Moldaukind
Erinnern Sie sich an den Film "Herbstmilch"? Wenn Sie diesen Film mochten, werden Sie "Moldaukind" lieben!
Friederike Habel wächst gemeinsam mit ihren Geschwistern im Böhmerwald am Ufer der Moldau auf. Doch der Fluss ist...
Leider schon ausverkauft
Weltbild Ausgabe
2.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Moldaukind “
Erinnern Sie sich an den Film "Herbstmilch"? Wenn Sie diesen Film mochten, werden Sie "Moldaukind" lieben!
Friederike Habel wächst gemeinsam mit ihren Geschwistern im Böhmerwald am Ufer der Moldau auf. Doch der Fluss ist für sie eigentlich nichts als ein kümmerlicher Bach, in dem man nicht mal baden kann. Ihr Leben ist einfach und voller Entbehrungen, aber trotzdem sind sie glücklich und zufrieden. Bis zur Machtübernahme der Nazis, deren Auswirkungen sie alle zu spüren bekommen. Während des Krieges verstecken sie die Jüdin Esther und nach Kriegsende müssen sie ihre Heimat als Vertriebene verlassen.
"Ein äußerst lesenswertes und spannendes Stück Zeitgeschichte. Sehr poetisch."
DONAU ANZEIGER
Lese-Probe zu „Moldaukind “
Moldau Kind von Jutta Mehler»WARUM PACK ICH'S NICHT AM KRAGEN, die Mari, und hau ihr eine Watschen rein? Nein, gleich zwei hau ich ihr rein, eine links und eine rechts. Das hätts nämlich überhaupt nicht braucht, dass sie dem Fritzerl die zuckerte Milch wegsauft, die wo ihm die Mutter extra hergerichtet hat, weil er so winzig klein ist und so klapperdürr. Und dann, dann hats noch das neue Schürzerl haben müssen, die Mari, das von dem geblümelten Stoff, das wo die Mutter eigentlich mir genäht hat. Sie hats haben müssen. Alles muss sie immer haben, die Urschel.«
Friederike schnieft und wischt mit dem Ärmel den Rotz ab, der trotz heftigen Hochziehens an der Nasenspitze kleben bleibt. Im Wasser der Moldau wellt sich ihr Spiegelbild: dünne Zöpfe, ovales Gesicht, das Näschen leicht himmelwärts gebogen. Friederike ist zehn Jahre alt. Sie schnieft noch einmal, ganz leise.
»Ich darf ihr gar keine reinhauen, der Mari, und zwei schon gar nicht. Nämlich weil die Mari gestraft genug is mit ihre Krüppelfüße und ... und weil mir alle Gottes Kinder sind, denen wo das verboten is, dass sie wem wehtun.« Bittere Tränen tropfen ins Moldauwasser.
Brav, Friederike, gutherzig und sanftmütig!
Das wird dem lieben Gott gefallen. Besonders weil es dir so schwerfällt.
... mehr
SMETANA WAR ES, DER DIE MOLDAU so richtig berühmt gemacht hat.
»Mein Vaterland« heißt der Orchesterzyklus, das instrumentale Glaubensbekenntnis Smetanas, in dem er die Moldau ehrt und preist. Er hatte schon 1874 die erste Terz davon im Ohr, aber erst fünf Jahre später war das gesamte Werk fertig.
Smetana selbst war inzwischen taub und irre.
Der Zyklus umfasst sechs sinfonische Dichtungen. Eine davon nannte er »Die Moldau«. Flöten murmeln wellengleich, folgen plätschernd dem Fluss durch Dörfer und Wälder. Bässe donnern, wenn die Fluten über die St.-Johannis-Stromschnellen toben. Posaunen und Trompeten feiern des Stromes ruhige Majestät auf seinem Weg durch Täler und Auen.
Für Friederike Habel und ihre Geschwister und die Handvoll Arbeiterkinder aus dem Fabrikhaus ist die Moldau nur ein kümmerlicher Bach am Waldrand. Viel zu seicht zum Baden im Sommer. Gefährlich im Frühjahr, wenn das Schmelzwasser daherrauscht und droht, den Holzschuppen wegzuschwemmen. Fast verschwunden im Winter, zugeschneit, zugeweht, zugefroren.
Nütze ist es zu gar nichts, das Moldauwasser: zum Trinken nicht, ja nicht einmal zum Wäschewaschen, weil ein langes Rohr aus der Papierfabrik scharfen, gelblichen Schleim aushustet und über die Böschung ins Moldaubett spuckt und ockerfarbene Schauminseln im ruhigen Kehrwasser zurückbleiben.
Als Fischwasser taugt es auch nicht, obwohl immer noch ein paar zählebige Bachforellen darin springen. Das Fischefangen ist nämlich bei Strafe verboten und strengstens untersagt und überhaupt nicht erlaubt, und der amtsmäßige Jagdaufseher Heger passt auf wie ein Schießhund.
Friederikes jüngster Bruder, das dreijährige Fritzchen, schaut gebannt zu, wie der Heger die Angelschnur durch die tieferen Gumpen schleift, wie er in Stiefeln, die bis an den Hosenschlitz reichen, im Bachbett auf und ab stakst.
