Milner, D: River
An einem heißen Julinachmittag taucht plötzlich der charismatische River mit den aquamarinblauen Augen auf der kanadischen Farm der Wards auf. Da ist Natalie gerade vierzehn. Schnell wird er ein Teil der Familie. Bis etwas Tragisches passiert.
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Produktinformationen zu „Milner, D: River “
An einem heißen Julinachmittag taucht plötzlich der charismatische River mit den aquamarinblauen Augen auf der kanadischen Farm der Wards auf. Da ist Natalie gerade vierzehn. Schnell wird er ein Teil der Familie. Bis etwas Tragisches passiert.
Klappentext zu „Milner, D: River “
Natalie ist vierzehn, als der charismatische River an einem heißen Julinachmittag auf der Milchfarm der Wards in den kanadischen Cascade Mountains auftaucht. Mit der sanften Stimme und den aquamarinblauen Augen wird er bald Teil der glücklichen Familie. Doch tragische Ereignisse verändern das Leben aller und die Idylle endet jäh ...
Lese-Probe zu „Milner, D: River “
River von Donna Milner 1
Er kam zu Fuß. Wie eine Fata Morgana erschien er zwischen den flirrenden Hitzewogen auf der Straße, die sich bis zu unserem Tor wand. Ich beobachtete ihn aus dem Schatten unserer geschlossenen Veranda heraus.
An jenem heißen Julitag im Jahr 1966 war ich vierzehn, und bis zu meinem Geburtstag waren es nur noch ein paar Wochen. Ich lehnte an der Verandatür und blinzelte in die Sonne, während aus der Wäscheschleuder hinter mir die letzten Wassertropfen abflossen. Draußen hing die Wäsche einer ganzen Woche schlaff und reglos auf den drei Wäscheleinen, die quer über den Hof gespannt waren. Betttücher, deren Weiß im gleißenden Sonnenlicht schmerzte, bildeten die Kulisse für den geordneten Aufmarsch der Textilien unserer gesamten Familie. Davor agierte Mom auf dem Trockenplatz, den Mund voller Wäscheklammern, den Rücken der Straße zugekehrt. Sie bückte sich, nahm aus dem Weidenkorb zu ihren Füßen ein feuchtes Jeanshemd, schüttelte es energisch aus und klammerte es an die Leine.
Irgendetwas an meiner Mutter war an diesem Tag ¬anders. An Waschtagen trug sie meist ein Kopftuch, dessen Enden sie mitten auf der Stirn zusammenknotete. An diesem Nachmittag jedoch hatte sie sich ihr Haar mit Nadeln und Kämmen hochgesteckt. Nur widerspenstige blonde kleine Strähnen hatten sich um ihr Gesicht herum und im Nacken gelöst. Aber es war noch etwas anderes. Sie war zerstreut, hatte sogar gerötete Wangen. Bestimmt hatte sie einen Hauch Avon Rouge aufgelegt. Sie hatte mich schon vorher, als sie die Jeans meiner Brüder durch die Schleuder jagte, dabei ertappt, wie ich ihr Gesicht betrachtete.
»Ach, das ist nur die Hitze«, sagte sie, strich sich die Haare zurück und schob sie hinter die Ohren.
Doch während sie die letzte Ladung aufhängte, be¬achtete sie
... mehr
die Straße nicht, und so erblickte ich ihn vor ihr. Ich sah zu, wie er bei unserer hinteren Weide um die Biegung kam. Er stieg über das Viehgatter, ging durch die flimmernden Schatten der Pappeln, dann wieder im grellen Sonnenlicht. Er trug einen großen grünen Matchsack über der einen Schulter und über der anderen einen schwarzen Gegenstand. Als er näher kam, erkannte ich, dass es ein Gitarrenkoffer war, der im Rhythmus seiner gemächlichen Schritte gegen seinen Rücken wippte.
Hippie. Ein neues Wort in meinem Wortschatz. Ein fremdes Wort. Es stand für seltsam gekleidete junge Amerikaner, die sich den Frieden wünschten: »Make Love, Not War!« Es stand für Leute, die gegen den Vietnamkrieg demonstrierten und Blumen in die Gewehrläufe der Bereitschaftspolizisten steckten. Man munkelte, dass einige über die Grenze, die drei Kilometer südlich von unserer Farm verlief, nach Kanada kämen. Bis jetzt waren das nichts als Gerüchte. Gerüchte und die flimmernden Fernsehbilder, deren Empfang in unserem Tal zwischen den Bergen reine Glückssache war. Einen Hippie aus Fleisch und Blut hatte ich noch nicht gesehen. Bis jetzt.
»Was ist?« Moms Stimme holte mich aus meiner Trance. Sie kam herein und übergab mir den leeren Korb. Noch bevor ich antworten konnte, wandte sie sich um und blickte die Straße hinunter. Inzwischen hatte unser Hütehund Buddy den Kopf gehoben und schoss von der unteren Verandastufe los, auf der er in der Nachmittagssonne gedöst hatte. Der Border-Collie sprang über den Palisadenzaun, flitzte am Viehstall vorbei, ein einziger schwarz-weißer Wirbelwind, und bellte eine verspätete Warnung.
