Mutproben
Ein Plädoyer für Ehrlichkeit und Konsequenz
»Alles hat seine Zeit - das gilt auch für mich.«
Ole von Beust
»Nimm dich nicht so wichtig, nimm deine Verantwortung wahr und bewundere niemanden« - in diesem Geist ist er groß geworden: Ole von Beust, CDU-Politiker,...
Ole von Beust
»Nimm dich nicht so wichtig, nimm deine Verantwortung wahr und bewundere niemanden« - in diesem Geist ist er groß geworden: Ole von Beust, CDU-Politiker,...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Mutproben “
»Alles hat seine Zeit - das gilt auch für mich.«
Ole von Beust
»Nimm dich nicht so wichtig, nimm deine Verantwortung wahr und bewundere niemanden« - in diesem Geist ist er groß geworden: Ole von Beust, CDU-Politiker, ehemaliger Bürgermeister von Hamburg, Jurist, Berater. Ein charismatischer und glaubwürdiger Politiker, der jetzt die neu gewonnene Freiheit nutzt, seine Erfahrungen und Erkenntnisse in einem Buch zu bündeln.
Ole von Beust erzählt von dem, was ihn in seiner Kindheit geprägt hat, beleuchtet die Stationen seiner Karriere und offenbart damit das Dilemma der Konservativen, zu denen er sich mit all seiner Weltoffenheit zählt. So gelingt ihm eine kluge Analyse unserer heutigen Zeit und einer Politik, die mehr und mehr den Themen der Gesellschaft hinterherläuft, anstatt diese selbst zu bestimmen.
Das kluge Buch eines charismatischen und glaubwürdigen Politikers
Ein Blick auf den Umgang mit Macht, auf Eitelkeiten und innere Überzeugungen
Analytisch, sachlich und unterhaltsam zugleich
Ein Plädoyer für eine neue Haltung: ehrlich, integer, konsequent
Ole von Beust
»Nimm dich nicht so wichtig, nimm deine Verantwortung wahr und bewundere niemanden« - in diesem Geist ist er groß geworden: Ole von Beust, CDU-Politiker, ehemaliger Bürgermeister von Hamburg, Jurist, Berater. Ein charismatischer und glaubwürdiger Politiker, der jetzt die neu gewonnene Freiheit nutzt, seine Erfahrungen und Erkenntnisse in einem Buch zu bündeln.
Ole von Beust erzählt von dem, was ihn in seiner Kindheit geprägt hat, beleuchtet die Stationen seiner Karriere und offenbart damit das Dilemma der Konservativen, zu denen er sich mit all seiner Weltoffenheit zählt. So gelingt ihm eine kluge Analyse unserer heutigen Zeit und einer Politik, die mehr und mehr den Themen der Gesellschaft hinterherläuft, anstatt diese selbst zu bestimmen.
Das kluge Buch eines charismatischen und glaubwürdigen Politikers
Ein Blick auf den Umgang mit Macht, auf Eitelkeiten und innere Überzeugungen
Analytisch, sachlich und unterhaltsam zugleich
Ein Plädoyer für eine neue Haltung: ehrlich, integer, konsequent
Klappentext zu „Mutproben “
"Alles hat seine Zeit das gilt auch für mich."Ole von Beust
"Nimm dich nicht so wichtig, nimm deine Verantwortung wahr und bewundere niemanden" in diesem Geist ist er groß geworden: Ole von Beust, CDU-Politiker, ehemaliger Bürgermeister von Hamburg, Jurist, Berater. Ein charismatischer und glaubwürdiger Politiker, der jetzt die neu gewonnene Freiheit nutzt, seine Erfahrungen und Erkenntnisse in einem Buch zu bündeln.
Ole von Beust erzählt von dem, was ihn in seiner Kindheit geprägt hat, beleuchtet die Stationen seiner Karriere und offenbart damit das Dilemma der Konservativen, zu denen er sich mit all seiner Weltoffenheit zählt. So gelingt ihm eine kluge Analyse unserer heutigen Zeit und einer Politik, die mehr und mehr den Themen der Gesellschaft hinterherläuft, anstatt diese selbst zu bestimmen.
Das kluge Buch eines charismatischen und glaubwürdigen Politikers
Ein Blick auf den Umgang mit Macht, auf Eitelkeiten und innere Überzeugungen
Analytisch, sachlich und unterhaltsam zugleich
Ein Plädoyer für eine neue Haltung: ehrlich, integer, konsequent
Lese-Probe zu „Mutproben “
Mutproben - Ein Plädoyer für Ehrlichkeit und Konsequenz von Ole von BeustMut proben!
Als Politiker sah ich mich immer wieder vor die Frage gestellt, welche Hoffnungen die Menschen in die Politik und in uns Politiker heute setzen. Und ich bemerkte eine große Diskrepanz zwischen dem, was man von uns erwartet, und dem, was man uns tatsächlich zutraut. Immer wieder stellte ich in Gesprächen fest, dass die Menschen sich von einem Politiker vor allem Ehrlichkeit wünschen und Gradlinigkeit. Und dass sie genau diese Tugenden derzeit am meisten auch vermissen. Ich kann das nachvollziehen. Vor allem, denke ich, fehlt es der Politik heute an einer guten Portion Mut.