Über Nacht setzt Fritzchen das Geschaute in Geplantes um, und schon tags darauf legt er selber los: Er baut die Angel aus Zweig und Schnur, stellt sich breitbeinig in die flache gelbe Pfütze unter der Uferböschung und schwenkt sein Schnürl in die schwache Strömung.
Seine Augen fixieren starr den rostigen Nagel am Ende der Angelschnur, der als Haken dient. Reglos stiert er aufs eintönig murmelnde Gerinne, und die gleitenden Wellen ziehen Klein-Fritzens Seele mit sich fort. Unbewusst neigt er sich ihnen zu, kippt ihnen entgegen und schlägt hart auf. Wasser rauscht ihm in den Ohren, schwallt ihm in Mund und Nase. Er strampelt und rutscht und schluckt und quirlt mit den Ärmchen.
Zum Glück passt der Heger auf wie ein Schießhund.
Friederike tätschelt dem Brüderchen den Hinterkopf, dort wo die Haare noch nass sind und sandig: »Sin mir froh, dass dich der Heger noch derwischt hat. Dot wärst jetz, Jessmariaundjosef.«
Sie verdreht die Augen dorthin, wo sie die Angerufenen vermutet, und schüttelt vehement den Kopf, dass die mageren Zöpfe fliegen: Voll bitteren Vorwurfs mahnt Friederike die göttliche Instanz, in Zukunft besser aufzupassen auf die kleinen Gotteskinder.
Friederike muss sich setzen: Furchtbar wär das gewesen! Sie sieht den Kindersarg vor sich, ein weißes, steifes Fritzchen drin und die Mutter weint und der Vater humpelt hinter dem Sarg her und ist ganz grau im Gesicht und alle Geschwister sind still und traurig und können es nicht fassen, das Unglück. Und die Maria, die scheinheilige Wurzen, hängt sich tränenreich an die Else dran.
Aber das kannst glauben, versichert sich Friederike selbst, dass die Mari ganz innen drinnen schadenfroh grinsen tät.
Friederike verscheucht das makabre Bild, besinnt sich auf Demut und Dankbarkeit: Jessmariaundjosef, dankschön, dass ihr das Fritzerl am Leben lassen habts, is ja gut ausgangen alles.
Friederike rückt zum Fritzerl an den Tisch und patscht ihm, den guten Abschluss dieser Episode besiegelnd, auf das aufgeweichte Händchen.
Wieder mit sich selbst im Lot, fädelt sich Friederike in den Habel'schen Alltagsrhythmus ein: Sie zieht einen der Papierstapel auf dem Tisch ganz nah an sich heran und beginnt zu falzen und zu kleben. Die fertigen Tüten lässt sie in eine Pappschachtel mit dem Aufdruck »Papierfabrik Franzenstal« flutschen.
Wie den Kulissenwechsel auf der Theaterbühne, ganz genau so würde ein Zuschauer den Wandel in der Habel'schen Küche erleben, säße er Tag um Tag vor der Küchenfensterscheibe, würde er Stund um Stund Friederike und ihre Geschwister und die Habeleltern beobachten.
Neue Requisiten leiten zum nächsten Akt und wieder neue zum übernächsten und immer weiter. Ein Schauspiel ohne Ende, ohne Anfang. Unverändert bleiben Ort und Spieler, täglich wiederholen sich die einzelnen Szenen:
Fünf der sechs Habelkinder teilen sich den Platz am Küchentisch, üben Schönschrift und Rechnen. Else, die Älteste, spielt wochentags nicht mehr vor der heimischen Kulisse. Sie näht in der Hemdenfabrik Seidensticker in Winterberg Manschetten an die Ärmel von Oberhemden, neun Stunden lang am Tag.
Wäre der Gaffer am Küchenfenster Telepath, dann könnte er Friederikes Gedanken lesen, die sich vom Einmaleins weg zu Else an die Nähmaschine (Marke Singer mit Tretantrieb) gestohlen haben: »Jessmariaundjosef, da brauchts eine Geduld dazu, viel mehr als wie beim Tüten-Zammpappen, und genau musst da sein, wie beim Schwammerlputzen, so genau.«
Vier der Nabelkinder schreiben und rechnen, Fritzchen malt windschiefe O in Blau.
Vorhang: Die Hefte sind dem Nudelteig gewichen oder dem Kartoffelteig, der breitet sich auf der Holzplatte aus, wellt sich über den Scharten. Mutter Habel rollt ihn mit dem Nudelholz aus. Der Teig wird so dünn wie das braune Papier aus der Fabrik, und Hermine schneidet Rechtecke daraus.