»Buddy!«, rief Mom ihm nach. Doch da kniete der langhaarige Fremde schon im Straßenstaub und sprach be¬ruhi¬gend auf den Hund ein. Einen Moment später setzte er, mit Buddy an der Seite, den Weg zum Hof ¬hinauf fort. Als der Border-Collie ihm die Hand leckte, lächelte er uns von der anderen Seite des Zauns zu. Mom lächelte zurück, strich sich die feuchte Schürze glatt und ging die Verandastufen hinunter. Ich zögerte nur einen Augenblick, dann stellte ich den Wäschekorb ab und folgte ihr. Wir trafen ihn am Tor.
Mom hatte ihn erwartet.
Was sie nicht erwartet hatte, war all das Leid, das wie ein kalter Wind folgen sollte.
2
Ich hätte es wissen müssen. In all den Jahren hat es nie jemand laut gesagt. Aber ich konnte die unausgesprochene Frage in den Augen der anderen lesen. Wieso habe ich es nicht gewusst? Vierunddreißig Jahre später stelle ich mir immer noch diese Frage.
Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich in meine Kindheitserinnerungen zurücksinke. Bevor alles anders wurde. Zurück in die Zeit, als es unvorstellbar war, dass meine Familie nicht immer zusammen sein würde. In die Zeit, als meine Welt aus unserer Farm bestand, aus jenen hundertsechzig Hektar Land in British Columbia, die, tief in den Cascade Mountains gelegen, einem engen Tal abgetrotzt waren. Alles andere, die knapp fünf Kilometer nördlich gelegene Stadt Atwood mit ihren zweitausendfünfhundert Einwohnern, schien nur den Hintergrund für unsere heile Welt abzugeben. So kam es mir jedenfalls vor, bis ich fast fünfzehn war.
Das ist die Zeit, in der die Erinnerungen an »Danach« einsetzen.
Manchmal vergehen Wochen, Monate, sogar Jahre, und ich tue so, als wäre nichts davon geschehen. Und manchmal glaube ich es sogar.
Dennoch ist es unmöglich, diesen Sommertag des Jahres 1966 zu vergessen. Den Tag, der die Zeit, als meine Familie heil und in Ordnung war, von jener trennte, als nichts mehr so war wie zuvor.
Der Anfang jener Kette von Ereignissen, die unser ganzes Leben umkrempeln sollten, war keineswegs welt¬erschüt¬ternd. Eine Zeit lang hatte dieser Anfang sogar etwas Schönes.
Danach sollte Mom alles, was geschah, auf die Welt schieben, die bis zu unserer kleinen Farm vordrang. Neue Highways wurden gebaut, und unsere Stadt sollte mit dem Trans-Canada Highway verbunden werden. In den East Kootenays wurden Täler geflutet und Staudämme errichtet, die eine aufstrebende Provinz – und, wie mein Vater sagte, »unseren machthungrigen Nachbarn im Süden« – mit Elektrizität versorgen sollten.
»Hier gibt es zu viele Jobs.« So brachte Mom an jenem Abend beim Essen ihre Besorgnis zum Ausdruck, weil der Farmarbeiter Jake, der bei uns gewesen war, solange ich denken konnte, ohne Vorwarnung seinen Abschied genommen hatte. »Wer wird da schon Lust haben, auf einer kleinen Milchfarm irgendwo tief in der Pampa zu arbeiten?«
»Wir schaffen das schon«, sagte Dad. »Morgan und Carl springen für ihn ein, und Natalie kann in der Molkerei helfen.« Er beugte sich vor und tätschelte Mom die Hand.
»Nein.« Mom wich zurück und stand auf, um die Kaffeekanne zu holen. »Du vergrößerst die Herde immer weiter, und meine Jungs sollen immer früher von der Schule abgehen. Zumindest einer meiner Söhne wird den Highschoolabschluss machen.« Sie unterließ es hin¬zu¬zu¬fügen: »… und dann auf die Universität gehen.« Von diesem Traum sprach sie nicht mehr. Carl war ihre letzte Hoffnung.
Und so stellte sie den Ersten und Einzigen ein, der auf ihr Zweizeileninserat im Atwood Weekly angerufen hatte. »Er hat eine schöne Stimme«, sagte sie, als sie es uns an jenem Julimorgen mitteilte. Dann, als wäre es ihr eben noch eingefallen, fügte sie hinzu: »Er ist Ameri-
kaner.«
Ich warf einen Blick zu meinem Vater hinüber. Seine dichten Augenbrauen hoben sich, während er ihre Worte verdaute. Meine Eltern waren gegensätzlicher Meinung über die Tatsache, dass junge Amerikaner sich der Ein¬berufung entzogen und in Kanada Zuflucht suchten. Ich fragte mich, ob ich jetzt einen richtigen Streit zwischen meinen Eltern erleben würde. Dad war selten mit Mom böse, aber sie traf ja auch selten eine Entscheidung, ohne sich vorher mit ihm zu beraten. Schon gar nicht, wenn sie wusste, dass er eine vorgefasste Meinung über ein Thema hatte. Er sagte nichts. Doch an der Art, wie er aufstand, sich seinen Snap-brim – den Hut mit der breiten Krempe – vom Haken an der Tür schnappte und auf den Kopf stülpte, erkannte ich, dass er nicht gerade ¬erfreut war.
»Na«, sagte Mom, nachdem die Küchentür hinter Dad und Carl zugefallen war, »das ist wohl noch einmal gut gegangen, hm, Natalie?« Dann setzte sie, während sie ihre Gummihandschuhe überzog, eine ernste Miene auf und sagte: »Ich weigere mich, noch einen Sohn an diese Farm zu verlieren.«
Seit dem Augenblick, da meine drei Brüder einen Eimer tragen konnten, waren sie Geiseln des Melkplans. Jeden Morgen standen sie auf, wenn es noch dunkel war, stapften über den kalten Linoleumboden des oberen Schlaf¬zimmers und schlüpften in ihre Overalls. Ich glaube heute noch, dass Boyer in seinen Kleidern schlief.