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Mut heißt immer, bewusst ein überschaubares Risiko einzugehen. Alles andere ist leichtfertig - oder es ist Heldenmut. Mutig ist also der, der in Kenntnis der Gefahren der eigenen Überzeugung und Intuition folgt. Die erste Mutprobe meistert jeder von uns unbewusst schon im Babyalter. Mit neun oder zehn oder elf Monaten richten wir uns auf für die ersten Schritte, sehr wackelig, noch gestützt durch unsere Eltern, aber dann, plötzlich, können wir uns lösen und marschieren freudestrahlend los. Ganz von allein. Ab diesem Moment ist unser Leben von solch großen und kleineren Momenten des Mutes bestimmt: der erste Sprung ins tiefe Wasser, das erste Mal ungestützt Fahrradfahren, der erste Kuss, die Entscheidung für oder gegen diesen oder jenen Beruf, Hochzeit ja oder nein, eigene Kinder und so weiter und so fort. All diese Entscheidungen verbindet die Bereitschaft, auch das entsprechende Risiko in Kauf zu nehmen. Das Risiko, nicht gleich laufen zu können und hinzufallen, im Wasser doch nicht auf Anhieb zu schwimmen, mit dem Fahrrad auf die Nase zu knallen, den Kuss verwehrt zu bekommen, den falschen Beruf gewählt, die falsche Person geheiratet zu haben. All das sind Risiken, die wir instinktiv oder intellektuell einkalkulieren, wenn wir uns für einen neuen Schritt entscheiden. Wir entscheiden uns für das Risiko und gegen unsere Bedenken, weil wir überzeugt sind davon, dass dieser Schritt auch der richtige ist. Mut, so wie ich ihn also verstehe, ist nur ein anderes Wort für die Bereitschaft zum Risiko. Mut ist eine Frage der Haltung.
Ich selbst bezeichne mich nicht als mutig. Ich bin ein intuitiver Mensch. Intuitiv habe ich häufig Entscheidungen gefällt, bei denen hinterher die Leute sagten, da warst du aber mutig, da bist du aber ein hohes Risiko eingegangen. Zwar habe ich die Risiken meist gesehen - oder absichtlich übersehen -, aber in meiner Entscheidungsfreiheit wollte ich mich dadurch nicht blockieren lassen. Weil ich immer überzeugt war von meiner Sache, dieses oder jenes in diesem Moment nun mal tun zu müssen. Und wo ich es nicht tat, da bereue ich es heute.
Zu jenen Entscheidungen mit Risiken und Nebenwirkungen gehörten sicherlich das Bündnis mit dem Rechtspopulisten Ronald Schill, sein späterer Rausschmiss und die darauf folgende Entscheidung zu Neuwahlen. Es hätte verdammt schief gehen können. Aber es lief gut. Weit besser sogar als erhofft. Ich galt als »Drachentöter«, und wir erhielten anschließend die absolute Mehrheit.
Auch die erste Schwarz-Grüne Koalition auf Landesebene war mit hohen Risiken verbunden. Eine große Koalition wäre zwar bequemer gewesen, in dieser Konstellation hätte man vermutlich vier Jahre ohne großen Ärger überlebt. Aber das wollte ich nicht. Ich war überzeugt vom schwarz-grünen Bündnis, und ich schätze die Grünen in Hamburg auch persönlich sehr.
Bei meiner Entscheidung für die Schulreform ging ich ebenfalls ein Risiko ein, und im Nachhinein betrachtet war es wohl das größte Risiko meiner gesamten politischen Laufbahn. Das eigene Lager konnte ich nicht ausreichend von der Notwendigkeit überzeugen, die Grundschule zu einer sechsjährigen Primarschule umzubauen. Ich hatte auch nicht erwartet, dass dieses Thema die Menschen so polarisiert. Natürlich bestand das Risiko zu scheitern, dessen war ich mir sehr bewusst. Und am Ende hat es sich ja auch bewahrheitet. Doch für mich persönlich war es nie ein Drama, für eine Überzeugung zu scheitern. Ich war überzeugt von unseren Argumenten, der festen Meinung, dass sie auch das bürgerliche Lager und die Konservativen überzeugen könnten. Ich glaubte schlicht, dass die gesellschaftliche Diskussion hier weiter wäre. Es ist nun eine sehr unglückliche Situation für die Partei, die die Hauptleittragende ist. Die Schwarz-Grüne Koalition platzte und wir verloren die darauf folgende Wahl mit lautem Krach. Doch so wie wir als Partei die absolute Mehrheit nach dem Rauswurf Schills und den Neuwahlen holen konnten, weil wir das Risiko gewagt hatten, so sind wir leider mit der Schulreform gescheitert. Nur so aber kann man gute Politik betreiben. Nur so lassen sich Akzente setzen, daran glaube ich fest. Mal liegt man mit seiner Einschätzung goldrichtig, und manchmal daneben. Niederlagen gehören dazu.
Doch genau hier liegt das Problem. Generell habe ich das Gefühl, dass die Risikobereitschaft stark nachgelassen hat. Die Menschen vermissen von Politikern klare Bekenntnisse. Und sie haben jedes Recht dazu, diese einzufordern. Zu selten treten wir klar für unsere Positionen ein, aus Angst, uns gegen den Mainstream zu lehnen.
Ich will Beispiele nennen, wo ich eine klare Haltung vermisst habe. Zum einen: Thilo Sarrazin. Ich meine, dass man seinen Thesen deutlich härter hätte gegenübertreten sollen. Das hätte ich mir von meiner eigenen Partei gewünscht, genauso deutlich aber auch von der SPD erwartet. Viele Kollegen hatten das Gefühl, aus Sarrazins Buch spricht Volkes Stimme, und mit Volkes Stimme legt man sich nicht an. Das Buch aber war unseriös, in seinen Thesen unredlich, doch kaum einer hat dagegengehalten. Die Grünen taten es noch am lautesten. Im Grunde aber haben alle durch die Bank weg versucht, dieses unangenehme Thema leerpuffern zu lassen. Öffentlich klang das dann so: Er spricht etwas an, das viele beschäftigt, und wir nehmen das sehr ernst. Eine leere politische Phrase.
