Mit einem Bein im Knast
Kaum aufgewacht - schon straffällig: unsere alltäglichen Rechtsbrüche und Gesetzesverstöße
Wir alle sind Verbrecher. Wir fahren zu schnell, wir stehlen Handtücher aus Hotels, wir betrügen bei der Steuererklärung,...
Wir alle sind Verbrecher. Wir fahren zu schnell, wir stehlen Handtücher aus Hotels, wir betrügen bei der Steuererklärung,...
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Produktinformationen zu „Mit einem Bein im Knast “
Kaum aufgewacht - schon straffällig: unsere alltäglichen Rechtsbrüche und Gesetzesverstöße
Wir alle sind Verbrecher. Wir fahren zu schnell, wir stehlen Handtücher aus Hotels, wir betrügen bei der Steuererklärung, wir saugen Filme aus dem Internet. Doch zugeben würden wir es nie. Dabei beläuft sich der volkswirtschaftliche Schaden solcher Untaten auf mehr als eine Billion Euro pro Jahr. Wie wäre es, wenn man ein Jahr lang jeden Tag 24 Stunden von einem Polizisten begleitet würde? Jürgen Schmieder hat es gewagt. Er versucht, ein Jahr lang gesetzeskonform zu leben, im Einklang mit unseren mehr als 100 000 Gesetzen und Verordnungen. Ein schwieriges Unterfangen, wo ihn doch schon deren Lektüre schier in den Wahnsinn treibt. Er sieht sich gezwungen, seine Frau anzuzeigen, verfolgt einen russischen Milliardär, bekommt sogar eine Todesdrohung ... Am Ende steht die Erkenntnis, dass es viel zu viele Gesetze gibt, aber kaum jemand dafür sorgt, dass die wirklich wichtigen eingehalten werden.
Wir alle sind Verbrecher. Wir fahren zu schnell, wir stehlen Handtücher aus Hotels, wir betrügen bei der Steuererklärung, wir saugen Filme aus dem Internet. Doch zugeben würden wir es nie. Dabei beläuft sich der volkswirtschaftliche Schaden solcher Untaten auf mehr als eine Billion Euro pro Jahr. Wie wäre es, wenn man ein Jahr lang jeden Tag 24 Stunden von einem Polizisten begleitet würde? Jürgen Schmieder hat es gewagt. Er versucht, ein Jahr lang gesetzeskonform zu leben, im Einklang mit unseren mehr als 100 000 Gesetzen und Verordnungen. Ein schwieriges Unterfangen, wo ihn doch schon deren Lektüre schier in den Wahnsinn treibt. Er sieht sich gezwungen, seine Frau anzuzeigen, verfolgt einen russischen Milliardär, bekommt sogar eine Todesdrohung ... Am Ende steht die Erkenntnis, dass es viel zu viele Gesetze gibt, aber kaum jemand dafür sorgt, dass die wirklich wichtigen eingehalten werden.
Klappentext zu „Mit einem Bein im Knast “
Kaum aufgewacht schon straffällig: unsere alltäglichen Rechtsbrüche und GesetzesverstößeWir alle sind Verbrecher. Wir fahren zu schnell, wir stehlen Handtücher aus Hotels, wir betrügen bei der Steuererklärung, wir saugen Filme aus dem Internet. Doch zugeben würden wir es nie. Dabei beläuft sich der volkswirtschaftliche Schaden solcher Untaten auf mehr als eine Billion Euro pro Jahr. Wie wäre es, wenn man ein Jahr lang jeden Tag 24 Stunden von einem Polizisten begleitet würde? Jürgen Schmieder hat es gewagt. Er versucht, ein Jahr lang gesetzeskonform zu leben, im Einklang mit unseren mehr als 100 000 Gesetzen und Verordnungen. Ein schwieriges Unterfangen, wo ihn doch schon deren Lektüre schier in den Wahnsinn treibt. Er sieht sich gezwungen, seine Frau anzuzeigen, verfolgt einen russischen Milliardär, bekommt sogar eine Todesdrohung Am Ende steht die Erkenntnis, dass es viel zu viele Gesetze gibt, aber kaum jemand dafür sorgt, dass die wirklich wichtigen eingehalten werden.
Lese-Probe zu „Mit einem Bein im Knast “
Mit einem Bein im Knast von Jürgen SchmiederKapitel 1
321 835,92 Euro!
321 835,92 Euro.
Das ist die Strafe, die mein Freund Adam für seine Untaten im Jahr 2012 bezahlen müsste. Er wäre pleite. Ruiniert. Es ist die Summe der Bußgelder und Strafen für Sachen, die er innerhalb eines Jahres angestellt hat.
321 835,92 Euro.
Er käme vielleicht nicht ins Gefängnis - aber mit einem Bein stünde er im Knast. Aufgrund der Vielzahl der Vergehen wäre es durchaus möglich, dass er wegen mangelnder Einsicht eine Bewährungsstrafe bekommen würde. Sicher allerdings ist: 2013 würde er den zweiten Fuß ins Gefängnis nachziehen. Dieser Verbrecher müsste in den Knast.
Adam ist kein Verbrecher, er ist noch nicht einmal ein Gauner. Er war noch nie im Gefängnis, er stand in seinem Leben bislang nur als Zeuge vor Gericht, mit Anwälten hatte er nur zu tun, wenn er einen Vertrag für seine Firma aushandeln musste. Er hat ein paar Strafzettel wegen Falschparkens und zu hoher Geschwindigkeit bekommen, als Teenager wurde er mal beim Klauen erwischt - ansonsten jedoch ist Adam ein Vorzeigebürger.
Einer, wie man ihn sich wünscht.
Einer, der so ist wie wir.
Denkt er.
Denken wir.
Und der hat innerhalb eines Jahres Verbrechen und Ordnungswidrigkeiten im Wert von 321 835,92 Euro begangen.
Natürlich ist die Summe fiktiv. Sie wäre nur dann real, wenn Adam 24 Stunden am Tag von einem Polizisten begleitet würde und alle Taten zur Anzeige gebracht würden. Wenn also auch dann einer aufgepasst hätte, wenn er sich unbeobachtet gefühlt hat. Menschen machen recht verrückte Sachen, wenn sie sich unbeobachtet fühlen: Sie popeln in der Nase. Sie singen unter der Dusche. Sie brechen das Gesetz.
... mehr
Ich habe Adam begleitet und hatte dabei stets Kontakt zu zwei Polizisten, einem Finanzbeamten, einem Beamten auf der Bußgeldstelle, zwei Rechtsanwälten, einem Richter und einem Steuerberater. Es war ein Live-Ticker des Rechts, wir hatten stets sämtliche Informationen zum Vergehen, zum möglichen Verfahren und zur zu erwartenden Strafe im Falle eines Vergleichs, einer Abmahnung oder einer Gerichtsverhandlung. Dann habe ich gerechnet.
Aufgedröselt sieht das so aus:
Urheberrechtsverletzungen auf seiner Facebook-Seite: 12 000 Euro.
Andere Urheberrechtsverletzungen: 101 795,92 Euro.
Diebstahl: 100 Euro.
Steuerhinterziehung: 11 200 Euro.
Versicherungsbetrug: 1490 Euro.
Schmuggel: 750 Euro.
Beleidigungen und üble Nachrede: 128 000 Euro.
Delikte im Straßenverkehr: 37 500 Euro - wobei in diesem Fall anzumerken wäre, dass er seinen Führerschein für etwa sieben Jahre abgeben müsste, weshalb in den kommenden Jahren in diesem Bereich keine Strafen zu erwarten wären.
Andere Bußgelder für Ordnungswidrigkeiten wie Zigaretten auf die Straße werfen oder ohne Helm radfahren oder einen Hund ohne Leine im Englischen Garten spazieren führen: 29 000 Euro.
Macht insgesamt 321 835,92 Euro.
Natürlich wird kein Mensch in Deutschland 24 Stunden pro Tag kontrolliert und niemand für all seine Vergehen sofort angeklagt und bestraft. Adam hält sich für einen Menschen, der noch nie in seinem Leben das Gesetz gebrochen hat. Mittlerweile hat er jedoch akzeptiert, dass diese Summe vollkommen in Ordnung ist. Und er behauptet, dass andere noch viel mehr bezahlen müssten.
Adam hat diese Taten begangen - und nur weil sie niemand kontrolliert hat, werden sie nicht ungeschehen. Und er hat in nicht wenigen Fällen anderen damit geschadet. Irgendjemand muss den Schaden bezahlen - über höhere Steuern, höhere Versicherungsbeiträge oder steigende Kosten für die Reinigung der Straße.
Den wahren Charakter eines Menschen erkennt man in jenen Momenten, in denen er sich unbeobachtet fühlt.
321 835,92 Euro.
Das ist eine unfassbare Summe - aber sie stimmt. Anwälte, Polizisten, Richter und Beamte haben sie bestätigt. Adam, der Vorzeigebürger, begeht offensichtlich pro Jahr mehr Verbrechen und Ordnungswidrigkeiten, als er sich leisten kann. Wir alle begehen mehr Verbrechen und Ordnungswidrigkeiten, als wir uns leisten können.
Aber kaum jemand von uns wird zugeben, ein Verbrecher zu sein. Warum ist die Summe dann nicht 0 Euro?
Kann man ein Jahr lang überstehen, ohne auch nur ein Gesetz zu brechen oder eine Ordnungswidrigkeit zu begehen? Ist das möglich?
Ich will es versuchen. Ich möchte ein Jahr lang so tun, als stünde ständig ein Polizist neben mir und würde mich kontrollieren.
Ich möchte, dass die Summe, die letztlich in meinem Sündenregister vermerkt wird, bei 0 Euro liegt. Noch glaube ich, dass es möglich ist.
Ich will mich ein Jahr lang an alle Gesetze und Verordnungen halten, die es in Deutschland gibt. Das Gesetz bin ich!
Der Plan scheint perfekt: Ich muss einfach nur ein Jahr lang das tun, was ohnehin von mir verlangt wird. Wahrscheinlich denken jetzt alle: »An Gesetze halten? Kein Problem! Das tu ich doch sowieso!« Keine Sorge, das denke ich auch. Noch.
