Nelson, das Weihnachtskätzchen
Eine zauberhafte Weihnachtsgeschichte, nicht nur für alle, die Katzen lieben
Ob der kleine Kater Nelson ahnt, dass er während des Weihnachtsurlaubs seiner Besitzer in eine Katzenpension gebracht werden soll? Jedenfalls nutzt...
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Produktinformationen zu „Nelson, das Weihnachtskätzchen “
Eine zauberhafte Weihnachtsgeschichte, nicht nur für alle, die Katzen lieben
Ob der kleine Kater Nelson ahnt, dass er während des Weihnachtsurlaubs seiner Besitzer in eine Katzenpension gebracht werden soll? Jedenfalls nutzt er die erste Gelegenheit, aus seinem Transportkörbchen auszureißen - und findet sich an einem eisigen Wintertag mitten im Berliner Großstadtverkehr wieder. Zum Glück entdeckt das verschreckte Kätzchen auf dem Weihnachtsmarkt den Stand des Krippenschnitzers Arthur Hummel. Nelson erobert das Herz des bärbeißigen alten Mannes, der nie ein Haustier haben wollte. Herr Hummel wünscht sich insgeheim nichts sehnlicher, als Weihnachten mit seiner Familie zu feiern. Doch diese ist hoffnungslos zerstritten. Ob Nelson ihm helfen kann?
Lese-Probe zu „Nelson, das Weihnachtskätzchen “
Nelson, das Weihnachtskätzchen von Hannes Steinbach... mehr
Nelson hatte keine Ahnung, wohin er gebracht werden sollte. Aber irgendetwas stimmte nicht, davon war er überzeugt. Marie war völlig außer sich, sie weinte schon den ganzen Morgen. Außerdem wollte sie nicht, dass er in sein Körbchen gesperrt wurde. Dabei war das sein fester Platz, wenn sie mit dem Auto fuhren. Aber heute drückte Marie ihn so fest an sich, als hinge ihr Leben davon ab. Nelson wurde unruhig. Er ließ sich ohne Gegenwehr in den Transportkorb sperren, blieb aber wachsam. Außerdem machte er sich Sorgen um Marie. Wenn sie unglücklich war, spürte er das. Maries Mutter saß am Steuer und startete den Motor.
Sie sprach auf ihre Tochter ein, mit lauter Stimme und strengem Tonfall. Marie hörte schließlich auf zu schluchzen und wurde ganz still. Was war denn nur los? Was passierte hier? Er wusste nicht, wie lange sie gefahren waren, doch irgendwann blieb der Wagen stehen, und der Motor verstummte. Die Mutter sagte zu Marie: »Du bleibst hier und wartest. Ich bin in zwei Minuten wieder da, dann fahren wir weiter. Und Nelson bleibt solange in seinem Körbchen, hast du mich verstanden?« Dann stieg sie aus und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Marie öffnete den Anschnallgurt und rutschte quer über die Rückbank. Sie steckte den Zeigefinger durch die Gitterstäbe des Transportkorbs. Nelson strich mit seinem Köpfchen daran entlang und ließ sich von ihr am Hals kraulen. Maries Gesicht war verweint, und Hoffnungslosigkeit lag darin. »Ach, Nelson«, flüsterte sie. »Was machen wir denn jetzt nur?« Ganz vorsichtig öffnete sie das Türchen, um ihn besser kraulen zu können.
Nelson legte seinen Kopf in ihre Hand, doch er ahnte: Jetzt war nicht der rechte Moment, um sich schnurrend hinzugeben. Die Autotür öffnete sich, und Maries Mutter streckte den Kopf herein. »Marie! Was habe ich denn gesagt! Du sollst ihn nicht rauslassen!« Marie zog ihre Hand aus dem Körbchen und wandte sich ihrer Mutter zu. Die schimpfte weiter, doch Nelson achtete nicht mehr auf sie. Die Autotür stand offen, und die beiden Menschen waren abgelenkt. Er wusste nicht, ob es richtig war, was er tat. Doch er konnte nicht anders. Hier lauerte Gefahr, den ganzen Morgen schon. Er folgte seinen Instinkten. Mit einem großen Satz sprang er auf den Vordersitz und dann zwischen den Beinen der Mutter hindurch auf den Bürgersteig.
Wie ein Blitz schoss er davon. Vorbei an Menschen, Fahrrädern und Kinderwagen und dann an einer stinkenden Autoschlange entlang. Es folgte ein Slalom zwischen einem Akkordeonspieler und einer Wurstbude hindurch, und schließlich jagte er um einen Betonpfeiler herum und versteckte sich in einer düsteren Nische. »Mami, guck mal, eine Katze!«, hörte er einen Jungen rufen, doch da war er längst abgetaucht. Vor ihm ein Lüftungsgitter, breit genug, um sich hindurchzuzwängen. Er glitt in die dahinterliegende Dunkelheit ab. Kein Mensch mehr weit und breit, kein Verkehr und keine neugierigen Blicke. Hier war er ganz allein. Nelson legte sich flach auf den Boden, robbte zurück ans Gitter und spähte vorsichtig hinaus. Ein breiter belebter Bürgersteig, dahinter eine mehrspurige Straße. Eine Straßenbahn bimmelte laut, Ampeln wechselten die Farbe, es wurde gehupt, und ein Mann schrie wütend herum. Überall Lärm und Gewusel. Ganz anders als dort, wo er zu Hause war. Hier gab es keine Gärten und Apfelbäume, keine Zäune und Hecken und vor allem keine Erdlöcher, in denen Mäuse hockten.
Er verkroch sich tiefer im Lüftungsschacht. Marie kam ihm in den Sinn. Ihr trauriges Gesicht und die verweinten Augen. Was sie wohl gerade machte? Wäre er doch in seinem Körbchen geblieben! Aber jetzt konnte er nicht mehr zurück. Da draußen lauerten zu viele Gefahren. Er drückte sich an die Wand und wartete. Vielleicht tauchte Marie ja gleich hinter dem Gitter auf. Sie würde seinen Namen rufen, sich hinhocken und ihm die Hand entgegenstrecken. Und Nelson würde sie trösten. Sich auf ihre Knie legen und seinen Kopf in die warme Mulde ihres Bauchs legen. Er musste nur warten.
Eine Melodie wehte durch die frostige Luft herüber. Jingle Bells. Leises Glockengeläut, der Rhythmus der Schellen, eine samtene Stimme. Das alles konnte nur eines bedeuten: Weihnachten. Arthur Hummel schüttelte mürrisch den Kopf. In den nächsten Wochen würden sie noch mehr als genug Weihnachtslieder zu hören bekommen. Trotzdem gab es da draußen irgendeinen Spaßvogel, der gar nicht genug davon bekommen konnte und sich schon jetzt auf die Adventszeit einstimmte, am Abend vor der Eröffnung des Weihnachtsmarktes. Arthur Hummel ertappte sich dabei, in Weihnachtsstimmung zu geraten. Er nahm sich zusammen. So ein Unsinn! Missmutig blickte er aus seinem Holzhäuschen heraus. Vielleicht wurden ja nur irgendwo die Lautsprecher getestet. Draußen in den Gängen wurde überall gearbeitet. Schmale Häuschen wurden aufgebaut, mit Giebelchen und hübschen Markisen.
Ein kleines Weihnachtsdorf entstand hier, mitten in Berlin, dahinter ragte das Rote Rathaus in den Himmel und ein Stück weiter der Fernsehturm. Schausteller schmückten Weihnachtsbäume, installierten Lichter und räumten Waren ein. In den Pausen standen sie in kleinen Gruppen zusammen und probierten schon mal den Glühwein dieser Saison. Wie jedes Jahr vor der Eröffnung herrschten Aufregung und Vorfreude. Würde es ihnen gelingen, wieder einen bunten und unvergesslichen Weihnachtsmarkt zu erschaffen? An den sich die Kinder der Stadt noch lange erinnerten? Alle nahmen das als sportliche Herausforderung. »Hey, Opa!«, rief ein türkischer Jugendlicher, der mit seinen Eltern den Socken- und Wollmützenstand nebenan betrieb. »Mach doch mal eine Pause! Komm zu uns, wir trinken ein Glas Punsch. Du bist herzlich eingeladen!« Der junge Mann kannte Arthur Hummel offenbar noch nicht. Sonst hätte er niemals so etwas gefragt. »Du bist wohl neu hier, du Rotzlöffel.
Ein bisschen mehr Respekt, wenn ich bitten darf!« Der Junge grinste frech. »Sorry. Und was ist jetzt mit dem Punsch?« »Ich hab keine Zeit für so was. Ich bin schließlich zum Geldverdienen hier. Und jetzt troll dich, und lass mich in Ruhe arbeiten.« Arthur stellte einen Karton mit geschnitzten Krippenfiguren auf die Verkaufsfläche und wickelte einen betenden Hirten aus. Vorsichtig lugte er zum Nachbarstand, wo der Junge ein paar andere Schausteller zusammengetrommelt hatte. Die Stimmung war gut, es wurde viel gelacht. Arthur achtete nicht darauf und wandte sich seiner Arbeit zu. Er hatte es immer vorgezogen, Abstand zu den anderen Schaustellern zu halten. Sich mit Menschen einzulassen bedeutete nur, Ärger zu bekommen. Es war besser, er blieb allein mit seiner Arbeit. Das ganze Jahr über saß er in seiner kleinen Werkstatt und schnitzte Krippenfiguren. Nirgendwo sonst konnte er seine Einsamkeit so gut vergessen. Er konnte völlig versinken in dieser Arbeit, denn er liebte seine Figuren, jedes Detail an ihnen. Natürlich stand der Verkaufspreis in keinem Verhältnis zu den endlosen Arbeitsstunden. Aber das störte ihn nicht. Solange irgendein Detail - die Finger des Jesuskindchens oder die Nüstern des Esels - nicht perfekt war, legte er die Figur nicht aus der Hand. Er steckte sein ganzes Können hinein, bis alles am Ende genauso aussah, wie er sich das vorstellte. Seine Krippen sollten die schönsten der ganzen Stadt sein. Dafür arbeitete er Tag und Nacht.
Wieder wurde nebenan laut gelacht. Punsch und Glühwein wurden ausgeschenkt. Die Schausteller trugen die übliche Kleidung: dicke Stiefel, warme Hosen und mehrere Pullover übereinander. Arthur betrachtete die fröhliche Runde, doch ihm fiel nichts ein, was er mit ihnen hätte reden können. Er blieb lieber für sich. Ein Stück entfernt entdeckte er plötzlich eine Katze. Ein schmales, getigertes Tier, das an den Hütten entlangschlich. Wer brachte denn sein Haustier zum Weihnachtsmarkt mit? Und war es richtig, das Tier allein in der Kälte herumlaufen zu lassen? Nicht, dass es am Ende noch verloren ging. Arthur beugte sich über seine Verkaufsfläche. »He!«, rief er in Richtung der Schausteller. »Wem gehört denn ...?« Er stockte. Die Leute drehten sich zu ihm um. Ihre Gesichter wirkten distanziert. Im Gegensatz zu dem Jungen, der ihn zum Punschtrinken eingeladen hatte, kannten sie Arthur bereits. Sie waren dem mürrischen und einsilbigen Mann schon in den vergangenen Jahren auf dem Markt begegnet. Keiner von ihnen schien ihn besonders zu mögen. »Was gibt's denn, alter Mann?«, rief einer. Arthur sah zu der Stelle hinüber, wo er eben die Katze gesehen hatte, doch die war verschwunden. »Ach nichts«, brummte er und wandte sich wieder seinen Figuren zu. Die Schausteller murmelten, es wurde gekichert, doch Arthur störte sich nicht daran. Er wollte mit den anderen ohnehin nichts zu tun haben. Was ging es ihn an, wenn da jemand nicht auf seine Katze aufpassen konnte? Sollte das Tier doch hier erfrieren, das war nicht sein Problem.
Dennoch wanderte sein Blick ein weiteres Mal zu den Hütten, wo die Katze gewesen war, doch sie blieb verschwunden. Er schlug sie sich aus dem Kopf und hob den nächsten Karton auf die Verkaufsfläche. Am Morgen der Eröffnung herrschte strahlender Sonnenschein. In der eiskalten Nacht hatte sich Raureif gebildet, und bei jedem Atemzug entstanden kleine Wölkchen vor dem Gesicht. Arthur Hummel warf sein Elektroöfchen an, das ihn vor der ärgsten Kälte schützen sollte. Er trug lange Unterhosen, dicke Socken und eine Steppjacke. Trotzdem war es gut, das Öfchen dabeizuhaben, damit er sich zwischendurch aufwärmen konnte. Der Sicherheitsdienst schob an den Eingängen die Eisengitter beiseite, und der Markt war eröffnet. Noch wurde zwar überall gearbeitet, es wurden Glasvitrinen geputzt, Grillroste und Mandelröster wurden angeworfen, und am Glühweinstand gegenüber beschrieb eine Frau mit Kreide die Preistafeln. Doch vereinzelt tauchten bereits erste Besucher auf, die neugierig umherflanierten. Erfahrungsgemäß würde es an den ersten Tagen ruhig bleiben, das war immer so. Der wirkliche Ansturm kam erst ab der zweiten Woche. Arthur machte es sich auf seinem Sessel neben dem Öfchen gemütlich. Er zog sich eine Decke über die Knie und hing seinen Gedanken nach.
Sophie, seine verstorbene Frau, hatte ihn immer ermuntert, an seinen Holzfiguren zu arbeiten. Sie hatte seine Schnitzereien so sehr geliebt. Früher war zu wenig Zeit dafür gewesen. Erst nach ihrem Tod hatte er richtig damit angefangen. Sophie war vor drei Jahren an einem Krebsleiden gestorben. Da war sie dreiundachtzig gewesen, vier Jahre älter als er. Dreiundachtzig, dachte er. Aber was hieß das schon? Sie hätten auch zusammen dreihundert Jahre alt werden können, und er hätte jeden Moment mit ihr genossen. Es wäre ihm niemals langweilig geworden mit Sophie. Sie fehlte ihm so furchtbar. Es war ein einfaches Leben gewesen, das sie geführt hatten. Reisen, Geld, ein Eigenheim - das alles hatte es nicht gegeben. Seine Arbeit als Busfahrer bei den Verkehrsbetrieben hatte gerade einmal ihr Überleben gesichert.
