Nachtzug nach Lissabon
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Nachtzug nach Lissabon von Pascal Mercier
LESEPROBE
Der Tag, nach dem im Leben von Raimund Gregorius nichts mehrsein sollte wie zuvor, begann wie zahllose andere Tage. Er kam um Viertel voracht von der Bundesterrasse und betrat die Kirchenfeldbrücke, die vom Stadtkernhinüber zum Gymnasium führt. Das tat er an jedem Werktag der Schulzeit, und eswar immer Viertel vor acht. Als die Brücke einmal gesperrt war, machte ernachher im Griechischunterricht einen Fehler. Das war vorher nie vorgekommen,und es kam auch nachher nie mehr vor. Die ganze Schule sprach tagelang nur vondiesem Fehler. Je länger die Diskussion darüber dauerte, desto zahlreicherwurden diejenigen, die ihn für einen Hörfehler hielten. Schließlich gewanndiese Überzeugung auch bei den Schülern, die dabeigewesen waren, die Oberhand.Es war einfach nicht denkbar, daß Mundus, wie alle ihn nannten, imGriechischen, Lateinischen oder Hebräischen einen Fehler machte.
Gregorius blickte nach vorn zu den spitzen Türmen des Historischen Museums derStadt Bern, hinauf zum Gurten und hinunter zur Aare mit ihrem gletschergrünenWasser. Ein böiger Wind trieb tiefliegende Wolken über ihn hinweg, drehteseinen Schirm um und peitschte ihm den Regen ins Gesicht. Jetzt bemerkte er dieFrau mitten auf der Brücke. Sie hatte die Ellbogen auf das Geländer gestütztund las im strömenden Regen, was wie ein Brief aussah. Sie mußte das Blatt mitbeiden Händen festhalten. Als Gregorius näher kam, zerknüllte sie das Papierplötzlich, knetete es zu einer Kugel und warf die Kugel mit einer heftigenBewegung in den Raum hinaus. Unwillkürlich war Gregorius schneller gegangen undwar jetzt nur noch wenige Schritte von ihr entfernt. Er sah die Wut in ihrembleichen, regennassen Gesicht. Es war keine Wut, die sich in lauten Wortenwürde entladen können, um dann zu verrauchen. Es war eine verbissene, nachinnen gewandte Wut, die schon lange in ihr glimmen mußte. Jetzt stützte sichdie Frau mit gestreckten Armen auf das Geländer, und ihre Fersen glitten ausden Schuhen. Gleich springt sie. Gregorius überließ den Schirm einem Windstoß,der ihn übers Brückengeländer hinaustrieb, warf seine Tasche voller Schulheftezu Boden und stieß eine Reihe von lauten Flüchen aus, die nicht zu seinemgewohnten Wortschatz gehörten. Die Tasche ging auf, und die Hefte glitten aufden nassen Asphalt. Die Frau drehte sich um. Für einige Augenblicke sah siereglos zu, wie die Hefte vom Wasser dunkler wurden. Dann zog sie einenFilzstift aus der Manteltasche, machte zwei Schritte, bückte sich zu Gregoriushinunter und schrieb ihm eine Folge von Zahlen auf die Stirn.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie auf französisch, atemlos und mit fremdländischemAkzent, »aber ich darf diese Telefonnummer nicht vergessen und habe kein Papierbei mir.«
Jetzt blickte sie auf ihre Hände, als sähe sie sie zum erstenmal.
»Ich hätte natürlich auch...«, und nun schrieb sie, zwischen Gregorius' Stirnund der Hand hin und her blickend, die Nummer auf den Handrücken. »Ich... ichwollte sie nicht behalten, ich wollte alles vergessen, aber als ich den Briefdann fallen sah... ich mußte sie festhalten.«
Der Regen auf den dicken Brillengläsern trübte Gregorius die Sicht, und ertastete ungeschickt nach den nassen Heften. Wiederum, so schien ihm, glitt dieSpitze des Filzstifts über seine Stirn. Doch dann merkte er, daß es jetzt derFinger der Frau war, die mit einem Taschentuch die Zahlen wegzuwischenversuchte.
»Es ist eine Zumutung, ich weiß...«, und nun begann sie, Gregorius beim Aufsammelnder Hefte zu helfen. Er berührte ihre Hand und streifte ihr Knie, und als siesich beide nach dem letzten Heft streckten, stießen sie mit dem Kopf zusammen.
»Vielen Dank«, sagte er, als sie sich gegenüberstanden. Er deutete auf ihrenKopf. »Tut es sehr weh?«
Abwesend, mit gesenktem Blick, schüttelte sie den Kopf. Der Regen prasselte aufihr Haar und lief ihr übers Gesicht.