Boyer, der älteste meiner Brüder, hatte ein eigenes Zimmer – eher ein Kabuff – auf dem Dachboden. Als er zwölf war, hatte er es satt, sein Zimmer mit Morgan und Carl zu teilen, und richtete sich zwischen den Dach¬sparren ein eigenes Nest ein. Er zimmerte sich eine primitive Holz¬leiter, über die er durch ein Loch in der Flurdecke hinaufkletterte. Mit vierzehn baute er dann eine richtige Treppe.
In dieser Dachkammer war es an manchen Win¬ter¬tagen so kalt, dass man den eigenen Atem sah. Im Sommer konnte die stickige Luft nicht einmal durch das offene Fenster abziehen. Boyer beklagte sich nie. Das Zimmer war sein Heiligtum, und wer von uns ihn dort be¬suchen durfte und die Bücher sah, die nach und nach jeden freien Platz einnahmen, beneidete ihn um die Welt, die er sich unter dem Dachvorsprung des Farmhauses geschaffen hatte, das mein Großvater um die Jahrhundertwende erbaut hatte.
Ich war das einzige Mädchen und hatte deshalb ein eigenes Zimmer. Es war Boyers Zimmer gewesen, bis ich auftauchte und die Schlafordnung über den Haufen warf. Wenn er mir das jemals verübelt hat, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Ich hätte mein Reich gern mit ihm geteilt. Ich war zu klein, um zu begreifen, dass er unbedingt ein Zimmer für sich haben wollte.
Jeden Morgen war Boyer der Erste, der über das geschlossene Treppenhaus in die Küche hinunterging. Er stocherte in der Glut, warf dann ein Anzündholz darauf, um den gusseisernen Herd für Mom anzuheizen, ehe er sich auf den Weg in den Stall machte. Nachdem wir 1959 den Elektroherd bekommen hatten, ging er direkt zur vorderen Veranda, wo er, winters wie sommers, in seine knie¬hohen Gummistiefel stieg. Und jeden Morgen, zehn Minuten vor fünf, ließ Boyer die Küchentür hinter sich zufallen. Das Signal, mit dem er jedermann kundtat, dass er sich jetzt auf den Weg zum Stall machte. In der frühmorgendlichen Dunkelheit trieben er und der Farmarbeiter Jake, der über der Molkerei wohnte, die Kühe von der Weide herein.
Morgan und Carl hatten es nie eilig, in den Tag zu starten. Meistens rief mein Vater nach oben und drohte seinen jüngeren Söhnen mit eiskaltem Wasser. »Mutt & Jeff« nannte er sie, nach den beiden Comicfiguren. Morgan war zwei Jahre älter als Carl, aber schon als Kleinkind war Carl größer als sein Bruder. Die beiden waren dicke Freunde, unzertrennlich. Kam Morgan, sich den Schlaf aus den Augen reibend, die Treppe herunter, wussten wir, dass Carl gleich hinterhertorkeln würde; seine dicken Wollsocken bildeten Wülste vor seinen Füßen. Mom schalt ihn deswegen und sagte, er solle seine Socken hochziehen, und wir alle wunderten uns, dass er nicht dauernd stolperte, vor allem in dem ¬dunklen Treppenhaus, aber irgendwie gehörten sie ebenso zu ihm wie seine Zehen.
Die morgendliche Parade meiner Brüder wiederholte sich mit derselben Zuverlässigkeit wie die Gebete meiner Mutter.
Mom betete bei jeder Gelegenheit und sorgte dafür, dass wir es auch so hielten. Vor jeder Mahlzeit senkten wir den Kopf, bevor noch eine Gabel gegen einen Teller klapperte. Jeden Abend nach dem Melken rief sie uns, den Rosenkranz in der Hand, in den Salon. Unter den Bildern von Jesus und Maria, die auf dem Kaminsims standen, betete sie vor: »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir.« Ich kniete neben meinen Brüdern auf dem zerkratzten Linoleum mit dem rosa und grauen Blumenmuster und bemühte mich, nicht herumzuzappeln. Mom glaubte felsenfest an den Spruch: »Die Familie, die zusammen betet, bleibt auch zusammen.«
Als ich noch ganz klein war, blinzelte ich zu Moms gesenktem Kopf hinauf, sah, wie sie die Lippen bewegte und die Perlen durch die Finger gleiten ließ, und dachte, dass ich das Beten, wenn man dadurch so schön wurde, richtig machen wollte.
Mutter war als Protestantin aufgewachsen. Als sie und Dad heirateten, konvertierte sie und warf sich der katholischen Kirche mit der Begeisterung eines ausgehungerten Liebhabers in die Arme.