Trotzdem hätte er sich kein besseres Leben gewünscht. »Die sind ja wunderschön!« Eine Frauenstimme. Arthur hob den Kopf. Eine ältere Dame mit silbergrauen Locken und einem fein geschnittenen Gesicht war vor seinem Stand aufgetaucht. »Sind die etwa handgefertigt?«, fragte sie und nahm eine Figur des Josef in die Hand, der eine winzige Stalllampe hielt und den Mantel schützend vor Maria und dem Jesuskindchen ausbreitete. »Natürlich sind die handgefertigt. Das sieht man doch, was glauben Sie denn!« Die Dame ließ sich von seinem ruppigen Tonfall nicht beeindrucken. »Beachtlich«, sagte sie. »Sehr gute Arbeit. Das sind ja richtige kleine Kunstwerke. Haben Sie die gemacht?« Arthur brummte missmutig, was so viel wie Ja bedeuten sollte. Er mochte es nicht, wenn Kunden ihn in ein Gespräch verwickelten. »Dann sind Sie ein wahrer Künstler«, fuhr die Dame unbeirrt fort. »Die Figuren sehen aus, als hätten sie ein Eigenleben. Eine Seele. Da kommen fabrikgefertigte nicht mit, das kann ich Ihnen sagen.« Sie blickte auf das Preisschild unterm Fuß des Josefs. »Sie könnten wesentlich mehr dafür nehmen.« »Was ist jetzt, wollen Sie was kaufen oder nicht?« Sie stellte die Figur wieder weg. »Ich bin Liselotte«, sagte sie und lächelte. »Liselotte Stubenrath. Eine der Märchenerzählerinnen. Wir sind also quasi Kollegen.« Sie deutete zu einer Gasse, die im Stil einer Altberliner Straße gestaltet war. Pappfassaden bildeten die Kulisse wilhelminischer Häuserfronten, und in den Erdgeschossen waren Verkaufsfenster mit bunten Markisen eingebaut.
Mittendrin gab eine kleine Theaterbühne, die in die Häuserfront eingelassen war. Dort war ein Wohnzimmer aus der Kaiserzeit mit einem großen Ohrensessel zu bestaunen, in dem die Märchenerzählerin bei ihrem Auftritt Platz nehmen würde. Arthur kannte die Bühne bereits von den vergangenen Jahren. An den Nachmittagen würden sich die Kinder davor tummeln und dem Geschehen mit großen Augen folgen. Nur diese Liselotte Stubenrath kannte er noch nicht. »Im letzten Jahr habe ich Sie hier aber nicht gesehen«, sagte er. Das war ihm so herausgerutscht. Er wollte sich ja eigentlich gar nicht mit dieser Frau unterhalten. »Nein, dies ist mein erstes Jahr.« Sie strahlte übers ganze Gesicht. »Ich bin ganz aufgeregt. Ich hoffe, die Kinder mögen mich.« Arthurs Antwort war wieder ein Brummen. Das war zwar nicht besonders höflich, aber er wollte jetzt wieder allein sein. Die Schausteller taten immer gern so, als wären sie eine große Familie. Aber Arthur wusste, das war eine Lüge. Am Ende verbrachte jeder das Weihnachtsfest für sich allein. Liselotte Stubenrath schien zu verstehen. »Also gut. Einen schönen Tag noch«, sagte sie. »Übrigens, eine schöne Katze haben Sie da. Auf Wiedersehen.« Damit wandte sie sich ab und ging davon. »Eine ... was?« Arthur drehte sich um.
Tatsächlich. Es war die Katze, die er bereits am Vorabend gesehen hatte. Sie hatte es sich auf seinem Sessel neben dem Öfchen gemütlich gemacht. »Wie zum Teufel ...?« Er sah sich um. Die Tür zu seinem Häuschen stand einen Spaltbreit offen. Dort musste sie hereingelangt sein. Das warme weiche Plätzchen am Ofen wirkte offenbar verführerisch auf sie. Die Katze blickte Arthur abwartend an. Der kleine Körper stand unter Spannung, bereit, jeden Moment aufzuspringen, sollte die Situation gefährlich werden. Aber sie blieb sitzen, wo sie war. Nur auf Verdacht wollte sie den Platz ganz offensichtlich nicht räumen. Das Tier wirkte ein bisschen mitgenommen. Das Fell war struppig, und im Gesicht hatte es einen Kratzer. Ganz so, als hätte es die vergangene Nacht auf der Straße verbracht. Seltsam. Von streunenden Katzen mitten in Berlin hatte Arthur noch nie gehört. Am verkehrsreichen Alexanderplatz hätten sie auch keine hohe Lebenserwartung. Nein, das Tier musste einem der Schausteller gehören. Der Besitzer sollte besser auf sein Tier achtgeben, fand er. Dabei ging ihn das Ganze ja eigentlich nichts an, und er wollte sich nicht in die Angelegenheiten anderer Leute einmischen.
Arthur klatschte laut in die Hände. »Wirst du wohl verschwinden!« Die Katze sprang vom Sessel und jagte zum Ausgang. Im Türspalt blieb sie stehen und sah zurück. Große Angst schien sie nicht vor ihm zu haben. »Untersteh dich!« Arthur machte einen Schritt auf sie zu. »Hau ab! Hier ist kein Platz für dich!« Die Katze schoss durch den Spalt nach draußen. Nachdem er die Tür verschlossen hatte, blickte er über die Verkaufsfläche hinweg in die Gasse vor ihm. Die Katze war ein paar Meter weiter neben dem Glühweinstand stehen geblieben und drehte sich zu ihm um. Ihre Augen waren groß und voller Traurigkeit. Als wäre sie von Arthur tief enttäuscht worden. Dann wandte sie sich ab und schlich davon. So ein Unsinn!, dachte Arthur. Katzen sind nur Tiere. Die können nicht unglücklich sein. Er spähte ihr nach, bis sie hinter einem Stand verschwunden war. Dann nahm er seine Zeitung, setzte sich in den Sessel am Öfchen und begann zu lesen.
Aus dem Küchenradio drang leise Adventsmusik: »Macht hoch die Tür, die Tor macht weit.« Es war ein Kinderchor, das hörte Anna Brandt sofort. Sie hielt inne und sah hinaus in die von Raureif überzogenen Baumkronen. Wie schön diese Jahreszeit doch sein konnte. Etliche Nachbarn in der Siedlung hatten Adventsschmuck angebracht. An Haustüren hingen Kränze aus Nadelholz mit tiefroten Schleifen, hinter Fenstern standen Gestecke mit dicken Kerzen, deren Flammen in die beginnende Dunkelheit hinausleuchteten, und hier und da hingen auch schon Lichterketten in den Vorgärten. Anna nahm sich vor, noch an diesem Abend den Adventsschmuck aus dem Keller zu holen. Sie tat das alles, obwohl bei ihr zu Hause alles andere als Weihnachtsstimmung herrschte. Ganz im Gegenteil, es wurde fast nur noch gestritten. Aber sie hatte beschlossen, sich zusammenzureißen.
Was blieb ihr auch anderes übrig? Mit einem Seufzer wandte sie sich vom Fenster ab. Sie hatte noch einiges zu tun. Der Küchentisch war übersät mit Bastelmaterial: Tannen- und Ilexzweige, Schleifen und Kerzen, Blumendraht, Moos, Silberspray und Weihnachtskugeln. Daneben noch eine Heißklebepistole und ein wenig Lametta. Alles, was man brauchte, um Adventsgestecke zu fertigen. Sie setzte sich, nahm Zweige und Draht und machte sich an die Arbeit. Die Haustür fiel krachend ins Schloss. Als Nächstes wurde ein Schulranzen gegen die Garderobe gepfeffert. Das war ihre Tochter Laura, die von der Schule nach Hause gekommen war. Sie steckte den Kopf durch die Küchentür, sah das gesammelte Weihnachtsbastelzeug auf dem Tisch liegen, verdrehte daraufhin die Augen und verschwand wieder. »Hallo, Laura!«, rief Anna mit aufgesetzter Fröhlichkeit. »Wie war‘s denn in der Schule?« Sie bekam keine Antwort. Ärgerlich legte sie die Klebepistole hin und lief in den Hausflur. Ihre vierzehnjährige Tochter stieg gerade die Treppe zu ihrem Zimmer hoch. »Musst du gar nicht mehr antworten, wenn ich dich was frage?«, beklagte Anna sich. »Bin ich so schrecklich, dass man nicht einmal mehr reagieren muss, wenn ich rede?« Laura blies genervt die Backen auf und sagte: »Wie soll es in der Schule schon gewesen sein? Ganz okay halt.« »Hast du deinen Französischtest wiederbekommen?« »Nee. Erst nächste Woche.« Sie wollte in ihr Zimmer gehen, doch Anna hielt sie auf. »Und warst du nicht heute in der Theaterwerkstatt?« Laura ging einmal wöchentlich zu einem Bühnenprojekt für Jugendliche, wo gerade eine Weihnachtsaufführung vorbereitet wurde. »Weißt du denn schon, welche Rolle du spielen wirst? Du freust dich doch so darauf.« »Nein, keine Ahnung. Darf ich jetzt gehen?« Wenn Anna gehofft hatte, ihre Tochter würde sich mit ihr unterhalten, dann hatte sie sich wohl getäuscht. »Das Mittagessen steht im Ofen«, sagte sie. »Ich hab keinen Hunger.« »Aber du musst doch etwas ...« Ihre Tochter explodierte. »ich hab keinen hunger!« Mit einem Schnauben fügte sie hinzu: »Darf ich jetzt endlich hochgehen?« Anna war verletzt, aber das wollte sie ihre Tochter nicht spüren lassen. Sie nickte stumm und kehrte zurück in die Küche. Im Radio lief nun »Es ist ein Ros entsprungen«. Eines ihrer Lieblingslieder. Die Haustür draußen öffnete sich erneut, und wieder wurde eine Schultasche gegen die Garderobe gepfeffert. Das war Max, Annas zwölfjähriger Sohn.
Er und seine Schwester kamen nie zur selben Zeit nach Hause. Sie hielten auf dem Heimweg von der Schule immer ein paar Meter Abstand, als sollte niemand auf die Idee kommen, sie hätten etwas miteinander zu tun. Dabei waren sie als kleine Kinder unzertrennlich gewesen. Max schlurfte in die Küche und steuerte den Herd an. »Hallo, Mama. Was gibt's zu essen?« »Gemüseauflauf mit frischem Rosenkohl.« Er öffnete die Ofenklappe und verzog das Gesicht. Es gefiel ihm nicht, dass Anna neuerdings vegetarisch kochte. Aber liebsten würde er den ganzen Tag Hamburger und Currywürste essen. »Och nee, kein Rosenkohl, Mama. Davon muss ich kotzen. Echt.« »Aber der ist ganz mild, Max. Den habe ich nach der Arbeit im Biomarkt besorgt. Probier ihn doch mal.« Doch ihr Sohn hatte die Ofenklappe bereits wieder geschlossen. Heimlich zog er aus dem Einkaufskorb, den Anna noch nicht ausgeräumt hatte, eine Tüte Erdnüsse, und steuerte den Ausgang an. »Max! Erst isst du was Ordentliches. Vorher gibt es kein Knabberzeug.« Er ignorierte sie einfach. Anna wusste, sie musste sich jetzt durchsetzen. Auch wenn sie am liebsten nachgegeben hätte. »Max! Bleib stehen! Die Erdnüsse bleiben hier!« Er schien zu prüfen, wie ernst es ihr war, dann warf er das Tütchen kurzerhand zurück in den Korb. »Probier doch mal den Rosenkohl. Der ist lecker. Wirklich. « Doch Max ging hinaus. Wahrscheinlich setzte er sich jetzt an seinen Computer, wo er bleiben würde, bis das Abendessen auf den Tisch kam.
Anna spürte Traurigkeit in sich aufsteigen. Im Grunde interessierte sich keiner für ihren Adventskranz. Früher war das anders gewesen. Da hatten die beiden mit großen Kinderaugen vor dem Kranz gesessen und ganz andächtig gelauscht, wenn Anna und ihr Mann Adventslieder sangen. Sie hatten diese festliche Stimmung geliebt und das Geheimnisvolle der Adventszeit. Doch seitdem hatte sich viel geändert. Manchmal fragte sie sich: Für wen machst du das alles überhaupt noch? Aber nein, diese Frage war falsch. Wenn die beiden ihre Meinung änderten - und das taten sie ständig in diesem Alter -, dann würde sie es nicht ertragen, traurige Kinderaugen zu sehen, nur weil es keinen Weihnachtsschmuck gab. Nein, es war richtig, das Haus zu schmücken. Und ihr selbst gefiel es ja auch. Ihr Blick fiel auf die Erdnüsse, die oben im Einkaufskorb lagen. Darunter waren die Zutaten für die Weihnachtsbäckerei verstaut. Jetzt, wo sie alles eingekauft hatte, konnte sie jederzeit damit anfangen. Laura kam ihr in den Sinn. In den letzten Jahren war das Plätzchenbacken das Einzige gewesen, das sie noch verband.
Laura liebte es zu backen. Anna hoffte, sie auch in diesem Jahr dafür begeistern zu können. Sie würde so gern wieder etwas gemeinsam mit ihrer Tochter unternehmen. Am besten fragte sie gleich einmal nach. Sie ging nach oben, klopfte kurz an und trat ein, ohne dass Laura sie hereingebeten hätte. »Mama!«, schrie Laura entsetzt. »Was willst du hier?« Als hätte Anna ihre Tochter mit einem Jungen erwischt. Sie blickte sich um. In dem Zimmer herrschte furchtbare Unordnung. Aber dazu sagte sie jetzt lieber nichts. »Ich wollte dich was fragen, Laura.« »Ich bin hier am Chatten!« Immer noch in einem Tonfall, als wäre Anna in ihre intimste Privatsphäre eingedrungen.
»Und deshalb kannst du nicht mit mir reden?«, fragte Anna gereizt. Laura seufzte schwer. »Was ist denn?« »In den nächsten Tagen wollte ich für Weihnachten backen. Es wäre doch schön, wenn wir zwei ...« Laura stöhnte auf. »Mama, bitte!« »Aber du hast doch sonst immer so gerne beim Backen geholfen.« »Ich hab wirklich keine Zeit für so was. Außerdem wird man von dem Zeug eh nur fett. Ich werd dieses Jahr jedenfalls keine Plätzchen essen.« Anna fand ja, ein vierzehnjähriges Kind sollte noch nicht über sein Gewicht nachdenken. Das schien ihr nicht gesund zu sein. Aber sie verkniff sich jeglichen Kommentar. »Muss das denn unbedingt sein?«, fuhr Laura fort. »Aber nein«, sagte Anna und bemühte sich, ihre Kränkung zu verbergen. »Es soll dir ja Spaß machen. Müssen musst du gar nichts.« »Danke. Ich mein, dieser ganze Weihnachtsterror nervt doch sowieso.« »Also gut. Dann lassen wir es.« Laura nickte und wandte sich wieder ihrem Computer zu. Als sie bemerkte, dass ihre Mutter immer noch in der Tür stand, fauchte sie: »Was ist jetzt? Kann ich weiterchatten?« »Ach so. Natürlich.« Anna schloss die Tür und ging hinunter in die Küche. Sie hätte am liebsten losgeheult. Dann atmete sie tief durch, überwand sich und fuhr mit der Arbeit fort. Zwei Stunden später stellte sie die fertigen Gestecke und den Adventskranz auf die Anrichte, um Platz zum Saubermachen zu schaffen. Ihr Blick fiel auf die Straße. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen. Zu ihrer Überraschung brannte im Haus gegenüber Licht. Die Grünbergs wollten doch heute früh in den Urlaub fliegen. Oder brachte sie da was durcheinander? Es sollte auf die Kanarischen Inseln gehen. Dort wollten sie die Wochen bis zum Weihnachtsfest verbringen - auch wenn Anna nicht verstand, was daran reizvoll sein sollte. Weihnachten auf den Kanarischen Inseln, das machte doch keinen Spaß. Palmen und Strand waren in ihren Augen nicht die passende Kulisse für den Heiligen Abend. Vermutlich hatte sie den Tag verwechselt, und die Grünbergs flogen erst morgen. Sie dachte an Marie, die fünfjährige Tochter der Nachbarn.