Ich will mich mit ein paar Polizisten unterhalten, mit Anwälten und Richtern. Vielleicht jedes fünfte der Beamtendeutsch- Wörter in meinem Block notieren und daraus ein Lexikon »Anwalt - Deutsch, Deutsch - Anwalt« machen. Vielleicht noch ein paar verrückte Gesetze finden, über die der Witze reißen kann, der sich für einen ganz tollen Nachwuchskabarettisten hält. Am Ende vielleicht noch voller Betroffenheit ein ernstes Kapitel mit dem Zusatz hinzufügen, dass es zu viele Gesetze in Deutschland gibt, sowie noch ein paar lustige Wörter zur Bürokratie und Gesetzestreue der Deutschen.
Leicht verdientes Geld.
Leider ist der Plan nicht perfekt.
Noch ahne ich nicht, dass dieses Vorhaben, ein Jahr lang nach allen deutschen Gesetzen zu leben, verdammt schwierig ist. Dass es unmöglich ist.
Wer sich ein Jahr an alle Gesetze hält, der sieht, wie es wirklich zugeht in Deutschland - und stellt fest, dass er viele Dinge lieber nicht gesehen hätte.
Kapitel 2
Im Paragrafendschungel
Robinson Crusoe hatte deutsche Gene in sich. Er wurde zwar in York geboren und war damit englischer Staatsbürger, doch sein Vater war ein deutscher Kaufmann aus Bremen, der nach England ausgewandert war. Die Geschichte von Daniel Defoe über den Seefahrer und Abenteurer ist deshalb natürlich Quatsch. Sie muss so gehen:
Crusoe vermisst erst einmal die Insel, zäunt sie ein und sucht die Inselverwaltung, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen. Nach zwei Stunden Suche beschwert er sich, dass es keine Behörde gibt, und notiert in seinem Logbuch, dass er den Reiseveranstalter sofort auf Rückerstattung der Hälfte des Preises verklagen werde. Die fehlenden sanitären Einrichtungen, da ist er sich sicher, könnten nochmals zehn Prozent wert sein. Und natürlich fehlt der Balkon. Ach was, das ganze Hotel fehlt!
Dann lernt er Freitag kennen - und verlangt, dass der bitte schön nur genormte Kokosnüsse bringen möge und um 22 Uhr sein Feuer am Strand ausmachen soll, um die abendliche Ruhe nicht zu stören. Natürlich arbeitet er für sich und Freitag einen exakten Plan aus, wer wann mit welchem Gerät Fische zu fangen hat - und führt sogleich Disziplinarstrafen für den Fall ein, dass Fischfangquoten nicht erreicht werden. Gleich am ersten Tag muss Freitag vier genormte Kiwis abliefern, weil er den spitzen Speer für die Jagd verwendet hat und außerdem dort gefangen hat, wo Robinson das Schild »Jagen verboten« errichtet hat.
Robinson gründet einen Verein für Krebszucht und fordert von Freitag, ebenfalls einen zu gründen. Die Vereine schließt Robinson zusammen zu einem Verband mit strikten Regeln und einem Spielplan, der festlegt, wann die Krebse zum Wettlauf miteinander anzutreten haben und an welchem Strand die nächste Weltmeisterschaft stattfindet. Dann beschwert er sich über den Wildwuchs der Bäume; den Bau einer Hütte verhindert er, weil sie nicht den baulichen Vorschriften entspricht, die Brandschutzverordnungen verletzt und sowieso nicht ins Inselbild passt.
Dann noch kurz Etiketten mit Ampelkennzeichnung auf die Bananen gepappt, ein Rauchverbot am Strand und eine Kleidergrößennorm eingeführt - und es ist fast perfekt. Dann nämlich sitzt Robinson abends vor seiner Hütte und beschwert sich darüber, welche Unzahl von Gesetzen es auf der Insel gebe und dass das alles entbürokratisiert gehöre.
Deutschland ist das Land der Gesetze und Normen - das stelle ich fest, als ich meine erste Gesetzessammlung aufschlage. Ich habe bereits 50 Bücher zum Thema Gesetze gelesen und festgestellt, dass Jura so trocken ist, als würde man Salzstangen mit Sandkuchen und Vollkornbrot essen und das Ganze mit einem Löffel Zimt hinunterspülen. Dennoch bin ich auf dieses Projekt in etwa so vorbereitet wie ein Bundesliga-Manager-Spieler auf einen Job als Sportdirektor beim FC Bayern oder ein Call-of-Duty-Zocker auf eine Schlacht in Afghanistan.
Aber es gibt ja den Schönfelder.
Zu behaupten, dass es sich beim Schönfelder um ein dickes Buch handelt, das ist ungefähr so, als würde man behaupten, dass der Mount Everest ein ziemlich hoher Hügel sei. Die Sammlung der wichtigsten deutschen Gesetze und Verordnungen ist neun Zentimeter dick und 2,385 Kilogramm schwer, die Seiten sind so dünn, dass man hindurchsehen kann. Es ist ein riesiger Wälzer, durchaus geeignet für Muskelübungen. Ich habe mir als Gegengewicht den Sartorius besorgt, ebenso dick und fast so schwer wie der Schönfelder und bestückt mit Verwaltungsgesetzen. Insgesamt sind das knapp fünf Kilo Gesetze - und da sind noch nicht einmal alle drin, die es in Deutschland gibt. Es gibt noch den Aichberger mit Gesetzen zum Sozialrecht und den Nipperdey zum Arbeitsrecht und auch eine Sammlung der Steuergesetze von Georg Müller, aber kein Buch ist so bedeutsam wie der Schönfelder.
Ich bin mir nicht ganz sicher, was Dr. Heinrich Schönfelder eines Tages dazu veranlasst hat, die wichtigsten deutschen Gesetze zwischen zwei Buchdeckel zu pressen. Womöglich war er ein Fan des Alten Testaments und insbesondere von Moses, womöglich dachte sich Schönfelder: Steintafeln sind nicht mehr en vogue, aber ich könnte etwas herstellen, das genauso schwer ist. Wenn Kollege Sartorius mitmacht, dann wird das großartig aussehen, wenn künftig ein Anwalt in seiner Robe daherkommt und unsere beiden Bücher präsentiert, als wären sie Gottes Gesetze.
Das erste Mal habe ich das Buch während meiner Studienzeit an der Universität Regensburg gesehen. Ich dachte immer, das Herumtragen dieses dicken roten Buches wäre das Aufnahmeritual einer Studentenverbindung: Wer seinen Schönfelder vergisst, muss auf der nächsten Wohnheimparty einen Schnaps trinken. Doch es war anders: Der Schönfelder war die Bibel der Jurastudenten, das heilige Buch, das Nekronomikon des Rechts. Die Studenten zitierten daraus, als wäre darin der Code für ein glückliches Leben enthalten oder zumindest die Blaupause für erfolgreiche Gerichtsverhandlungen. Auch in Gerichtsshows steht der Schönfelder immer auf dem Pult.
Ich habe die aktuelle Ausgabe von vorne bis hinten durchgelesen.
Ich möchte an dieser Stelle einen kurzen Warnhinweis geben: Wer jemals vorhat, sich als Nichtjurist durch den Schönfelder von Buchbrust zu Buchrücken durchzuarbeiten, dem rate ich dringend, sich einem Psychiater anzuvertrauen oder zumindest einem Taxifahrer, der Psychologie oder Jura studiert hat. Ich habe in meinem Leben langweilige Bücher gelesen wie etwa Schoßgebete von Charlotte Roche, schwierige wie Krieg und Frieden von Leo Tolstoi - und aufgrund des Vornamens meines Sohnes habe ich mich sogar an wahnsinnige Bücher wie Finnegans Wake von James Joyce gewagt und bis Seite 20 durchgehalten.
Doch der Schönfelder ist die Vereinigung aller drei Kategorien in einem Buch - und es ist mir bis heute nicht klar, warum in Guantanamo komplizierte Folterwerkzeuge eingesetzt werden. Die amerikanischen Soldaten müssen die Gefangenen nur zwingen, die deutschen Gesetze auswendig zu lernen. Nach zwei Tagen wäre jeder Terrorist ein gebrochener Mensch.
Der Schönfelder überragt nicht nur mit seiner Wucht, sondern auch mit seinem Inhalt. Wer von der Quantität nicht überrollt wird, der wird von der Qualität der Texte geplättet. Es ist, als hätte ein erlesenes Team aus Schriftstellern möglichst komplizierte Sätze formuliert. Dann haben Franz Kafka und Thomas Mann eine Vorauswahl getroffen, Roger Willemsen ist als Lektor tätig gewesen und Heinrich hat dafür gesorgt, dass auch ganz sicher kein Mensch mehr einen Satz versteht.
Zusammengesetzt wurden die Sätze dann vom Regisseur des Films Der englische Patient, der sich darum kümmerte, auch wirklich nichts Spannendes oder Interessantes übrig bleiben würde.
Schon beim Lesen der Schnellübersicht habe ich das Gefühl, dass dieses Buch einen Teil meiner Seele einfach in sich aufsaugt, mindestens aber die rechte Hälfte meines Gehirns einfach grillt. Da stehen Begriffe wie »Partnerschaftsgesellschaftsgesetz « und »Untersuchungshaftvollzugsordnung« und »Aufwendungsausgleichsgesetz«, aber auch Abkürzungen wie »REITG«, »CISG« und »RiStBV«.
Es gibt das »AtHaftProtParis2004G«, und es geht darin um nichts weniger als das »Gesetz zu den Protokollen vom 12. Februar 2004 zur Änderung des Übereinkommens vom 29. Juli 1960 über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie in der Fassung des Zusatzprotokolls vom 28. Januar 1964 und des Protokolls vom 16. November 1982 und zur Änderung des Zusatzübereinkommens vom 31. Januar 1963 zum Pariser Übereinkommen vom 29. Juli 1960 über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie in der Fassung des Zusatzprotokolls vom 28. Januar 1964 und des Protokolls vom 16. November 1982«. Alles klar?
Es gibt auch die »JArbSchSittV«, eine »Verordnung über das Verbot der Beschäftigung von Personen unter 18 Jahren mit sittlich gefährdenden Tätigkeiten«, die »ZAGMonAwV«, eine »Verordnung zur Einreichung von Monatsausweisen nach dem Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz« - und natürlich die »GASV«, die »Verordnung zur Bestimmung von weiteren grundlegenden Anforderungen an Geräte sowie zur Bestimmung von Äquivalenzen nationaler Schnittstellen und Geräteklassenkennungen auf dem Gebiet der Funkanlagen und Telekommunikationsendeinrichtungen«.