»Als ich mit deinem Vater zum ersten Mal St. An¬thony’s betrat, wusste ich, dass ich dazugehörte«, erzählte sie mir. »Es war so ein Gefühl von Beständigkeit, als wären die Statuen, die Gemälde und die Ikonen immer schon da ge¬wesen – und würden für immer bleiben. Das Licht, das durch die Buntglasfenster flutete, die Ri¬tuale, die ewig brennenden Kerzen, der Weihrauch …«, sie dachte nach, als führte sie ein Selbst¬gespräch, »das alles fühlte sich irgendwie richtig an.«
Die Rosenkranzperlen waren ihr Trost, etwas Solides, woran man sich festhalten konnte. »Zu konvertieren war«, sagte sie, »wie nach Hause zu kommen.«
Sie versprach ihre noch ungeborenen Kinder der katho¬lischen Kirche. Doch mit Ausnahme von Boyer – und auch bei ihm hielt es nicht lange vor – wurde keiner von uns je so fromm wie sie.
Unser Vater, als Katholik zur Welt gekommen, war längst nicht so religiös. Jeden Sonntag setzte er uns, bevor er mit seiner Milchauslieferung begann, bei St. Anthony’s ab. Wenn er seine Tour beendet hatte, sammelte er uns wieder ein. Falls das Wetter und die Straßenverhältnisse es erlaubten und die Arbeiten zu Hause erledigt waren, fuhr er für eine spätere Messe noch einmal in die Stadt. Mom begleitete ihn dann, und so ¬besuchte sie gleich zwei Gottesdienste.
Zu seinen sporadischen Kirchenbesuchen äußerte sie sich nicht. Sie wusste, dass die Farm Vorrang hatte: vor der Kirche, vor den Freunden, vor der Familie, vor allem. Doch er schloss sich uns jeden Abend zum Rosenkranzbeten im Salon an, und wenn meine Eltern zu Bett gingen, hörte ich sie oft einträchtig Gebete murmeln. Ich stellte mir vor, wie sie neben ihrem Himmelbett wie Bilderbuchkinder knieten, die Hände gefaltet, die Köpfe gesenkt.
Gebete waren nicht alles, was ich hörte.
Meine Brüder, die nie darüber sprachen, müssen es auch gehört haben. Später, als ich selbst Mutter war, habe ich mich oft über die Sorglosigkeit meiner Eltern in diesem Punkt gewundert.
Sie unterhielten sich selten in ihrem Schlafzimmer. Die einzigen Worte, die ich verstand, waren ein flüchtiges »Gute Nacht, Gus« und »Gute Nacht, Nettie«. Dann hörte ich das lang gezogene Stöhnen der Sprung¬federn, während sie in ihr Bett stiegen. Und manchmal ein rhythmisches Quietschen und gedämpfte animalische Laute, auf die ein paar Augenblicke der Stille folgten, ehe das kehlige Schnarchen meines Vaters und vielleicht ein Niesen meiner Mutter durch die Nacht drangen.
Erst Jahre später, als ich meine Mutter beobachtete, wie sie sich in den Tagen nach dem Tod meines Vaters zusammennahm, begriff ich, dass sie immer dann niesen musste, wenn sie ihre Tränen zurückhielt. Ich glaube nicht, dass es meinem Vater jemals aufgefallen ist.
Er schien es ebenso wenig zu bemerken wie ihre nächtlichen Wanderungen.
Oft weckten mich protestierende Sprungfedern, und dann hörte ich die Schritte meiner Mutter, wie sie das Elternschlafzimmer verließ. Manchmal schlich ich mich die Treppe hinunter unter dem Vorwand, ins Bade¬zimmer zu müssen. Wenn Mom nicht mit einer Tasse Tee und einem Buch am Küchentisch saß, machte ich mich auf die Suche nach ihr. Ich ging auf Zehenspitzen durch das Dunkel, bis ich sie fand, entweder im Wintergarten hinter dem Salon oder auf der vorderen Veranda, wo sie in die Nacht hinaus starrte. Sobald ich sie gesehen hatte, stahl ich mich wieder nach oben. Niemals hörte ich, dass mein Vater aufgestanden und ihr nachgegangen wäre und sie gebeten hätte, wieder ins Bett zu kommen.
Tagsüber war es eine andere Geschichte. Da waren meine Eltern keineswegs über öffentliche Bekundungen ihrer Zuneigung erhaben. Sie nutzten jeden Vorwand, um Händchen zu halten oder sich zu umarmen. Wie ein Teenager saß Mom stets neben Dad im Truck. Dann reckte er das Kinn, und wenn er halb zufällig, halb absichtlich mit dem Schaltknüppel Moms nacktes Bein streifte, stieß er einen Pfiff aus wie ein halbwüchsiger Schuljunge. Am Küchentisch tätschelte meine Mutter Dads Schulter oder streichelte seinen Arm, während sie sich über Geschäftliches unterhielten. Und wann immer sie gemeinsam unterwegs waren, gingen sie Hand in Hand. Doch es hatte den Anschein, dass alle persönlichen Gespräche vor ihrer Schlafzimmertür endeten und sie zu intimen Fremden wurden. Ich kann mir ihre wunderlichen Paarungsakte nicht vorstellen, aber wahrscheinlich wurden sie mit ganzen Schichten von Nachtkleidern vollzogen. Immerhin führten sie dazu, dass meine Mutter bereits mit sechsundzwanzig Jahren vier Kinder zur Welt gebracht hatte.