Zum anderen vermisse ich seit langem ein klares Bekenntnis zu Europa. Keiner äußert eine Vision, keiner hat den Mut zu sagen: Verflucht noch mal, Europa hat uns 50 Jahre Frieden gebracht, es hat uns Wohlstand gebracht, nun muss Deutschland auch Opfer bringen. Im Wettbewerb mit China, aber auch in der Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten brauchen wir Europa. Nicht nur aus ökonomischer Sicht. Wir benötigen auch ein ideelles Rückgrat. Wir sollten stolz sein auf unsere europäischen Werte. Und deshalb muss man jetzt sehr klar und deutlich sagen: »Mein Ziel, das sind die Vereinigten Staaten von Europa.« Ein solcher Schwur ist nötig. Im Zuge der Globalisierung muss man neue Positionen beziehen, die vor 20 Jahren vielleicht noch nicht erforderlich waren. Ein emotionales, ein historisches Ziel in dieser Größenordnung muss hier formuliert werden, auch mit dem Risiko, dass 70 Prozent der Menschen das so noch nicht sehen. Mir fehlt die Bereitschaft in der Politik, die Menschen davon tatsächlich überzeugen zu wollen. Mit Rücksicht auf die vermutete öffentliche Meinung wird hier wieder alles sehr verquast ausgedrückt. Bloß kein Risiko eingehen, sich bloß nicht bekennen, es könnte ja die nächste Wahl verloren gehen.
Wir brauchen also wieder mehr Mut und Klarheit in den Debatten. Dabei dürfen wir jedoch nicht die Verantwortung für die eigenen Leute aus dem Blick verlieren. Politik darf kein Jahrmarkt der eigenen Eitelkeit werden, kein Spiel nach dem Motto: Hier stehe ich und kann nicht anders. Das ist inakzeptabel, denn kein Politiker steht für sich allein. Er ist immer zugleich Repräsentant seiner eigenen Leute. Die Wähler aber goutieren Mut und Ehrlichkeit, davon bin ich überzeugt.
Ich will hier keine klassische Autobiografie schreiben. Und doch werde ich im ersten Kapitel erläutern, wie ich zu dem wurde, der ich heute bin. Und ich möchte der Frage nachgehen, woher mein Drang nach Individualität und Unabhängigkeit stammt.
Im zweiten Teil des Buches stelle ich die wichtigsten Stationen und Entscheidungen dar, die ich in meinem Leben als Politiker vollzogen habe. Dazu gehören die erfolgsgekrönten gleichermaßen wie die weniger ruhmreichen Momente.
Im dritten Teil denke ich an die Zukunft. Denn wir sind mit gewaltigen Umbrüchen konfrontiert, die heute weit über das Politische hinausreichen und direkt ins Mark der Gesellschaft treffen: Wie steht es mit der Integration, was muss eine moderne Bildungspolitik erfüllen und was wird aus Europa? Diese Themen verdienen eine angemessene Seriosität und eine Portion Mut.
Seit meinem sechzehnten Lebensjahr war ich in der Politik tätig und blieb ihr bis zu meinem Rücktritt vom Amt des Ersten Bürgermeisters der Hansestadt Hamburg im Herbst 2010 treu. Ich war vor meinem Eintritt in die CDU schon ein politischer Mensch und bleibe dies auch nach meinem Ausscheiden aus der aktiven Politik. Dieses Buch ist also keine Bewerbung um ein politisches Amt, dieses Buch ist kein Parteiprogramm. Dieses Buch ist der Versuch, meine Sicht auf die Dinge darzulegen, auf die Motive meines Handelns.
Kindheit I -
Oder warum ich ein Individualist bin
Es ist schon einige Jahre her, als ich mich auf die Suche machte nach den letzten Resten meiner Kindheit. Im Wald wollte ich sie finden, im Naturschutzgebiet am äußersten Rand der Stadt. Es war merkwürdig, aber immer wieder träumte ich intensiv vom Haus meiner Eltern, obwohl ich schon längst erwachsen war. Mein Vater hatte das Haus nach dem Tod meiner Mutter aufgegeben, weil er dort draußen, alleine, nicht mehr wohnen wollte. Er zog ins Alstertal, unser Haus wurde abgerissen, und so stand ich also da, an diesem Tag vor fünfzehn Jahren etwa, mitten im Grünen, und suchte die Natur ab nach irgendeinem Anhaltspunkt. Doch da war nichts. Kein noch so kleines Relikt war übrig geblieben vom schönen Norweger-Holzhaus im Hochmoor. Nur zwei alte Bäume standen noch da, auf denen ich als Kind gern in schwindelerregender Höhe herumgeturnt bin. Die Natur hatte sich ihren Raum zurückerobert.
Mich überkam ein schmerzliches Erwachen. Die Jahre dazwischen hatten alle Spuren verschluckt, nur meine Erinnerung konservierte noch die Bilder von früher als verschwommene Momente. Ich spürte plötzlich, wie mit dem Haus auch das Gefühl der Geborgenheit, der Heimat einfach weggerissen worden war. Zu der Zeit war ich etwa vierzig Jahre alt, Oppositionsführer der CDU in der Hamburger Bürgerschaft, und vielleicht klingt das manchem auch etwas naiv, doch die Kindheit hatte mich bis zu diesem Tag nicht ganz losgelassen.