Ich habe mir das wirklich nicht ausgedacht.
Es gibt auch ein Gesetz, wann sich ein Ort »Luftkurort « nennen darf - also quasi gesetzlich vorgeschrieben ist, dass die Luft dort besser zu sein hat als an anderen Orten. In Bayern ist das der Paragraf 9 in der »Verordnung über die Anerkennung als Kur- oder Erholungsort und über die Errichtung des Bayerischen Fachausschusses für Kurorte, Erholungsorte und Heilbrunnen«.
Was passiert mit einem Menschen, der den Schönfelder liest?
Ich habe mich zurückgezogen auf die Burg Feuerstein in Franken. An diesem Abend ist die Burg leer, es gibt nur den Schönfelder und mich. Ich beginne um 17 Uhr und lese die ersten 500 Paragrafen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Dafür brauche ich gut zwei Stunden - nur um am Ende zu bemerken, dass ich alles vergessen habe, was an diesem Tag zuvor passiert ist. Ich habe über Personen und Tiere gelesen, über Rechtsgeschäfte, Schuldverhältnisse und deren Erlöschung, über Tausch und Teilzeit-Wohnrechteverträge - und habe festgestellt, dass mein Gehirn für jedes neue Gesetz eine schöne Erinnerung aus meinem Leben gelöscht hat. Der Schönfelder ist das schwarze Loch der Literatur: Sorry, du unglaublich hübsche Frau aus dem ersten Semester - ich habe keine Ahnung mehr, wie du heißt und wie du ausgesehen hast. Es liegt weder an dir noch an mir. Der Schönfelder ist schuld.
Bei Paragraf 1000 des BGB, in dem es um das Zurückbehaltungsrecht des Rechtvorgängers geht, vergesse ich, wann meine Frau Geburtstag hat. Dieser Paragraf heißt »Verbindlichkeiten zu Lasten der Abkömmlinge« und hat damit zu tun, dass ich offensichtlich für die Schulden meines Vaters aufkommen muss, wenn er einmal stirbt. Bei Paragraf 1240 muss ich aufhören, zum einen ist es bereits vier Uhr morgens, zum anderen finde ich, dass der Paragraf zu Gold- und Silbersachen ein perfekter Moment für eine Pause ist: »Gold- und Silbersachen dürfen nicht unter dem Gold- und Silberwert zugeschlagen werden.« Das hilft bestimmt bei der nächsten Finanzkrise.
Am nächsten Tag mache ich weiter. Paragraf 2000 handelt von der Unwirksamkeit der Fristbestimmung, um fünf Uhr morgens bin ich beim letzten Paragrafen angelangt. Er trägt die Nummer 2385 und regelt die »Anwendung auf ähnliche Verträge«, was ich als einen doch recht misslungenen Abschluss empfinde. Ich meine, man hätte ja durchaus mit Mord aufhören oder zumindest ein Happy End mit einem neuen Gold- und Silberparagraphen wählen können. Ein Paragraf über ähnliche Verträge wirkt da ein wenig unbefriedigend.
Ich bin fertig, ich habe das Bürgerliche Gesetzbuch von vorne bis hinten durchgelesen. Ich würde nun gerne meine Frau anrufen, doch ich habe leider vergessen, wie sie heißt. Dafür weiß ich nun, dass eine Unterbringung des Kindes, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, der Genehmigung des Familiengerichts bedarf. Und ich weiß, dass die Kündigung eines Mietverhältnisses unzulässig ist, wenn der Vertrag auf Lebenszeit geschlossen wurde. Ich weiß auch das: Bei der Ausübung einer Grunddienstbarkeit hat der Berechtigte das Interesse des Eigentümers des belasteten Grundstücks tunlichst zu schonen.
Dafür habe ich meinen Hochzeitstag vergessen. Nicht das Datum - nein, für einige Stunden habe ich nicht mal eine Ahnung, was an diesem Tag vorgefallen ist. Dafür weiß ich, dass ich mich scheiden lassen dürfte, wenn ich bei der Eheschließung nicht gewusst hätte, dass es sich um eine Eheschließung gehandelt hat: »Eine Ehe kann ferner aufgehoben werden, wenn die Ehe im Zustand der Bewusstlosigkeit geschlossen wurde.«
Ich habe 480 Seiten und 2385 Paragrafen gelesen - und stelle fest, dass ich damit nicht einmal ein Zehntel des kompletten Schönfelders geschafft habe.
Man kann sich das BGB mittlerweile auch anhören, vorgelesen von Christoph-Maria Herbst. Ich habe zehn Minuten durchgehalten: Es geht weniger darum, einem Menschen die Gesetze näherzubringen, sondern darum, Junkies ruhigzustellen, bei denen harte Drogen keine Wirkung mehr zeigen.
Zur Ablenkung sehe ich mir weiter hinten die Verkehrsschilder an, die es in Deutschland gibt, dann schlafe ich ein und träume von einem Vorfahrtszeichen und diesen Sätzen: »Mit einem Vermächtnis kann der Erbe oder ein Vermächtnisnehmer beschwert werden. Soweit nicht der Erblasser ein anderes bestimmt hat, ist der Erbe beschwert.«
Wir glauben, kaum mit dem Gesetz in Berührung zu kommen. Doch Gesetze und Verordnungen berühren uns nicht nur, sie springen uns jeden Tag an. Es gibt einen Zehn- Stufen-Plan, wie die meisten von uns mit dem Gesetz umgehen:
1. »Das Gesetz bin ich!« Wir sind allwissend, wir haben alles gesehen und alles erlebt. Wir müssen weder Gesetzestexte noch Bedienungsanleitungen noch Packungsbeilagen lesen. Was wir nicht wissen, das existiert nicht.
2. »Das weiß doch jeder!« Wir wollen zwar gerne Individualisten sein, am Ende jedoch sind wir Lemminge, die dorthin rennen, wo alle hinlaufen. Wenn alle seit 40 Jahren behaupten, dass etwas so ist, wie alle es behaupten, dann kann das doch nicht falsch sein. Denken wir. Wer am Stammtisch recht bekommt, der bekommt auch vor Gericht recht. Denken wir. Der Komiker Werner Koczwara wollte in einer Fernsehshow einen Witz machen und sagte: »Die Zehn Gebote haben 179 Wörter, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung hat 300 Wörter - und die EU-Verordnung über die Einfuhr von Karamellbonbons hat 23 911 Wörter.« Der Satz wurde zitiert. Von Komikern, Journalisten, Stammtischphilosophen - bis ihn alle für wahr hielten. Selbst Juristen und Politiker.
3. »Das ist mein gutes Recht!« Irgendwann merken wir, dass das, was wir für wahr gehalten haben, vielleicht doch falsch sein könnte. In Koczwaras Fall: Die Zehn Gebote haben nicht 179 Wörter, sondern nur 63, dafür hat die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 1322 Wörter. Und die Verordnung über die Einfuhr von Karamellbonbons? Die gibt es gar nicht. Nun beginnen wir, Gesetze zu lesen - aber nur die, die uns versichern, dass wir im Recht sind. Das wäre ja noch schöner, wenn da einer daherkäme und etwas für falsch erklärt, was wir für richtig halten.
4. »Wir sehen uns vor Gericht!« Es gibt einen schönen Witz über Briten, der geht so: »Was macht ein Brite, wenn er eine Schlange sieht? Er stellt sich hinten an.« Man könnte diesen Witz umschreiben in: »Was macht der Deutsche, wenn er ein Gericht sieht? Er prozessiert.« Es gibt etwa den Fall eines Gabelstaplerfahrers, der betrunken zur Arbeit erschienen war, obwohl in seinem Arbeitsvertrag deutlich stand, dass er nüchtern sein muss, wenn er arbeitet. Der Vorarbeiter schickte ihn nach Hause, der Betrieb sendete eine Kündigung. Fall erledigt? Nein, natürlich nicht. Der Gabelstaplerfahrer klagte, dass er mitnichten betrunken gearbeitet habe, schließlich sei er ja daran gehindert worden - und in seinem Vertrag steht, dass er nur entlassen werden kann, wenn er betrunken arbeitet. Welcher kranke Geist kommt auf die Idee, tatsächlich gegen diese Entlassung zu klagen? Ein kluger kranker Geist, denn der Staplerfahrer bekam vor dem Landgericht Frankfurt tatsächlich Recht und musste wieder eingestellt werden.
5. »Das kann doch gar nicht sein!« Wir verlieren vor Gericht - doch jetzt fängt der Spaß erst an. Denn natürlich haben wir immer noch recht, der Richter hat lediglich einen Fehler gemacht und sich geirrt. Denn: Bei Gericht bekommt man keine Gerechtigkeit, sondern ein Urteil.
6. »Ich wusste es!« Jetzt beginnt die rechtliche Generalmobilmachung. Nun werden Gesetze durchgeackert, Internetseiten durchforstet, Zeitungsartikel durchwühlt, Experten befragt, Gerichtsshows analysiert, Fachbücher gekauft. Und natürlich kommt nun eine wichtige Figur ins Spiel, die lange Zeit herumstand wie der Turm beim Schachspiel, nun aber plötzlich in das Geschehen eingreifen darf: der Anwalt, der Hoffnung spendende Übersetzer von Gesetzestexten und Fachliteratur, der treue Begleiter des zu Unrecht Verurteilten, der gegen ein geringes Entgelt alles behauptet, was der Mandat behauptet haben möchte.
7. »Das wird hohe Wellen schlagen!« Nun kämpfen wir nicht mehr für uns, sondern für alle Unterdrückten. Der Prozess muss nun einer sein, bei dem ein Ruck durch Deutschland geht und wegen dem die Verfassung geändert werden muss. Wir kämpfen nun nicht mehr für uns, sondern gegen alle anderen.
8. »Waaaaaas?« Nun kommt der Richter, von dem wir uns im Gegensatz zum ersten Prozess ein faires Urteil erwarten. Aber: Da kämpft ein Jurist gegen einen Juristen - und der Kampf wird von einem Juristen entschieden. Gesetzestexte sind schwieriger zu übersetzen als die Bücher von Laotse, die Interpretation lässt so viele Varianten zu wie die Weisheiten des Konfuzius.