Jahre später, nach dem Tod meines Vaters, erzählte mir meine Mutter – während eines von Kummer und Wein in Gang gesetzten nächtlichen Gesprächs, in dessen Verlauf sie ihr Herz ausschüttete –, dass sie meinen Vater niemals ohne Kleider zu Gesicht bekommen und dass auch er sie niemals nackt gesehen habe. Aus der Art, wie sie das sagte, hörte ich heraus, dass es nicht an ihr gelegen hatte. Ich stellte mir meine Mutter vor, wie sie hinter der Tür ihres Kleiderschranks aus ihrem gemusterten Kleid schlüpfte und sich ein bodenlanges Baumwollnachthemd über den Kopf zog. Und in der anderen Ecke sah ich vor meinem geistigen Auge, wie mein Vater sich bis auf seine wollene Unterwäsche auszog. Lange Unterhosen. Er trug sie wie eine zweite Haut, im Winter wie im Sommer; die einzige Zeit, die er ohne sie verbrachte, war während seiner seltenen Bäder.
Mein Vater weigerte sich, wie wir anderen regel¬mäßig zu baden. Er schwor, dass er sich jedes Mal erkältete oder gar eine Lungenentzündung holte. Er machte einen Bogen um die tiefe Wanne mit den Löwenklauen, die die Hälfte unseres Badezimmers einnahm. Jede Nacht nach dem abendlichen Melken hörten wir, wie er hinter der verschlossenen Badezimmertür mit dem Wasser herumplanschte. Einmal im Monat riskierte er Krankheit und Tod und nahm sein rituelles Bad. Man konnte Gift darauf nehmen, dass er am nächsten Tag herumhustete und bellte und schwor, nie wieder in die Wanne zu steigen.
Hippie. Ein neues Wort in meinem Wortschatz. Ein fremdes Wort. Es stand für seltsam gekleidete junge Amerikaner, die sich den Frieden wünschten: »Make Love, Not War!« Es stand für Leute, die gegen den Vietnamkrieg demonstrierten und Blumen in die Gewehrläufe der Bereitschaftspolizisten steckten. Man munkelte, dass einige über die Grenze, die drei Kilometer südlich von unserer Farm verlief, nach Kanada kämen. Bis jetzt waren das nichts als Gerüchte. Gerüchte und die flimmernden Fernsehbilder, deren Empfang in unserem Tal zwischen den Bergen reine Glückssache war. Einen Hippie aus Fleisch und Blut hatte ich noch nicht gesehen. Bis jetzt.
»Was ist?« Moms Stimme holte mich aus meiner Trance. Sie kam herein und übergab mir den leeren Korb. Noch bevor ich antworten konnte, wandte sie sich um und blickte die Straße hinunter. Inzwischen hatte unser Hütehund Buddy den Kopf gehoben und schoss von der unteren Verandastufe los, auf der er in der Nachmittagssonne gedöst hatte. Der Border-Collie sprang über den Palisadenzaun, flitzte am Viehstall vorbei, ein einziger schwarz-weißer Wirbelwind, und bellte eine verspätete Warnung.
»Buddy!«, rief Mom ihm nach. Doch da kniete der langhaarige Fremde schon im Straßenstaub und sprach be¬ruhi¬gend auf den Hund ein. Einen Moment später setzte er, mit Buddy an der Seite, den Weg zum Hof ¬hinauf fort. Als der Border-Collie ihm die Hand leckte, lächelte er uns von der anderen Seite des Zauns zu. Mom lächelte zurück, strich sich die feuchte Schürze glatt und ging die Verandastufen hinunter. Ich zögerte nur einen Augenblick, dann stellte ich den Wäschekorb ab und folgte ihr. Wir trafen ihn am Tor.
Mom hatte ihn erwartet.
Was sie nicht erwartet hatte, war all das Leid, das wie ein kalter Wind folgen sollte.
2
Ich hätte es wissen müssen. In all den Jahren hat es nie jemand laut gesagt. Aber ich konnte die unausgesprochene Frage in den Augen der anderen lesen. Wieso habe ich es nicht gewusst? Vierunddreißig Jahre später stelle ich mir immer noch diese Frage.
Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich in meine Kindheitserinnerungen zurücksinke. Bevor alles anders wurde. Zurück in die Zeit, als es unvorstellbar war, dass meine Familie nicht immer zusammen sein würde. In die Zeit, als meine Welt aus unserer Farm bestand, aus jenen hundertsechzig Hektar Land in British Columbia, die, tief in den Cascade Mountains gelegen, einem engen Tal abgetrotzt waren. Alles andere, die knapp fünf Kilometer nördlich gelegene Stadt Atwood mit ihren zweitausendfünfhundert Einwohnern, schien nur den Hintergrund für unsere heile Welt abzugeben. So kam es mir jedenfalls vor, bis ich fast fünfzehn war.
Das ist die Zeit, in der die Erinnerungen an »Danach« einsetzen.
Manchmal vergehen Wochen, Monate, sogar Jahre, und ich tue so, als wäre nichts davon geschehen. Und manchmal glaube ich es sogar.
Dennoch ist es unmöglich, diesen Sommertag des Jahres 1966 zu vergessen. Den Tag, der die Zeit, als meine Familie heil und in Ordnung war, von jener trennte, als nichts mehr so war wie zuvor.
Der Anfang jener Kette von Ereignissen, die unser ganzes Leben umkrempeln sollten, war keineswegs welt¬erschüt¬ternd. Eine Zeit lang hatte dieser Anfang sogar etwas Schönes.
Danach sollte Mom alles, was geschah, auf die Welt schieben, die bis zu unserer kleinen Farm vordrang. Neue Highways wurden gebaut, und unsere Stadt sollte mit dem Trans-Canada Highway verbunden werden. In den East Kootenays wurden Täler geflutet und Staudämme errichtet, die eine aufstrebende Provinz – und, wie mein Vater sagte, »unseren machthungrigen Nachbarn im Süden« – mit Elektrizität versorgen sollten.