Denn es war eine wunderbare Kindheit, eine Kindheit wie im Märchen. Und rückblickend betrachtet war es die glücklichste, die unbeschwerteste und prägendste Zeit meines Lebens.
Insgesamt standen mit unserem gerade mal fünf Häuser im Naturschutzgebiet. Duvenstedter-Brook, die nächste Zivilisation lag vier Kilometer entfernt. Als Kind fand ich das natürlich herrlich, die Abgeschiedenheit in der Natur, die endlose Freiheit. Aber eigentlich lebten wir am Ende der Welt. Die Ruhe von damals, nur das Rauschen der Bäume, der Wind und die Vögel, das hallt noch heute in mir nach. Manchmal rannte ich ins Haus hinein zu meiner Mutter, nur um überhaupt mal irgendwas zu hören, und wenn es nur das Klappern des Geschirrs war, während sie in der Küche herumwerkelte. Es gab kaum Autos dort draußen bei uns, keinen Lärm. Nur einmal im Jahr wurde es doch ziemlich laut in der Stille: wenn die Hirsche ihre Brunftzeit hatten. Bis auf hundert Meter kamen sie an unser Haus heran. Ich verkroch mich dann ins Bett, zog die Decke über den Kopf und lauschte gespannt auf das Röhren dieser Viecher. Man muss es selbst mal gehört haben, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie krachend und mächtig dieses Grunzen ist. Angst hatte ich nie, aber es war doch immer wieder ein beeindruckendes Erlebnis, diesen Tieren so nah zu sein.
Der Ohlstedter Bahnhof, die letzte Station vor der Hamburger Stadtgrenze, das war also schon die große weite Welt für mich. Dort gab es den Spar-Laden von Herrn Halfmann und ein kleines Café, wo ich Süßigkeiten geschenkt bekam. Und gleich um die Ecke gab es einen Friseurladen, Salon Köhn, bei dem ich mal bei einem Preisausschreiben mitmachen durfte und prompt eine Flasche Birkin gewann, auf die ich dann auch besonders stolz war. Mich kannten hier alle. Wenn ich zu Sadowski ging, dem Laden direkt am Bahnhof, und kein Geld mehr hatte, um mir Salinos zu kaufen oder diese kleinen Weingummiteufelchen, die ich so gerne mochte, dann brauchte ich nur zu sagen: »Mami zahlt«, und ich konnte die Süßigkeiten mitnehmen. Diese Erinnerungen haben sich mir tief eingeprägt. Ich musste nie Angst haben, ich war immer auf der sicheren Seite. Ich wusste, dass meine Mutter immer für mich da sein würde. »Mami zahlt«, das war im Grunde ein Synonym dafür, dass mir im Leben nichts passieren konnte.
Von meinem Vater habe ich in den ersten fünf Jahren eher wenig mitbekommen. Er war zu jener Zeit Bezirksbürgermeister in Wandsbek und kam abends meist spät nach Hause. Meine Mutter war der emotionale Bezugspunkt für mich, mit ihr war ich die meiste Zeit zusammen, und sie war es auch, die im Großen und Ganzen für meine Erziehung zuständig war. Sie war nicht streng, aber sie achtete sehr auf Umgangsformen. »Gerade stehen, Mäusi!«, das sagte sie immer zu mir, wenn ich mal wieder verträumt und mit hängenden Schultern Löcher in die Gegend starrte. Meine Mutter war ein warmer und liebevoller Mensch, aber eigene Bedürfnisse zeigen konnte sie kaum. Während mein Vater häufig Magengeschwüre hatte und hypochondrisch veranlagt war, extrovertiert und keine Hemmungen hatte, mir und meinen beiden Brüdern seine Gefühlslagen zu zeigen, hielt unsere Mutter vor uns eine Fassade aufrecht, das Bild eines unverletzbaren Menschen. Eigene Gefühle hält man vor den Kindern zurück, das war ihre Prämisse. Sie war ein Pflichtmensch, ohne darüber groß zu reden oder gar freudlos zu wirken. Ich kann mich nicht daran erinnern, sie jemals krank erlebt zu haben. Manchmal lief ihr eine Träne die Wange herunter, sie hatte einen schweren Bandscheibenvorfall und ihr Leben lang starke Schmerzen zu erleiden, aber beklagt hat sie sich nie. Das ging gegen ihre Würde. So war ihr Naturell. Und es war sicherlich auch die Haltung einer ganzen Generation, die geprägt war durch die Erlebnisse der Nazizeit.
Nach den Nürnberger Gesetzen war meine Mutter Halbjüdin. Ihr Vater, Großvater Carl-Ludwig Wolff, war das, was man wohl einen Textiljuden nannte. Er betrieb ein Geschäft für Stoffe und Textilien im mecklenburgischen Lübtheen, und bis zur Machtübernahme der Nazis war es das erste Haus am Platze, wie man damals sagte. Großvater Wolff war sehr jung schon verstorben, Ende der Zwanzigerjahre. Ich selbst habe ihn also nicht kennengelernt. Obwohl es doch ein viel zu früher Tod war, muss man in seinem Fall fast schon sagen, dass es ein Glücksfall war. Denn ihm blieb erspart, was seine Geschwister später durchmachen sollten: das Dritte Reich und seine Folgen. Einer der Brüder beging aus Verzweiflung Suizid, die anderen Geschwister wurden nach Theresienstadt verschleppt und dort umgebracht.