9. »Armes Deutschland!« Nun haben wir verloren - und müssen einsehen, dass unser ehrenwerter Kampf vergeblich war und dass die Ungerechtigkeit wieder einmal gesiegt hat. Immerhin: Es gibt nun Stoff für mindestens zehn Geschichten, bei denen die Kollegen am Stammtisch oder beim Kaffeekränzchen verständnisvoll nicken. Wir leben schon in einem schlimmen Land.
10. »Goodbye Deutschland!« Der letzte Ausweg des Geknechteten: Er hält es nicht mehr aus in diesem Land, in dem es nur ungerecht zugeht. Damit beginnt er den Zyklus des Trash-TV-Nachmittags, der später in diesem Buch noch eine Rolle spielen wird. Wir gehen irgendwohin, wo die Menschen anders sind. Gerechter. Zuverlässiger.
Ich habe während des Projekts insgesamt 327 Stunden damit verbracht, Gesetzestexte zu lesen. 327 Stunden meines Lebens, die ich niemals wiederbekommen und für die ich von Gott einen gewaltigen Anschiss bekommen werde, weil ich mein Leben so verplempert habe. Ich habe in diesen Stunden nicht nur Nerven und Gehirnzellen eingebüßt, sondern vor allem auch Menschenverstand und die Fähigkeit zu logischem Denken.
Sollten Sie nun denken, ich würde übertreiben, dann möchte ich Ihnen noch ans Herz legen, wie das Reichsgericht am 17. März 1879 die Eisenbahn definiert hat:
»Ein Unternehmen, gerichtet auf wiederholte Fortbewegung von Personen oder Sachen über nicht ganz unbedeutende Raumstrecken auf metallener Grundlage, welche durch ihre Konsistenz, Konstruktion und Glätte den Transport großer Gewichtsmassen, beziehungsweise die Erzielung einer verhältnismäßig bedeutenden Schnelligkeit der Transportbewegung zu ermöglichen bestimmt ist, und durch diese Eigenart in Verbindung mit den außerdem zur Erzeugung der Transportbewegung benutzten Naturkräften (Dampf, Elektrizität, tierischer oder menschlicher Muskeltätigkeit, bei geeigneter Ebene der Bahn auch schon der eigenen Schwere der Transportgefäße und deren Ladung etc.) bei dem Betriebe des Unternehmens auf derselben eine verhältnismäßig gewaltige (je nach den Umständen nur in bezweckter Weise nützliche, oder auch Menschenleben vernichtende oder die menschliche Gesundheit gefährdende) Wirkung zu erzeugen fähig ist.«
Freilich geht es auch einfacher - im Deutschen Lebens- mittelbuch steht:
»Blut ist die beim Schlachten aus den Blutgefäßen gewonnene, zellige Bestandteile enthaltende Flüssigkeit.«
Und das Finanzgericht Düsseldorf hat entschieden:
»Ein Verschollener hat seinen Wohnsitz bei der Ehefrau.«
Es ist ein Dschungel - aber immerhin bekommt man einen wegweisenden Satz mit auf die Reise. Er steht im Handbuch der Rechtsförmlichkeit und lautet:
»Es gehört zur Verantwortung des Gesetzgebers, verlässliches, übersichtliches und verständliches Recht zu schaffen. «
Kapitel 3
Atmen ist noch erlaubt
Die Toten Hosen haben im Jahr 1988 das Lied »1000 gute Gründe« veröffentlicht. Die Toten Hosen haben in ihrer Karriere eine ganze Menge tolle Lieder veröffentlicht - wahrscheinlich hat jeder Mensch in Deutschland zwischen 20 und 45 Jahren ein Lied dieser Band, das ihn besonders berührt. Kein Liebeskummer ohne »Alles aus Liebe«, keine Party ohne »Zehn kleine Jägermeister«, und seit 2012 wohl auch nie mehr ein Oktoberfest ohne »Tage wie diese«. Bei mir sind es, seit ich dieses Projekt angefangen habe, die »1000 guten Gründe« - und das vor allem wegen dieser Textzeile:
»Hohe Berge, weite Täler, / klare Flüsse, blaue Seen, / dazu ein paar Naturschutzgebiete, / alles wunderschön. / Wir lieben unser Land! / Totale Pflichterfüllung, / Ordnung und Sauberkeit, / alles läuft hier nach Fahrplan, / der Zufall ist unser Feind. / Wir lieben unser Land! / Unser Fernsehprogramm, / unsere Autobahn. / Wir lieben unser Land! / Es gibt 1000 gute Gründe, / auf dieses Land stolz zu sein.«
Ein wenig später heißt es: »Keiner scheint hier zu merken, / dass man kaum noch atmen kann.«
Ich habe es sicherheitshalber gerade noch einmal getestet. Erst daheim, dann auf der Straße, in der U-Bahn, dann vor einem Polizisten: Atmen ist noch erlaubt.
Bei allem anderen kann man sich nicht mehr sicher sein. Was nicht ausdrücklich erlaubt ist, das ist verboten.
Ich war kürzlich mit meinem Sohn auf einem Spielplatz in der Nähe des Münchner Ostparks. Das ist ein Ort, an dem sich Kinder wohlfühlen sollen. Wo sie Spaß haben sollen. Ich habe mich kurz umgesehen. Auf diesem Spielplatz hängen acht Schilder. Darauf steht nicht: »Es macht besonders Laune, wenn man Wasser in die Röhren spritzt!« Darauf steht auch nicht: »Rutscht, so schnell ihr könnt!« Und auch nicht: »Habt einfach Spaß!« Auf diesen acht Schildern sind insgesamt 42 Verbote vermerkt - wie man nicht rutschen soll, wie man das Karussell nicht benutzen darf, wie man das Klettergerüst nicht besteigen darf.
Immerhin: Atmen ist noch erlaubt.
Und doch ist interessant, was auf so einem Spielplatz passiert. Da tollen Kinder umher und sind eigentlich nur damit beschäftigt, sich gegenseitig zu Höchstleistungen anzustacheln. Wer kann besser klettern? Wer kann schneller rutschen? Wer baut die beste Sandburg? Daneben sitzen Eltern, die versuchen, genau das zu verhindern, wobei sich die Eltern in drei Kategorien unterteilen lassen: die Mitmacher, die Apathischen und die Weltuntergänger.
Die Mitmacher nutzen die Zeit auf dem Spielplatz dazu, selbst wieder Kind zu sein, jedoch mit dem Verantwortungsbewusstsein eines Erwachsenen. Sie rutschen, sie klettern, sie bauen - aber sie erklären ihrem Kind andauernd, dass es beim Rutschen die Beine zusammen-, beim Klettern auseinander- und beim Bauen angewinkelt halten sollte. Lustig dabei: Die Mitmacher verstoßen damit gegen das Gesetz, weil die Nutzung von Spielplätzen nur bis zu einem Alter von 14 Jahren erlaubt ist. Steht auf einem der Schilder.
Die Apathischen findet man am Rand des Spielplatzes, sie sitzen ihre Zeit ab und warten darauf, dass das Kind endlich fertig ist mit Spaß haben. Sie haben entweder ein Buch in der Hand oder ein Handy, sie unterhalten sich mit anderen Eltern oder starren in den Himmel. Manchmal schlafen sie auch.
Die Weltuntergänger vermuten hinter jedem Spielzeug ein Werk des Teufels. Die Rutsche ist zu steil, die Schaufel voller Keime, und das Karussell wurde nur deshalb erfunden, um der Zentrifugalkraft dabei zu helfen, kleine Kinder ins Jenseits zu befördern. Ein Stein ist ebenso eine Mordwaffe wie ein Spielzeugbagger, und die anderen Kinder sind sowieso Diebe, Gangster und Totschläger. Die Kinder der Weltuntergänger heißen Linus, Malte oder Cajus. Die Eltern finden es prima, dass es so viele Verbote gibt - und sie erinnern ihre eigenen und auch die anderen Kinder stets daran: »Linus, bitte, nimm nicht die Schaufel von diesem Kind, die ist so schmutzig. Und rutsch nicht mit dem Kopf nach vorne, das ist gefährlich. Cajus, Sand im Mund ist giftig.«
Die Weltuntergänger sind die Zivilpolizisten des Spielplatzes.
Auch an anderen Orten kann man nicht so einfach machen, was man will. Ich habe es mal probiert. Zu meinem 33. Geburtstag wollte ich im Ostpark grillen.
Es gibt jedoch »Regeln für das Grillen im Ostpark« und sogar ein »Grilltelefon«, bei dem der Bürger erfährt, wo überall das Grillen verboten ist. Zusammengefasst steht in den Regeln: keine organisierten Feiern, kein Funkenflug, kein Lärm, keine eigenen Grills, keine freie Platzwahl. Am Ende steht da: »Verstöße gegen die Regelungen der Grünanlagensatzung werden mit Geldbußen geahndet. Die Einhaltungen der Schutzbestimmungen werden von der Anlagenaufsicht, einem beauftragten Sicherheitsdienst und der Polizei überwacht.«
Ich habe meinen Geburtstag dann auf unserem Balkon gefeiert.
Deutschland ist ein Verbotsland. Verbieten und Bestrafen gehören zum Katechismus des Zusammenlebens.
Das liegt nicht zuletzt am nicht zu unterschätzenden Einfluss, den die beiden christlichen Kirchen immer noch auf die deutsche Gesellschaft haben. Die Menschen gehen zwar kaum noch in die Kirche, doch das Prinzip von Schuld, Sühne und Bestrafung ist nach wie vor präsent. Das habe ich schon bei meinem Projekt, verschiedene Religionen zu testen, mehr als deutlich bemerkt. Schuld ist die Unique Selling Proposition des katholischen Glaubens. Der Priester sagt zu Beginn eines Gottesdienstes: »Wir müssen Buße tun und umkehren.« Er sagt nicht: »Wir sind auf dem richtigen Weg, lasst uns einfach weitergehen.« Er sagt auch nicht: »Schön, dass Sie heute hier sind.« Er sagt lieber: »Ach herrje, die Kirchen werden immer leerer - die laden alle Schuld auf sich. Ihr seid alle Sünder.«
Kein Pfarrer versprach mir jemals: »Wenn Sie das so und so machen, dann kommen Sie in den Himmel.« Sie drohten lieber: »Wenn du das machst, dann kommst du in die Hölle.«
Das Christentum ist eine Verbotsreligion. Es darf nicht hinterfragt werden, ob ein Verbot Sinn macht oder nicht - es ist einfach so. Und das Totschlagargument ist natürlich, dass der Sünder nicht nur im Diesseits bestraft wird, sondern dass auf ihn bei genügend Verstößen die ewige Verdammnis wartet. Wer braucht schon Argumente, wenn er seine Verbote mit der Androhung von Höllenfeuer untermauern kann? Wenn Argumente fehlen, kommt meist ein Verbot heraus.