Die wäre wohl lieber in Berlin geblieben. Das Kind träumte nämlich von weißen Weihnachten, genau wie Anna. Marie und Anna waren fast so etwas wie Freundinnen. Das Nachbarskind saß ständig bei ihr in der Küche, während Anna kochte oder bügelte, und malte dabei ein Bild oder erzählte vom Kindergarten, in den sie vormittags ging. Anna genoss es, wenn sie Marie um sich hatte. Es erinnerte sie daran, wie es früher mit Laura gewesen war. Im Gegensatz zu Laura hätte es Marie sicher großen Spaß gemacht, Anna bei der Weihnachtsbäckerei zu helfen. Aber leider ging das nicht, die Familie flog ja in den Urlaub. Anna blickte hinüber zu den Nachbarn und sah Dorothee Grünberg, die Mutter von Marie, die telefonierend im Raum auf und ab lief und mit der freien Hand wild gestikulierte. Sie wirkte ziemlich gestresst. Und dann entdeckte sie Marie, die durch die Glastür auf die Terrasse trat und zu Annas Haus herübersah. Sie war ganz blass, und ihre Augen sahen verweint aus. Was war denn nur los? Anna trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch und ging zur Haustür. Marie kam ihr bereits entgegengelaufen. »Anna! Anna!«, rief sie und warf sich ihr um den Hals. »Nelson ist weg!« Anna war perplex. »Du meinst, er ist jetzt in der Katzenpension? «
Marie war ganz verzweifelt gewesen, weil Nelson Weihnachten in einer Katzenpension verbringen sollte. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, es wäre ein Tierheim - da konnte ihre Mutter reden, wie sie wollte. Anna hatte angeboten, Nelson für die Zeit des Urlaubs bei sich aufzunehmen. Doch Dorothee wollte das nicht. Sie wollte ihr nicht zur Last fallen. Außerdem meinte sie, die Katzenpension wäre ideal für Nelson. Marie sollte sich einfach damit abfinden. »Er ist nicht in der Katzenpension«, schluchzte Marie in ihren Armen. »Er ist weggelaufen!« »Weggelaufen? Wann denn das? Und wo?« Marie erzählte, wie er ihr entwischt war, als ihre Mutter am Alexanderplatz etwas in der Apotheke besorgen wollte. Das war auf dem Weg zu dieser Katzenpension gewesen. Marie hatte das Türchen des Transportkorbs nur ganz kurz aufgemacht, und schon war er durch Dorothees Beine hindurch entwischt. »Du liebe Güte«, entfuhr es Anna. »Am Alexanderplatz?« Alles andere als ein Ort für eine Katze.
Welche Überlebenschancen hatte der arme Nelson denn dort? Nichts als Verkehr, Autos, Busse, Straßenbahnen. Eine gefährliche Reizüberflutung für so ein kleines Tier. »Ja«, stieß Marie hervor. »Und alles ist meine Schuld.« Anna nahm das Mädchen fest in den Arm. Es schluchzte an ihrer Schulter. Anna wechselte einen Blick mit Dorothee Grünberg, die sie und ihre Tochter im Haus gegenüber entdeckt hatte. Dorothee gab ihr ein Zeichen: Kümmere dich um das Kind, ich komme gleich zu euch. Sicher hatte ihre Nachbarin jetzt alle Hände voll zu tun. Schließlich konnten sie nicht ohne Weiteres in den Urlaub fliegen und den Kater einfach sich selbst überlassen. Das würde Marie ihren Eltern niemals verzeihen. »Ich bin schuld. Ich ganz allein«, jammerte das Kind. »Nein, das bist du nicht, mein Schatz«, flüsterte Anna.
Sie trug das Mädchen vorsichtig ins Haus. »Jede Katze kann mal weglaufen. So etwas passiert immer wieder. Du darfst dir keine Vorwürfe machen.« »Aber ich hab doch das Türchen aufgemacht.« Anna strich ihr übers Haar. »Denk nicht mehr darüber nach. Ich mache dir erst mal einen heißen Kakao, was hältst du davon?« Sie setzte Marie in der Küche ab und stellte einen Topf auf den Herd. Marie saß stumm da und zog von Zeit zu Zeit die Nase hoch, während Anna den Kakao anrührte. »Wenn ihn jemand findet, wird er ihn sicher zurückbringen «, sagte sie. »Schließlich trägt er ein Halsband mit Namensplakette. Und er hat einen Chip unter der Haut, weißt du? Wenn er ins Tierheim gebracht wird oder zu einem Tierarzt, dann können die auf dem Chip euren Namen und eure Adresse lesen. Glaub mir, das ist nur eine Frage der Zeit, bis er wieder auftaucht.« Marie stand auf und betrachtete Annas Adventskranz. »Ob Nelson jetzt irgendwo ist, wo Advent gefeiert wird?« Sie klang unendlich traurig, als sie hinzufügte: »Er liebt die Weihnachtszeit, weißt du?« Anna dachte an den lärmenden Alexanderplatz.
Wo würde sich ein Kater wohl verstecken? In einem Parkhaus? Oder in einem Kellergeschoss? Sie konnte nur hoffen, dass er nicht einfach auf die Straße gelaufen und überfahren worden war. »Wir werden ihn wiederfinden.« Anna nahm das Gesicht des Mädchens in die Hände, damit Marie ihr in die Augen sah. »Hörst du? Wir werden Nelson wiederfinden. Das verspreche ich dir.« Sie folgte einem Impuls, als sie das sagte. Dabei wusste sie, wie schwer es sein würde, dieses Versprechen zu halten. Doch sie konnte nicht anders, es war wie ein Zwang. »Ich bringe ihn zurück, mein Engel«, sagte sie. »Ganz fest versprochen.«
Der Mond stand hell leuchtend über dem Roten Rathaus. Unter dem sternenklaren Himmel sanken die Temperaturen unter Null. Ein eisiger Wind pfiff durch die mittlerweile menschenleeren Gassen auf dem Weihnachtsmarkt. Nelson fror entsetzlich. Er war zurückgekehrt, weil er gehofft hatte, der alte Mann würde ihn nun vielleicht doch am Öfchen sitzen lassen. Bei dieser furchtbaren Kälte würde er eine Katze doch nicht einfach davonjagen, das würde er nicht übers Herz bringen. Aber die Stände waren verwaist und die Türen allesamt versperrt. Nelson schlich frierend an einem Karussell vorbei. Ihm war nicht nur kalt, er hatte auch schrecklichen Hunger. Aber nirgends gab es was zu essen. Die Plastiksäcke, in die tagsüber auf dem Weihnachtsmarkt die Essensreste geworfen wurden, waren alle fortgebracht worden. Und auch sonst lag nirgendwo etwas Essbares herum. Enttäuscht machte er sich auf den Weg zurück zu seinem Versteck hinter dem Lüftungsgitter. Dort ging wenigstens nicht so ein grässlicher Wind.
Laternenlicht fiel über die breiten Bürgersteige. Der Kater versuchte, sich im Schatten der Hauswände zu bewegen, auch wenn anscheinend kein Mensch unterwegs war. Er wollte vorsichtig sein, denn er spürte, dass hier Gefahren lauerten. An einem Betonpfeiler stand ein offener Mülleimer, von dem unterschiedlichste Gerüche ausgingen. Nelson schöpfte Hoffnung. Mit einem Satz war er oben auf dem Rand und spähte hinein. Er entdeckte ein Papiertaschentuch und ein Stück Folie, eine leere Flasche und eine alte Zeitung. Nelson streckte eine Pfote hinein und schob die Zeitung beiseite. Eine weitere Flasche kam zum Vorschein und daneben eine zerknüllte Papiertüte aus einer Bäckerei. Etwas Schweres lag darin, und das Papier war an einigen Stellen von Butter durchweicht. Nelson konnte sein Glück kaum fassen: Er hatte etwas zu essen gefunden. Mit seinen Pfoten und dem Mäulchen versuchte er, die Papiertüte aus dem Mülleimer zu zerren, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren und selbst hineinzufallen. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, doch schließlich war es ihm gelungen. Das Tütchen lag auf dem breiten Rand des Mülleimers, und augenblicklich begann er, an dem Papier zu nagen und zu zerren, um den Brotrest zu befreien. Er war so in seine Tätigkeit vertieft, dass er den Mann erst bemerkte, als er über dem Mülleimer stand. »Hey, du blödes Vieh! Verschwinde!« Nelson schoss davon. Er war so hungrig gewesen, dass seine Vorsicht nachgelassen hatte. Blitzschnell war er hinter dem Betonpfeiler verschwunden. Erst in sicherer Entfernung hielt er inne und blickte zurück. Sein Essen lag noch immer auf dem Rand des Mülleimers. Der Mann, der ihn verjagt hatte, beugte sich über den Mülleimer und begann darin zu wühlen. Seine Kleidung war zerlumpt, und neben ihm stand ein Einkaufswagen voller seltsamer Dinge: Tüten, Radios, Decken und obenauf ein großer Plastiksack. Der Mann zog die leeren Flaschen aus dem Mülleimer und verstaute sie in der großen Tüte. Nelson wartete ab. Wenn der Mann fort war, wollte er sich den Brotrest schnappen.
Das Wasser lief ihm bereits im Mund zusammen. Endlich würde er etwas essen. Der Mann murmelte vor sich hin, knotete den Sack zusammen und schob den Einkaufswagen um den Mülleimer herum. Doch dann hielt er inne. Er hatte die zerknüllte Brottüte entdeckt. Mit seinen schmutzigen Fingern packte er ein Stück Weißbrot aus, steckte es sich in den Mund und warf die leere Papiertüte fort. Dann stieß er einen Rülpser aus und schob seinen Einkaufswagen davon. Es wurde wieder still auf dem Bürgersteig. Nelson spürte den eisigen Wind. Er zwängte sich durch das Lüftungsgitter in sein Versteck und verkroch sich in einer windgeschützten Ecke. Nicht nur die Kälte und der Hunger machten ihm zu schaffen, er fühlte sich auch furchtbar einsam.
Traurig dachte er daran, wie er in Maries Bett sprang und sich von ihr den Bauch kraulen ließ. Wie er zu ihr unter die Decke kroch und beim Einschlafen ihre Wärme spürte. Was sie wohl gerade machte? Ob sie auch an ihn dachte? Er schloss die Augen und träumte davon, wie Marie ihm eine Dose Katzenfutter öffnete. Und beim Gedanken an ihr warmes und weiches Bett fiel er schließlich in einen tiefen traumlosen Schlaf.
Ein neuer Tag auf dem Weihnachtsmarkt vorm Roten Rathaus. Arthur Hummel hielt sich wärmend die Hände ans kleine Elektroöfchen, das er gerade erst eingeschaltet hatte und das nur langsam begann, Wärme abzustrahlen. Er blickte auf das Geschehen vor seinem Stand. Vitrinen wurden geputzt, Waren sortiert und Grillroste angeheizt. Schräg gegenüber am Kettenkarussell wurde die Musik eingeschaltet. Bing Crosby sang mit schmelzender Stimme von weißen Weihnachten. Der Schausteller am Karussell, ein junger Mann in dickem Skianzug, begann die Sitzflächen abzuwischen. Immer wieder hielt er inne und plauderte gut gelaunt mit vorbeikommenden Kollegen. Auch der türkische Junge vom Sockenstand nebenan blieb am Karussell stehen und redete mit dem Schausteller. Die beiden schienen sich richtig zu mögen. Die ersten Gäste schlenderten über den Markt, doch viel war noch nicht los. Arthur dachte an die Katze, die gestern bei ihm aufgetaucht war. Er sah sich um, aber sie war nirgends zu sehen. Am Kettenkarussell stand inzwischen eine junge Frau. Sie unterhielt sich mit dem Schausteller, ihr affektiertes Lachen war zu hören, der Schausteller grinste breit und ließ sie kurz darauf Platz nehmen, ehe er das Karussell startete - für sie ganz allein, als einzigen Gast. In einem Meer von dahinfliegenden leeren Sitzen sauste sie glücklich lachend und winkend dahin. »Was für ein Unsinn«, brummte Arthur missmutig. Er konzentrierte sich auf seine Zeitung, die er wie jeden Morgen las. Sollten die anderen doch machen, was sie wollten. Er war jedenfalls hier, um Geld zu verdienen.