Meine Mutter hingegen hat es weitestgehend unbeschadet durch die Nazizeit geschafft. Zwar musste sie nach der Machtergreifung 1933 selbst erleben, wie Mitschülerinnen plötzlich nicht mehr mit ihr zusammen sein durften. Da war sie vierzehn Jahre alt. Sie bekam mit, wie das Textilgeschäft, das meine Großmutter nach dem Tod ihres Mannes weitergeführt hatte, später als »jüdisches Geschäft« enteignet wurde. Dass mein ältester Bruder 1941 unehelich auf die Welt kam, weil meine Eltern nach geltendem Recht nicht heiraten durften, war natürlich ebenfalls ein Thema für die bürgerliche Familie meines Vaters. Aber dies waren Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, was ihren Verwandten widerfuhr.
Bei uns Zuhause wurde offen und viel darüber gesprochen, daran kann ich mich noch gut erinnern. Die Nazizeit, der Krieg, das waren keine Tabus. Im Gegenteil: Die Zeit des Nationalsozialismus spielte in meiner Kindheit eine große Rolle. Gerade durch meinen Vater, den das alles sehr beschäftigt hatte, weil er - als »Arier« mit einer »Halbjüdin« verheiratet - aus nächster Nähe die Tragödie hatte beobachten können. Meine Mutter allerdings war erst im Älterwerden in der Lage, wirklich offen über diese Zeit zu sprechen. Sie hatte, wie sie meinte, durchaus auch vergnügliche Jahre gehabt unter den Nazis mit Tanz und mit ausgelassenen Festen. Und sie hatte in diesen Jahren verdrängt, was mit ihren Verwandten geschehen war, die später im KZ ihr Leben verloren. Dass sie das damals nicht so gesehen, dass sie vielleicht sogar bewusst davor die Augen verschlossen hatte, aus Unbekümmertheit oder aus schlichter Angst vor der grausamen Realität, das nagte an ihr, und das lastete sie sich persönlich als moralische Verfehlung an. Bis zuletzt.
© Gütersloher Verlagshaus
Mut heißt immer, bewusst ein überschaubares Risiko einzugehen. Alles andere ist leichtfertig - oder es ist Heldenmut. Mutig ist also der, der in Kenntnis der Gefahren der eigenen Überzeugung und Intuition folgt. Die erste Mutprobe meistert jeder von uns unbewusst schon im Babyalter. Mit neun oder zehn oder elf Monaten richten wir uns auf für die ersten Schritte, sehr wackelig, noch gestützt durch unsere Eltern, aber dann, plötzlich, können wir uns lösen und marschieren freudestrahlend los. Ganz von allein. Ab diesem Moment ist unser Leben von solch großen und kleineren Momenten des Mutes bestimmt: der erste Sprung ins tiefe Wasser, das erste Mal ungestützt Fahrradfahren, der erste Kuss, die Entscheidung für oder gegen diesen oder jenen Beruf, Hochzeit ja oder nein, eigene Kinder und so weiter und so fort. All diese Entscheidungen verbindet die Bereitschaft, auch das entsprechende Risiko in Kauf zu nehmen. Das Risiko, nicht gleich laufen zu können und hinzufallen, im Wasser doch nicht auf Anhieb zu schwimmen, mit dem Fahrrad auf die Nase zu knallen, den Kuss verwehrt zu bekommen, den falschen Beruf gewählt, die falsche Person geheiratet zu haben. All das sind Risiken, die wir instinktiv oder intellektuell einkalkulieren, wenn wir uns für einen neuen Schritt entscheiden. Wir entscheiden uns für das Risiko und gegen unsere Bedenken, weil wir überzeugt sind davon, dass dieser Schritt auch der richtige ist. Mut, so wie ich ihn also verstehe, ist nur ein anderes Wort für die Bereitschaft zum Risiko. Mut ist eine Frage der Haltung.
Ich selbst bezeichne mich nicht als mutig. Ich bin ein intuitiver Mensch. Intuitiv habe ich häufig Entscheidungen gefällt, bei denen hinterher die Leute sagten, da warst du aber mutig, da bist du aber ein hohes Risiko eingegangen. Zwar habe ich die Risiken meist gesehen - oder absichtlich übersehen -, aber in meiner Entscheidungsfreiheit wollte ich mich dadurch nicht blockieren lassen. Weil ich immer überzeugt war von meiner Sache, dieses oder jenes in diesem Moment nun mal tun zu müssen. Und wo ich es nicht tat, da bereue ich es heute.
Zu jenen Entscheidungen mit Risiken und Nebenwirkungen gehörten sicherlich das Bündnis mit dem Rechtspopulisten Ronald Schill, sein späterer Rausschmiss und die darauf folgende Entscheidung zu Neuwahlen. Es hätte verdammt schief gehen können. Aber es lief gut. Weit besser sogar als erhofft. Ich galt als »Drachentöter«, und wir erhielten anschließend die absolute Mehrheit.
Auch die erste Schwarz-Grüne Koalition auf Landesebene war mit hohen Risiken verbunden. Eine große Koalition wäre zwar bequemer gewesen, in dieser Konstellation hätte man vermutlich vier Jahre ohne großen Ärger überlebt. Aber das wollte ich nicht. Ich war überzeugt vom schwarz-grünen Bündnis, und ich schätze die Grünen in Hamburg auch persönlich sehr.
