Mich hat keiner gefragt
"Mit elf war ich verlobt, mit vierzehn verheiratet. Nein, gefragt hat mich niemand. Mein Vater kam eines Tages aus dem Kaffeehaus und teilte mir mit, dass ich jetzt mit Mustafa, meinem Cousin, verlobt sei und ihn bald heiraten würde, und das wars. Meine Mutter hat damals viel geweint, aber geholfen hat sie mir nicht."
Die Türkin Ayse ist vierzehn Jahre alt, als sie mit ihrem Cousin Mustafa verheiratet und zu dessen Familie nach Deutschland geschickt wird. Schon vor der Hochzeit wird sie von Mustafa brutal vergewaltigt. Und auch nach der Trauung muss Ayse häufig Schläge und sexuelle Willkür erdulden. Was sie in der Fabrik und durch Heimarbeit verdient, fließt direkt auf das Konto der Schwiegermutter. Mit fünfzehn bringt sie ihren ersten Sohn zur Welt, und bereits zwei Wochen nach der Entbindung muss sie wieder in der Fabrik am Fließband stehen. Mustafa hingegen arbeitet nur sporadisch.
In neunzehn Ehejahrenbringt Ayse vier Kinder zur Welt. Sie spricht nur gebrochen deutsch und lebt völlig isoliert, ohne Freunde. Als Mustafa sie eines Nachts halbtot schlägt, flieht Ayse schließlich in ein Frauenhaus. Und wagt dort das Undenkbare: Sie reicht die Scheidung ein. Daraufhin entführt Mustafa die beiden jüngeren Kinder in die Türkei. Ein ganzes Jahr dauert es, bis sie ihre Kinder wieder findet.
Heute hat Ayse die Hölle ihrer Ehe aus eigener Kraft hinter sich gelassen. Ihre Geschichte erschüttert zutiefst - doch sie ist kein Einzelfall: Ähnlich Tragisches ereignet sich immer wieder - in unserer engsten Nachbarschaft.
"Mit elf war ich verlobt, mit vierzehn verheiratet. Nein, gefragt hat mich niemand. Mein Vater kam eines Tages aus dem Kaffeehaus und teilte mir mit, dass ich jetzt mit Mustafa, meinem Cousin, verlobt sei und ihn bald heiraten würde, und das war's. Meine Mutter hat damals viel geweint, aber geholfen hat sie mir nicht."
Die Türkin Ayse ist vierzehn Jahre alt, als sie mit ihrem Cousin Mustafa verheiratet und zu dessen Familie nach Deutschland geschickt wird. Schon vor der Hochzeit wird sie von Mustafa brutal vergewaltigt. Und auch nach der Trauung muss Ayse häufig Schläge und sexuelle Willkür erdulden. Was sie in der Fabrik und durch Heimarbeit verdient, fließt direkt auf das Konto der Schwiegermutter. Mit fünfzehn bringt sie ihren ersten Sohn zur Welt, und bereits zwei Wochen nach der Entbindung muss sie wieder in der Fabrik am Fließband stehen. Mustafa hingegen arbeitet nur sporadisch.
In neunzehn Ehejahren bringt Ayse vier Kinder zur Welt. Sie spricht nur gebrochen deutsch und lebt völlig isoliert, ohne Freunde. Als Mustafa sie eines Nachts halbtot schlägt, flieht Ayse schließlich in ein Frauenhaus. Und wagt dort das Undenkbare: Sie reicht die Scheidung ein. Daraufhin entführt Mustafa die beiden jüngeren Kinder in die Türkei. Ein ganzes Jahr dauert es, bis sie ihre Kinder wieder findet.
Heute hat Ayse die Hölle ihrer Ehe aus eigener Kraft hinter sich gelassen. Ihre Geschichte erschüttert zutiefst - doch sie ist kein Einzelfall: Ähnlich Tragisches ereignet sich immer wieder - in unserer engsten Nachbarschaft.