»Hier gibt es zu viele Jobs.« So brachte Mom an jenem Abend beim Essen ihre Besorgnis zum Ausdruck, weil der Farmarbeiter Jake, der bei uns gewesen war, solange ich denken konnte, ohne Vorwarnung seinen Abschied genommen hatte. »Wer wird da schon Lust haben, auf einer kleinen Milchfarm irgendwo tief in der Pampa zu arbeiten?«
»Wir schaffen das schon«, sagte Dad. »Morgan und Carl springen für ihn ein, und Natalie kann in der Molkerei helfen.« Er beugte sich vor und tätschelte Mom die Hand.
»Nein.« Mom wich zurück und stand auf, um die Kaffeekanne zu holen. »Du vergrößerst die Herde immer weiter, und meine Jungs sollen immer früher von der Schule abgehen. Zumindest einer meiner Söhne wird den Highschoolabschluss machen.« Sie unterließ es hin¬zu¬zu¬fügen: »… und dann auf die Universität gehen.« Von diesem Traum sprach sie nicht mehr. Carl war ihre letzte Hoffnung.
Und so stellte sie den Ersten und Einzigen ein, der auf ihr Zweizeileninserat im Atwood Weekly angerufen hatte. »Er hat eine schöne Stimme«, sagte sie, als sie es uns an jenem Julimorgen mitteilte. Dann, als wäre es ihr eben noch eingefallen, fügte sie hinzu: »Er ist Ameri-
kaner.«
Ich warf einen Blick zu meinem Vater hinüber. Seine dichten Augenbrauen hoben sich, während er ihre Worte verdaute. Meine Eltern waren gegensätzlicher Meinung über die Tatsache, dass junge Amerikaner sich der Ein¬berufung entzogen und in Kanada Zuflucht suchten. Ich fragte mich, ob ich jetzt einen richtigen Streit zwischen meinen Eltern erleben würde. Dad war selten mit Mom böse, aber sie traf ja auch selten eine Entscheidung, ohne sich vorher mit ihm zu beraten. Schon gar nicht, wenn sie wusste, dass er eine vorgefasste Meinung über ein Thema hatte. Er sagte nichts. Doch an der Art, wie er aufstand, sich seinen Snap-brim – den Hut mit der breiten Krempe – vom Haken an der Tür schnappte und auf den Kopf stülpte, erkannte ich, dass er nicht gerade ¬erfreut war.
»Na«, sagte Mom, nachdem die Küchentür hinter Dad und Carl zugefallen war, »das ist wohl noch einmal gut gegangen, hm, Natalie?« Dann setzte sie, während sie ihre Gummihandschuhe überzog, eine ernste Miene auf und sagte: »Ich weigere mich, noch einen Sohn an diese Farm zu verlieren.«
Seit dem Augenblick, da meine drei Brüder einen Eimer tragen konnten, waren sie Geiseln des Melkplans. Jeden Morgen standen sie auf, wenn es noch dunkel war, stapften über den kalten Linoleumboden des oberen Schlaf¬zimmers und schlüpften in ihre Overalls. Ich glaube heute noch, dass Boyer in seinen Kleidern schlief.
Boyer, der älteste meiner Brüder, hatte ein eigenes Zimmer – eher ein Kabuff – auf dem Dachboden. Als er zwölf war, hatte er es satt, sein Zimmer mit Morgan und Carl zu teilen, und richtete sich zwischen den Dach¬sparren ein eigenes Nest ein. Er zimmerte sich eine primitive Holz¬leiter, über die er durch ein Loch in der Flurdecke hinaufkletterte. Mit vierzehn baute er dann eine richtige Treppe.
In dieser Dachkammer war es an manchen Win¬ter¬tagen so kalt, dass man den eigenen Atem sah. Im Sommer konnte die stickige Luft nicht einmal durch das offene Fenster abziehen. Boyer beklagte sich nie. Das Zimmer war sein Heiligtum, und wer von uns ihn dort be¬suchen durfte und die Bücher sah, die nach und nach jeden freien Platz einnahmen, beneidete ihn um die Welt, die er sich unter dem Dachvorsprung des Farmhauses geschaffen hatte, das mein Großvater um die Jahrhundertwende erbaut hatte.
Ich war das einzige Mädchen und hatte deshalb ein eigenes Zimmer. Es war Boyers Zimmer gewesen, bis ich auftauchte und die Schlafordnung über den Haufen warf. Wenn er mir das jemals verübelt hat, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Ich hätte mein Reich gern mit ihm geteilt. Ich war zu klein, um zu begreifen, dass er unbedingt ein Zimmer für sich haben wollte.
Jeden Morgen war Boyer der Erste, der über das geschlossene Treppenhaus in die Küche hinunterging. Er stocherte in der Glut, warf dann ein Anzündholz darauf, um den gusseisernen Herd für Mom anzuheizen, ehe er sich auf den Weg in den Stall machte. Nachdem wir 1959 den Elektroherd bekommen hatten, ging er direkt zur vorderen Veranda, wo er, winters wie sommers, in seine knie¬hohen Gummistiefel stieg. Und jeden Morgen, zehn Minuten vor fünf, ließ Boyer die Küchentür hinter sich zufallen. Das Signal, mit dem er jedermann kundtat, dass er sich jetzt auf den Weg zum Stall machte. In der frühmorgendlichen Dunkelheit trieben er und der Farmarbeiter Jake, der über der Molkerei wohnte, die Kühe von der Weide herein.