Plötzlich war da eine Stimme vor seinem Stand. »Guten Tag, Arthur Hummel! Wie geht es Ihnen?« Überrascht sah er auf. Die Märchenerzählerin stand vor ihm und strahlte ihn an. Sie trug einen dunklen Stoffmantel mit einem Pelzkragen, auf den ihre silbergrauen Locken weich herabfielen. Arthur machte große Augen. »Woher ...?« Woher kennen Sie meinen Namen?, hatte er fragen wollen. Doch er konnte sich die Antwort selbst geben. In einem kleinen Kästchen auf dem Verkaufstresen steckten seine Visitenkarten. Sie musste beim letzten Mal eine davon eingesteckt haben. Arthur war ziemlich überrumpelt. »Ja ... ähm ... guten Morgen.« Sie redete unbekümmert drauflos. »Es war ganz schön kalt gestern Nacht, nicht wahr? Wenn das so weitergeht, kommt bald der erste Schnee. Wäre das nicht wunderbar? « Arthur erholte sich langsam von seinem ersten Schreck. Er wurde ärgerlich. Was dachte sich denn diese Frau dabei, ihn so zu überfallen? Hatte er nicht beim letzten Mal klar und deutlich zu verstehen gegeben, was er von Freundschaften unter Schaustellern hielt? Er wollte hier keine Kontakte, und damit basta. Das hatte sie doch wohl verstanden. »Was wollen Sie von mir?«, bellte er. Sie schien sich von seinem Ton nicht beeindrucken zu lassen. »Gar nichts Besonderes«, erwiderte sie freundlich. »Nur ein bisschen plaudern. Ich bin viel zu früh, es dauert noch eine Weile bis zur ersten Märchenstunde. Ich dachte, vielleicht erzählen Sie mir ein bisschen was über Ihre Figuren? Sie sind so schön. Ich würde gerne mehr über sie erfahren. Wie sie entstehen, zum Beispiel.« Arthur spürte, wie sich seine Brust verengte. Was bildete sich diese Märchenerzählerin bloß ein? Er kannte sie doch gar nicht. Eine wirklich impertinente Person! »Ich bin nicht dafür da, Ihnen die Zeit zu vertreiben«,sagte er. »Wenn Sie eine Figur kaufen wollen, bitte schön. Zu mehr bin ich aber nicht verpflichtet.« Sie schien gar nicht wütend darüber zu sein, so unfreundlich behandelt zu werden. Eher wirkte sie ein wenig enttäuscht. »Mein lieber Arthur Hu...« »Für Sie immer noch Herr Hummel, wenn ich bitten darf!« Er machte es sich bequem und nahm seine Zeitung. »Und wenn weiter nichts ist, würde ich gern Zeitung lesen.« Sie seufzte. Ihr Lächeln wirkte auf eine seltsame Weise so, als hätte sie Mitleid mit ihm. »Wenn Sie das möchten, gehe ich natürlich«, sagte sie. Doch bevor sie verschwand, fügte sie hinzu: »Aber ich lasse mich nicht von Ihnen täuschen, Herr Hummel.« Sie deutete auf seine Verkaufsauslagen. »Wer so schöne Figuren erschafft, der ist kein schlechter Mensch. Da können Sie mir nichts vormachen. Auf Wiedersehen.« Und damit ließ sie ihn stehen. Arthur war völlig verdattert. Natürlich war er kein schlechter Mensch. Er wollte nur seine Ruhe haben.
Es war besser, wenn er andere Menschen nicht zu nah an sich heranließ. Am Ende würden sie ihn doch nur enttäuschen. Oder sie würden ihn wieder alleine lassen. Besser, er hielt Abstand. Dann konnte auch nichts passieren. Er dachte an seine verstorbene Frau. Ach, Sophie! Du hast immer gewusst, wie man mit anderen Menschen spricht. Wärst du doch nur hier, dann sähe alles anders aus. Das Öfchen war inzwischen heiß geworden, und er setzte sich mit seiner Zeitung daneben. Von Zeit zu Zeit tauchten Marktbesucher auf, die sich für seine Figuren interessierten. Am Mittag hatte er bereits drei Figuren verkauft. Es lief gut, so konnte es gern weitergehen. Irgendwann kam ein japanischer Geschäftsmann, der sich für einen ganzen Krippensatz interessierte. Da ging es um sehr viel Geld. Arthur stand von seinem Sessel auf, faltete die Decke zusammen und ging um den Stand herum, um dem Mann alles in Ruhe erklären zu können. Am Ende kam der Kauf zwar doch nicht zustande, aber Arthur störte das nicht. Vielleicht würde der Mann ja noch einmal wiederkommen. Er kletterte wieder in seinen Stand.
Auf der Decke, die er neben das Öfchen gelegt hatte, saß die Katze. Sie hatte sich in seinen Stand geschlichen, während er draußen gewesen war. Wieder blickte sie Arthur mit großen Augen an, den Körper unter Spannung, um jeden Moment aufspringen und weglaufen zu können. Sie sah schlechter aus als beim letzten Mal. Offenbar hatte sie nicht viel zu fressen bekommen. Arthur zögerte. Er wollte keine Katze bei sich haben. Sie sollte zurück zu ihrem Besitzer gehen. Doch so ausgehungert, wie sie war, fiel es ihm schwer, sie hinaus in die Kälte zu jagen. Mürrisch betrachtete er das Tier. Dann umrundete er vorsichtig den Ofen und setzte sich wieder auf seinen Sessel. Die Katze blieb unbewegt auf der Decke am Boden, ließ Arthur jedoch nicht aus den Augen. Falls er es sich anders überlegen sollte, würde sie blitzschnell fliehen. Doch er überlegte es sich nicht anders, sondern ließ sie gewähren. Solange die Katze nichts anstellte, störte sie ja nicht. Also wollte er sie erst einmal in Ruhe lassen. Sie würde schon von allein wieder verschwinden. Nach Einbruch der Dunkelheit füllte sich der Weihnachtsmarkt. In den schmalen Gassen entstand beinahe Gedränge. Die meisten Leute schauten bloß, gekauft wurde wenig. So war das immer an den ersten Tagen. Arthur saß in seinem Stand und hing seinen Gedanken nach. Die fremde Katze lag derweil auf der Decke neben dem Öfchen und döste. Eine Stimme riss ihn aus den Gedanken. »Mama! Papa! Kommt schnell! Guckt euch die Figuren an!« Ein etwa zehnjähriges Mädchen tauchte am Stand auf. Mit leuchtenden Augen betrachtete es die Schnitzereien.
Es war so gebannt davon, dass es Arthur selbst gar nicht bemerkte. Der freute sich über die Begeisterung des Mädchens. Kinder hatten einen eigenen Blick auf die Dinge. Sie sahen mit dem Herzen. »Sie sind so schön, seht doch!«, sagte sie. »Stellt euch vor, wir hätten zu Hause so eine Krippe, mit solchen Figuren!« Die Eltern waren hinter ihr aufgetaucht und blickten lächelnd zu ihrer Tochter herab. »Wir haben doch schon eine Krippe mit allem Drum und Dran«, sagte der Vater. Er suchte Arthurs Blick und nickte ihm freundlich zu. »Komm, Schatz, gehen wir zu den gebrannten Mandeln«, sagte die Mutter. Sie legte ihrer Tochter die Hand auf die Schulter. »Ich habe dir doch ein Tütchen versprochen.« »Aber die sind so schön«, sagte sie bedauernd. Der Vater senkte die Stimme. »Hör zu, mein Sonnenschein, du weißt doch, wir können uns so etwas nicht leisten. Aber unsere Krippe ist ja auch schön, oder nicht?« Die Kleine nickte tapfer. »Ich möchte mir die Figuren nur noch ein bisschen angucken.« Der Vater nickte und wuschelte ihr durch die Haare. »Natürlich, Schatz.« Arthur spürte einen Stich und erinnerte sich an seine eigene kleine Familie vor gut dreißig Jahren. Drehte man die Uhr zurück, hätten sie wohl ein ähnliches Bild abgegeben. Er, seine Frau und seine kleine Tochter.
Was waren das für Zeiten gewesen! Hätte er damals gewusst, dass es die glücklichsten Jahre seines Lebens wären, hätte er sie sicherlich bewusster genossen. Die kleine Familie schlenderte irgendwann weiter und tauchte in der Menge ab. Arthur fühlte sich plötzlich unendlich traurig. Er war allein übrig geblieben, der Rest seiner Familie war fort. Das hätte er sich damals nicht träumen lassen. Wie es wohl seiner Tochter ging? Sie hatten sich schon seit Jahren nicht mehr gesprochen. Arthur dachte an den furchtbaren Streit, den sie gehabt hatten. Da war alles zerbrochen, und keiner hatte das danach noch reparieren können. Ein Maunzen ertönte. Arthur blickte sich um. Die Katze sah ihn mit großen Augen an. Sie miaute wieder, es war ein intensiver und herzzerreißender Laut. Arthur runzelte die Stirn. Spürte sie etwa, was er gerade fühlte?
Das war doch unmöglich. Er fixierte das kleine Tier. Es war völlig ausgehungert. Kein Wunder, dass es solch traurige Laute von sich gab. Das hatte tatsächlich nichts mit ihm zu tun, was hatte er denn gedacht? Er griff zu seiner Tasche. Am Morgen hatte er sich zu Hause Wurststullen geschmiert. Er überlegte. Die Brote würden ihm auch ohne Aufschnitt schmecken. Also zog er sie hervor, klappte gleich das erste auseinander, nahm die Wurstscheibe herunter und legte sie an den Rand der Decke. Die Katze stürzte sich sofort darauf und schlang sie hinunter. Arthur lächelte. Er zog die nächste Wurstscheibe vom Brot. So aßen sie gemeinsam. Arthur die trockenen Brote, die er mit etwas Tee hinunterspülte, und die Katze die ganze Wurst, die auf den Broten gewesen war. Anschließend leerte Arthur noch eines seiner Holzschälchen, putzte es aus, stellte es vor die Katze auf den Boden und goss etwas von der Milch hinein, die er sich für seinen Kaffee mitgenommen hatte. Er achtete sorgsam darauf, dass nicht diese Märchenerzählerin oder jemand anderes in der Nähe war und ihn beobachtete. Diese Blöße wollte er sich nicht geben.
Dann setzte er sich wieder in seinen Sessel und sah zufrieden hinaus auf die Verkaufsstände. Es tat gut, mal wieder in Gesellschaft zu essen. Plötzlich passierte etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Nachdem die Katze ihre Mahlzeit verspeist hatte, war sie aufgestanden, um ihm um die Beine zu streichen. Sie schmiegte sich eng an seine Knöchel und begann zu schnurren.
»Das war keine große Sache«, sagte Arthur leise. »Und falls du denkst, ich würde dich in Zukunft weiter durchfüttern, dann täuschst du dich. Also spar dir lieber deine Streicheleinheiten.« Doch die Katze ließ sich nicht beirren. Sie schnurrte weiter um seine Beine herum. Einen Augenblick lang überlegte Arthur, ob er das Tier davonjagen sollte. Doch dann ließ er es einfach gewähren. Und lächelte wieder. Irgendwann leerten sich die Marktgassen. Überall wurde aufgeräumt. Verkaufsfenster wurden mit Brettern verhängt, im Glühweinstand wurden Tassen und Behälter gespült, ein Angestellter der Stadt fegte mit einem breiten Besen den Müll zusammen. Auch Arthur räumte seine Sachen zusammen. Die Katze lag noch immer auf der Decke neben dem Öfchen. Sie spürte die Veränderung und spitzte die Ohren. Arthur zog den Stecker aus dem Ofen. »Ich gehe jetzt nach Hause«, sagte er. »Tut mir leid, aber du musst auch gehen.« Er zog die Fensterläden zu und verriegelte sie. Dann nahm er seine Tasche. Die Katze wollte bleiben, wo sie war. Doch das ging nicht. Er konnte sie hier nicht allein lassen. Sie würde ihm den ganzen Stand auseinandernehmen. »Du musst gehen, habe ich gesagt.« Arthur klatschte in die Hände. Das Tier zuckte zusammen und machte einen Buckel. Und blieb, wo es war. »Nein, so läuft das nicht. Raus jetzt!« Er gab der Katze einen Stups mit dem Stiefel, woraufhin sie blitzschnell nach draußen sprang. Dort blieb sie stehen und sah Arthur vorwurfsvoll an. Er trat ebenfalls ins Freie und zog die Tür hinter sich zu. »Ich kann es nicht ändern«, sagte er. »Du musst dahin zurückgehen, wo du hergekommen bist.« Nebenan im Sockenstand räumte der junge Mann gerade die Verkaufsfläche frei. Arthur hatte den Eindruck, er musterte ihn interessiert. Seine Miene verfinsterte sich. Was tat er hier auch? Sprach mit einer Katze! Mürrisch schüttelte er den Kopf und schloss die Tür ab. Er machte sich zum Narren. Ohne die Katze eines weiteren Blickes zu würdigen, nahm er seine Tasche und stapfte davon.
Anna hatte das Radio eingeschaltet. Die Regensburger Domspatzen sangen Weihnachtslieder und erfüllten mit ihren klaren Knabenstimmen die Küche. Wenn sie schon alleine Plätzchen backen musste, wollte sie wenigstens ein bisschen Adventsstimmung haben. Aus Max' Zimmer drang seit Stunden schon das elektronische Gedudel seiner Computerspiele, und der matte Widerschein des Monitors fiel in den Hausflur. Er würde vor seinem Computer noch einen Sehschaden bekommen. Sie hatte ihm heute extra Nürnberger Würstchen gebraten, obwohl sie es hasste, Fleisch zuzubereiten, seit sie Vegetarierin war. Er hatte das nur mit einem knappen »Hoppla!« quittiert, hatte die Würstchen in Sekundenschnelle verschlungen und war danach in sein Zimmer abgetaucht. Von einem Dankeschön keine Spur. Das hatte Anna rasend gemacht. Laura war mit Freundinnen unterwegs. Sie wollten nach der Schule zu McDonald's, um sich mit Jungs aus der Nachbarklasse zu treffen. Ausgerechnet bei McDonald's - Weihnachtsplätzchen kamen für sie ja nicht infrage, weil sie auf ihr Gewicht achtete. Aber Anna verstand schon: Das hatte wohl weniger mit den Kalorien zu tun als damit, gemeinsam mit ihrer peinlichen Mutter in der Küche stehen zu müssen. Doch davon würde sich Anna nicht aus dem Konzept bringen lassen. Dann backte sie eben alleine. Was blieb ihr auch anderes übrig? Sie konnte Weihnachten ja schlecht ausfallen lassen. Das würde den Kindern nämlich genauso wenig gefallen.
Also band sie sich ihre Schürze um, lauschte den Weihnachtsliedern im Radio und machte sich an die Arbeit. Alles stand bereit: Rührschüssel, Nudelholz, Ausstecher, Pinsel, Bleche, Backpapier und die ganzen Zutaten. Sie erinnerte sich, wie Laura und Max links und rechts neben ihr auf Kinderstühlchen gestanden hatten, um an die Arbeitsfläche heranzureichen. Sie hatten kleine Schürzen getragen, und Anna hatte ihnen die Ärmel hochkrempeln müssen, damit sie nach Lust und Laune den Teig kneten konnten. Andächtig hatten sie Weihnachtsbäume und Engelchen ausgestochen und die fertigen Plätzchen dann mit buntem Zuckerguss bemalt. Am Ende waren sie jedes Mal von oben bis unten mit Mehl und Schokoladenflecken übersät. Was war das nur immer für ein Spaß gewesen. Und damals gehörte es zu jedem Weihnachten ganz selbstverständlich dazu. Trotzig machte sich Anna daran, den Teig für die Haselnussmakronen zuzubereiten. Das waren immer die ersten Plätzchen, die sie machte. Zwölf unterschiedliche Plätzchen würden es am Ende werden, die nostalgischen Blechdosen standen schon bereit. Heute würde sie nur die erste Hälfte backen. Den Rest würde sie sich für einen anderen Tag aufheben, denn vielleicht hatte Laura ja in der nächsten Woche mehr Lust, sich an der Weihnachtsbäckerei zu beteiligen. Ihr Blick fiel durchs Fenster nach draußen. Im grauen Nachmittagsdunst lag hell erleuchtet das Haus der Grünbergs. Nelson war noch immer verschwunden. Dorothee Grünberg hatte den Urlaub zunächst umbuchen wollen. Sie hatte die Hoffnung gehabt, ohne zu großen finanziellen Verlust ein paar Tage später fliegen zu können. Aber da keiner sagen konnte, wann Nelson wieder auftauchen würde - und ob er überhaupt je zurückkäme -, hatte Dorothee den Urlaub schließlich ganz abgesagt. Die Familie würde über Weihnachten in Berlin bleiben.