Bei meiner Entscheidung für die Schulreform ging ich ebenfalls ein Risiko ein, und im Nachhinein betrachtet war es wohl das größte Risiko meiner gesamten politischen Laufbahn. Das eigene Lager konnte ich nicht ausreichend von der Notwendigkeit überzeugen, die Grundschule zu einer sechsjährigen Primarschule umzubauen. Ich hatte auch nicht erwartet, dass dieses Thema die Menschen so polarisiert. Natürlich bestand das Risiko zu scheitern, dessen war ich mir sehr bewusst. Und am Ende hat es sich ja auch bewahrheitet. Doch für mich persönlich war es nie ein Drama, für eine Überzeugung zu scheitern. Ich war überzeugt von unseren Argumenten, der festen Meinung, dass sie auch das bürgerliche Lager und die Konservativen überzeugen könnten. Ich glaubte schlicht, dass die gesellschaftliche Diskussion hier weiter wäre. Es ist nun eine sehr unglückliche Situation für die Partei, die die Hauptleittragende ist. Die Schwarz-Grüne Koalition platzte und wir verloren die darauf folgende Wahl mit lautem Krach. Doch so wie wir als Partei die absolute Mehrheit nach dem Rauswurf Schills und den Neuwahlen holen konnten, weil wir das Risiko gewagt hatten, so sind wir leider mit der Schulreform gescheitert. Nur so aber kann man gute Politik betreiben. Nur so lassen sich Akzente setzen, daran glaube ich fest. Mal liegt man mit seiner Einschätzung goldrichtig, und manchmal daneben. Niederlagen gehören dazu.
Doch genau hier liegt das Problem. Generell habe ich das Gefühl, dass die Risikobereitschaft stark nachgelassen hat. Die Menschen vermissen von Politikern klare Bekenntnisse. Und sie haben jedes Recht dazu, diese einzufordern. Zu selten treten wir klar für unsere Positionen ein, aus Angst, uns gegen den Mainstream zu lehnen.
Ich will Beispiele nennen, wo ich eine klare Haltung vermisst habe. Zum einen: Thilo Sarrazin. Ich meine, dass man seinen Thesen deutlich härter hätte gegenübertreten sollen. Das hätte ich mir von meiner eigenen Partei gewünscht, genauso deutlich aber auch von der SPD erwartet. Viele Kollegen hatten das Gefühl, aus Sarrazins Buch spricht Volkes Stimme, und mit Volkes Stimme legt man sich nicht an. Das Buch aber war unseriös, in seinen Thesen unredlich, doch kaum einer hat dagegengehalten. Die Grünen taten es noch am lautesten. Im Grunde aber haben alle durch die Bank weg versucht, dieses unangenehme Thema leerpuffern zu lassen. Öffentlich klang das dann so: Er spricht etwas an, das viele beschäftigt, und wir nehmen das sehr ernst. Eine leere politische Phrase.
Zum anderen vermisse ich seit langem ein klares Bekenntnis zu Europa. Keiner äußert eine Vision, keiner hat den Mut zu sagen: Verflucht noch mal, Europa hat uns 50 Jahre Frieden gebracht, es hat uns Wohlstand gebracht, nun muss Deutschland auch Opfer bringen. Im Wettbewerb mit China, aber auch in der Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten brauchen wir Europa. Nicht nur aus ökonomischer Sicht. Wir benötigen auch ein ideelles Rückgrat. Wir sollten stolz sein auf unsere europäischen Werte. Und deshalb muss man jetzt sehr klar und deutlich sagen: »Mein Ziel, das sind die Vereinigten Staaten von Europa.« Ein solcher Schwur ist nötig. Im Zuge der Globalisierung muss man neue Positionen beziehen, die vor 20 Jahren vielleicht noch nicht erforderlich waren. Ein emotionales, ein historisches Ziel in dieser Größenordnung muss hier formuliert werden, auch mit dem Risiko, dass 70 Prozent der Menschen das so noch nicht sehen. Mir fehlt die Bereitschaft in der Politik, die Menschen davon tatsächlich überzeugen zu wollen. Mit Rücksicht auf die vermutete öffentliche Meinung wird hier wieder alles sehr verquast ausgedrückt. Bloß kein Risiko eingehen, sich bloß nicht bekennen, es könnte ja die nächste Wahl verloren gehen.
Wir brauchen also wieder mehr Mut und Klarheit in den Debatten. Dabei dürfen wir jedoch nicht die Verantwortung für die eigenen Leute aus dem Blick verlieren. Politik darf kein Jahrmarkt der eigenen Eitelkeit werden, kein Spiel nach dem Motto: Hier stehe ich und kann nicht anders. Das ist inakzeptabel, denn kein Politiker steht für sich allein. Er ist immer zugleich Repräsentant seiner eigenen Leute. Die Wähler aber goutieren Mut und Ehrlichkeit, davon bin ich überzeugt.
Ich will hier keine klassische Autobiografie schreiben. Und doch werde ich im ersten Kapitel erläutern, wie ich zu dem wurde, der ich heute bin. Und ich möchte der Frage nachgehen, woher mein Drang nach Individualität und Unabhängigkeit stammt.
Im zweiten Teil des Buches stelle ich die wichtigsten Stationen und Entscheidungen dar, die ich in meinem Leben als Politiker vollzogen habe. Dazu gehören die erfolgsgekrönten gleichermaßen wie die weniger ruhmreichen Momente.