"Dass diese Frau, die jahrzehntelang nur die hässlichste Seite des Lebens kennen gelernt hat, den Mut zur eigenen Befreiung aufbrachte, nötigt einem Respekt und Bewunderung ab. Das Buch ist aufschlussreich und brisant, erfordert aber starke Nerven seitens des Lesenden." Schule und Leben
"Das Erschütterndste an Einwandererschicksalen wie diesem ist wohl, dass sie sich in Parallelwelten mitten in Deutschland abspielen. Das Protokoll Ayses wirft einen in ein beunruhigend fremdes System patriarchaler Werte und Normen, das bestimmt ist von der Ehre des Mannes, der sexuellen Reinheit der Frau und der Allmacht des Familienclans." Ab 40
"Das Buch spiegelt eindrucksvoll das Elend Tausender von 'Importbräuten' wider." P.M.-Magazin
Mich hat keiner gefragt von Ayşe
LESEPROBE
Ballidere
Ballidere,der Ort, in dem ich geboren bin, ist ein kleines Dorf irgendwo mitten in denBergen von Zentralanatolien. Unser Dorf ist klein. Siebzig, achtzig Häuservielleicht, schmiegen sich in die sanften Hügel des PontischenGebirges. Viele kleine Bäche fließen ins Tal, und fruchtbare Felder und Äckerumgeben das Dorf. Die Bauern hier bauen Weizen, Roggen, Mais, aber vor allemTabak an, der im heiß-feuchten Klima der nahen Schwarzmeerküste besonders gutgedeiht. Die Winter sind kalt, und der Wind pfeift über die Berge. Übersetztheißt Ballidere übrigens Honigteich, aber hierist nicht das Land, wo Milch und Honig fließen. Nein, in Ballidere wie in vielen anderen Dörfern meiner Heimat herrschtbitterste Armut. Ein bisschen Wohlstand ist nur bei jenen Leuten eingekehrt,deren Söhne und Töchter vor Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland gegangensind. Seit Jahrhunderten leben die Menschen unter härtesten Bedingungen. Siebewohnen windschiefe, kleine Lehmhäuser, die, mit Holz und Steinen verstärkt,irgendwie stabil gemacht wurden. Ziegel- oder Betonbauweise kannte man langeZeit gar nicht. Wie braune, kleine, quadratische Schachteln standen die Häuser früheran den holprigen Dorfstraßen. Unten, zur ebenen Erde, war der Stall, dorthausten ein paar Schafe und Ziegen, vielleicht noch ein Esel. Und oben, einenStock höher, lebten die Menschen. Fünf, sechs, manchmal auch acht Personenteilten sich einen Raum. Hier wurde gekocht, gegessen und geschlafen, zu rechtviel mehr hatten sie nach der harten Arbeit ohnehin keine Energie. Auch ich binin so einem Haus geboren worden. Das war irgendwann im Frühjahr 1964. Meingenaues Geburtsdatum kenne ich nicht. Mein offizieller Geburtstag ist der 15.Januar, der stimmt aber nicht, sagt meine Mutter. Man habe damals einmal imJahr die Kinder beim zuständigen Amt gemeldet, und da sie den genauen Terminvergessen hatte, hat sie eben den 15. 1. angegeben. Ich war das zweite Kindmeiner Eltern. Zwei Jahre zuvor hatte meine Mutter einen Sohn zur Weltgebracht, zwei Jahre danach wurde meine kleine Schwester Hanifegeboren. Danach kamen keine Kinder mehr, obwohl meine Mutter noch ein paar Malschwanger war. Aber davon hatte ich - natürlich - nichts mitgekriegt. DieseGeschichten erfuhr ich erst sehr viel später. Meine Geburt war schwieriggewesen. Tagelang hatte die Mutter Wehen gehabt, und irgendwann befürchtete mandas Schlimmste. Drei Frauen standen ihr bei. Sie kochten Wasser ab, brachtensaubere Tücher