Bloß wegen ihre Krüppelfüß, flüstern Friederikes Gedanken, während sie Apfelschnitze auf die Teigfleckchen legt, lasst ihr die Mutter das hingehn, der Mari, dass sie da in der Ecken sitzt und vom Teigrand runterzupft. Jetz dreht sies zu ein Kugerl zamm, die Teigbatzerl, und mampfts rein. Tät mich nicht wundern, wenn ihr die Hermine ein bisserl nah hinkommen tät an die frechen Finger mit dem frisch gwetzten Messer. Die Hermine, die lasst ihr nämlich nix durchgehn, der Mari. Wenns schon Geißbockfüß hat, sagt die Hermine, dann muss sie ja nicht auch noch ein Mistviech werdn, und recht hats, die Hermine.
Die Rainstritzel verlassen den Küchentisch und verschwinden im Backrohr.
Vorhang: In einer Blechschüssel auf dem Fußboden hocken Pilze für den folgenden Aufzug, schon um fünf Uhr morgens wurden sie dem dampfenden Waldboden entrissen, anderen Mäulern weggeschnappt. Rudi hat einen ganzen Korb voll hereingebracht. In der kleinen Senke zwischen den Zwillingsfelsen hat er die Pilze gefunden.
Da traut sich sonst keiner hinkraxeln als wie der Rudi, tuscheln Friederikes Gedanken, während sie das spitze Schwammerlmesser aus der Schublade angelt, drum wachsen sie da gar so übermütig her, die Braunkapperl, weil keiner hinkommt. Aber auf einmal is der Rudi da, und dann ghörn alle uns. Der Rudi, das is einer, der traut sich überall raufkraxeln. Grad jetz is er aufm Hausdach oben und putzt die Dachrinne aus, weils immer übergeht, wenn ein Gwitterregen kommt.
Sie warten auf ihr Stichwort, die Pilze, bangen vor dem spitzen kleinen Messer, das ihnen die Würmer herausbohrt, die Erde abschabt und sie zu Schnitzelchen hackt.
»Viele Hände machen schnell ein Ende«, feuert Mutter Habel ihre Mädchen an und zwingt im nächsten Akt die Krautköpfe aus dem handtuchgroßen Habel'schen Anteil vom Gemüsegarten unter den Hobel.
Im Interesse des Stapels Schürzen im Eckbank-Eck steht zu hoffen, dass die Nudeln bald im Wasser köcheln, die Pilze auf den Sieben trocknen und das Kraut in der Salzlake schwitzt, sodass der Tisch samt einem Paar Hände frei wird und es ans Plätten geht.
Vorhang: Vater Habel humpelt in die Küche. Er stützt sich auf zwei selbst gebastelte Holzkrücken. Vater Habel wäscht sich die Hände in einer Emailleschüssel voll warmer Seifenlauge, dann fährt er dem Fritzchen über den hellen Schopf und setzt sich an den Tisch zum Essen.
Vorhang: Für das Knäuel löchriger Strümpfe im Stopfkorb sieht das Publikum die Chancen für einen Auftritt schwinden, denn unnachgiebig belagert das steife braune Papier aus der Fabrik das Habel'sche Heim.
Ein Ende gibts da gar nicht, sinnt Friederike, weil wir so viel Sackerl nie nicht zammpappen können, wie die Fabrik alle Tag rauslasst aus ihrem Tor - bloß am Sonntag, da is eine Ruh.
Endlose, raschelnde Papierströme ergießen sich täglich ins Arbeiterhaus. Gefaltet, zu Säckchen in allerlei Größen zusammengeklebt, gebündelt und gezählt fließen sie zurück und mutieren am Ende des Monats zu einem winzigen Betrag, der sich als »plus siebzig Normzahlpacken Heimarbeit« in Vater Habels Lohntüte wiederfindet.
Friederike hat von Gezeiten, von Ebbe und Flut, noch nie etwas gehört, das hat der Lehrer, der Klöpp, noch nicht durchgenommen, und einen Ozean hat Friederike auch noch nicht gesehen, trotzdem ist ihr das Tidenphänomen in modifizierter Form durchaus vertraut: Jeden Samstagabend ebben die Wogen aus platten braunen Rechtecken, die von der Fabrik her kommen, ab, der Nachschub versiegt, bis am Montag eine neue Flut einsetzt.
Am Samstagabend glänzt die Tischplatte blank gescheuert unter frisch gewaschenen Leibchen, sauberen Strümpfen und Schürzen, denen der penetrante Geruch nach Klebstoff und Schwefeloxid herausgeschrubbt wurde.
Ein ovaler Holzzuber beherrscht am Samstag die Szene: zehn Eimer Wasser - Friederike zieht es schmerzhaft in den mageren Armen, wenn sie an die Schlepperei vom Brunnenhäusl über den Hof durch das Stiegenhaus an sieben anderen Wohnungstüren vorbei bis zur Habel'schen Küche denkt.
Ein Eimer Wasser füllt jeweils die zwei Töpfe auf dem Herd. Sobald das Wasser darin heiß ist, darf es in den Zuber schwappen. Die ersten vier Portionen müssen fast sieden, weil sie, vorschnell abgekühlt, die letzten dadurch verderben würden.
Immer sitzt die Mari als Allererste drin, geht es Friederike im Kopf herum, weil die was Besonders ist, nicht einmal das kleine Fritzerl lasst sie mit rein.