Im dritten Teil denke ich an die Zukunft. Denn wir sind mit gewaltigen Umbrüchen konfrontiert, die heute weit über das Politische hinausreichen und direkt ins Mark der Gesellschaft treffen: Wie steht es mit der Integration, was muss eine moderne Bildungspolitik erfüllen und was wird aus Europa? Diese Themen verdienen eine angemessene Seriosität und eine Portion Mut.
Seit meinem sechzehnten Lebensjahr war ich in der Politik tätig und blieb ihr bis zu meinem Rücktritt vom Amt des Ersten Bürgermeisters der Hansestadt Hamburg im Herbst 2010 treu. Ich war vor meinem Eintritt in die CDU schon ein politischer Mensch und bleibe dies auch nach meinem Ausscheiden aus der aktiven Politik. Dieses Buch ist also keine Bewerbung um ein politisches Amt, dieses Buch ist kein Parteiprogramm. Dieses Buch ist der Versuch, meine Sicht auf die Dinge darzulegen, auf die Motive meines Handelns.
Kindheit I -
Oder warum ich ein Individualist bin
Es ist schon einige Jahre her, als ich mich auf die Suche machte nach den letzten Resten meiner Kindheit. Im Wald wollte ich sie finden, im Naturschutzgebiet am äußersten Rand der Stadt. Es war merkwürdig, aber immer wieder träumte ich intensiv vom Haus meiner Eltern, obwohl ich schon längst erwachsen war. Mein Vater hatte das Haus nach dem Tod meiner Mutter aufgegeben, weil er dort draußen, alleine, nicht mehr wohnen wollte. Er zog ins Alstertal, unser Haus wurde abgerissen, und so stand ich also da, an diesem Tag vor fünfzehn Jahren etwa, mitten im Grünen, und suchte die Natur ab nach irgendeinem Anhaltspunkt. Doch da war nichts. Kein noch so kleines Relikt war übrig geblieben vom schönen Norweger-Holzhaus im Hochmoor. Nur zwei alte Bäume standen noch da, auf denen ich als Kind gern in schwindelerregender Höhe herumgeturnt bin. Die Natur hatte sich ihren Raum zurückerobert.
Mich überkam ein schmerzliches Erwachen. Die Jahre dazwischen hatten alle Spuren verschluckt, nur meine Erinnerung konservierte noch die Bilder von früher als verschwommene Momente. Ich spürte plötzlich, wie mit dem Haus auch das Gefühl der Geborgenheit, der Heimat einfach weggerissen worden war. Zu der Zeit war ich etwa vierzig Jahre alt, Oppositionsführer der CDU in der Hamburger Bürgerschaft, und vielleicht klingt das manchem auch etwas naiv, doch die Kindheit hatte mich bis zu diesem Tag nicht ganz losgelassen.
Denn es war eine wunderbare Kindheit, eine Kindheit wie im Märchen. Und rückblickend betrachtet war es die glücklichste, die unbeschwerteste und prägendste Zeit meines Lebens.
Insgesamt standen mit unserem gerade mal fünf Häuser im Naturschutzgebiet. Duvenstedter-Brook, die nächste Zivilisation lag vier Kilometer entfernt. Als Kind fand ich das natürlich herrlich, die Abgeschiedenheit in der Natur, die endlose Freiheit. Aber eigentlich lebten wir am Ende der Welt. Die Ruhe von damals, nur das Rauschen der Bäume, der Wind und die Vögel, das hallt noch heute in mir nach. Manchmal rannte ich ins Haus hinein zu meiner Mutter, nur um überhaupt mal irgendwas zu hören, und wenn es nur das Klappern des Geschirrs war, während sie in der Küche herumwerkelte. Es gab kaum Autos dort draußen bei uns, keinen Lärm. Nur einmal im Jahr wurde es doch ziemlich laut in der Stille: wenn die Hirsche ihre Brunftzeit hatten. Bis auf hundert Meter kamen sie an unser Haus heran. Ich verkroch mich dann ins Bett, zog die Decke über den Kopf und lauschte gespannt auf das Röhren dieser Viecher. Man muss es selbst mal gehört haben, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie krachend und mächtig dieses Grunzen ist. Angst hatte ich nie, aber es war doch immer wieder ein beeindruckendes Erlebnis, diesen Tieren so nah zu sein.
Der Ohlstedter Bahnhof, die letzte Station vor der Hamburger Stadtgrenze, das war also schon die große weite Welt für mich. Dort gab es den Spar-Laden von Herrn Halfmann und ein kleines Café, wo ich Süßigkeiten geschenkt bekam. Und gleich um die Ecke gab es einen Friseurladen, Salon Köhn, bei dem ich mal bei einem Preisausschreiben mitmachen durfte und prompt eine Flasche Birkin gewann, auf die ich dann auch besonders stolz war. Mich kannten hier alle. Wenn ich zu Sadowski ging, dem Laden direkt am Bahnhof, und kein Geld mehr hatte, um mir Salinos zu kaufen oder diese kleinen Weingummiteufelchen, die ich so gerne mochte, dann brauchte ich nur zu sagen: »Mami zahlt«, und ich konnte die Süßigkeiten mitnehmen. Diese Erinnerungen haben sich mir tief eingeprägt. Ich musste nie Angst haben, ich war immer auf der sicheren Seite. Ich wusste, dass meine Mutter immer für mich da sein würde. »Mami zahlt«, das war im Grunde ein Synonym dafür, dass mir im Leben nichts passieren konnte.