Man muss sich nur einmal umsehen. Mehr als 20 Millionen Verkehrsschilder gibt es in Deutschland, die den Menschen im Straßenverkehr befehlen: Fahr bloß nicht zu schnell! Bieg nur ja nicht nach links ab! Lass dein Auto nicht hier stehen! In der deutschen Straßenverkehrsordnung sind neben 53 Paragrafen auch 684 verschiedene Verbots- und Hinweisschilder vermerkt. Schild Nummer 17 ist ein Pferd mit Reiter auf einem blauen Kreis, Nummer 9 ist rotes Dreieck, in dem ein Fähnchen zu sehen ist. Es gibt auch eines, auf dem ein Auto in einen Fluss fällt.
Die ersten Verkehrsschilder in Deutschland gab es im Jahr 1910. Auf einer internationalen Konferenz ein Jahr zuvor in Paris wurde angeregt, gefährliche Passagen durch so genannte Warnungstafeln zu kennzeichnen. Es waren runde Zeichen mit blauem Hintergrund und weißer Farbe - und ein genialer Mensch kam gar auf die Idee, diese Schilder mit Werbung zu versehen.
Erst 1927 wurden die Warnungstafeln durch Verkehrszeichen ersetzt, wie wir sie heute an jeder Straße sehen müssen. Einige davon in der gleichen Ausführung wie 1927.
Durchschnittlich steht auf deutschen Straßen alle 28 Meter ein Verkehrsschild - wer also von Hamburg nach Berlin fährt, der erblickt 10 357 Schilder. Von Köln nach Erfurt: 13 142 Schilder. Von Bremen nach München: 26 750 Schilder. Bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 100 Stundenkilometern muss das Gehirn pro Sekunde ein Schild verarbeiten - wobei dafür ein berühmtes Gedächtnisexperiment helfen kann: Man lässt sich pro Sekunde eine Zahl vorsagen und versucht, sie alle zu addieren. Nach 15 Sekunden fragt der Aufsager: »Was war die dritte Zahl, die ich gesagt habe?« Nur etwa zehn Prozent der Menschen können sich daran erinnern. Bei Verkehrsschildern ist das noch schlimmer: Wer mit der Richtgeschwindigkeit von 130 Stundenkilometern fährt, sieht durchschnittlich alle 0,77 Sekunden ein Schild. Probieren Sie mal aus, wie viele Schilder sie tatsächlich wahrnehmen und an welchen Sie einfach vorbeifahren.
© 2013 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Ich habe Adam begleitet und hatte dabei stets Kontakt zu zwei Polizisten, einem Finanzbeamten, einem Beamten auf der Bußgeldstelle, zwei Rechtsanwälten, einem Richter und einem Steuerberater. Es war ein Live-Ticker des Rechts, wir hatten stets sämtliche Informationen zum Vergehen, zum möglichen Verfahren und zur zu erwartenden Strafe im Falle eines Vergleichs, einer Abmahnung oder einer Gerichtsverhandlung. Dann habe ich gerechnet.
Aufgedröselt sieht das so aus:
Urheberrechtsverletzungen auf seiner Facebook-Seite: 12 000 Euro.
Andere Urheberrechtsverletzungen: 101 795,92 Euro.
Diebstahl: 100 Euro.
Steuerhinterziehung: 11 200 Euro.
Versicherungsbetrug: 1490 Euro.
Schmuggel: 750 Euro.
Beleidigungen und üble Nachrede: 128 000 Euro.
Delikte im Straßenverkehr: 37 500 Euro - wobei in diesem Fall anzumerken wäre, dass er seinen Führerschein für etwa sieben Jahre abgeben müsste, weshalb in den kommenden Jahren in diesem Bereich keine Strafen zu erwarten wären.
Andere Bußgelder für Ordnungswidrigkeiten wie Zigaretten auf die Straße werfen oder ohne Helm radfahren oder einen Hund ohne Leine im Englischen Garten spazieren führen: 29 000 Euro.
Macht insgesamt 321 835,92 Euro.
Natürlich wird kein Mensch in Deutschland 24 Stunden pro Tag kontrolliert und niemand für all seine Vergehen sofort angeklagt und bestraft. Adam hält sich für einen Menschen, der noch nie in seinem Leben das Gesetz gebrochen hat. Mittlerweile hat er jedoch akzeptiert, dass diese Summe vollkommen in Ordnung ist. Und er behauptet, dass andere noch viel mehr bezahlen müssten.
Adam hat diese Taten begangen - und nur weil sie niemand kontrolliert hat, werden sie nicht ungeschehen. Und er hat in nicht wenigen Fällen anderen damit geschadet. Irgendjemand muss den Schaden bezahlen - über höhere Steuern, höhere Versicherungsbeiträge oder steigende Kosten für die Reinigung der Straße.
Den wahren Charakter eines Menschen erkennt man in jenen Momenten, in denen er sich unbeobachtet fühlt.
321 835,92 Euro.
Das ist eine unfassbare Summe - aber sie stimmt. Anwälte, Polizisten, Richter und Beamte haben sie bestätigt. Adam, der Vorzeigebürger, begeht offensichtlich pro Jahr mehr Verbrechen und Ordnungswidrigkeiten, als er sich leisten kann. Wir alle begehen mehr Verbrechen und Ordnungswidrigkeiten, als wir uns leisten können.
Aber kaum jemand von uns wird zugeben, ein Verbrecher zu sein. Warum ist die Summe dann nicht 0 Euro?
Kann man ein Jahr lang überstehen, ohne auch nur ein Gesetz zu brechen oder eine Ordnungswidrigkeit zu begehen? Ist das möglich?
Ich will es versuchen. Ich möchte ein Jahr lang so tun, als stünde ständig ein Polizist neben mir und würde mich kontrollieren.
Ich möchte, dass die Summe, die letztlich in meinem Sündenregister vermerkt wird, bei 0 Euro liegt. Noch glaube ich, dass es möglich ist.
Ich will mich ein Jahr lang an alle Gesetze und Verordnungen halten, die es in Deutschland gibt. Das Gesetz bin ich!
Der Plan scheint perfekt: Ich muss einfach nur ein Jahr lang das tun, was ohnehin von mir verlangt wird. Wahrscheinlich denken jetzt alle: »An Gesetze halten? Kein Problem! Das tu ich doch sowieso!« Keine Sorge, das denke ich auch. Noch.
Ich will mich mit ein paar Polizisten unterhalten, mit Anwälten und Richtern. Vielleicht jedes fünfte der Beamtendeutsch- Wörter in meinem Block notieren und daraus ein Lexikon »Anwalt - Deutsch, Deutsch - Anwalt« machen. Vielleicht noch ein paar verrückte Gesetze finden, über die der Witze reißen kann, der sich für einen ganz tollen Nachwuchskabarettisten hält. Am Ende vielleicht noch voller Betroffenheit ein ernstes Kapitel mit dem Zusatz hinzufügen, dass es zu viele Gesetze in Deutschland gibt, sowie noch ein paar lustige Wörter zur Bürokratie und Gesetzestreue der Deutschen.
Leicht verdientes Geld.
Leider ist der Plan nicht perfekt.
Noch ahne ich nicht, dass dieses Vorhaben, ein Jahr lang nach allen deutschen Gesetzen zu leben, verdammt schwierig ist. Dass es unmöglich ist.
Wer sich ein Jahr an alle Gesetze hält, der sieht, wie es wirklich zugeht in Deutschland - und stellt fest, dass er viele Dinge lieber nicht gesehen hätte.
Kapitel 2
Im Paragrafendschungel
Robinson Crusoe hatte deutsche Gene in sich. Er wurde zwar in York geboren und war damit englischer Staatsbürger, doch sein Vater war ein deutscher Kaufmann aus Bremen, der nach England ausgewandert war. Die Geschichte von Daniel Defoe über den Seefahrer und Abenteurer ist deshalb natürlich Quatsch. Sie muss so gehen:
Crusoe vermisst erst einmal die Insel, zäunt sie ein und sucht die Inselverwaltung, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen. Nach zwei Stunden Suche beschwert er sich, dass es keine Behörde gibt, und notiert in seinem Logbuch, dass er den Reiseveranstalter sofort auf Rückerstattung der Hälfte des Preises verklagen werde. Die fehlenden sanitären Einrichtungen, da ist er sich sicher, könnten nochmals zehn Prozent wert sein. Und natürlich fehlt der Balkon. Ach was, das ganze Hotel fehlt!
Dann lernt er Freitag kennen - und verlangt, dass der bitte schön nur genormte Kokosnüsse bringen möge und um 22 Uhr sein Feuer am Strand ausmachen soll, um die abendliche Ruhe nicht zu stören. Natürlich arbeitet er für sich und Freitag einen exakten Plan aus, wer wann mit welchem Gerät Fische zu fangen hat - und führt sogleich Disziplinarstrafen für den Fall ein, dass Fischfangquoten nicht erreicht werden. Gleich am ersten Tag muss Freitag vier genormte Kiwis abliefern, weil er den spitzen Speer für die Jagd verwendet hat und außerdem dort gefangen hat, wo Robinson das Schild »Jagen verboten« errichtet hat.
Robinson gründet einen Verein für Krebszucht und fordert von Freitag, ebenfalls einen zu gründen. Die Vereine schließt Robinson zusammen zu einem Verband mit strikten Regeln und einem Spielplan, der festlegt, wann die Krebse zum Wettlauf miteinander anzutreten haben und an welchem Strand die nächste Weltmeisterschaft stattfindet. Dann beschwert er sich über den Wildwuchs der Bäume; den Bau einer Hütte verhindert er, weil sie nicht den baulichen Vorschriften entspricht, die Brandschutzverordnungen verletzt und sowieso nicht ins Inselbild passt.