Erst wenns dann fertig is, die Madam, dann is zufrieden, und dann tuts mordsgönnerisch, wenn mir drankommen. Mir anderen baden zu zweit; das könnt keiner erwarten, bis alle sechs durch sind nacheinand, und kalt wärs auch längst, das Wasser. Ich bad am liebsten mit dem Rudi, bestätigt sich Friederike still, der wascht sich und steigt raus, und ich nehm das Fritzerl he rein zu mir und kann noch ein bisserl sitzen bleiben, bis die Else und die Hermine herdrücken. Bei denen muss die Mutter sowieso immer dreinfahren, weils so kreischen und spritzen, und das Baden, das gehört doch zum Sauberwerden und nicht für die Gaudi.
Auf ihrem Strohsack im Nebenzimmerchen verschläft Friederike die weiteren Akte vor der Kulisse »böhmisches Bad«: Mutter Habel gießt noch einen Napf voll heißen Wassers in den Zuber nach, raspelt mit dem Fingernagel ein paar Seifenflocken hinterher und zaubert damit die Illusion eines frischen, dampfenden Schaumbades.
Ein allerletztes Mal schöpft sie aus ihrem Vorrat, dem Wasserschiff an der Herdseite - diesem winzigen, neben der Kochstelle eingelassenen Bassin, das gerade mal einen Liter fasst. Dann lässt sich der Habelvater ächzend in die - nüchtern besehen - von sechs Vorgängern angedunkelte Brühe sinken. Er hängt das Bein mit der offenen, periodisch eiternden Wunde an der Schnittstelle, die das Schicksal seines Fußes besiegelte, über den Zuberrand, und Mutter Habel platziert stabilisationshalber die Stuhllehne unter seine Wade.
Im Schlussbild sitzt Mutter Habel selbst im Zuber und schrubbt sich ab in der trüben, schlierigen Kernseifenlauge.
An der ostseitigen Wand der Wohnküche, diesem Mittelpunkt des Habel'schen Daseins, klebt ein kleiner Verschlag, wo die sechs Habel'schen Kinder aufgereiht in drei Betten schlafen.
Seufzend rollt sich Friederike vom mittleren, rettet ihren Strohsack vor einnehmenden Armen und bettet sich auf die Erde. Sie gibt ja doch keine Ruh, die Mari, bis sie nicht das Bett allein hat, weiß Friederike aus Erfahrung und grummelt im Halbschlaf: Die Mari schiebt und drückt und kratzt und lamentiert umeinander, bis dass ich mich lieber am Boden hinleg, und morgen möcht sie mir weismachen, dass sies im Schlaf gmacht und gar nix gmerkt hat davon.
»Dirndln«, schnauft die Mutter an einem dieser Herbsttage im Jahre des Herrn 1933 mit einem schnellen Blick über die linke Schulter. Sie meint Friederike und die drei Jahre ältere Hermine, die in der angeschlagenen, von den Pilzen befreiten Blechschüssel die Lehmbröckchen aus Fritzchens Hose spült. »Warm und trocken, wie das heut is, müssts ihr um eine frische Streu ausrücken.«
Das Stroh vom Vorjahr ist in den derben Leinensäcken, auf denen die Kinder schlafen, schon zu Bröseln zerfallen. Die Mädchen schütten es in den Ziegenstall: Ein bisschen Ziegenpisse soll die Streu noch aufsaugen, um dann zu guter Letzt den Gemüsegarten zu düngen.
Hermine und Friederike füllen die Säcke frisch auf und binden sie auf der Rückseite ganz locker zu, sodass jeder gut hineingreifen kann in seinen Strohsack, denn der muss geformt werden, zu Mulden geklopft und zu Hügeln gebauscht, umgearbeitet zum Negativ des schlafenden Körpers.
»Die Nachthaferln sind noch nicht ausgleert«, quäkt Mari von der Eckbank herunter, wo sie an einem Zuckerklümpchen lutscht.
»Jessmariaundjosef«, erheischt sich Friederike die Aufmerksamkeit der Heiligen Familie, »darf die Mari den ganzen Tag kommandieren?«
»Die Else, die hat sich heut schon wieder abgspatzt«, geifert die Mari unbeirrt weiter.
»Auf den Fritzerl schaut sie auf, dass er nicht wieder wo reinfallt, du Gscheithaferl«, fährt ihr Hermine über den Mund.
»Wo werd sie denn den Zuckerbatzen wieder herham, die Mari«, rätselt Friederike flüsternd, »so klein, wies ist, aber ausgfuchst für drei.«
Friederike angelt zwei Nachthaferl unter den Betten hervor und tappt damit vorsichtig die steile Treppe hinunter. Käsig riecht er, der Urin von den Buben, und Blasen sind drauf, und ein Schleimbatzen schwimmt drin.