Von meinem Vater habe ich in den ersten fünf Jahren eher wenig mitbekommen. Er war zu jener Zeit Bezirksbürgermeister in Wandsbek und kam abends meist spät nach Hause. Meine Mutter war der emotionale Bezugspunkt für mich, mit ihr war ich die meiste Zeit zusammen, und sie war es auch, die im Großen und Ganzen für meine Erziehung zuständig war. Sie war nicht streng, aber sie achtete sehr auf Umgangsformen. »Gerade stehen, Mäusi!«, das sagte sie immer zu mir, wenn ich mal wieder verträumt und mit hängenden Schultern Löcher in die Gegend starrte. Meine Mutter war ein warmer und liebevoller Mensch, aber eigene Bedürfnisse zeigen konnte sie kaum. Während mein Vater häufig Magengeschwüre hatte und hypochondrisch veranlagt war, extrovertiert und keine Hemmungen hatte, mir und meinen beiden Brüdern seine Gefühlslagen zu zeigen, hielt unsere Mutter vor uns eine Fassade aufrecht, das Bild eines unverletzbaren Menschen. Eigene Gefühle hält man vor den Kindern zurück, das war ihre Prämisse. Sie war ein Pflichtmensch, ohne darüber groß zu reden oder gar freudlos zu wirken. Ich kann mich nicht daran erinnern, sie jemals krank erlebt zu haben. Manchmal lief ihr eine Träne die Wange herunter, sie hatte einen schweren Bandscheibenvorfall und ihr Leben lang starke Schmerzen zu erleiden, aber beklagt hat sie sich nie. Das ging gegen ihre Würde. So war ihr Naturell. Und es war sicherlich auch die Haltung einer ganzen Generation, die geprägt war durch die Erlebnisse der Nazizeit.
Nach den Nürnberger Gesetzen war meine Mutter Halbjüdin. Ihr Vater, Großvater Carl-Ludwig Wolff, war das, was man wohl einen Textiljuden nannte. Er betrieb ein Geschäft für Stoffe und Textilien im mecklenburgischen Lübtheen, und bis zur Machtübernahme der Nazis war es das erste Haus am Platze, wie man damals sagte. Großvater Wolff war sehr jung schon verstorben, Ende der Zwanzigerjahre. Ich selbst habe ihn also nicht kennengelernt. Obwohl es doch ein viel zu früher Tod war, muss man in seinem Fall fast schon sagen, dass es ein Glücksfall war. Denn ihm blieb erspart, was seine Geschwister später durchmachen sollten: das Dritte Reich und seine Folgen. Einer der Brüder beging aus Verzweiflung Suizid, die anderen Geschwister wurden nach Theresienstadt verschleppt und dort umgebracht.
Meine Mutter hingegen hat es weitestgehend unbeschadet durch die Nazizeit geschafft. Zwar musste sie nach der Machtergreifung 1933 selbst erleben, wie Mitschülerinnen plötzlich nicht mehr mit ihr zusammen sein durften. Da war sie vierzehn Jahre alt. Sie bekam mit, wie das Textilgeschäft, das meine Großmutter nach dem Tod ihres Mannes weitergeführt hatte, später als »jüdisches Geschäft« enteignet wurde. Dass mein ältester Bruder 1941 unehelich auf die Welt kam, weil meine Eltern nach geltendem Recht nicht heiraten durften, war natürlich ebenfalls ein Thema für die bürgerliche Familie meines Vaters. Aber dies waren Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, was ihren Verwandten widerfuhr.
Bei uns Zuhause wurde offen und viel darüber gesprochen, daran kann ich mich noch gut erinnern. Die Nazizeit, der Krieg, das waren keine Tabus. Im Gegenteil: Die Zeit des Nationalsozialismus spielte in meiner Kindheit eine große Rolle. Gerade durch meinen Vater, den das alles sehr beschäftigt hatte, weil er - als »Arier« mit einer »Halbjüdin« verheiratet - aus nächster Nähe die Tragödie hatte beobachten können. Meine Mutter allerdings war erst im Älterwerden in der Lage, wirklich offen über diese Zeit zu sprechen. Sie hatte, wie sie meinte, durchaus auch vergnügliche Jahre gehabt unter den Nazis mit Tanz und mit ausgelassenen Festen. Und sie hatte in diesen Jahren verdrängt, was mit ihren Verwandten geschehen war, die später im KZ ihr Leben verloren. Dass sie das damals nicht so gesehen, dass sie vielleicht sogar bewusst davor die Augen verschlossen hatte, aus Unbekümmertheit oder aus schlichter Angst vor der grausamen Realität, das nagte an ihr, und das lastete sie sich persönlich als moralische Verfehlung an. Bis zuletzt.
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Autoren-Porträt von Ole von Beust
Ole von Beust, geb. 1955 in Hamburg, ist seit 1971 Mitglied der CDU. 1974 - 1980 studierte er Rechtswissenschaften an der Universität Hamburg und absolvierte 1983 sein Zweites Juristisches Staatsexamen. Seit 1993 ist er Vorsitzender der Bürgerschaftsfraktion der CDU. 2001 wurde er Erster Bürgermeister in Hamburg, war 2007 bis 2008 Bundesratspräsident. Bedingt durch die Schill-Affäre wurde im August 2003 von Beusts Homosexualität publik. In der Bürgerschaftswahl 2004 führte er die CDU zur ersten absoluten Mehrheit in ihrer Geschichte. Am 25.08. 2010 erfolgte der überraschende Rücktritt als Erster Bürgermeister.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ole von Beust
- 2012, 205 Seiten, mit Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 13 x 22,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Gütersloher Verlagshaus
- ISBN-10: 3579066625
- ISBN-13: 9783579066622
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