Morgan und Carl hatten es nie eilig, in den Tag zu starten. Meistens rief mein Vater nach oben und drohte seinen jüngeren Söhnen mit eiskaltem Wasser. »Mutt & Jeff« nannte er sie, nach den beiden Comicfiguren. Morgan war zwei Jahre älter als Carl, aber schon als Kleinkind war Carl größer als sein Bruder. Die beiden waren dicke Freunde, unzertrennlich. Kam Morgan, sich den Schlaf aus den Augen reibend, die Treppe herunter, wussten wir, dass Carl gleich hinterhertorkeln würde; seine dicken Wollsocken bildeten Wülste vor seinen Füßen. Mom schalt ihn deswegen und sagte, er solle seine Socken hochziehen, und wir alle wunderten uns, dass er nicht dauernd stolperte, vor allem in dem ¬dunklen Treppenhaus, aber irgendwie gehörten sie ebenso zu ihm wie seine Zehen.
Die morgendliche Parade meiner Brüder wiederholte sich mit derselben Zuverlässigkeit wie die Gebete meiner Mutter.
Mom betete bei jeder Gelegenheit und sorgte dafür, dass wir es auch so hielten. Vor jeder Mahlzeit senkten wir den Kopf, bevor noch eine Gabel gegen einen Teller klapperte. Jeden Abend nach dem Melken rief sie uns, den Rosenkranz in der Hand, in den Salon. Unter den Bildern von Jesus und Maria, die auf dem Kaminsims standen, betete sie vor: »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir.« Ich kniete neben meinen Brüdern auf dem zerkratzten Linoleum mit dem rosa und grauen Blumenmuster und bemühte mich, nicht herumzuzappeln. Mom glaubte felsenfest an den Spruch: »Die Familie, die zusammen betet, bleibt auch zusammen.«
Als ich noch ganz klein war, blinzelte ich zu Moms gesenktem Kopf hinauf, sah, wie sie die Lippen bewegte und die Perlen durch die Finger gleiten ließ, und dachte, dass ich das Beten, wenn man dadurch so schön wurde, richtig machen wollte.
Mutter war als Protestantin aufgewachsen. Als sie und Dad heirateten, konvertierte sie und warf sich der katholischen Kirche mit der Begeisterung eines ausgehungerten Liebhabers in die Arme.
»Als ich mit deinem Vater zum ersten Mal St. An¬thony’s betrat, wusste ich, dass ich dazugehörte«, erzählte sie mir. »Es war so ein Gefühl von Beständigkeit, als wären die Statuen, die Gemälde und die Ikonen immer schon da ge¬wesen – und würden für immer bleiben. Das Licht, das durch die Buntglasfenster flutete, die Ri¬tuale, die ewig brennenden Kerzen, der Weihrauch …«, sie dachte nach, als führte sie ein Selbst¬gespräch, »das alles fühlte sich irgendwie richtig an.«
Die Rosenkranzperlen waren ihr Trost, etwas Solides, woran man sich festhalten konnte. »Zu konvertieren war«, sagte sie, »wie nach Hause zu kommen.«
Sie versprach ihre noch ungeborenen Kinder der katho¬lischen Kirche. Doch mit Ausnahme von Boyer – und auch bei ihm hielt es nicht lange vor – wurde keiner von uns je so fromm wie sie.
Unser Vater, als Katholik zur Welt gekommen, war längst nicht so religiös. Jeden Sonntag setzte er uns, bevor er mit seiner Milchauslieferung begann, bei St. Anthony’s ab. Wenn er seine Tour beendet hatte, sammelte er uns wieder ein. Falls das Wetter und die Straßenverhältnisse es erlaubten und die Arbeiten zu Hause erledigt waren, fuhr er für eine spätere Messe noch einmal in die Stadt. Mom begleitete ihn dann, und so ¬besuchte sie gleich zwei Gottesdienste.
Zu seinen sporadischen Kirchenbesuchen äußerte sie sich nicht. Sie wusste, dass die Farm Vorrang hatte: vor der Kirche, vor den Freunden, vor der Familie, vor allem. Doch er schloss sich uns jeden Abend zum Rosenkranzbeten im Salon an, und wenn meine Eltern zu Bett gingen, hörte ich sie oft einträchtig Gebete murmeln. Ich stellte mir vor, wie sie neben ihrem Himmelbett wie Bilderbuchkinder knieten, die Hände gefaltet, die Köpfe gesenkt.
Gebete waren nicht alles, was ich hörte.
Meine Brüder, die nie darüber sprachen, müssen es auch gehört haben. Später, als ich selbst Mutter war, habe ich mich oft über die Sorglosigkeit meiner Eltern in diesem Punkt gewundert.
Sie unterhielten sich selten in ihrem Schlafzimmer. Die einzigen Worte, die ich verstand, waren ein flüchtiges »Gute Nacht, Gus« und »Gute Nacht, Nettie«. Dann hörte ich das lang gezogene Stöhnen der Sprung¬federn, während sie in ihr Bett stiegen. Und manchmal ein rhythmisches Quietschen und gedämpfte animalische Laute, auf die ein paar Augenblicke der Stille folgten, ehe das kehlige Schnarchen meines Vaters und vielleicht ein Niesen meiner Mutter durch die Nacht drangen.