Dann noch kurz Etiketten mit Ampelkennzeichnung auf die Bananen gepappt, ein Rauchverbot am Strand und eine Kleidergrößennorm eingeführt - und es ist fast perfekt. Dann nämlich sitzt Robinson abends vor seiner Hütte und beschwert sich darüber, welche Unzahl von Gesetzen es auf der Insel gebe und dass das alles entbürokratisiert gehöre.
Deutschland ist das Land der Gesetze und Normen - das stelle ich fest, als ich meine erste Gesetzessammlung aufschlage. Ich habe bereits 50 Bücher zum Thema Gesetze gelesen und festgestellt, dass Jura so trocken ist, als würde man Salzstangen mit Sandkuchen und Vollkornbrot essen und das Ganze mit einem Löffel Zimt hinunterspülen. Dennoch bin ich auf dieses Projekt in etwa so vorbereitet wie ein Bundesliga-Manager-Spieler auf einen Job als Sportdirektor beim FC Bayern oder ein Call-of-Duty-Zocker auf eine Schlacht in Afghanistan.
Aber es gibt ja den Schönfelder.
Zu behaupten, dass es sich beim Schönfelder um ein dickes Buch handelt, das ist ungefähr so, als würde man behaupten, dass der Mount Everest ein ziemlich hoher Hügel sei. Die Sammlung der wichtigsten deutschen Gesetze und Verordnungen ist neun Zentimeter dick und 2,385 Kilogramm schwer, die Seiten sind so dünn, dass man hindurchsehen kann. Es ist ein riesiger Wälzer, durchaus geeignet für Muskelübungen. Ich habe mir als Gegengewicht den Sartorius besorgt, ebenso dick und fast so schwer wie der Schönfelder und bestückt mit Verwaltungsgesetzen. Insgesamt sind das knapp fünf Kilo Gesetze - und da sind noch nicht einmal alle drin, die es in Deutschland gibt. Es gibt noch den Aichberger mit Gesetzen zum Sozialrecht und den Nipperdey zum Arbeitsrecht und auch eine Sammlung der Steuergesetze von Georg Müller, aber kein Buch ist so bedeutsam wie der Schönfelder.
Ich bin mir nicht ganz sicher, was Dr. Heinrich Schönfelder eines Tages dazu veranlasst hat, die wichtigsten deutschen Gesetze zwischen zwei Buchdeckel zu pressen. Womöglich war er ein Fan des Alten Testaments und insbesondere von Moses, womöglich dachte sich Schönfelder: Steintafeln sind nicht mehr en vogue, aber ich könnte etwas herstellen, das genauso schwer ist. Wenn Kollege Sartorius mitmacht, dann wird das großartig aussehen, wenn künftig ein Anwalt in seiner Robe daherkommt und unsere beiden Bücher präsentiert, als wären sie Gottes Gesetze.
Das erste Mal habe ich das Buch während meiner Studienzeit an der Universität Regensburg gesehen. Ich dachte immer, das Herumtragen dieses dicken roten Buches wäre das Aufnahmeritual einer Studentenverbindung: Wer seinen Schönfelder vergisst, muss auf der nächsten Wohnheimparty einen Schnaps trinken. Doch es war anders: Der Schönfelder war die Bibel der Jurastudenten, das heilige Buch, das Nekronomikon des Rechts. Die Studenten zitierten daraus, als wäre darin der Code für ein glückliches Leben enthalten oder zumindest die Blaupause für erfolgreiche Gerichtsverhandlungen. Auch in Gerichtsshows steht der Schönfelder immer auf dem Pult.
Ich habe die aktuelle Ausgabe von vorne bis hinten durchgelesen.
Ich möchte an dieser Stelle einen kurzen Warnhinweis geben: Wer jemals vorhat, sich als Nichtjurist durch den Schönfelder von Buchbrust zu Buchrücken durchzuarbeiten, dem rate ich dringend, sich einem Psychiater anzuvertrauen oder zumindest einem Taxifahrer, der Psychologie oder Jura studiert hat. Ich habe in meinem Leben langweilige Bücher gelesen wie etwa Schoßgebete von Charlotte Roche, schwierige wie Krieg und Frieden von Leo Tolstoi - und aufgrund des Vornamens meines Sohnes habe ich mich sogar an wahnsinnige Bücher wie Finnegans Wake von James Joyce gewagt und bis Seite 20 durchgehalten.
Doch der Schönfelder ist die Vereinigung aller drei Kategorien in einem Buch - und es ist mir bis heute nicht klar, warum in Guantanamo komplizierte Folterwerkzeuge eingesetzt werden. Die amerikanischen Soldaten müssen die Gefangenen nur zwingen, die deutschen Gesetze auswendig zu lernen. Nach zwei Tagen wäre jeder Terrorist ein gebrochener Mensch.
Der Schönfelder überragt nicht nur mit seiner Wucht, sondern auch mit seinem Inhalt. Wer von der Quantität nicht überrollt wird, der wird von der Qualität der Texte geplättet. Es ist, als hätte ein erlesenes Team aus Schriftstellern möglichst komplizierte Sätze formuliert. Dann haben Franz Kafka und Thomas Mann eine Vorauswahl getroffen, Roger Willemsen ist als Lektor tätig gewesen und Heinrich hat dafür gesorgt, dass auch ganz sicher kein Mensch mehr einen Satz versteht.
Zusammengesetzt wurden die Sätze dann vom Regisseur des Films Der englische Patient, der sich darum kümmerte, auch wirklich nichts Spannendes oder Interessantes übrig bleiben würde.
Schon beim Lesen der Schnellübersicht habe ich das Gefühl, dass dieses Buch einen Teil meiner Seele einfach in sich aufsaugt, mindestens aber die rechte Hälfte meines Gehirns einfach grillt. Da stehen Begriffe wie »Partnerschaftsgesellschaftsgesetz « und »Untersuchungshaftvollzugsordnung« und »Aufwendungsausgleichsgesetz«, aber auch Abkürzungen wie »REITG«, »CISG« und »RiStBV«.
Es gibt das »AtHaftProtParis2004G«, und es geht darin um nichts weniger als das »Gesetz zu den Protokollen vom 12. Februar 2004 zur Änderung des Übereinkommens vom 29. Juli 1960 über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie in der Fassung des Zusatzprotokolls vom 28. Januar 1964 und des Protokolls vom 16. November 1982 und zur Änderung des Zusatzübereinkommens vom 31. Januar 1963 zum Pariser Übereinkommen vom 29. Juli 1960 über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie in der Fassung des Zusatzprotokolls vom 28. Januar 1964 und des Protokolls vom 16. November 1982«. Alles klar?
Es gibt auch die »JArbSchSittV«, eine »Verordnung über das Verbot der Beschäftigung von Personen unter 18 Jahren mit sittlich gefährdenden Tätigkeiten«, die »ZAGMonAwV«, eine »Verordnung zur Einreichung von Monatsausweisen nach dem Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz« - und natürlich die »GASV«, die »Verordnung zur Bestimmung von weiteren grundlegenden Anforderungen an Geräte sowie zur Bestimmung von Äquivalenzen nationaler Schnittstellen und Geräteklassenkennungen auf dem Gebiet der Funkanlagen und Telekommunikationsendeinrichtungen«.
Ich habe mir das wirklich nicht ausgedacht.
Es gibt auch ein Gesetz, wann sich ein Ort »Luftkurort « nennen darf - also quasi gesetzlich vorgeschrieben ist, dass die Luft dort besser zu sein hat als an anderen Orten. In Bayern ist das der Paragraf 9 in der »Verordnung über die Anerkennung als Kur- oder Erholungsort und über die Errichtung des Bayerischen Fachausschusses für Kurorte, Erholungsorte und Heilbrunnen«.
Was passiert mit einem Menschen, der den Schönfelder liest?
Ich habe mich zurückgezogen auf die Burg Feuerstein in Franken. An diesem Abend ist die Burg leer, es gibt nur den Schönfelder und mich. Ich beginne um 17 Uhr und lese die ersten 500 Paragrafen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Dafür brauche ich gut zwei Stunden - nur um am Ende zu bemerken, dass ich alles vergessen habe, was an diesem Tag zuvor passiert ist. Ich habe über Personen und Tiere gelesen, über Rechtsgeschäfte, Schuldverhältnisse und deren Erlöschung, über Tausch und Teilzeit-Wohnrechteverträge - und habe festgestellt, dass mein Gehirn für jedes neue Gesetz eine schöne Erinnerung aus meinem Leben gelöscht hat. Der Schönfelder ist das schwarze Loch der Literatur: Sorry, du unglaublich hübsche Frau aus dem ersten Semester - ich habe keine Ahnung mehr, wie du heißt und wie du ausgesehen hast. Es liegt weder an dir noch an mir. Der Schönfelder ist schuld.
Bei Paragraf 1000 des BGB, in dem es um das Zurückbehaltungsrecht des Rechtvorgängers geht, vergesse ich, wann meine Frau Geburtstag hat. Dieser Paragraf heißt »Verbindlichkeiten zu Lasten der Abkömmlinge« und hat damit zu tun, dass ich offensichtlich für die Schulden meines Vaters aufkommen muss, wenn er einmal stirbt. Bei Paragraf 1240 muss ich aufhören, zum einen ist es bereits vier Uhr morgens, zum anderen finde ich, dass der Paragraf zu Gold- und Silbersachen ein perfekter Moment für eine Pause ist: »Gold- und Silbersachen dürfen nicht unter dem Gold- und Silberwert zugeschlagen werden.« Das hilft bestimmt bei der nächsten Finanzkrise.
Am nächsten Tag mache ich weiter. Paragraf 2000 handelt von der Unwirksamkeit der Fristbestimmung, um fünf Uhr morgens bin ich beim letzten Paragrafen angelangt. Er trägt die Nummer 2385 und regelt die »Anwendung auf ähnliche Verträge«, was ich als einen doch recht misslungenen Abschluss empfinde. Ich meine, man hätte ja durchaus mit Mord aufhören oder zumindest ein Happy End mit einem neuen Gold- und Silberparagraphen wählen können. Ein Paragraf über ähnliche Verträge wirkt da ein wenig unbefriedigend.