Im anderen Nachttopf, die Else und die Hermine haben ihn sich geteilt, leuchtet es rot wie Himbeersaft, und obenauf schwimmen drei oder vier ersoffene Fliegen - reingelegt. Friederike kippt das Resümee einer Nacht in die runde Aussparung des von vielen Hintern abgewetzten Sitzbretts. »Was tätn mir ohne die Nachthaferln«, murmelt Friederike, »endsweit is das von unserer Wohnung bis zum Abort, finster und eiskalt bei der Nacht. Und dann könnts noch sein, wennst endlich da bist, dass schon ein anderer draufsitzt aus dem Haus, und dann kannst herwarten.«
Eine lange Reihe von Mitbewohnern, sieben Familien, genau gesagt, samt Großmüttern und einer beständig wachsenden Anzahl von Kindern, windet sich als potenzielle Toilettenblockierer durch Friederikes Gedankengänge.
»Der Fritzerl und die Mari«, sieht Friederike ganz klar, »die könnens gar nicht allein. Der Fritzerl, der kann da überhaupt noch gar nicht drauf, der tät glatt durchfalln durch das Loch, bis runter in die Grubn.«
Friederike schaudert und hat das Entsetzliche vor Augen: Fritzerl segelt ungebremst zehn Meter weit hinunter in die Güllegrube, unrettbar verloren, erstickt und ersoffen in zähflüssiger Scheiße. Ein schauerlicher Tod, hie und da schon gestorben.
»Jessmariaundjosef, dankschön für die Haferln«, besinnt sich Friederike auf Demut und Dankbarkeit.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
SMETANA WAR ES, DER DIE MOLDAU so richtig berühmt gemacht hat.
»Mein Vaterland« heißt der Orchesterzyklus, das instrumentale Glaubensbekenntnis Smetanas, in dem er die Moldau ehrt und preist. Er hatte schon 1874 die erste Terz davon im Ohr, aber erst fünf Jahre später war das gesamte Werk fertig.
Smetana selbst war inzwischen taub und irre.
Der Zyklus umfasst sechs sinfonische Dichtungen. Eine davon nannte er »Die Moldau«. Flöten murmeln wellengleich, folgen plätschernd dem Fluss durch Dörfer und Wälder. Bässe donnern, wenn die Fluten über die St.-Johannis-Stromschnellen toben. Posaunen und Trompeten feiern des Stromes ruhige Majestät auf seinem Weg durch Täler und Auen.
Für Friederike Habel und ihre Geschwister und die Handvoll Arbeiterkinder aus dem Fabrikhaus ist die Moldau nur ein kümmerlicher Bach am Waldrand. Viel zu seicht zum Baden im Sommer. Gefährlich im Frühjahr, wenn das Schmelzwasser daherrauscht und droht, den Holzschuppen wegzuschwemmen. Fast verschwunden im Winter, zugeschneit, zugeweht, zugefroren.
Nütze ist es zu gar nichts, das Moldauwasser: zum Trinken nicht, ja nicht einmal zum Wäschewaschen, weil ein langes Rohr aus der Papierfabrik scharfen, gelblichen Schleim aushustet und über die Böschung ins Moldaubett spuckt und ockerfarbene Schauminseln im ruhigen Kehrwasser zurückbleiben.
Als Fischwasser taugt es auch nicht, obwohl immer noch ein paar zählebige Bachforellen darin springen. Das Fischefangen ist nämlich bei Strafe verboten und strengstens untersagt und überhaupt nicht erlaubt, und der amtsmäßige Jagdaufseher Heger passt auf wie ein Schießhund.
Friederikes jüngster Bruder, das dreijährige Fritzchen, schaut gebannt zu, wie der Heger die Angelschnur durch die tieferen Gumpen schleift, wie er in Stiefeln, die bis an den Hosenschlitz reichen, im Bachbett auf und ab stakst.
Über Nacht setzt Fritzchen das Geschaute in Geplantes um, und schon tags darauf legt er selber los: Er baut die Angel aus Zweig und Schnur, stellt sich breitbeinig in die flache gelbe Pfütze unter der Uferböschung und schwenkt sein Schnürl in die schwache Strömung.
Seine Augen fixieren starr den rostigen Nagel am Ende der Angelschnur, der als Haken dient. Reglos stiert er aufs eintönig murmelnde Gerinne, und die gleitenden Wellen ziehen Klein-Fritzens Seele mit sich fort. Unbewusst neigt er sich ihnen zu, kippt ihnen entgegen und schlägt hart auf. Wasser rauscht ihm in den Ohren, schwallt ihm in Mund und Nase. Er strampelt und rutscht und schluckt und quirlt mit den Ärmchen.
Zum Glück passt der Heger auf wie ein Schießhund.
Friederike tätschelt dem Brüderchen den Hinterkopf, dort wo die Haare noch nass sind und sandig: »Sin mir froh, dass dich der Heger noch derwischt hat. Dot wärst jetz, Jessmariaundjosef.«
Sie verdreht die Augen dorthin, wo sie die Angerufenen vermutet, und schüttelt vehement den Kopf, dass die mageren Zöpfe fliegen: Voll bitteren Vorwurfs mahnt Friederike die göttliche Instanz, in Zukunft besser aufzupassen auf die kleinen Gotteskinder.