Erst Jahre später, als ich meine Mutter beobachtete, wie sie sich in den Tagen nach dem Tod meines Vaters zusammennahm, begriff ich, dass sie immer dann niesen musste, wenn sie ihre Tränen zurückhielt. Ich glaube nicht, dass es meinem Vater jemals aufgefallen ist.
Er schien es ebenso wenig zu bemerken wie ihre nächtlichen Wanderungen.
Oft weckten mich protestierende Sprungfedern, und dann hörte ich die Schritte meiner Mutter, wie sie das Elternschlafzimmer verließ. Manchmal schlich ich mich die Treppe hinunter unter dem Vorwand, ins Bade¬zimmer zu müssen. Wenn Mom nicht mit einer Tasse Tee und einem Buch am Küchentisch saß, machte ich mich auf die Suche nach ihr. Ich ging auf Zehenspitzen durch das Dunkel, bis ich sie fand, entweder im Wintergarten hinter dem Salon oder auf der vorderen Veranda, wo sie in die Nacht hinaus starrte. Sobald ich sie gesehen hatte, stahl ich mich wieder nach oben. Niemals hörte ich, dass mein Vater aufgestanden und ihr nachgegangen wäre und sie gebeten hätte, wieder ins Bett zu kommen.
Tagsüber war es eine andere Geschichte. Da waren meine Eltern keineswegs über öffentliche Bekundungen ihrer Zuneigung erhaben. Sie nutzten jeden Vorwand, um Händchen zu halten oder sich zu umarmen. Wie ein Teenager saß Mom stets neben Dad im Truck. Dann reckte er das Kinn, und wenn er halb zufällig, halb absichtlich mit dem Schaltknüppel Moms nacktes Bein streifte, stieß er einen Pfiff aus wie ein halbwüchsiger Schuljunge. Am Küchentisch tätschelte meine Mutter Dads Schulter oder streichelte seinen Arm, während sie sich über Geschäftliches unterhielten. Und wann immer sie gemeinsam unterwegs waren, gingen sie Hand in Hand. Doch es hatte den Anschein, dass alle persönlichen Gespräche vor ihrer Schlafzimmertür endeten und sie zu intimen Fremden wurden. Ich kann mir ihre wunderlichen Paarungsakte nicht vorstellen, aber wahrscheinlich wurden sie mit ganzen Schichten von Nachtkleidern vollzogen. Immerhin führten sie dazu, dass meine Mutter bereits mit sechsundzwanzig Jahren vier Kinder zur Welt gebracht hatte.
Jahre später, nach dem Tod meines Vaters, erzählte mir meine Mutter – während eines von Kummer und Wein in Gang gesetzten nächtlichen Gesprächs, in dessen Verlauf sie ihr Herz ausschüttete –, dass sie meinen Vater niemals ohne Kleider zu Gesicht bekommen und dass auch er sie niemals nackt gesehen habe. Aus der Art, wie sie das sagte, hörte ich heraus, dass es nicht an ihr gelegen hatte. Ich stellte mir meine Mutter vor, wie sie hinter der Tür ihres Kleiderschranks aus ihrem gemusterten Kleid schlüpfte und sich ein bodenlanges Baumwollnachthemd über den Kopf zog. Und in der anderen Ecke sah ich vor meinem geistigen Auge, wie mein Vater sich bis auf seine wollene Unterwäsche auszog. Lange Unterhosen. Er trug sie wie eine zweite Haut, im Winter wie im Sommer; die einzige Zeit, die er ohne sie verbrachte, war während seiner seltenen Bäder.
Mein Vater weigerte sich, wie wir anderen regel¬mäßig zu baden. Er schwor, dass er sich jedes Mal erkältete oder gar eine Lungenentzündung holte. Er machte einen Bogen um die tiefe Wanne mit den Löwenklauen, die die Hälfte unseres Badezimmers einnahm. Jede Nacht nach dem abendlichen Melken hörten wir, wie er hinter der verschlossenen Badezimmertür mit dem Wasser herumplanschte. Einmal im Monat riskierte er Krankheit und Tod und nahm sein rituelles Bad. Man konnte Gift darauf nehmen, dass er am nächsten Tag herumhustete und bellte und schwor, nie wieder in die Wanne zu steigen.
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Autoren-Porträt von Donna Milner
Milner, DonnaDonna Milner lebt mit ihrem Mann im kanadischen Bundesstaat British Columbia. Nachdem ihr erster Roman »River« ein überwältigendes internationales Echo fand und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, widmete sie sich ganz dem Schreiben. Zuletzt erschien auf Deutsch ihr zweiter Roman »Der Tag, an dem Marilyn starb«.
Bibliographische Angaben
- Autor: Donna Milner
- 2010, 397 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Sylvia Höfer
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492258743
- ISBN-13: 9783492258746
Rezension zu „Milner, D: River “
»Herzzerreißend und absolut fesselnd.« The Independent Weekly »Das in Rückblenden erzählte Werk ist schlicht großartig. In einer exakten, direkten Sprache zeigt Donna Milner auf, wie ein einziger Moment eine wahre Lawine, eine fast unglaubliche Kettenreaktion an Ereignissen lostreten kann.« Kulturagenda Bern »Eine Familiensaga, bei der alle Register gezogen werden und die den Leser in Atem hält.« Südhessen Woche »Ein grandioses Debüt, wundervolle Charaktere, ein Schmöker.« Wilhelmshavener Zeitung »Mitreißende Lektüre - Milner muss man im Auge behalten.« The Bookseller
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