»Kann ich ein paar Schritte mit Ihnen gehen?«
»Äh... ja, sicher«, stotterte Gregorius.
Schweigend gingen sie zusammen bis zum Ende der Brücke und weiter in RichtungSchule. Das Zeitgefühl sagte Gregorius, daß es nach acht war und die ersteStunde bereits begonnen hatte. Wie weit war »ein paar Schritte«? Die Frau hattesich seinem Gang angepaßt und trottete neben ihm her, als ginge es den ganzenTag so weiter. Sie hatte den breiten Kragen des Mantels so weit aufgestellt,daß Gregorius von der Seite nur ihre Stirn sah.
»Ich muß dort hinein, ins Gymnasium«, sagte er und blieb stehen. »Ich binLehrer.«
»Kann ich mitkommen?« fragte sie leise.
Gregorius zögerte und fuhr sich mit dem Ärmel über die nasse Brille.»Jedenfalls ist es dort trocken«, sagte er schließlich.
Sie gingen die Stufen hoch, Gregorius hielt ihr die Tür auf, und dann standensie in der Halle, die besonders leer und still erschien, wenn die Stundenbegonnen hatten. Ihre Mäntel tropften.
»Warten Sie hier«, sagte Gregorius und ging zur Toilette, um ein Handtuch zuholen.
Vor dem Spiegel trocknete er die Brille und wischte sich das Gesicht ab. DieZahlen auf der Stirn waren noch immer zu erkennen. Er hielt einen Zipfel desHandtuchs unter das warme Wasser und wollte gerade zu reiben beginnen, als ermitten in der Bewegung innehielt. Das war der Augenblick, der alles entschied,dachte er, als er sich das Geschehen Stunden später in Erinnerung rief. Miteinemmal nämlich war ihm klar, daß er die Spur seiner Begegnung mit derrätselhaften Frau gar nicht auswischen wollte.
Er stellte sich vor, wie er nachher mit einer Telefonnummer im Gesicht vor dieKlasse treten würde, er, Mundus, der verläßlichste und berechenbarste Mensch indiesem Gebäude und vermutlich in der gesamten Geschichte der Schule, seit mehrals dreißig Jahren hier tätig, ohne Fehl und Tadel in seinem Beruf, eine Säuleder Institution, ein bißchen langweilig vielleicht, aber geachtet und sogardrüben an der Hochschule gefürchtet wegen seines stupenden Wissens in den altenSprachen, liebevoll verspottet von seinen Schülern, die ihn in jedem Jahrgangvon neuem auf die Probe stellten, indem sie ihn mitten in der Nacht anriefenund nach der Konjektur für eine entlegene Stelle in einem alten Text fragten,nur um jedesmal aus dem Kopf eine ebenso trockene wie erschöpfende Auskunft zubekommen, die einen kritischen Kommentar zu anderen möglichen Meinungen miteinschloß, alles aus einem Guß und mit einer Ruhe vorgetragen, die nicht dieSpur von Ärger über die Störung erkennen ließ - Mundus eben, ein Mann mit einemunmöglich altmodischen, geradezu altertümlichen Vornamen, den man einfachabkürzen mußte und nicht anders als so abkürzen konnte, eine Abkürzung, dieüberdies das Wesen dieses Mannes ans Licht hob, wie kein anderes Wort esgekonnt hätte, denn was er als Philologe in sich herumtrug, war in der Tatnichts weniger als eine ganze Welt, oder vielmehr mehrere ganze Welten, da erneben jeder lateinischen und griechischen Textstelle auch jede hebräische imKopf hatte, womit er schon manchen Lehrstuhlinhaber für das Alte Testament inErstaunen versetzt hatte. Wenn ihr einen wahren Gelehrten sehen wollt, pflegteder Rektor zu sagen, wenn er ihn einer neuen Klasse vorstellte: Hier ist er.
Und dieser Gelehrte, dachte Gregorius jetzt, dieser trockene Mann, der einigennur aus toten Wörtern zu bestehen schien und der von Kollegen, die ihm seineBeliebtheit neideten, gehässig der Papyrus genannt wurde - dieser Gelehrtewürde mit einer Telefonnummer den Raum betreten, die ihm eine verzweifelte,offenbar zwischen Wut und Liebe hin- und hergerissene Frau auf die Stirn gemalthatte, eine Frau in einem roten Ledermantel und mit einem märchenhaft weichen,südländischen Tonfall, der wie ein endlos in die Länge gezogenes Flüsternklang, das einen schon durch das bloße Anhören zum Komplizen machte.
