige Schotterpiste in die nächste Stadt gefahren hat. Als sie uns schließlich beim Arzt abgesetzt hatten, ist Songül einfach weitergefahren. Wahrscheinlich hat sie gedacht, das werde sowieso nichts mehr mit diesem Kind. Aber da sollte sie sich geirrt haben. Der Arzt untersuchte mich gründlich und fand auch schnell die Ursache, ich hatte eine eitrige Angina und Fieberkrämpfe. Er gab meiner Mutter Medizin und schickte sie wieder nach Hause. Dort erwachten meine Lebensgeister relativ schnell. Als ich nach Brot verlangte, wusste meine Mutter, >jetzt ist sie über dem Berg!. Mit meiner Tante Songül hat sie darüber nicht mehr gesprochen. Sie war einfach nur froh, dass ich überlebt hatte.
Bei uns im Dorf gibt es einen Brauch: Wenn ein Kind schwer krank ist oder sich schlecht entwickelt, soll es Brot von sieben verschiedenen Familien essen. Die Zahl sieben ist wichtig, aber ich weiß bis heute nicht wieso. Das haben sie damals mit mir also auch gemacht. Nachdem ich die Krankheit einigermaßen überwunden hatte, aber noch ziemlich schwach war, kamen sieben Nachbarn und brachten mir Brot, das ich mit großem Appetit verspeist haben soll. Danach wurde ich vollständig gesund.
Nur mit dem Laufen hatte ich es nicht eilig. Ich war inzwischen drei Jahre alt, aber verbrachte die meiste Zeit sitzend oder bewegte mich krabbelnd vorwärts. Erklären konnte sich das niemand. Eines Tages, es muss im März oder April gewesen sein, kam eine Tante zu Besuch. Ich saß wie üblich in einer Ecke des Raumes und spielte ruhig vor mich hin. Sie stand in der Nähe des Ofens und plauderte mit meiner Mutter, da nahm sie plötzlich das Schüreisen und warf es nach mir. Ich war wohl so entsetzt, als ich das Eisenteil in meine Richtung fliegen sah, dass ich kurzerhand aufsprang und aus dem Raum lief. Von da an war ich nur
noch sehr selten zu Hause.
Jetzt begann die glücklichste Zeit meiner Kindheit. Ich verbrachte die meiste Zeit draußen und spielte mit meinen Cousins und Cousinen. Wir waren insgesamt zu fünft oder sechst im gleichen Alter und lebten in unmittelbarer Nachbarschaft. Vor allem meine Cousine Fidan und ich waren viel zusammen. Immer fanden wir etwas zu tun. Wir saßen auf der Wiese im Garten hinterm Haus, pflückten Blumen oder spielten mit den anderen Fangen oder Verstecken. Spielzeuge kannten wir nicht. Als wir größer wurden, haben wir uns Puppen gebastelt und ihnen aus alten Stoffen Kleider genäht. Die waren aus Holz und hatten wenig Ähnlichkeit mit den Puppen, die die Kinder hier kennen. Aber das war uns egal. Wir waren glücklich mit dem, was wir hatten. Am liebsten spielten wir Familie. Oft liefen wir die Hügel hinauf und nahmen »unsere Kinder« mit, schaukelten sie in unseren Armen und fütterten sie mit ein paar Stückchen Brot, das wir unseren Müttern stibitzt hatten. Später wollte ich mal zwei Kinder haben, mehr nicht. Anders meine Freundin Fidan, sie wollte immer einen ganzen Stall voller Kinder.
Aber das Glück währte nicht lange. Als ich fünf, sechs Jahre alt war, wurde ich zum Arbeiten eingespannt. Meinem Vater war es ein Dorn im Auge gewesen, dass ich immer noch spielte und - in seinen Augen - unnütz in der Gegend herumlief. Ich sollte endlich im Haus und auf dem Feld mithelfen. Wozu hatte man schließlich Frauen im Haus? Dazu muss ich sagen, dass bei uns die Frauen einen Großteil der Arbeit erledigen. Gut, die Männer arbeiten schon auch, aber längst nicht so viel wie ihre Frauen. Meine Mutter zum Beispiel stand immer morgens um fünf auf. Während mein Vater noch schlief, versorgte sie schon das Vieh. Wir hatten damals ein paar Hühner, fünf oder sechs Ziegen und einen Esel. Wenn das erledigt war, heizte sie ein und kümmerte sich ums Frühstück. Anders im Sommer, da ging sie oft schon vor Sonnenaufgang aufs Feld und hatte schon zwei, drei Stunden gearbeitet, bevor sie das Frühstück richtete. Daneben musste sie natürlich die ganze Hausarbeit erledigen, Kochen, Waschen, Putzen. Ihr Tag war nie lang genug. Abends um neun oder zehn Uhr war sie schließlich fertig. Im Sommer hatte sie dann vielleicht noch ein bisschen Zeit, um mit den Nachbarinnen und Freundinnen zu plaudern. Aber das war auch nur möglich, wenn mein Vater nicht da war, denn Müßiggang duldete er nicht.
Copyright der Originalausgabe © 2005 by Blanvalet Verlag, München
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Autoren-Porträt von Ayse
Ayse Ayse wurde irgendwann im Frühjahr 1964 in Anatolien geboren. Ihre Mutter meldete das Kind erst ein Jahr später bei der zuständigen Behörde und gab als Geburtsdatum den 15. Januar an. Vierzehn Jahre später wird dieses Datum noch einmal manipuliert diesmal um sie älter und damit heiratsfähig zu machen. Im Juli 1978 wurde Ayse zwangsverheiratet und nach Deutschland gebracht. Hier erlebte sie 19 Jahre Ehehölle. Inzwischen ist sie geschieden. Sie lebt mit zwei ihrer vier Kinder in der Nähe von München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ayse
- 2006, 1, 250 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Soft-Cover (Weltbild Reader)
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828986625
- ISBN-13: 9783828986626
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