und versuchten, ihr über die ärgsten Schmerzen hinwegzuhelfen.Nein, mein Vater war nicht da. Er war - wie so oft - ins kahvegegangen. Das kahve ist einVersammlungsort für Männer, wo sie hingehen, Tee oder Kaffee trinken, tavla, also Backgammon, spielen und sich unterhalten.Mein Vater verbrachte viele Stunden in der Woche dort. Manchmal denke ich, ichwollte nicht in diese Welt. Vielleicht habe ich damals schon geahnt, was micherwartet. Aber irgendwann - mitten in der Nacht - bin ich dann doch gekommen.Als meine Mutter mich schließlich in den Armen hielt, war sie überglücklich. Ichwar ihr Wunschkind gewesen. Bei meinem Vater war das anders. Ich glaube, dasser weder mich noch meinen Bruder geliebt hat. Im Gegenteil, manchmal denke ich,er hat uns gehasst. Erst als meine kleine Schwester zur Welt kam, habe ich erfahren,dass auch mein Vater zu so etwas wie Vaterliebe fähig war. Aber ich habe davonnie etwas abgekriegt. An mir ließ er nur seine Wut aus. Und zornig war meinVater oft. Wenn er wütend wurde, brüllte er das halbe Dorf zusammen, und dannhaute er zu. Zuerst meine Mutter, später auch uns, meinen Bruder und mich. Nur Hanife hat er nie geschlagen. Sie war eben seinLieblingskind. »Warum hast du so viele Kinder gekriegt?«,habe ich meine Mutter einmal gefragt. »Weil ich immer gehofft habe, dass esdann besser wird«, hat sie geantwortet. Und das wurde es wohl auch - kurzfristigzumindest. Immer wenn sie ein Kind unter ihrem Herzen trug, schien er etwasmilder gestimmt. Er schrie nicht mehr so viel, und auch geschlagen hat er sienicht. Aber nur bis zur Geburt. Danach ging es weiter wie zuvor. Mit jederSchwangerschaft hat sie auch ein bisschen Hoffnung verloren. Ich war einruhiges, pflegeleichtes Kind. Im ersten Sommer hat mich meine Mutter mit aufsFeld genommen und mir zwischen den Bäumen eine Schaukel gebaut. So hat sie michden ganzen Tag bei sich gehabt. Während mein Bruder schon laufen konnte und inihrer Nähe spielte, habe ich selig in meinem Babysitz geschlummert. Das warendie wenigen Momente des Glücks im Leben meiner Mutter. Kinder großzuziehen, daswar damals schwierig. Die Erwachsenen mussten von Sonnenaufgang bisSonnenuntergang schwer arbeiten, und zu essen hatten sie immer zu wenig.Lebenserleichternde Mittel wie Babynahrung oder gar Pampersgab es damals natürlich auch nicht. So hatten die Mütter bei uns ein ganzeigenes System der Säuglingshygiene entwickelt: Meine Geschwister und ichwurden als Babys in eine Wiege mit Erde gelegt, ein Tuch drüber und fertig. Wardas Tuch schmutzig, wurde es gesäubert und gewaschen. Und hin und wieder hat anne, meine Mutter, die Erde ausgetauscht. Gestillthat sie uns alle, aber nicht besonders lange. Dazu war sie wohl selbst zuschlecht ernährt. Nach der Stillzeit hat sie uns mit Mehlsuppe aufgepäppelt. Alsich zwei Jahre alt war, bin ich sehr krank geworden. Ich hatte hohes Fieber,war apathisch und habe mich kaum mehr bewegt. Völlig panisch ist meine Mutterdamals zu ihrer Schwägerin und Freundin Songülgelaufen. Zu Songül verband sie in jener Zeit eineinnige Freundschaft, das sollte sich im Laufe der Jahre ändern, aber das isteine andere Geschichte. Damals jedenfalls standen sich die beiden Frauen nah,sie waren verschwägert und lebten Tür an Tür. Songülhat also