Dorothee und Bernd Grünberg versuchten, nicht Marie die Schuld für den ausgefallenen Urlaub zu geben, das konnte Anna ihnen anmerken. Doch es fiel ihnen sichtlich schwer. Sie hatten sich das ganze Jahr über auf die Kanarischen Inseln gefreut, und nun kam so ein blödes Haustier dazwischen und machte alles zunichte. Ganz zu schweigen von den Stornogebühren, die auf sie zukamen. Anna hatte sich aktiv in die Suche eingeschaltet. Dorothee war das ganz recht gewesen, so konnte sie sich um andere Dinge kümmern. Zuerst hatte Anna gemeinsam mit Marie die Tierheime abtelefoniert. Aber Nelson war nirgendwo abgegeben worden. Sie waren zur Apotheke am Alexanderplatz gefahren, wo Nelson verschwunden war, und hatten sich dort ein bisschen umgesehen. Aber Anna hatte schon vorher geahnt, dass nicht viel dabei herauskommen würde. Die Apotheke lag an einer mehrspurigen, stark befahrenen Straße und schräg gegenüber von einer riesigen Kreuzung, über die in dichtem Abstand Straßenbahnen donnerten. Wenn Nelson sich immer noch dort aufhielt, waren seine Überlebenschancen gleich Null. Anna fragte sich, ob es inzwischen etwas Neues gab. Heute hatte sie noch gar nicht mit Marie gesprochen, und sie beschloss, später zu den Grünbergs hinüberzugehen und sich zu erkundigen. Sie öffnete den Ofen und schob das Blech mit den Makronen hinein. Als Nächstes war der Teig für die Vanillekipferl dran. Nach einer Weile ging sie nach draußen, um eine Schüssel mit Eier- und Nussschalen zum Kompost zu bringen. Die klare kalte Luft tat ihr gut. Sie blickte wieder hinüber zum Haus der Grünbergs. Oben im Kinderzimmer sah sie Marie auf der Fensterbank sitzen. Traurig und reglos starrte sie vor sich hin. Anna dachte an das Versprechen, das sie Marie so leichtfertig gegeben hatte. Es war nicht richtig gewesen, dem Mädchen solche Hoffnungen zu machen.
Sie fühlte sich schuldig. Mit schwerem Herzen ging sie zurück in die Küche. Sie hielt inne. Die blöde Weihnachtsbäckerei konnte ihr doch im Grunde egal sein. Es interessierte sich ohnehin niemand dafür. Also fasste sie einen Entschluss. Sie zog das Blech mit den mittlerweile fertigen Makronen aus dem Ofen, schaltete diesen aus, nahm dann ihren Mantel und ging hinüber zu den Grünbergs. Dorothee öffnete ihr die Tür. Sie wirkte abgekämpft und müde. »Ach, du bist das«, sagte sie. »Komm doch herein.« »Ich will gar nicht lange stören. Eigentlich bin ich nur gekommen, um zu hören, ob es Neuigkeiten von Nelson gibt.« »Nein, leider nicht.« Dorothee blickte nach oben, wie um sicherzugehen, dass Marie sie nicht belauschte. »Und wenn ich ehrlich bin, Anna, glaub ich auch nicht, dass wir noch etwas hören werden.« »Du meinst, er ist tot?« »Seien wir realistisch: Es würde an ein Wunder grenzen, wenn Nelson nicht überfahren worden ist.« Anna dachte an das Versprechen, das sie Marie gegeben hatte. »Ich wäre mir da nicht so sicher, dass er tot ist«, sagte sie hoffnungsvoll. »Er hat doch diesen implantierten Chip. Jeder Tierarzt hätte den unter seiner Haut gefunden und euch sofort angerufen.« »Falls sein Kadaver überhaupt zu einem Tierarzt gebracht worden ist. Und selbst wenn Nelson nicht tot ist ... dann hat ihn jemand bei sich aufgenommen. Denn sonst wäre er doch irgendwo aufgetaucht.« »Es wird Marie das Herz brechen«, sagte Anna leise. Dorothee sah wieder hinauf zum Kinderzimmer und nickte. Anna dachte nach. Marie musste abgelenkt werden. Einfach nur dazusitzen und zu warten war für ein Kind in dieser Situation absolut das Falsche. Sie musste etwas tun, um Nelson zu suchen. Aktiv werden. »Ich könnte mit Marie die Tierheime abfahren«, schlug Anna vor. »Aber die Leute vom Tierheim hätten uns längst angerufen, Anna. Die wissen auch, dass Katzen so einen Chip tragen können.« »Trotzdem. Wir sollten alles probieren. Vielleicht haben sie ja den Chip einfach übersehen. Am besten, wir gehen hin und sehen selber nach, ob eine der Katzen Nelson ist. Außerdem ist es für Marie wichtig, dass wir etwas unternehmen. « »Ach, Anna.« Dorothee lächelte dankbar. »Willst du das wirklich für uns tun? Du hast doch sicherlich mit deiner eigenen Familie genug zu tun.« Anna machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach was, das mache ich gern. Wirklich.« Dorothee nahm sie kurz in den Arm und bedankte sich noch einmal. Dann wandte sie sich ab und lief die Treppe zum Kinderzimmer hoch. »Marie! Komm schnell runter! Anna ist da, sie will mit dir nach Nelson suchen!« Anna blieb im Hausflur stehen und wartete. Ihr Lächeln gefror jetzt ein wenig. Sie wollte Dorothee lieber nicht sagen, was sie Marie für ein Versprechen gegeben hatte.
Denn damit hatte sie alles nur noch schlimmer gemacht, sollte Nelson tatsächlich überfahren worden sein. Und welche Mutter hörte so etwas schon gern? Am frühen Abend kehrten Anna und Marie von ihrer Rundreise durch die Tierheime zurück. Nach der anfänglichen Begeisterung hatte sich Ernüchterung eingestellt. In keinem der Tierheime war Nelson gewesen, und sie waren wieder an dem Punkt, wo sie wenige Stunden vorher gewesen waren. Marie saß ganz still auf dem Rücksitz und blickte aus dem Fenster. Sie machte Anna keinerlei Vorwürfe, dass sie ihr Versprechen nicht einhalten konnte. Als wäre es völlig normal, dass Erwachsene Dinge versprachen, die sie später nicht hielten. Anna wollte das nicht auf sich sitzen lassen. Sie musste irgendetwas tun, um Marie Hoffnung zu geben. Sie betrachtete das Mädchen im Rückspiegel. »Glaub mir, das muss noch gar nichts bedeuten. Dann ist Nelson eben nicht ins Tierheim gekommen. Er kann trotzdem überall sein. Wir müssen weitersuchen.« Marie stieß ein leises Brummen aus.
Offenbar überzeugten diese Worte sie nicht sonderlich. »Kopf hoch, Marie. Ich hab auch schon eine Idee, wie wir weitermachen können.« Im Rückspiegel sah sie, wie in Maries Gesicht ein Funken Hoffnung aufblitzte. Anna spürte Erleichterung. »Nelson ist vielleicht bei jemandem untergekommen«, fuhr sie fort, »der gar nicht weiß, dass man entlaufene Katzen ins Tierheim bringt. Oder Nelson hat irgendwo ein Versteck gefunden, wo er sich vor der Kälte schützen kann und was zu fressen hat. In beiden Fällen muss ihn einer gesehen haben. Nelson kann sich ja nicht unsichtbar machen. Wir müssen also nur die Leute finden, die ihn gesehen haben könnten. Die können uns bestimmt Hinweise geben, wie wir Nelson aufspüren können. Vielleicht finden wir sogar denjenigen, der Nelson bei sich aufgenommen hat.« Maries Stimme war leise und belegt. »Und wie sollen wir das machen?« »Du hast doch bestimmt ein Foto von Nelson, oder?« »Ja. Mama hat ganz viele Fotos gemacht, damit ich die mit in den Urlaub nehmen kann.« »Hervorragend! Dann machen wir Plakate mit diesen Fotos, kopieren sie und hängen sie rund um den Alexanderplatz an Laternenpfähle und in Schaufenster. Überall da, wo Nelson gewesen sein könnte.«
© 2013 Verlagsgruppe Weltbild, Augsburg
Nelson hatte keine Ahnung, wohin er gebracht werden sollte. Aber irgendetwas stimmte nicht, davon war er überzeugt. Marie war völlig außer sich, sie weinte schon den ganzen Morgen. Außerdem wollte sie nicht, dass er in sein Körbchen gesperrt wurde. Dabei war das sein fester Platz, wenn sie mit dem Auto fuhren. Aber heute drückte Marie ihn so fest an sich, als hinge ihr Leben davon ab. Nelson wurde unruhig. Er ließ sich ohne Gegenwehr in den Transportkorb sperren, blieb aber wachsam. Außerdem machte er sich Sorgen um Marie. Wenn sie unglücklich war, spürte er das. Maries Mutter saß am Steuer und startete den Motor.
Sie sprach auf ihre Tochter ein, mit lauter Stimme und strengem Tonfall. Marie hörte schließlich auf zu schluchzen und wurde ganz still. Was war denn nur los? Was passierte hier? Er wusste nicht, wie lange sie gefahren waren, doch irgendwann blieb der Wagen stehen, und der Motor verstummte. Die Mutter sagte zu Marie: »Du bleibst hier und wartest. Ich bin in zwei Minuten wieder da, dann fahren wir weiter. Und Nelson bleibt solange in seinem Körbchen, hast du mich verstanden?« Dann stieg sie aus und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Marie öffnete den Anschnallgurt und rutschte quer über die Rückbank. Sie steckte den Zeigefinger durch die Gitterstäbe des Transportkorbs. Nelson strich mit seinem Köpfchen daran entlang und ließ sich von ihr am Hals kraulen. Maries Gesicht war verweint, und Hoffnungslosigkeit lag darin. »Ach, Nelson«, flüsterte sie. »Was machen wir denn jetzt nur?« Ganz vorsichtig öffnete sie das Türchen, um ihn besser kraulen zu können.
Nelson legte seinen Kopf in ihre Hand, doch er ahnte: Jetzt war nicht der rechte Moment, um sich schnurrend hinzugeben. Die Autotür öffnete sich, und Maries Mutter streckte den Kopf herein. »Marie! Was habe ich denn gesagt! Du sollst ihn nicht rauslassen!« Marie zog ihre Hand aus dem Körbchen und wandte sich ihrer Mutter zu. Die schimpfte weiter, doch Nelson achtete nicht mehr auf sie. Die Autotür stand offen, und die beiden Menschen waren abgelenkt. Er wusste nicht, ob es richtig war, was er tat. Doch er konnte nicht anders. Hier lauerte Gefahr, den ganzen Morgen schon. Er folgte seinen Instinkten. Mit einem großen Satz sprang er auf den Vordersitz und dann zwischen den Beinen der Mutter hindurch auf den Bürgersteig.
Wie ein Blitz schoss er davon. Vorbei an Menschen, Fahrrädern und Kinderwagen und dann an einer stinkenden Autoschlange entlang. Es folgte ein Slalom zwischen einem Akkordeonspieler und einer Wurstbude hindurch, und schließlich jagte er um einen Betonpfeiler herum und versteckte sich in einer düsteren Nische. »Mami, guck mal, eine Katze!«, hörte er einen Jungen rufen, doch da war er längst abgetaucht. Vor ihm ein Lüftungsgitter, breit genug, um sich hindurchzuzwängen. Er glitt in die dahinterliegende Dunkelheit ab. Kein Mensch mehr weit und breit, kein Verkehr und keine neugierigen Blicke. Hier war er ganz allein. Nelson legte sich flach auf den Boden, robbte zurück ans Gitter und spähte vorsichtig hinaus. Ein breiter belebter Bürgersteig, dahinter eine mehrspurige Straße. Eine Straßenbahn bimmelte laut, Ampeln wechselten die Farbe, es wurde gehupt, und ein Mann schrie wütend herum. Überall Lärm und Gewusel. Ganz anders als dort, wo er zu Hause war. Hier gab es keine Gärten und Apfelbäume, keine Zäune und Hecken und vor allem keine Erdlöcher, in denen Mäuse hockten.
Er verkroch sich tiefer im Lüftungsschacht. Marie kam ihm in den Sinn. Ihr trauriges Gesicht und die verweinten Augen. Was sie wohl gerade machte? Wäre er doch in seinem Körbchen geblieben! Aber jetzt konnte er nicht mehr zurück. Da draußen lauerten zu viele Gefahren. Er drückte sich an die Wand und wartete. Vielleicht tauchte Marie ja gleich hinter dem Gitter auf. Sie würde seinen Namen rufen, sich hinhocken und ihm die Hand entgegenstrecken. Und Nelson würde sie trösten. Sich auf ihre Knie legen und seinen Kopf in die warme Mulde ihres Bauchs legen. Er musste nur warten.
Eine Melodie wehte durch die frostige Luft herüber. Jingle Bells. Leises Glockengeläut, der Rhythmus der Schellen, eine samtene Stimme. Das alles konnte nur eines bedeuten: Weihnachten. Arthur Hummel schüttelte mürrisch den Kopf. In den nächsten Wochen würden sie noch mehr als genug Weihnachtslieder zu hören bekommen. Trotzdem gab es da draußen irgendeinen Spaßvogel, der gar nicht genug davon bekommen konnte und sich schon jetzt auf die Adventszeit einstimmte, am Abend vor der Eröffnung des Weihnachtsmarktes. Arthur Hummel ertappte sich dabei, in Weihnachtsstimmung zu geraten. Er nahm sich zusammen. So ein Unsinn! Missmutig blickte er aus seinem Holzhäuschen heraus. Vielleicht wurden ja nur irgendwo die Lautsprecher getestet. Draußen in den Gängen wurde überall gearbeitet. Schmale Häuschen wurden aufgebaut, mit Giebelchen und hübschen Markisen.