Friederike muss sich setzen: Furchtbar wär das gewesen! Sie sieht den Kindersarg vor sich, ein weißes, steifes Fritzchen drin und die Mutter weint und der Vater humpelt hinter dem Sarg her und ist ganz grau im Gesicht und alle Geschwister sind still und traurig und können es nicht fassen, das Unglück. Und die Maria, die scheinheilige Wurzen, hängt sich tränenreich an die Else dran.
Aber das kannst glauben, versichert sich Friederike selbst, dass die Mari ganz innen drinnen schadenfroh grinsen tät.
Friederike verscheucht das makabre Bild, besinnt sich auf Demut und Dankbarkeit: Jessmariaundjosef, dankschön, dass ihr das Fritzerl am Leben lassen habts, is ja gut ausgangen alles.
Friederike rückt zum Fritzerl an den Tisch und patscht ihm, den guten Abschluss dieser Episode besiegelnd, auf das aufgeweichte Händchen.
Wieder mit sich selbst im Lot, fädelt sich Friederike in den Habel'schen Alltagsrhythmus ein: Sie zieht einen der Papierstapel auf dem Tisch ganz nah an sich heran und beginnt zu falzen und zu kleben. Die fertigen Tüten lässt sie in eine Pappschachtel mit dem Aufdruck »Papierfabrik Franzenstal« flutschen.
Wie den Kulissenwechsel auf der Theaterbühne, ganz genau so würde ein Zuschauer den Wandel in der Habel'schen Küche erleben, säße er Tag um Tag vor der Küchenfensterscheibe, würde er Stund um Stund Friederike und ihre Geschwister und die Habeleltern beobachten.
Neue Requisiten leiten zum nächsten Akt und wieder neue zum übernächsten und immer weiter. Ein Schauspiel ohne Ende, ohne Anfang. Unverändert bleiben Ort und Spieler, täglich wiederholen sich die einzelnen Szenen:
Fünf der sechs Habelkinder teilen sich den Platz am Küchentisch, üben Schönschrift und Rechnen. Else, die Älteste, spielt wochentags nicht mehr vor der heimischen Kulisse. Sie näht in der Hemdenfabrik Seidensticker in Winterberg Manschetten an die Ärmel von Oberhemden, neun Stunden lang am Tag.
Wäre der Gaffer am Küchenfenster Telepath, dann könnte er Friederikes Gedanken lesen, die sich vom Einmaleins weg zu Else an die Nähmaschine (Marke Singer mit Tretantrieb) gestohlen haben: »Jessmariaundjosef, da brauchts eine Geduld dazu, viel mehr als wie beim Tüten-Zammpappen, und genau musst da sein, wie beim Schwammerlputzen, so genau.«
Vier der Nabelkinder schreiben und rechnen, Fritzchen malt windschiefe O in Blau.
Vorhang: Die Hefte sind dem Nudelteig gewichen oder dem Kartoffelteig, der breitet sich auf der Holzplatte aus, wellt sich über den Scharten. Mutter Habel rollt ihn mit dem Nudelholz aus. Der Teig wird so dünn wie das braune Papier aus der Fabrik, und Hermine schneidet Rechtecke daraus.
Bloß wegen ihre Krüppelfüß, flüstern Friederikes Gedanken, während sie Apfelschnitze auf die Teigfleckchen legt, lasst ihr die Mutter das hingehn, der Mari, dass sie da in der Ecken sitzt und vom Teigrand runterzupft. Jetz dreht sies zu ein Kugerl zamm, die Teigbatzerl, und mampfts rein. Tät mich nicht wundern, wenn ihr die Hermine ein bisserl nah hinkommen tät an die frechen Finger mit dem frisch gwetzten Messer. Die Hermine, die lasst ihr nämlich nix durchgehn, der Mari. Wenns schon Geißbockfüß hat, sagt die Hermine, dann muss sie ja nicht auch noch ein Mistviech werdn, und recht hats, die Hermine.
Die Rainstritzel verlassen den Küchentisch und verschwinden im Backrohr.
Vorhang: In einer Blechschüssel auf dem Fußboden hocken Pilze für den folgenden Aufzug, schon um fünf Uhr morgens wurden sie dem dampfenden Waldboden entrissen, anderen Mäulern weggeschnappt. Rudi hat einen ganzen Korb voll hereingebracht. In der kleinen Senke zwischen den Zwillingsfelsen hat er die Pilze gefunden.
Da traut sich sonst keiner hinkraxeln als wie der Rudi, tuscheln Friederikes Gedanken, während sie das spitze Schwammerlmesser aus der Schublade angelt, drum wachsen sie da gar so übermütig her, die Braunkapperl, weil keiner hinkommt. Aber auf einmal is der Rudi da, und dann ghörn alle uns. Der Rudi, das is einer, der traut sich überall raufkraxeln. Grad jetz is er aufm Hausdach oben und putzt die Dachrinne aus, weils immer übergeht, wenn ein Gwitterregen kommt.
Sie warten auf ihr Stichwort, die Pilze, bangen vor dem spitzen kleinen Messer, das ihnen die Würmer herausbohrt, die Erde abschabt und sie zu Schnitzelchen hackt.