Als Gregorius ihr das Handtuch gebracht hatte, klemmte die Frau einen Kammzwischen die Zähne und frottierte mit dem Tuch das lange schwarze Haar, das indem Mantelkragen lag wie in einer Schale. Der Hausmeister betrat die Halle undwarf, als er Gregorius sah, einen verwunderten Blick auf die Uhr über demAusgang und dann auf seine Armbanduhr. Gregorius nickte ihm zu, wie er es immertat. Eine Schülerin hastete an ihnen vorbei, drehte sich im Lauf zweimal um undlief weiter.
»Ich unterrichte dort oben«, sagte Gregorius zu der Frau und zeigte durchsFenster hinauf zu einem anderen Gebäudeteil. Sekunden verrannen. Er spürteseinen Herzschlag. »Wollen Sie mitkommen?«
Gregorius konnte später nicht glauben, daß er das wirklich gesagt hatte; aberes mußte wohl so gewesen sein, denn auf einmal gingen sie nebeneinander auf dasKlassenzimmer zu, er hörte das Quietschen seiner Gummisohlen auf dem Linoleumund das Klacken der Stiefeletten, wenn die Frau den Fuß aufsetzte.
»Was ist Ihre Muttersprache?« hatte er sie vorhin gefragt.
»Português«, hatte sie geantwortet.
Das o, das sie überraschend wie ein u aussprach, die ansteigende, seltsamgepreßte Helligkeit des ê und das weiche sch am Ende fügten sich für ihn zueiner Melodie, die viel länger klang, als sie wirklich war, und die er amliebsten den ganzen Tag lang gehört hätte.
»Warten Sie«, sagte er jetzt, holte sein Notizbuch aus der Jacke und riß einBlatt heraus: »Für die Nummer.«
Er hatte schon die Hand auf der Klinke, da bat er sie, das Wort von vorhin nocheinmal zu sagen. Sie wiederholte es, und da sah er sie zum erstenmal lächeln.
Das Schwatzen brach schlagartig ab, als sie das Klassenzimmer betraten. EineStille, die ein einziges Staunen war, füllte den Raum. Gregorius erinnerte sichspäter genau: Er hatte diese überraschte Stille, diese sprachloseUngläubigkeit, die aus jedem einzelnen Gesicht sprach, genossen, und er hatteauch seine Freude darüber genossen, daß es ihm möglich war, auf eine Weise zuempfinden, die er sich nicht zugetraut hätte.
Was ist denn jetzt los? Die Frage sprach aus jedem einzelnen der gut zwanzigBlicke, die auf das sonderbare Paar an der Tür fielen, auf Mundus, der mitnasser Glatze und regendunklem Mantel neben einer notdürftig gekämmten Frau mitbleichem Gesicht stand.
»Vielleicht dort?« sagte Gregorius zu der Frau und deutete auf den leeren Stuhlhinten in der Ecke. Dann ging er nach vorn, grüßte wie gewohnt und setzte sichhinters Pult. Er hatte keine Ahnung, was er zur Erklärung hätte sagen können,und so ließ er einfach den Text übersetzen, an dem sie gerade arbeiteten. DieÜbersetzungen kamen zögernd, und er fing manch neugierigen Blick auf. Auchverwirrte Blicke gab es, denn er - er, Mundus, der jeden Fehler noch im Schlaferkannte - ließ reihenweise Fehler, Halbheiten und Unbeholfenheiten durchgehen.
Es gelang ihm zu tun, als blickte er nicht zu der Frau hinüber. Und doch sah ersie in jeder Sekunde, er sah die feuchten Strähnen, die sie aus dem Gesichtstrich, die weißen Hände, die sich ineinander krampften, den abwesenden,verlorenen Blick, der zum Fenster hinausging. Einmal holte sie den Stift hervorund schrieb die Telefonnummer auf den Zettel. Dann lehnte sie sich wiederzurück und schien kaum mehr zu wissen, wo sie war.
Es war eine unmögliche Situation, und Gregorius schielte auf die Uhr: noch zehnMinuten bis zur Pause. Da erhob sich die Frau und ging leise zur Tür. ImTürspalt drehte sie sich zu ihm um und legte den Finger an die Lippen. Ernickte, und lächelnd wiederholte sie die Geste. Dann fiel die Tür mit einemleisen Schnappen ins Schloß.
Von diesem Augenblick an hörte Gregorius nichts mehr von dem, was die Schülersagten. Ihm war, als sei er ganz allein und von einer betäubenden Stilleumschlossen. Irgendwann stand er am Fenster und folgte der roten Frauengestaltmit dem Blick, bis sie um die Häuserecke verschwunden war. Er spürte, wie dieAnstrengung in ihm nachhallte, die es ihn gekostet hatte, ihr nichtnachzulaufen. Immer wieder sah er den Finger an ihren Lippen, der so vielesbedeuten konnte: Ich will nicht stören, und: Es bleibt unser Geheimnis, aberauch: Lassen Sie mich jetzt gehen, es kann keine Fortsetzung geben.