Ich bin fertig, ich habe das Bürgerliche Gesetzbuch von vorne bis hinten durchgelesen. Ich würde nun gerne meine Frau anrufen, doch ich habe leider vergessen, wie sie heißt. Dafür weiß ich nun, dass eine Unterbringung des Kindes, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, der Genehmigung des Familiengerichts bedarf. Und ich weiß, dass die Kündigung eines Mietverhältnisses unzulässig ist, wenn der Vertrag auf Lebenszeit geschlossen wurde. Ich weiß auch das: Bei der Ausübung einer Grunddienstbarkeit hat der Berechtigte das Interesse des Eigentümers des belasteten Grundstücks tunlichst zu schonen.
Dafür habe ich meinen Hochzeitstag vergessen. Nicht das Datum - nein, für einige Stunden habe ich nicht mal eine Ahnung, was an diesem Tag vorgefallen ist. Dafür weiß ich, dass ich mich scheiden lassen dürfte, wenn ich bei der Eheschließung nicht gewusst hätte, dass es sich um eine Eheschließung gehandelt hat: »Eine Ehe kann ferner aufgehoben werden, wenn die Ehe im Zustand der Bewusstlosigkeit geschlossen wurde.«
Ich habe 480 Seiten und 2385 Paragrafen gelesen - und stelle fest, dass ich damit nicht einmal ein Zehntel des kompletten Schönfelders geschafft habe.
Man kann sich das BGB mittlerweile auch anhören, vorgelesen von Christoph-Maria Herbst. Ich habe zehn Minuten durchgehalten: Es geht weniger darum, einem Menschen die Gesetze näherzubringen, sondern darum, Junkies ruhigzustellen, bei denen harte Drogen keine Wirkung mehr zeigen.
Zur Ablenkung sehe ich mir weiter hinten die Verkehrsschilder an, die es in Deutschland gibt, dann schlafe ich ein und träume von einem Vorfahrtszeichen und diesen Sätzen: »Mit einem Vermächtnis kann der Erbe oder ein Vermächtnisnehmer beschwert werden. Soweit nicht der Erblasser ein anderes bestimmt hat, ist der Erbe beschwert.«
Wir glauben, kaum mit dem Gesetz in Berührung zu kommen. Doch Gesetze und Verordnungen berühren uns nicht nur, sie springen uns jeden Tag an. Es gibt einen Zehn- Stufen-Plan, wie die meisten von uns mit dem Gesetz umgehen:
1. »Das Gesetz bin ich!« Wir sind allwissend, wir haben alles gesehen und alles erlebt. Wir müssen weder Gesetzestexte noch Bedienungsanleitungen noch Packungsbeilagen lesen. Was wir nicht wissen, das existiert nicht.
2. »Das weiß doch jeder!« Wir wollen zwar gerne Individualisten sein, am Ende jedoch sind wir Lemminge, die dorthin rennen, wo alle hinlaufen. Wenn alle seit 40 Jahren behaupten, dass etwas so ist, wie alle es behaupten, dann kann das doch nicht falsch sein. Denken wir. Wer am Stammtisch recht bekommt, der bekommt auch vor Gericht recht. Denken wir. Der Komiker Werner Koczwara wollte in einer Fernsehshow einen Witz machen und sagte: »Die Zehn Gebote haben 179 Wörter, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung hat 300 Wörter - und die EU-Verordnung über die Einfuhr von Karamellbonbons hat 23 911 Wörter.« Der Satz wurde zitiert. Von Komikern, Journalisten, Stammtischphilosophen - bis ihn alle für wahr hielten. Selbst Juristen und Politiker.
3. »Das ist mein gutes Recht!« Irgendwann merken wir, dass das, was wir für wahr gehalten haben, vielleicht doch falsch sein könnte. In Koczwaras Fall: Die Zehn Gebote haben nicht 179 Wörter, sondern nur 63, dafür hat die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 1322 Wörter. Und die Verordnung über die Einfuhr von Karamellbonbons? Die gibt es gar nicht. Nun beginnen wir, Gesetze zu lesen - aber nur die, die uns versichern, dass wir im Recht sind. Das wäre ja noch schöner, wenn da einer daherkäme und etwas für falsch erklärt, was wir für richtig halten.
4. »Wir sehen uns vor Gericht!« Es gibt einen schönen Witz über Briten, der geht so: »Was macht ein Brite, wenn er eine Schlange sieht? Er stellt sich hinten an.« Man könnte diesen Witz umschreiben in: »Was macht der Deutsche, wenn er ein Gericht sieht? Er prozessiert.« Es gibt etwa den Fall eines Gabelstaplerfahrers, der betrunken zur Arbeit erschienen war, obwohl in seinem Arbeitsvertrag deutlich stand, dass er nüchtern sein muss, wenn er arbeitet. Der Vorarbeiter schickte ihn nach Hause, der Betrieb sendete eine Kündigung. Fall erledigt? Nein, natürlich nicht. Der Gabelstaplerfahrer klagte, dass er mitnichten betrunken gearbeitet habe, schließlich sei er ja daran gehindert worden - und in seinem Vertrag steht, dass er nur entlassen werden kann, wenn er betrunken arbeitet. Welcher kranke Geist kommt auf die Idee, tatsächlich gegen diese Entlassung zu klagen? Ein kluger kranker Geist, denn der Staplerfahrer bekam vor dem Landgericht Frankfurt tatsächlich Recht und musste wieder eingestellt werden.
5. »Das kann doch gar nicht sein!« Wir verlieren vor Gericht - doch jetzt fängt der Spaß erst an. Denn natürlich haben wir immer noch recht, der Richter hat lediglich einen Fehler gemacht und sich geirrt. Denn: Bei Gericht bekommt man keine Gerechtigkeit, sondern ein Urteil.
6. »Ich wusste es!« Jetzt beginnt die rechtliche Generalmobilmachung. Nun werden Gesetze durchgeackert, Internetseiten durchforstet, Zeitungsartikel durchwühlt, Experten befragt, Gerichtsshows analysiert, Fachbücher gekauft. Und natürlich kommt nun eine wichtige Figur ins Spiel, die lange Zeit herumstand wie der Turm beim Schachspiel, nun aber plötzlich in das Geschehen eingreifen darf: der Anwalt, der Hoffnung spendende Übersetzer von Gesetzestexten und Fachliteratur, der treue Begleiter des zu Unrecht Verurteilten, der gegen ein geringes Entgelt alles behauptet, was der Mandat behauptet haben möchte.
7. »Das wird hohe Wellen schlagen!« Nun kämpfen wir nicht mehr für uns, sondern für alle Unterdrückten. Der Prozess muss nun einer sein, bei dem ein Ruck durch Deutschland geht und wegen dem die Verfassung geändert werden muss. Wir kämpfen nun nicht mehr für uns, sondern gegen alle anderen.
8. »Waaaaaas?« Nun kommt der Richter, von dem wir uns im Gegensatz zum ersten Prozess ein faires Urteil erwarten. Aber: Da kämpft ein Jurist gegen einen Juristen - und der Kampf wird von einem Juristen entschieden. Gesetzestexte sind schwieriger zu übersetzen als die Bücher von Laotse, die Interpretation lässt so viele Varianten zu wie die Weisheiten des Konfuzius.
9. »Armes Deutschland!« Nun haben wir verloren - und müssen einsehen, dass unser ehrenwerter Kampf vergeblich war und dass die Ungerechtigkeit wieder einmal gesiegt hat. Immerhin: Es gibt nun Stoff für mindestens zehn Geschichten, bei denen die Kollegen am Stammtisch oder beim Kaffeekränzchen verständnisvoll nicken. Wir leben schon in einem schlimmen Land.
10. »Goodbye Deutschland!« Der letzte Ausweg des Geknechteten: Er hält es nicht mehr aus in diesem Land, in dem es nur ungerecht zugeht. Damit beginnt er den Zyklus des Trash-TV-Nachmittags, der später in diesem Buch noch eine Rolle spielen wird. Wir gehen irgendwohin, wo die Menschen anders sind. Gerechter. Zuverlässiger.
Ich habe während des Projekts insgesamt 327 Stunden damit verbracht, Gesetzestexte zu lesen. 327 Stunden meines Lebens, die ich niemals wiederbekommen und für die ich von Gott einen gewaltigen Anschiss bekommen werde, weil ich mein Leben so verplempert habe. Ich habe in diesen Stunden nicht nur Nerven und Gehirnzellen eingebüßt, sondern vor allem auch Menschenverstand und die Fähigkeit zu logischem Denken.
Sollten Sie nun denken, ich würde übertreiben, dann möchte ich Ihnen noch ans Herz legen, wie das Reichsgericht am 17. März 1879 die Eisenbahn definiert hat:
»Ein Unternehmen, gerichtet auf wiederholte Fortbewegung von Personen oder Sachen über nicht ganz unbedeutende Raumstrecken auf metallener Grundlage, welche durch ihre Konsistenz, Konstruktion und Glätte den Transport großer Gewichtsmassen, beziehungsweise die Erzielung einer verhältnismäßig bedeutenden Schnelligkeit der Transportbewegung zu ermöglichen bestimmt ist, und durch diese Eigenart in Verbindung mit den außerdem zur Erzeugung der Transportbewegung benutzten Naturkräften (Dampf, Elektrizität, tierischer oder menschlicher Muskeltätigkeit, bei geeigneter Ebene der Bahn auch schon der eigenen Schwere der Transportgefäße und deren Ladung etc.) bei dem Betriebe des Unternehmens auf derselben eine verhältnismäßig gewaltige (je nach den Umständen nur in bezweckter Weise nützliche, oder auch Menschenleben vernichtende oder die menschliche Gesundheit gefährdende) Wirkung zu erzeugen fähig ist.«
Freilich geht es auch einfacher - im Deutschen Lebens- mittelbuch steht:
»Blut ist die beim Schlachten aus den Blutgefäßen gewonnene, zellige Bestandteile enthaltende Flüssigkeit.«
Und das Finanzgericht Düsseldorf hat entschieden:
»Ein Verschollener hat seinen Wohnsitz bei der Ehefrau.«
Es ist ein Dschungel - aber immerhin bekommt man einen wegweisenden Satz mit auf die Reise. Er steht im Handbuch der Rechtsförmlichkeit und lautet:
»Es gehört zur Verantwortung des Gesetzgebers, verlässliches, übersichtliches und verständliches Recht zu schaffen. «
Kapitel 3
Atmen ist noch erlaubt
Die Toten Hosen haben im Jahr 1988 das Lied »1000 gute Gründe« veröffentlicht. Die Toten Hosen haben in ihrer Karriere eine ganze Menge tolle Lieder veröffentlicht - wahrscheinlich hat jeder Mensch in Deutschland zwischen 20 und 45 Jahren ein Lied dieser Band, das ihn besonders berührt. Kein Liebeskummer ohne »Alles aus Liebe«, keine Party ohne »Zehn kleine Jägermeister«, und seit 2012 wohl auch nie mehr ein Oktoberfest ohne »Tage wie diese«. Bei mir sind es, seit ich dieses Projekt angefangen habe, die »1000 guten Gründe« - und das vor allem wegen dieser Textzeile:
»Hohe Berge, weite Täler, / klare Flüsse, blaue Seen, / dazu ein paar Naturschutzgebiete, / alles wunderschön. / Wir lieben unser Land! / Totale Pflichterfüllung, / Ordnung und Sauberkeit, / alles läuft hier nach Fahrplan, / der Zufall ist unser Feind. / Wir lieben unser Land! / Unser Fernsehprogramm, / unsere Autobahn. / Wir lieben unser Land! / Es gibt 1000 gute Gründe, / auf dieses Land stolz zu sein.«
Ein wenig später heißt es: »Keiner scheint hier zu merken, / dass man kaum noch atmen kann.«
Ich habe es sicherheitshalber gerade noch einmal getestet. Erst daheim, dann auf der Straße, in der U-Bahn, dann vor einem Polizisten: Atmen ist noch erlaubt.