Ein kleines Weihnachtsdorf entstand hier, mitten in Berlin, dahinter ragte das Rote Rathaus in den Himmel und ein Stück weiter der Fernsehturm. Schausteller schmückten Weihnachtsbäume, installierten Lichter und räumten Waren ein. In den Pausen standen sie in kleinen Gruppen zusammen und probierten schon mal den Glühwein dieser Saison. Wie jedes Jahr vor der Eröffnung herrschten Aufregung und Vorfreude. Würde es ihnen gelingen, wieder einen bunten und unvergesslichen Weihnachtsmarkt zu erschaffen? An den sich die Kinder der Stadt noch lange erinnerten? Alle nahmen das als sportliche Herausforderung. »Hey, Opa!«, rief ein türkischer Jugendlicher, der mit seinen Eltern den Socken- und Wollmützenstand nebenan betrieb. »Mach doch mal eine Pause! Komm zu uns, wir trinken ein Glas Punsch. Du bist herzlich eingeladen!« Der junge Mann kannte Arthur Hummel offenbar noch nicht. Sonst hätte er niemals so etwas gefragt. »Du bist wohl neu hier, du Rotzlöffel.
Ein bisschen mehr Respekt, wenn ich bitten darf!« Der Junge grinste frech. »Sorry. Und was ist jetzt mit dem Punsch?« »Ich hab keine Zeit für so was. Ich bin schließlich zum Geldverdienen hier. Und jetzt troll dich, und lass mich in Ruhe arbeiten.« Arthur stellte einen Karton mit geschnitzten Krippenfiguren auf die Verkaufsfläche und wickelte einen betenden Hirten aus. Vorsichtig lugte er zum Nachbarstand, wo der Junge ein paar andere Schausteller zusammengetrommelt hatte. Die Stimmung war gut, es wurde viel gelacht. Arthur achtete nicht darauf und wandte sich seiner Arbeit zu. Er hatte es immer vorgezogen, Abstand zu den anderen Schaustellern zu halten. Sich mit Menschen einzulassen bedeutete nur, Ärger zu bekommen. Es war besser, er blieb allein mit seiner Arbeit. Das ganze Jahr über saß er in seiner kleinen Werkstatt und schnitzte Krippenfiguren. Nirgendwo sonst konnte er seine Einsamkeit so gut vergessen. Er konnte völlig versinken in dieser Arbeit, denn er liebte seine Figuren, jedes Detail an ihnen. Natürlich stand der Verkaufspreis in keinem Verhältnis zu den endlosen Arbeitsstunden. Aber das störte ihn nicht. Solange irgendein Detail - die Finger des Jesuskindchens oder die Nüstern des Esels - nicht perfekt war, legte er die Figur nicht aus der Hand. Er steckte sein ganzes Können hinein, bis alles am Ende genauso aussah, wie er sich das vorstellte. Seine Krippen sollten die schönsten der ganzen Stadt sein. Dafür arbeitete er Tag und Nacht.
Wieder wurde nebenan laut gelacht. Punsch und Glühwein wurden ausgeschenkt. Die Schausteller trugen die übliche Kleidung: dicke Stiefel, warme Hosen und mehrere Pullover übereinander. Arthur betrachtete die fröhliche Runde, doch ihm fiel nichts ein, was er mit ihnen hätte reden können. Er blieb lieber für sich. Ein Stück entfernt entdeckte er plötzlich eine Katze. Ein schmales, getigertes Tier, das an den Hütten entlangschlich. Wer brachte denn sein Haustier zum Weihnachtsmarkt mit? Und war es richtig, das Tier allein in der Kälte herumlaufen zu lassen? Nicht, dass es am Ende noch verloren ging. Arthur beugte sich über seine Verkaufsfläche. »He!«, rief er in Richtung der Schausteller. »Wem gehört denn ...?« Er stockte. Die Leute drehten sich zu ihm um. Ihre Gesichter wirkten distanziert. Im Gegensatz zu dem Jungen, der ihn zum Punschtrinken eingeladen hatte, kannten sie Arthur bereits. Sie waren dem mürrischen und einsilbigen Mann schon in den vergangenen Jahren auf dem Markt begegnet. Keiner von ihnen schien ihn besonders zu mögen. »Was gibt's denn, alter Mann?«, rief einer. Arthur sah zu der Stelle hinüber, wo er eben die Katze gesehen hatte, doch die war verschwunden. »Ach nichts«, brummte er und wandte sich wieder seinen Figuren zu. Die Schausteller murmelten, es wurde gekichert, doch Arthur störte sich nicht daran. Er wollte mit den anderen ohnehin nichts zu tun haben. Was ging es ihn an, wenn da jemand nicht auf seine Katze aufpassen konnte? Sollte das Tier doch hier erfrieren, das war nicht sein Problem.
Dennoch wanderte sein Blick ein weiteres Mal zu den Hütten, wo die Katze gewesen war, doch sie blieb verschwunden. Er schlug sie sich aus dem Kopf und hob den nächsten Karton auf die Verkaufsfläche. Am Morgen der Eröffnung herrschte strahlender Sonnenschein. In der eiskalten Nacht hatte sich Raureif gebildet, und bei jedem Atemzug entstanden kleine Wölkchen vor dem Gesicht. Arthur Hummel warf sein Elektroöfchen an, das ihn vor der ärgsten Kälte schützen sollte. Er trug lange Unterhosen, dicke Socken und eine Steppjacke. Trotzdem war es gut, das Öfchen dabeizuhaben, damit er sich zwischendurch aufwärmen konnte. Der Sicherheitsdienst schob an den Eingängen die Eisengitter beiseite, und der Markt war eröffnet. Noch wurde zwar überall gearbeitet, es wurden Glasvitrinen geputzt, Grillroste und Mandelröster wurden angeworfen, und am Glühweinstand gegenüber beschrieb eine Frau mit Kreide die Preistafeln. Doch vereinzelt tauchten bereits erste Besucher auf, die neugierig umherflanierten. Erfahrungsgemäß würde es an den ersten Tagen ruhig bleiben, das war immer so. Der wirkliche Ansturm kam erst ab der zweiten Woche. Arthur machte es sich auf seinem Sessel neben dem Öfchen gemütlich. Er zog sich eine Decke über die Knie und hing seinen Gedanken nach.
Sophie, seine verstorbene Frau, hatte ihn immer ermuntert, an seinen Holzfiguren zu arbeiten. Sie hatte seine Schnitzereien so sehr geliebt. Früher war zu wenig Zeit dafür gewesen. Erst nach ihrem Tod hatte er richtig damit angefangen. Sophie war vor drei Jahren an einem Krebsleiden gestorben. Da war sie dreiundachtzig gewesen, vier Jahre älter als er. Dreiundachtzig, dachte er. Aber was hieß das schon? Sie hätten auch zusammen dreihundert Jahre alt werden können, und er hätte jeden Moment mit ihr genossen. Es wäre ihm niemals langweilig geworden mit Sophie. Sie fehlte ihm so furchtbar. Es war ein einfaches Leben gewesen, das sie geführt hatten. Reisen, Geld, ein Eigenheim - das alles hatte es nicht gegeben. Seine Arbeit als Busfahrer bei den Verkehrsbetrieben hatte gerade einmal ihr Überleben gesichert.
Trotzdem hätte er sich kein besseres Leben gewünscht. »Die sind ja wunderschön!« Eine Frauenstimme. Arthur hob den Kopf. Eine ältere Dame mit silbergrauen Locken und einem fein geschnittenen Gesicht war vor seinem Stand aufgetaucht. »Sind die etwa handgefertigt?«, fragte sie und nahm eine Figur des Josef in die Hand, der eine winzige Stalllampe hielt und den Mantel schützend vor Maria und dem Jesuskindchen ausbreitete. »Natürlich sind die handgefertigt. Das sieht man doch, was glauben Sie denn!« Die Dame ließ sich von seinem ruppigen Tonfall nicht beeindrucken. »Beachtlich«, sagte sie. »Sehr gute Arbeit. Das sind ja richtige kleine Kunstwerke. Haben Sie die gemacht?« Arthur brummte missmutig, was so viel wie Ja bedeuten sollte. Er mochte es nicht, wenn Kunden ihn in ein Gespräch verwickelten. »Dann sind Sie ein wahrer Künstler«, fuhr die Dame unbeirrt fort. »Die Figuren sehen aus, als hätten sie ein Eigenleben. Eine Seele. Da kommen fabrikgefertigte nicht mit, das kann ich Ihnen sagen.« Sie blickte auf das Preisschild unterm Fuß des Josefs. »Sie könnten wesentlich mehr dafür nehmen.« »Was ist jetzt, wollen Sie was kaufen oder nicht?« Sie stellte die Figur wieder weg. »Ich bin Liselotte«, sagte sie und lächelte. »Liselotte Stubenrath. Eine der Märchenerzählerinnen. Wir sind also quasi Kollegen.« Sie deutete zu einer Gasse, die im Stil einer Altberliner Straße gestaltet war. Pappfassaden bildeten die Kulisse wilhelminischer Häuserfronten, und in den Erdgeschossen waren Verkaufsfenster mit bunten Markisen eingebaut.
Mittendrin gab eine kleine Theaterbühne, die in die Häuserfront eingelassen war. Dort war ein Wohnzimmer aus der Kaiserzeit mit einem großen Ohrensessel zu bestaunen, in dem die Märchenerzählerin bei ihrem Auftritt Platz nehmen würde. Arthur kannte die Bühne bereits von den vergangenen Jahren. An den Nachmittagen würden sich die Kinder davor tummeln und dem Geschehen mit großen Augen folgen. Nur diese Liselotte Stubenrath kannte er noch nicht. »Im letzten Jahr habe ich Sie hier aber nicht gesehen«, sagte er. Das war ihm so herausgerutscht. Er wollte sich ja eigentlich gar nicht mit dieser Frau unterhalten. »Nein, dies ist mein erstes Jahr.« Sie strahlte übers ganze Gesicht. »Ich bin ganz aufgeregt. Ich hoffe, die Kinder mögen mich.« Arthurs Antwort war wieder ein Brummen. Das war zwar nicht besonders höflich, aber er wollte jetzt wieder allein sein. Die Schausteller taten immer gern so, als wären sie eine große Familie. Aber Arthur wusste, das war eine Lüge. Am Ende verbrachte jeder das Weihnachtsfest für sich allein. Liselotte Stubenrath schien zu verstehen. »Also gut. Einen schönen Tag noch«, sagte sie. »Übrigens, eine schöne Katze haben Sie da. Auf Wiedersehen.« Damit wandte sie sich ab und ging davon. »Eine ... was?« Arthur drehte sich um.
Tatsächlich. Es war die Katze, die er bereits am Vorabend gesehen hatte. Sie hatte es sich auf seinem Sessel neben dem Öfchen gemütlich gemacht. »Wie zum Teufel ...?« Er sah sich um. Die Tür zu seinem Häuschen stand einen Spaltbreit offen. Dort musste sie hereingelangt sein. Das warme weiche Plätzchen am Ofen wirkte offenbar verführerisch auf sie. Die Katze blickte Arthur abwartend an. Der kleine Körper stand unter Spannung, bereit, jeden Moment aufzuspringen, sollte die Situation gefährlich werden. Aber sie blieb sitzen, wo sie war. Nur auf Verdacht wollte sie den Platz ganz offensichtlich nicht räumen. Das Tier wirkte ein bisschen mitgenommen. Das Fell war struppig, und im Gesicht hatte es einen Kratzer. Ganz so, als hätte es die vergangene Nacht auf der Straße verbracht. Seltsam. Von streunenden Katzen mitten in Berlin hatte Arthur noch nie gehört. Am verkehrsreichen Alexanderplatz hätten sie auch keine hohe Lebenserwartung. Nein, das Tier musste einem der Schausteller gehören. Der Besitzer sollte besser auf sein Tier achtgeben, fand er. Dabei ging ihn das Ganze ja eigentlich nichts an, und er wollte sich nicht in die Angelegenheiten anderer Leute einmischen.
Arthur klatschte laut in die Hände. »Wirst du wohl verschwinden!« Die Katze sprang vom Sessel und jagte zum Ausgang. Im Türspalt blieb sie stehen und sah zurück. Große Angst schien sie nicht vor ihm zu haben. »Untersteh dich!« Arthur machte einen Schritt auf sie zu. »Hau ab! Hier ist kein Platz für dich!« Die Katze schoss durch den Spalt nach draußen. Nachdem er die Tür verschlossen hatte, blickte er über die Verkaufsfläche hinweg in die Gasse vor ihm. Die Katze war ein paar Meter weiter neben dem Glühweinstand stehen geblieben und drehte sich zu ihm um. Ihre Augen waren groß und voller Traurigkeit. Als wäre sie von Arthur tief enttäuscht worden. Dann wandte sie sich ab und schlich davon. So ein Unsinn!, dachte Arthur. Katzen sind nur Tiere. Die können nicht unglücklich sein. Er spähte ihr nach, bis sie hinter einem Stand verschwunden war. Dann nahm er seine Zeitung, setzte sich in den Sessel am Öfchen und begann zu lesen.
Aus dem Küchenradio drang leise Adventsmusik: »Macht hoch die Tür, die Tor macht weit.« Es war ein Kinderchor, das hörte Anna Brandt sofort. Sie hielt inne und sah hinaus in die von Raureif überzogenen Baumkronen. Wie schön diese Jahreszeit doch sein konnte. Etliche Nachbarn in der Siedlung hatten Adventsschmuck angebracht. An Haustüren hingen Kränze aus Nadelholz mit tiefroten Schleifen, hinter Fenstern standen Gestecke mit dicken Kerzen, deren Flammen in die beginnende Dunkelheit hinausleuchteten, und hier und da hingen auch schon Lichterketten in den Vorgärten. Anna nahm sich vor, noch an diesem Abend den Adventsschmuck aus dem Keller zu holen. Sie tat das alles, obwohl bei ihr zu Hause alles andere als Weihnachtsstimmung herrschte. Ganz im Gegenteil, es wurde fast nur noch gestritten. Aber sie hatte beschlossen, sich zusammenzureißen.