»Viele Hände machen schnell ein Ende«, feuert Mutter Habel ihre Mädchen an und zwingt im nächsten Akt die Krautköpfe aus dem handtuchgroßen Habel'schen Anteil vom Gemüsegarten unter den Hobel.
Im Interesse des Stapels Schürzen im Eckbank-Eck steht zu hoffen, dass die Nudeln bald im Wasser köcheln, die Pilze auf den Sieben trocknen und das Kraut in der Salzlake schwitzt, sodass der Tisch samt einem Paar Hände frei wird und es ans Plätten geht.
Vorhang: Vater Habel humpelt in die Küche. Er stützt sich auf zwei selbst gebastelte Holzkrücken. Vater Habel wäscht sich die Hände in einer Emailleschüssel voll warmer Seifenlauge, dann fährt er dem Fritzchen über den hellen Schopf und setzt sich an den Tisch zum Essen.
Vorhang: Für das Knäuel löchriger Strümpfe im Stopfkorb sieht das Publikum die Chancen für einen Auftritt schwinden, denn unnachgiebig belagert das steife braune Papier aus der Fabrik das Habel'sche Heim.
Ein Ende gibts da gar nicht, sinnt Friederike, weil wir so viel Sackerl nie nicht zammpappen können, wie die Fabrik alle Tag rauslasst aus ihrem Tor - bloß am Sonntag, da is eine Ruh.
Endlose, raschelnde Papierströme ergießen sich täglich ins Arbeiterhaus. Gefaltet, zu Säckchen in allerlei Größen zusammengeklebt, gebündelt und gezählt fließen sie zurück und mutieren am Ende des Monats zu einem winzigen Betrag, der sich als »plus siebzig Normzahlpacken Heimarbeit« in Vater Habels Lohntüte wiederfindet.
Friederike hat von Gezeiten, von Ebbe und Flut, noch nie etwas gehört, das hat der Lehrer, der Klöpp, noch nicht durchgenommen, und einen Ozean hat Friederike auch noch nicht gesehen, trotzdem ist ihr das Tidenphänomen in modifizierter Form durchaus vertraut: Jeden Samstagabend ebben die Wogen aus platten braunen Rechtecken, die von der Fabrik her kommen, ab, der Nachschub versiegt, bis am Montag eine neue Flut einsetzt.
Am Samstagabend glänzt die Tischplatte blank gescheuert unter frisch gewaschenen Leibchen, sauberen Strümpfen und Schürzen, denen der penetrante Geruch nach Klebstoff und Schwefeloxid herausgeschrubbt wurde.
Ein ovaler Holzzuber beherrscht am Samstag die Szene: zehn Eimer Wasser - Friederike zieht es schmerzhaft in den mageren Armen, wenn sie an die Schlepperei vom Brunnenhäusl über den Hof durch das Stiegenhaus an sieben anderen Wohnungstüren vorbei bis zur Habel'schen Küche denkt.
Ein Eimer Wasser füllt jeweils die zwei Töpfe auf dem Herd. Sobald das Wasser darin heiß ist, darf es in den Zuber schwappen. Die ersten vier Portionen müssen fast sieden, weil sie, vorschnell abgekühlt, die letzten dadurch verderben würden.
Immer sitzt die Mari als Allererste drin, geht es Friederike im Kopf herum, weil die was Besonders ist, nicht einmal das kleine Fritzerl lasst sie mit rein.
Erst wenns dann fertig is, die Madam, dann is zufrieden, und dann tuts mordsgönnerisch, wenn mir drankommen. Mir anderen baden zu zweit; das könnt keiner erwarten, bis alle sechs durch sind nacheinand, und kalt wärs auch längst, das Wasser. Ich bad am liebsten mit dem Rudi, bestätigt sich Friederike still, der wascht sich und steigt raus, und ich nehm das Fritzerl he rein zu mir und kann noch ein bisserl sitzen bleiben, bis die Else und die Hermine herdrücken. Bei denen muss die Mutter sowieso immer dreinfahren, weils so kreischen und spritzen, und das Baden, das gehört doch zum Sauberwerden und nicht für die Gaudi.
Auf ihrem Strohsack im Nebenzimmerchen verschläft Friederike die weiteren Akte vor der Kulisse »böhmisches Bad«: Mutter Habel gießt noch einen Napf voll heißen Wassers in den Zuber nach, raspelt mit dem Fingernagel ein paar Seifenflocken hinterher und zaubert damit die Illusion eines frischen, dampfenden Schaumbades.
Ein allerletztes Mal schöpft sie aus ihrem Vorrat, dem Wasserschiff an der Herdseite - diesem winzigen, neben der Kochstelle eingelassenen Bassin, das gerade mal einen Liter fasst. Dann lässt sich der Habelvater ächzend in die - nüchtern besehen - von sechs Vorgängern angedunkelte Brühe sinken. Er hängt das Bein mit der offenen, periodisch eiternden Wunde an der Schnittstelle, die das Schicksal seines Fußes besiegelte, über den Zuberrand, und Mutter Habel platziert stabilisationshalber die Stuhllehne unter seine Wade.