ihren Mann, meinen Onkel, organisiert, der dann die beiden Frauen undmich mit dem Traktor über eine holprige Schotterpiste in die nächste Stadt gefahrenhat. Als sie uns schließlich beim Arzt abgesetzt hatten, ist Songül einfach weitergefahren. Wahrscheinlich hat siegedacht, das werde sowieso nichts mehr mit diesem Kind. Aber da sollte sie sichgeirrt haben. Der Arzt untersuchte mich gründlich und fand auch schnell dieUrsache, ich hatte eine eitrige Angina und Fieberkrämpfe. Er gab meiner MutterMedizin und schickte sie wieder nach Hause. Dort erwachten meine Lebensgeister relativschnell. Als ich nach Brot verlangte, wusste meine Mutter, jetzt ist sie überdem Berg!. Mit meiner Tante Songülhat sie darüber nicht mehr gesprochen. Sie war einfach nur froh, dass ich überlebthatte. Bei uns im Dorf gibt es einen Brauch: Wenn ein Kind schwer krank istoder sich schlecht entwickelt, soll es Brot von sieben verschiedenen Familienessen. Die Zahl sieben ist wichtig, aber ich weiß bis heute nicht wieso. Dashaben sie damals mit mir also auch gemacht. Nachdem ich die Krankheiteinigermaßen überwunden hatte, aber noch ziemlich schwach war, kamen sieben Nachbarnund brachten mir Brot, das ich mit großem Appetit verspeist haben soll. Danachwurde ich vollständig gesund. Nur mit dem Laufen hatte ich es nicht eilig. Ichwar inzwischen drei Jahre alt, aber verbrachte die meiste Zeit sitzend oder bewegtemich krabbelnd vorwärts. Erklären konnte sich das niemand. Eines Tages, es mussim März oder April gewesen sein, kam eine Tante zu Besuch. Ich saß wie üblichin einer Ecke des Raumes und spielte ruhig vor mich hin. Sie stand in der Nähedes Ofens und plauderte mit meiner Mutter, da nahm sie plötzlich das Schüreisenund warf es nach mir. Ich war wohl so entsetzt, als ich das Eisenteil in meineRichtung fliegen sah, dass ich kurzerhand aufsprang und aus dem Raum lief. Vonda an war ich nur noch sehr selten zu Hause. Jetzt begann die glücklichste Zeitmeiner Kindheit. Ich verbrachte die meiste Zeit draußen und spielte mit meinenCousins und Cousinen. Wir waren insgesamt zu fünft oder sechst im gleichenAlter und lebten in unmittelbarer Nachbarschaft. Vor allem meine Cousine Fidan und ich waren viel zusammen. Immer fanden wir etwaszu tun. Wir saßen auf der Wiese im Garten hinterm Haus, pflückten Blumen oderspielten mit den anderen Fangen oder Verstecken. Spielzeuge kannten wir nicht.Als wir größer wurden, haben wir uns Puppen gebastelt und ihnen aus alten StoffenKleider genäht. Die waren aus Holz und hatten wenig Ähnlichkeit mit den Puppen,die die Kinder hier kennen. Aber das war uns egal. Wir waren glücklich mit dem,was wir hatten. Am liebsten spielten wir Familie. Oft liefen wir die Hügelhinauf und nahmen »unsere Kinder« mit, schaukelten sie in unseren Armen undfütterten sie mit ein paar Stückchen Brot, das wir unseren Müttern stibitzthatten. Später wollte ich mal zwei Kinder haben, mehr nicht. Anders meineFreundin Fidan, sie wollte immer einen ganzen Stallvoller Kinder. ( )
© Blanvalet Verlag
- Autor: Ayse
- 2005, 1, 250 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Mit Renate Eder
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3764502118
- ISBN-13: 9783764502119
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