Was blieb ihr auch anderes übrig? Mit einem Seufzer wandte sie sich vom Fenster ab. Sie hatte noch einiges zu tun. Der Küchentisch war übersät mit Bastelmaterial: Tannen- und Ilexzweige, Schleifen und Kerzen, Blumendraht, Moos, Silberspray und Weihnachtskugeln. Daneben noch eine Heißklebepistole und ein wenig Lametta. Alles, was man brauchte, um Adventsgestecke zu fertigen. Sie setzte sich, nahm Zweige und Draht und machte sich an die Arbeit. Die Haustür fiel krachend ins Schloss. Als Nächstes wurde ein Schulranzen gegen die Garderobe gepfeffert. Das war ihre Tochter Laura, die von der Schule nach Hause gekommen war. Sie steckte den Kopf durch die Küchentür, sah das gesammelte Weihnachtsbastelzeug auf dem Tisch liegen, verdrehte daraufhin die Augen und verschwand wieder. »Hallo, Laura!«, rief Anna mit aufgesetzter Fröhlichkeit. »Wie war‘s denn in der Schule?« Sie bekam keine Antwort. Ärgerlich legte sie die Klebepistole hin und lief in den Hausflur. Ihre vierzehnjährige Tochter stieg gerade die Treppe zu ihrem Zimmer hoch. »Musst du gar nicht mehr antworten, wenn ich dich was frage?«, beklagte Anna sich. »Bin ich so schrecklich, dass man nicht einmal mehr reagieren muss, wenn ich rede?« Laura blies genervt die Backen auf und sagte: »Wie soll es in der Schule schon gewesen sein? Ganz okay halt.« »Hast du deinen Französischtest wiederbekommen?« »Nee. Erst nächste Woche.« Sie wollte in ihr Zimmer gehen, doch Anna hielt sie auf. »Und warst du nicht heute in der Theaterwerkstatt?« Laura ging einmal wöchentlich zu einem Bühnenprojekt für Jugendliche, wo gerade eine Weihnachtsaufführung vorbereitet wurde. »Weißt du denn schon, welche Rolle du spielen wirst? Du freust dich doch so darauf.« »Nein, keine Ahnung. Darf ich jetzt gehen?« Wenn Anna gehofft hatte, ihre Tochter würde sich mit ihr unterhalten, dann hatte sie sich wohl getäuscht. »Das Mittagessen steht im Ofen«, sagte sie. »Ich hab keinen Hunger.« »Aber du musst doch etwas ...« Ihre Tochter explodierte. »ich hab keinen hunger!« Mit einem Schnauben fügte sie hinzu: »Darf ich jetzt endlich hochgehen?« Anna war verletzt, aber das wollte sie ihre Tochter nicht spüren lassen. Sie nickte stumm und kehrte zurück in die Küche. Im Radio lief nun »Es ist ein Ros entsprungen«. Eines ihrer Lieblingslieder. Die Haustür draußen öffnete sich erneut, und wieder wurde eine Schultasche gegen die Garderobe gepfeffert. Das war Max, Annas zwölfjähriger Sohn.
Er und seine Schwester kamen nie zur selben Zeit nach Hause. Sie hielten auf dem Heimweg von der Schule immer ein paar Meter Abstand, als sollte niemand auf die Idee kommen, sie hätten etwas miteinander zu tun. Dabei waren sie als kleine Kinder unzertrennlich gewesen. Max schlurfte in die Küche und steuerte den Herd an. »Hallo, Mama. Was gibt's zu essen?« »Gemüseauflauf mit frischem Rosenkohl.« Er öffnete die Ofenklappe und verzog das Gesicht. Es gefiel ihm nicht, dass Anna neuerdings vegetarisch kochte. Aber liebsten würde er den ganzen Tag Hamburger und Currywürste essen. »Och nee, kein Rosenkohl, Mama. Davon muss ich kotzen. Echt.« »Aber der ist ganz mild, Max. Den habe ich nach der Arbeit im Biomarkt besorgt. Probier ihn doch mal.« Doch ihr Sohn hatte die Ofenklappe bereits wieder geschlossen. Heimlich zog er aus dem Einkaufskorb, den Anna noch nicht ausgeräumt hatte, eine Tüte Erdnüsse, und steuerte den Ausgang an. »Max! Erst isst du was Ordentliches. Vorher gibt es kein Knabberzeug.« Er ignorierte sie einfach. Anna wusste, sie musste sich jetzt durchsetzen. Auch wenn sie am liebsten nachgegeben hätte. »Max! Bleib stehen! Die Erdnüsse bleiben hier!« Er schien zu prüfen, wie ernst es ihr war, dann warf er das Tütchen kurzerhand zurück in den Korb. »Probier doch mal den Rosenkohl. Der ist lecker. Wirklich. « Doch Max ging hinaus. Wahrscheinlich setzte er sich jetzt an seinen Computer, wo er bleiben würde, bis das Abendessen auf den Tisch kam.
Anna spürte Traurigkeit in sich aufsteigen. Im Grunde interessierte sich keiner für ihren Adventskranz. Früher war das anders gewesen. Da hatten die beiden mit großen Kinderaugen vor dem Kranz gesessen und ganz andächtig gelauscht, wenn Anna und ihr Mann Adventslieder sangen. Sie hatten diese festliche Stimmung geliebt und das Geheimnisvolle der Adventszeit. Doch seitdem hatte sich viel geändert. Manchmal fragte sie sich: Für wen machst du das alles überhaupt noch? Aber nein, diese Frage war falsch. Wenn die beiden ihre Meinung änderten - und das taten sie ständig in diesem Alter -, dann würde sie es nicht ertragen, traurige Kinderaugen zu sehen, nur weil es keinen Weihnachtsschmuck gab. Nein, es war richtig, das Haus zu schmücken. Und ihr selbst gefiel es ja auch. Ihr Blick fiel auf die Erdnüsse, die oben im Einkaufskorb lagen. Darunter waren die Zutaten für die Weihnachtsbäckerei verstaut. Jetzt, wo sie alles eingekauft hatte, konnte sie jederzeit damit anfangen. Laura kam ihr in den Sinn. In den letzten Jahren war das Plätzchenbacken das Einzige gewesen, das sie noch verband.
Laura liebte es zu backen. Anna hoffte, sie auch in diesem Jahr dafür begeistern zu können. Sie würde so gern wieder etwas gemeinsam mit ihrer Tochter unternehmen. Am besten fragte sie gleich einmal nach. Sie ging nach oben, klopfte kurz an und trat ein, ohne dass Laura sie hereingebeten hätte. »Mama!«, schrie Laura entsetzt. »Was willst du hier?« Als hätte Anna ihre Tochter mit einem Jungen erwischt. Sie blickte sich um. In dem Zimmer herrschte furchtbare Unordnung. Aber dazu sagte sie jetzt lieber nichts. »Ich wollte dich was fragen, Laura.« »Ich bin hier am Chatten!« Immer noch in einem Tonfall, als wäre Anna in ihre intimste Privatsphäre eingedrungen.
»Und deshalb kannst du nicht mit mir reden?«, fragte Anna gereizt. Laura seufzte schwer. »Was ist denn?« »In den nächsten Tagen wollte ich für Weihnachten backen. Es wäre doch schön, wenn wir zwei ...« Laura stöhnte auf. »Mama, bitte!« »Aber du hast doch sonst immer so gerne beim Backen geholfen.« »Ich hab wirklich keine Zeit für so was. Außerdem wird man von dem Zeug eh nur fett. Ich werd dieses Jahr jedenfalls keine Plätzchen essen.« Anna fand ja, ein vierzehnjähriges Kind sollte noch nicht über sein Gewicht nachdenken. Das schien ihr nicht gesund zu sein. Aber sie verkniff sich jeglichen Kommentar. »Muss das denn unbedingt sein?«, fuhr Laura fort. »Aber nein«, sagte Anna und bemühte sich, ihre Kränkung zu verbergen. »Es soll dir ja Spaß machen. Müssen musst du gar nichts.« »Danke. Ich mein, dieser ganze Weihnachtsterror nervt doch sowieso.« »Also gut. Dann lassen wir es.« Laura nickte und wandte sich wieder ihrem Computer zu. Als sie bemerkte, dass ihre Mutter immer noch in der Tür stand, fauchte sie: »Was ist jetzt? Kann ich weiterchatten?« »Ach so. Natürlich.« Anna schloss die Tür und ging hinunter in die Küche. Sie hätte am liebsten losgeheult. Dann atmete sie tief durch, überwand sich und fuhr mit der Arbeit fort. Zwei Stunden später stellte sie die fertigen Gestecke und den Adventskranz auf die Anrichte, um Platz zum Saubermachen zu schaffen. Ihr Blick fiel auf die Straße. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen. Zu ihrer Überraschung brannte im Haus gegenüber Licht. Die Grünbergs wollten doch heute früh in den Urlaub fliegen. Oder brachte sie da was durcheinander? Es sollte auf die Kanarischen Inseln gehen. Dort wollten sie die Wochen bis zum Weihnachtsfest verbringen - auch wenn Anna nicht verstand, was daran reizvoll sein sollte. Weihnachten auf den Kanarischen Inseln, das machte doch keinen Spaß. Palmen und Strand waren in ihren Augen nicht die passende Kulisse für den Heiligen Abend. Vermutlich hatte sie den Tag verwechselt, und die Grünbergs flogen erst morgen. Sie dachte an Marie, die fünfjährige Tochter der Nachbarn.
Die wäre wohl lieber in Berlin geblieben. Das Kind träumte nämlich von weißen Weihnachten, genau wie Anna. Marie und Anna waren fast so etwas wie Freundinnen. Das Nachbarskind saß ständig bei ihr in der Küche, während Anna kochte oder bügelte, und malte dabei ein Bild oder erzählte vom Kindergarten, in den sie vormittags ging. Anna genoss es, wenn sie Marie um sich hatte. Es erinnerte sie daran, wie es früher mit Laura gewesen war. Im Gegensatz zu Laura hätte es Marie sicher großen Spaß gemacht, Anna bei der Weihnachtsbäckerei zu helfen. Aber leider ging das nicht, die Familie flog ja in den Urlaub. Anna blickte hinüber zu den Nachbarn und sah Dorothee Grünberg, die Mutter von Marie, die telefonierend im Raum auf und ab lief und mit der freien Hand wild gestikulierte. Sie wirkte ziemlich gestresst. Und dann entdeckte sie Marie, die durch die Glastür auf die Terrasse trat und zu Annas Haus herübersah. Sie war ganz blass, und ihre Augen sahen verweint aus. Was war denn nur los? Anna trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch und ging zur Haustür. Marie kam ihr bereits entgegengelaufen. »Anna! Anna!«, rief sie und warf sich ihr um den Hals. »Nelson ist weg!« Anna war perplex. »Du meinst, er ist jetzt in der Katzenpension? «
Marie war ganz verzweifelt gewesen, weil Nelson Weihnachten in einer Katzenpension verbringen sollte. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, es wäre ein Tierheim - da konnte ihre Mutter reden, wie sie wollte. Anna hatte angeboten, Nelson für die Zeit des Urlaubs bei sich aufzunehmen. Doch Dorothee wollte das nicht. Sie wollte ihr nicht zur Last fallen. Außerdem meinte sie, die Katzenpension wäre ideal für Nelson. Marie sollte sich einfach damit abfinden. »Er ist nicht in der Katzenpension«, schluchzte Marie in ihren Armen. »Er ist weggelaufen!« »Weggelaufen? Wann denn das? Und wo?« Marie erzählte, wie er ihr entwischt war, als ihre Mutter am Alexanderplatz etwas in der Apotheke besorgen wollte. Das war auf dem Weg zu dieser Katzenpension gewesen. Marie hatte das Türchen des Transportkorbs nur ganz kurz aufgemacht, und schon war er durch Dorothees Beine hindurch entwischt. »Du liebe Güte«, entfuhr es Anna. »Am Alexanderplatz?« Alles andere als ein Ort für eine Katze.
Welche Überlebenschancen hatte der arme Nelson denn dort? Nichts als Verkehr, Autos, Busse, Straßenbahnen. Eine gefährliche Reizüberflutung für so ein kleines Tier. »Ja«, stieß Marie hervor. »Und alles ist meine Schuld.« Anna nahm das Mädchen fest in den Arm. Es schluchzte an ihrer Schulter. Anna wechselte einen Blick mit Dorothee Grünberg, die sie und ihre Tochter im Haus gegenüber entdeckt hatte. Dorothee gab ihr ein Zeichen: Kümmere dich um das Kind, ich komme gleich zu euch. Sicher hatte ihre Nachbarin jetzt alle Hände voll zu tun. Schließlich konnten sie nicht ohne Weiteres in den Urlaub fliegen und den Kater einfach sich selbst überlassen. Das würde Marie ihren Eltern niemals verzeihen. »Ich bin schuld. Ich ganz allein«, jammerte das Kind. »Nein, das bist du nicht, mein Schatz«, flüsterte Anna.
Sie trug das Mädchen vorsichtig ins Haus. »Jede Katze kann mal weglaufen. So etwas passiert immer wieder. Du darfst dir keine Vorwürfe machen.« »Aber ich hab doch das Türchen aufgemacht.« Anna strich ihr übers Haar. »Denk nicht mehr darüber nach. Ich mache dir erst mal einen heißen Kakao, was hältst du davon?« Sie setzte Marie in der Küche ab und stellte einen Topf auf den Herd. Marie saß stumm da und zog von Zeit zu Zeit die Nase hoch, während Anna den Kakao anrührte. »Wenn ihn jemand findet, wird er ihn sicher zurückbringen «, sagte sie. »Schließlich trägt er ein Halsband mit Namensplakette. Und er hat einen Chip unter der Haut, weißt du? Wenn er ins Tierheim gebracht wird oder zu einem Tierarzt, dann können die auf dem Chip euren Namen und eure Adresse lesen. Glaub mir, das ist nur eine Frage der Zeit, bis er wieder auftaucht.« Marie stand auf und betrachtete Annas Adventskranz. »Ob Nelson jetzt irgendwo ist, wo Advent gefeiert wird?« Sie klang unendlich traurig, als sie hinzufügte: »Er liebt die Weihnachtszeit, weißt du?« Anna dachte an den lärmenden Alexanderplatz.
Wo würde sich ein Kater wohl verstecken? In einem Parkhaus? Oder in einem Kellergeschoss? Sie konnte nur hoffen, dass er nicht einfach auf die Straße gelaufen und überfahren worden war. »Wir werden ihn wiederfinden.« Anna nahm das Gesicht des Mädchens in die Hände, damit Marie ihr in die Augen sah. »Hörst du? Wir werden Nelson wiederfinden. Das verspreche ich dir.« Sie folgte einem Impuls, als sie das sagte. Dabei wusste sie, wie schwer es sein würde, dieses Versprechen zu halten. Doch sie konnte nicht anders, es war wie ein Zwang. »Ich bringe ihn zurück, mein Engel«, sagte sie. »Ganz fest versprochen.«
Der Mond stand hell leuchtend über dem Roten Rathaus. Unter dem sternenklaren Himmel sanken die Temperaturen unter Null. Ein eisiger Wind pfiff durch die mittlerweile menschenleeren Gassen auf dem Weihnachtsmarkt. Nelson fror entsetzlich. Er war zurückgekehrt, weil er gehofft hatte, der alte Mann würde ihn nun vielleicht doch am Öfchen sitzen lassen. Bei dieser furchtbaren Kälte würde er eine Katze doch nicht einfach davonjagen, das würde er nicht übers Herz bringen. Aber die Stände waren verwaist und die Türen allesamt versperrt. Nelson schlich frierend an einem Karussell vorbei. Ihm war nicht nur kalt, er hatte auch schrecklichen Hunger. Aber nirgends gab es was zu essen. Die Plastiksäcke, in die tagsüber auf dem Weihnachtsmarkt die Essensreste geworfen wurden, waren alle fortgebracht worden. Und auch sonst lag nirgendwo etwas Essbares herum. Enttäuscht machte er sich auf den Weg zurück zu seinem Versteck hinter dem Lüftungsgitter. Dort ging wenigstens nicht so ein grässlicher Wind.