Im Schlussbild sitzt Mutter Habel selbst im Zuber und schrubbt sich ab in der trüben, schlierigen Kernseifenlauge.
An der ostseitigen Wand der Wohnküche, diesem Mittelpunkt des Habel'schen Daseins, klebt ein kleiner Verschlag, wo die sechs Habel'schen Kinder aufgereiht in drei Betten schlafen.
Seufzend rollt sich Friederike vom mittleren, rettet ihren Strohsack vor einnehmenden Armen und bettet sich auf die Erde. Sie gibt ja doch keine Ruh, die Mari, bis sie nicht das Bett allein hat, weiß Friederike aus Erfahrung und grummelt im Halbschlaf: Die Mari schiebt und drückt und kratzt und lamentiert umeinander, bis dass ich mich lieber am Boden hinleg, und morgen möcht sie mir weismachen, dass sies im Schlaf gmacht und gar nix gmerkt hat davon.
»Dirndln«, schnauft die Mutter an einem dieser Herbsttage im Jahre des Herrn 1933 mit einem schnellen Blick über die linke Schulter. Sie meint Friederike und die drei Jahre ältere Hermine, die in der angeschlagenen, von den Pilzen befreiten Blechschüssel die Lehmbröckchen aus Fritzchens Hose spült. »Warm und trocken, wie das heut is, müssts ihr um eine frische Streu ausrücken.«
Das Stroh vom Vorjahr ist in den derben Leinensäcken, auf denen die Kinder schlafen, schon zu Bröseln zerfallen. Die Mädchen schütten es in den Ziegenstall: Ein bisschen Ziegenpisse soll die Streu noch aufsaugen, um dann zu guter Letzt den Gemüsegarten zu düngen.
Hermine und Friederike füllen die Säcke frisch auf und binden sie auf der Rückseite ganz locker zu, sodass jeder gut hineingreifen kann in seinen Strohsack, denn der muss geformt werden, zu Mulden geklopft und zu Hügeln gebauscht, umgearbeitet zum Negativ des schlafenden Körpers.
»Die Nachthaferln sind noch nicht ausgleert«, quäkt Mari von der Eckbank herunter, wo sie an einem Zuckerklümpchen lutscht.
»Jessmariaundjosef«, erheischt sich Friederike die Aufmerksamkeit der Heiligen Familie, »darf die Mari den ganzen Tag kommandieren?«
»Die Else, die hat sich heut schon wieder abgspatzt«, geifert die Mari unbeirrt weiter.
»Auf den Fritzerl schaut sie auf, dass er nicht wieder wo reinfallt, du Gscheithaferl«, fährt ihr Hermine über den Mund.
»Wo werd sie denn den Zuckerbatzen wieder herham, die Mari«, rätselt Friederike flüsternd, »so klein, wies ist, aber ausgfuchst für drei.«
Friederike angelt zwei Nachthaferl unter den Betten hervor und tappt damit vorsichtig die steile Treppe hinunter. Käsig riecht er, der Urin von den Buben, und Blasen sind drauf, und ein Schleimbatzen schwimmt drin.
Im anderen Nachttopf, die Else und die Hermine haben ihn sich geteilt, leuchtet es rot wie Himbeersaft, und obenauf schwimmen drei oder vier ersoffene Fliegen - reingelegt. Friederike kippt das Resümee einer Nacht in die runde Aussparung des von vielen Hintern abgewetzten Sitzbretts. »Was tätn mir ohne die Nachthaferln«, murmelt Friederike, »endsweit is das von unserer Wohnung bis zum Abort, finster und eiskalt bei der Nacht. Und dann könnts noch sein, wennst endlich da bist, dass schon ein anderer draufsitzt aus dem Haus, und dann kannst herwarten.«
Eine lange Reihe von Mitbewohnern, sieben Familien, genau gesagt, samt Großmüttern und einer beständig wachsenden Anzahl von Kindern, windet sich als potenzielle Toilettenblockierer durch Friederikes Gedankengänge.
»Der Fritzerl und die Mari«, sieht Friederike ganz klar, »die könnens gar nicht allein. Der Fritzerl, der kann da überhaupt noch gar nicht drauf, der tät glatt durchfalln durch das Loch, bis runter in die Grubn.«
Friederike schaudert und hat das Entsetzliche vor Augen: Fritzerl segelt ungebremst zehn Meter weit hinunter in die Güllegrube, unrettbar verloren, erstickt und ersoffen in zähflüssiger Scheiße. Ein schauerlicher Tod, hie und da schon gestorben.
»Jessmariaundjosef, dankschön für die Haferln«, besinnt sich Friederike auf Demut und Dankbarkeit.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Jutta Mehler
- 302 Seiten, Maße: 13,5 x 19,2 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863650328
- ISBN-13: 9783863650322
Kommentare zu "Moldaukind"
0 Gebrauchte Artikel zu „Moldaukind“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4 von 5 Sternen
5 Sterne 3Schreiben Sie einen Kommentar zu "Moldaukind".
Kommentar verfassen