Als es zur Pause klingelte, blieb er am Fenster stehen. Hinter ihm gingen dieSchüler ungewohnt leise aus dem Zimmer. Später ging auch er hinaus, verließ dasGebäude durch den Hintereingang und setzte sich auf der anderen Straßenseite indie Landesbibliothek, wo ihn niemand suchen würde.
Zum zweiten Teil der Doppelstunde war er pünktlich wie immer. Er hatte dieZahlen von der Stirn gerieben, sie nach einer Minute des Zögerns im Notizbuchfestgehalten und dann den schmalen Kranz von grauem Haar getrocknet. Nur diefeuchten Flecke auf Jacke und Hose verrieten noch, daß es etwas Ungewöhnlichesgegeben hatte. Jetzt nahm er den Stoß durchnäßter Hefte aus der Aktentasche.
»Ein Malheur«, sagte er knapp. »Ich bin gestolpert, und da sind sieherausgerutscht, in den Regen. Die Korrekturen dürften trotzdem noch lesbarsein; sonst müßt ihr mit Konjekturen arbeiten.«
So kannten sie ihn, und hörbare Erleichterung ging durch den Raum. Ab und zunoch fing er einen neugierigen Blick auf, und auch ein Rest von Scheu war beieinigen in der Stimme. Sonst war alles wie früher. Er schrieb die häufigstenFehler an die Tafel. Dann ließ er die Schüler still für sich arbeiten.
Konnte man, was in der nächsten Viertelstunde mit ihm geschah, eine Entscheidungnennen? Gregorius sollte sich die Frage später immer wieder stellen, und niewar er sicher. Doch wenn es keine Entscheidung war - was war es dann?
Es begann damit, daß er die auf ihre Hefte blickenden, nach vorne gebeugtenSchüler auf einmal betrachtete, als sähe er sie zum erstenmal.
© Carl Hanser Verlag
- Autor: Pascal Mercier
- 2011, 44. Aufl., 495 Seiten, Maße: 13 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446205551
- ISBN-13: 9783446205550
- Erscheinungsdatum: 24.08.2004
"Ein doppeltes Ausnahmetalent: Als Peter Bieri ist er Professor für Philosophie, als Pascal Mercier schickt er sich an, ein gefeierter Bestseller-Autor zu werden." Gunther Blank, Welt am Sonntag, 31.10.04
"Ein fantastische Zugreise nach innen. Der Nachtzug, der Gregorius nach Lissabon brachte und von dort wieder zurücknimmt ins behäbige Bern, lässt sich als Metapher für die gesamte Lebensreise begreifen, die jeder, auch der, der lieber unerkannt bleiben möchte, anzutreten hat. ... Ein beeindruckendes Buch, ein Bewusstseinskrimi mit Tiefgang und ohne Gewähr." Otto A. Böhmer, Die Zeit, 25.11.04
"Ein Buch, das Poesie und Philosophie eng miteinander verschränkt." Eva Bachmann, Tages-Anzeiger, 20.10.04
"Ein Buch hat mich besonders beeindruckt, weil darin an Sprache, an erzählerischer Dichte und Philosophie alles drin ist: Nachtzug nach Lissabon von Pascal Mercier. ... Ich las es in drei Nächten. Dann war ich überzeugt, dass ich mein Leben ändere." Iris Berben, Süddeutsche Zeitung, 29.09.06
"Ein doppeltes Ausnahmetalent: Als Peter Bieri ist er Professor für Philosophie, als Pascal Mercier schickt er sich an, ein gefeierter Bestseller-Autor zu werden." Gunther Blank, Welt am Sonntag, 31.10.04
"Ein fantastische Zugreise nach innen. Der Nachtzug, der Gregorius nach Lissabon brachte und von dort wieder zurücknimmt ins behäbige Bern, lässt sich als Metapher für die gesamte Lebensreise begreifen, die jeder, auch der, der lieber unerkannt bleiben möchte, anzutreten hat. ... Ein beeindruckendes Buch, ein Bewusstseinskrimi mit Tiefgang und ohne Gewähr." Otto A. Böhmer, Die Zeit, 25.11.04
"Ein Buch, das Poesie und Philosophie eng miteinander verschränkt." Eva Bachmann, Tages-Anzeiger, 20.10.04
"Ein Buch hat mich besonders beeindruckt, weil darin an Sprache, an erzählerischer Dichte und Philosophie alles drin ist: Nachtzug nach Lissabon von Pascal Mercier. ... Ich las es in drei Nächten. Dann war ich überzeugt, dass ich mein Leben ändere." Iris Berben, Süddeutsche Zeitung, 29.09.06
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