Bei allem anderen kann man sich nicht mehr sicher sein. Was nicht ausdrücklich erlaubt ist, das ist verboten.
Ich war kürzlich mit meinem Sohn auf einem Spielplatz in der Nähe des Münchner Ostparks. Das ist ein Ort, an dem sich Kinder wohlfühlen sollen. Wo sie Spaß haben sollen. Ich habe mich kurz umgesehen. Auf diesem Spielplatz hängen acht Schilder. Darauf steht nicht: »Es macht besonders Laune, wenn man Wasser in die Röhren spritzt!« Darauf steht auch nicht: »Rutscht, so schnell ihr könnt!« Und auch nicht: »Habt einfach Spaß!« Auf diesen acht Schildern sind insgesamt 42 Verbote vermerkt - wie man nicht rutschen soll, wie man das Karussell nicht benutzen darf, wie man das Klettergerüst nicht besteigen darf.
Immerhin: Atmen ist noch erlaubt.
Und doch ist interessant, was auf so einem Spielplatz passiert. Da tollen Kinder umher und sind eigentlich nur damit beschäftigt, sich gegenseitig zu Höchstleistungen anzustacheln. Wer kann besser klettern? Wer kann schneller rutschen? Wer baut die beste Sandburg? Daneben sitzen Eltern, die versuchen, genau das zu verhindern, wobei sich die Eltern in drei Kategorien unterteilen lassen: die Mitmacher, die Apathischen und die Weltuntergänger.
Die Mitmacher nutzen die Zeit auf dem Spielplatz dazu, selbst wieder Kind zu sein, jedoch mit dem Verantwortungsbewusstsein eines Erwachsenen. Sie rutschen, sie klettern, sie bauen - aber sie erklären ihrem Kind andauernd, dass es beim Rutschen die Beine zusammen-, beim Klettern auseinander- und beim Bauen angewinkelt halten sollte. Lustig dabei: Die Mitmacher verstoßen damit gegen das Gesetz, weil die Nutzung von Spielplätzen nur bis zu einem Alter von 14 Jahren erlaubt ist. Steht auf einem der Schilder.
Die Apathischen findet man am Rand des Spielplatzes, sie sitzen ihre Zeit ab und warten darauf, dass das Kind endlich fertig ist mit Spaß haben. Sie haben entweder ein Buch in der Hand oder ein Handy, sie unterhalten sich mit anderen Eltern oder starren in den Himmel. Manchmal schlafen sie auch.
Die Weltuntergänger vermuten hinter jedem Spielzeug ein Werk des Teufels. Die Rutsche ist zu steil, die Schaufel voller Keime, und das Karussell wurde nur deshalb erfunden, um der Zentrifugalkraft dabei zu helfen, kleine Kinder ins Jenseits zu befördern. Ein Stein ist ebenso eine Mordwaffe wie ein Spielzeugbagger, und die anderen Kinder sind sowieso Diebe, Gangster und Totschläger. Die Kinder der Weltuntergänger heißen Linus, Malte oder Cajus. Die Eltern finden es prima, dass es so viele Verbote gibt - und sie erinnern ihre eigenen und auch die anderen Kinder stets daran: »Linus, bitte, nimm nicht die Schaufel von diesem Kind, die ist so schmutzig. Und rutsch nicht mit dem Kopf nach vorne, das ist gefährlich. Cajus, Sand im Mund ist giftig.«
Die Weltuntergänger sind die Zivilpolizisten des Spielplatzes.
Auch an anderen Orten kann man nicht so einfach machen, was man will. Ich habe es mal probiert. Zu meinem 33. Geburtstag wollte ich im Ostpark grillen.
Es gibt jedoch »Regeln für das Grillen im Ostpark« und sogar ein »Grilltelefon«, bei dem der Bürger erfährt, wo überall das Grillen verboten ist. Zusammengefasst steht in den Regeln: keine organisierten Feiern, kein Funkenflug, kein Lärm, keine eigenen Grills, keine freie Platzwahl. Am Ende steht da: »Verstöße gegen die Regelungen der Grünanlagensatzung werden mit Geldbußen geahndet. Die Einhaltungen der Schutzbestimmungen werden von der Anlagenaufsicht, einem beauftragten Sicherheitsdienst und der Polizei überwacht.«
Ich habe meinen Geburtstag dann auf unserem Balkon gefeiert.
Deutschland ist ein Verbotsland. Verbieten und Bestrafen gehören zum Katechismus des Zusammenlebens.
Das liegt nicht zuletzt am nicht zu unterschätzenden Einfluss, den die beiden christlichen Kirchen immer noch auf die deutsche Gesellschaft haben. Die Menschen gehen zwar kaum noch in die Kirche, doch das Prinzip von Schuld, Sühne und Bestrafung ist nach wie vor präsent. Das habe ich schon bei meinem Projekt, verschiedene Religionen zu testen, mehr als deutlich bemerkt. Schuld ist die Unique Selling Proposition des katholischen Glaubens. Der Priester sagt zu Beginn eines Gottesdienstes: »Wir müssen Buße tun und umkehren.« Er sagt nicht: »Wir sind auf dem richtigen Weg, lasst uns einfach weitergehen.« Er sagt auch nicht: »Schön, dass Sie heute hier sind.« Er sagt lieber: »Ach herrje, die Kirchen werden immer leerer - die laden alle Schuld auf sich. Ihr seid alle Sünder.«
Kein Pfarrer versprach mir jemals: »Wenn Sie das so und so machen, dann kommen Sie in den Himmel.« Sie drohten lieber: »Wenn du das machst, dann kommst du in die Hölle.«
Das Christentum ist eine Verbotsreligion. Es darf nicht hinterfragt werden, ob ein Verbot Sinn macht oder nicht - es ist einfach so. Und das Totschlagargument ist natürlich, dass der Sünder nicht nur im Diesseits bestraft wird, sondern dass auf ihn bei genügend Verstößen die ewige Verdammnis wartet. Wer braucht schon Argumente, wenn er seine Verbote mit der Androhung von Höllenfeuer untermauern kann? Wenn Argumente fehlen, kommt meist ein Verbot heraus.
Man muss sich nur einmal umsehen. Mehr als 20 Millionen Verkehrsschilder gibt es in Deutschland, die den Menschen im Straßenverkehr befehlen: Fahr bloß nicht zu schnell! Bieg nur ja nicht nach links ab! Lass dein Auto nicht hier stehen! In der deutschen Straßenverkehrsordnung sind neben 53 Paragrafen auch 684 verschiedene Verbots- und Hinweisschilder vermerkt. Schild Nummer 17 ist ein Pferd mit Reiter auf einem blauen Kreis, Nummer 9 ist rotes Dreieck, in dem ein Fähnchen zu sehen ist. Es gibt auch eines, auf dem ein Auto in einen Fluss fällt.
Die ersten Verkehrsschilder in Deutschland gab es im Jahr 1910. Auf einer internationalen Konferenz ein Jahr zuvor in Paris wurde angeregt, gefährliche Passagen durch so genannte Warnungstafeln zu kennzeichnen. Es waren runde Zeichen mit blauem Hintergrund und weißer Farbe - und ein genialer Mensch kam gar auf die Idee, diese Schilder mit Werbung zu versehen.
Erst 1927 wurden die Warnungstafeln durch Verkehrszeichen ersetzt, wie wir sie heute an jeder Straße sehen müssen. Einige davon in der gleichen Ausführung wie 1927.
Durchschnittlich steht auf deutschen Straßen alle 28 Meter ein Verkehrsschild - wer also von Hamburg nach Berlin fährt, der erblickt 10 357 Schilder. Von Köln nach Erfurt: 13 142 Schilder. Von Bremen nach München: 26 750 Schilder. Bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 100 Stundenkilometern muss das Gehirn pro Sekunde ein Schild verarbeiten - wobei dafür ein berühmtes Gedächtnisexperiment helfen kann: Man lässt sich pro Sekunde eine Zahl vorsagen und versucht, sie alle zu addieren. Nach 15 Sekunden fragt der Aufsager: »Was war die dritte Zahl, die ich gesagt habe?« Nur etwa zehn Prozent der Menschen können sich daran erinnern. Bei Verkehrsschildern ist das noch schlimmer: Wer mit der Richtgeschwindigkeit von 130 Stundenkilometern fährt, sieht durchschnittlich alle 0,77 Sekunden ein Schild. Probieren Sie mal aus, wie viele Schilder sie tatsächlich wahrnehmen und an welchen Sie einfach vorbeifahren.
© 2013 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Jürgen Schmieder
Jürgen Schmieder, Jahrgang 1979, ist Redakteur für sueddeutsche.de sowie Reporter und Autor für die Süddeutsche Zeitung. Er schreibt regelmäßig über Sport.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jürgen Schmieder
- 2013, 1, 368 Seiten, Maße: 13 x 20,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: C. Bertelsmann
- ISBN-10: 3570101444
- ISBN-13: 9783570101445
- Erscheinungsdatum: 22.04.2013
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