Laternenlicht fiel über die breiten Bürgersteige. Der Kater versuchte, sich im Schatten der Hauswände zu bewegen, auch wenn anscheinend kein Mensch unterwegs war. Er wollte vorsichtig sein, denn er spürte, dass hier Gefahren lauerten. An einem Betonpfeiler stand ein offener Mülleimer, von dem unterschiedlichste Gerüche ausgingen. Nelson schöpfte Hoffnung. Mit einem Satz war er oben auf dem Rand und spähte hinein. Er entdeckte ein Papiertaschentuch und ein Stück Folie, eine leere Flasche und eine alte Zeitung. Nelson streckte eine Pfote hinein und schob die Zeitung beiseite. Eine weitere Flasche kam zum Vorschein und daneben eine zerknüllte Papiertüte aus einer Bäckerei. Etwas Schweres lag darin, und das Papier war an einigen Stellen von Butter durchweicht. Nelson konnte sein Glück kaum fassen: Er hatte etwas zu essen gefunden. Mit seinen Pfoten und dem Mäulchen versuchte er, die Papiertüte aus dem Mülleimer zu zerren, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren und selbst hineinzufallen. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, doch schließlich war es ihm gelungen. Das Tütchen lag auf dem breiten Rand des Mülleimers, und augenblicklich begann er, an dem Papier zu nagen und zu zerren, um den Brotrest zu befreien. Er war so in seine Tätigkeit vertieft, dass er den Mann erst bemerkte, als er über dem Mülleimer stand. »Hey, du blödes Vieh! Verschwinde!« Nelson schoss davon. Er war so hungrig gewesen, dass seine Vorsicht nachgelassen hatte. Blitzschnell war er hinter dem Betonpfeiler verschwunden. Erst in sicherer Entfernung hielt er inne und blickte zurück. Sein Essen lag noch immer auf dem Rand des Mülleimers. Der Mann, der ihn verjagt hatte, beugte sich über den Mülleimer und begann darin zu wühlen. Seine Kleidung war zerlumpt, und neben ihm stand ein Einkaufswagen voller seltsamer Dinge: Tüten, Radios, Decken und obenauf ein großer Plastiksack. Der Mann zog die leeren Flaschen aus dem Mülleimer und verstaute sie in der großen Tüte. Nelson wartete ab. Wenn der Mann fort war, wollte er sich den Brotrest schnappen.
Das Wasser lief ihm bereits im Mund zusammen. Endlich würde er etwas essen. Der Mann murmelte vor sich hin, knotete den Sack zusammen und schob den Einkaufswagen um den Mülleimer herum. Doch dann hielt er inne. Er hatte die zerknüllte Brottüte entdeckt. Mit seinen schmutzigen Fingern packte er ein Stück Weißbrot aus, steckte es sich in den Mund und warf die leere Papiertüte fort. Dann stieß er einen Rülpser aus und schob seinen Einkaufswagen davon. Es wurde wieder still auf dem Bürgersteig. Nelson spürte den eisigen Wind. Er zwängte sich durch das Lüftungsgitter in sein Versteck und verkroch sich in einer windgeschützten Ecke. Nicht nur die Kälte und der Hunger machten ihm zu schaffen, er fühlte sich auch furchtbar einsam.
Traurig dachte er daran, wie er in Maries Bett sprang und sich von ihr den Bauch kraulen ließ. Wie er zu ihr unter die Decke kroch und beim Einschlafen ihre Wärme spürte. Was sie wohl gerade machte? Ob sie auch an ihn dachte? Er schloss die Augen und träumte davon, wie Marie ihm eine Dose Katzenfutter öffnete. Und beim Gedanken an ihr warmes und weiches Bett fiel er schließlich in einen tiefen traumlosen Schlaf.
Ein neuer Tag auf dem Weihnachtsmarkt vorm Roten Rathaus. Arthur Hummel hielt sich wärmend die Hände ans kleine Elektroöfchen, das er gerade erst eingeschaltet hatte und das nur langsam begann, Wärme abzustrahlen. Er blickte auf das Geschehen vor seinem Stand. Vitrinen wurden geputzt, Waren sortiert und Grillroste angeheizt. Schräg gegenüber am Kettenkarussell wurde die Musik eingeschaltet. Bing Crosby sang mit schmelzender Stimme von weißen Weihnachten. Der Schausteller am Karussell, ein junger Mann in dickem Skianzug, begann die Sitzflächen abzuwischen. Immer wieder hielt er inne und plauderte gut gelaunt mit vorbeikommenden Kollegen. Auch der türkische Junge vom Sockenstand nebenan blieb am Karussell stehen und redete mit dem Schausteller. Die beiden schienen sich richtig zu mögen. Die ersten Gäste schlenderten über den Markt, doch viel war noch nicht los. Arthur dachte an die Katze, die gestern bei ihm aufgetaucht war. Er sah sich um, aber sie war nirgends zu sehen. Am Kettenkarussell stand inzwischen eine junge Frau. Sie unterhielt sich mit dem Schausteller, ihr affektiertes Lachen war zu hören, der Schausteller grinste breit und ließ sie kurz darauf Platz nehmen, ehe er das Karussell startete - für sie ganz allein, als einzigen Gast. In einem Meer von dahinfliegenden leeren Sitzen sauste sie glücklich lachend und winkend dahin. »Was für ein Unsinn«, brummte Arthur missmutig. Er konzentrierte sich auf seine Zeitung, die er wie jeden Morgen las. Sollten die anderen doch machen, was sie wollten. Er war jedenfalls hier, um Geld zu verdienen.
Plötzlich war da eine Stimme vor seinem Stand. »Guten Tag, Arthur Hummel! Wie geht es Ihnen?« Überrascht sah er auf. Die Märchenerzählerin stand vor ihm und strahlte ihn an. Sie trug einen dunklen Stoffmantel mit einem Pelzkragen, auf den ihre silbergrauen Locken weich herabfielen. Arthur machte große Augen. »Woher ...?« Woher kennen Sie meinen Namen?, hatte er fragen wollen. Doch er konnte sich die Antwort selbst geben. In einem kleinen Kästchen auf dem Verkaufstresen steckten seine Visitenkarten. Sie musste beim letzten Mal eine davon eingesteckt haben. Arthur war ziemlich überrumpelt. »Ja ... ähm ... guten Morgen.« Sie redete unbekümmert drauflos. »Es war ganz schön kalt gestern Nacht, nicht wahr? Wenn das so weitergeht, kommt bald der erste Schnee. Wäre das nicht wunderbar? « Arthur erholte sich langsam von seinem ersten Schreck. Er wurde ärgerlich. Was dachte sich denn diese Frau dabei, ihn so zu überfallen? Hatte er nicht beim letzten Mal klar und deutlich zu verstehen gegeben, was er von Freundschaften unter Schaustellern hielt? Er wollte hier keine Kontakte, und damit basta. Das hatte sie doch wohl verstanden. »Was wollen Sie von mir?«, bellte er. Sie schien sich von seinem Ton nicht beeindrucken zu lassen. »Gar nichts Besonderes«, erwiderte sie freundlich. »Nur ein bisschen plaudern. Ich bin viel zu früh, es dauert noch eine Weile bis zur ersten Märchenstunde. Ich dachte, vielleicht erzählen Sie mir ein bisschen was über Ihre Figuren? Sie sind so schön. Ich würde gerne mehr über sie erfahren. Wie sie entstehen, zum Beispiel.« Arthur spürte, wie sich seine Brust verengte. Was bildete sich diese Märchenerzählerin bloß ein? Er kannte sie doch gar nicht. Eine wirklich impertinente Person! »Ich bin nicht dafür da, Ihnen die Zeit zu vertreiben«,sagte er. »Wenn Sie eine Figur kaufen wollen, bitte schön. Zu mehr bin ich aber nicht verpflichtet.« Sie schien gar nicht wütend darüber zu sein, so unfreundlich behandelt zu werden. Eher wirkte sie ein wenig enttäuscht. »Mein lieber Arthur Hu...« »Für Sie immer noch Herr Hummel, wenn ich bitten darf!« Er machte es sich bequem und nahm seine Zeitung. »Und wenn weiter nichts ist, würde ich gern Zeitung lesen.« Sie seufzte. Ihr Lächeln wirkte auf eine seltsame Weise so, als hätte sie Mitleid mit ihm. »Wenn Sie das möchten, gehe ich natürlich«, sagte sie. Doch bevor sie verschwand, fügte sie hinzu: »Aber ich lasse mich nicht von Ihnen täuschen, Herr Hummel.« Sie deutete auf seine Verkaufsauslagen. »Wer so schöne Figuren erschafft, der ist kein schlechter Mensch. Da können Sie mir nichts vormachen. Auf Wiedersehen.« Und damit ließ sie ihn stehen. Arthur war völlig verdattert. Natürlich war er kein schlechter Mensch. Er wollte nur seine Ruhe haben.
Es war besser, wenn er andere Menschen nicht zu nah an sich heranließ. Am Ende würden sie ihn doch nur enttäuschen. Oder sie würden ihn wieder alleine lassen. Besser, er hielt Abstand. Dann konnte auch nichts passieren. Er dachte an seine verstorbene Frau. Ach, Sophie! Du hast immer gewusst, wie man mit anderen Menschen spricht. Wärst du doch nur hier, dann sähe alles anders aus. Das Öfchen war inzwischen heiß geworden, und er setzte sich mit seiner Zeitung daneben. Von Zeit zu Zeit tauchten Marktbesucher auf, die sich für seine Figuren interessierten. Am Mittag hatte er bereits drei Figuren verkauft. Es lief gut, so konnte es gern weitergehen. Irgendwann kam ein japanischer Geschäftsmann, der sich für einen ganzen Krippensatz interessierte. Da ging es um sehr viel Geld. Arthur stand von seinem Sessel auf, faltete die Decke zusammen und ging um den Stand herum, um dem Mann alles in Ruhe erklären zu können. Am Ende kam der Kauf zwar doch nicht zustande, aber Arthur störte das nicht. Vielleicht würde der Mann ja noch einmal wiederkommen. Er kletterte wieder in seinen Stand.
Auf der Decke, die er neben das Öfchen gelegt hatte, saß die Katze. Sie hatte sich in seinen Stand geschlichen, während er draußen gewesen war. Wieder blickte sie Arthur mit großen Augen an, den Körper unter Spannung, um jeden Moment aufspringen und weglaufen zu können. Sie sah schlechter aus als beim letzten Mal. Offenbar hatte sie nicht viel zu fressen bekommen. Arthur zögerte. Er wollte keine Katze bei sich haben. Sie sollte zurück zu ihrem Besitzer gehen. Doch so ausgehungert, wie sie war, fiel es ihm schwer, sie hinaus in die Kälte zu jagen. Mürrisch betrachtete er das Tier. Dann umrundete er vorsichtig den Ofen und setzte sich wieder auf seinen Sessel. Die Katze blieb unbewegt auf der Decke am Boden, ließ Arthur jedoch nicht aus den Augen. Falls er es sich anders überlegen sollte, würde sie blitzschnell fliehen. Doch er überlegte es sich nicht anders, sondern ließ sie gewähren. Solange die Katze nichts anstellte, störte sie ja nicht. Also wollte er sie erst einmal in Ruhe lassen. Sie würde schon von allein wieder verschwinden. Nach Einbruch der Dunkelheit füllte sich der Weihnachtsmarkt. In den schmalen Gassen entstand beinahe Gedränge. Die meisten Leute schauten bloß, gekauft wurde wenig. So war das immer an den ersten Tagen. Arthur saß in seinem Stand und hing seinen Gedanken nach. Die fremde Katze lag derweil auf der Decke neben dem Öfchen und döste. Eine Stimme riss ihn aus den Gedanken. »Mama! Papa! Kommt schnell! Guckt euch die Figuren an!« Ein etwa zehnjähriges Mädchen tauchte am Stand auf. Mit leuchtenden Augen betrachtete es die Schnitzereien.
Es war so gebannt davon, dass es Arthur selbst gar nicht bemerkte. Der freute sich über die Begeisterung des Mädchens. Kinder hatten einen eigenen Blick auf die Dinge. Sie sahen mit dem Herzen. »Sie sind so schön, seht doch!«, sagte sie. »Stellt euch vor, wir hätten zu Hause so eine Krippe, mit solchen Figuren!« Die Eltern waren hinter ihr aufgetaucht und blickten lächelnd zu ihrer Tochter herab. »Wir haben doch schon eine Krippe mit allem Drum und Dran«, sagte der Vater. Er suchte Arthurs Blick und nickte ihm freundlich zu. »Komm, Schatz, gehen wir zu den gebrannten Mandeln«, sagte die Mutter. Sie legte ihrer Tochter die Hand auf die Schulter. »Ich habe dir doch ein Tütchen versprochen.« »Aber die sind so schön«, sagte sie bedauernd. Der Vater senkte die Stimme. »Hör zu, mein Sonnenschein, du weißt doch, wir können uns so etwas nicht leisten. Aber unsere Krippe ist ja auch schön, oder nicht?« Die Kleine nickte tapfer. »Ich möchte mir die Figuren nur noch ein bisschen angucken.« Der Vater nickte und wuschelte ihr durch die Haare. »Natürlich, Schatz.« Arthur spürte einen Stich und erinnerte sich an seine eigene kleine Familie vor gut dreißig Jahren. Drehte man die Uhr zurück, hätten sie wohl ein ähnliches Bild abgegeben. Er, seine Frau und seine kleine Tochter.
Was waren das für Zeiten gewesen! Hätte er damals gewusst, dass es die glücklichsten Jahre seines Lebens wären, hätte er sie sicherlich bewusster genossen. Die kleine Familie schlenderte irgendwann weiter und tauchte in der Menge ab. Arthur fühlte sich plötzlich unendlich traurig. Er war allein übrig geblieben, der Rest seiner Familie war fort. Das hätte er sich damals nicht träumen lassen. Wie es wohl seiner Tochter ging? Sie hatten sich schon seit Jahren nicht mehr gesprochen. Arthur dachte an den furchtbaren Streit, den sie gehabt hatten. Da war alles zerbrochen, und keiner hatte das danach noch reparieren können. Ein Maunzen ertönte. Arthur blickte sich um. Die Katze sah ihn mit großen Augen an. Sie miaute wieder, es war ein intensiver und herzzerreißender Laut. Arthur runzelte die Stirn. Spürte sie etwa, was er gerade fühlte?
Das war doch unmöglich. Er fixierte das kleine Tier. Es war völlig ausgehungert. Kein Wunder, dass es solch traurige Laute von sich gab. Das hatte tatsächlich nichts mit ihm zu tun, was hatte er denn gedacht? Er griff zu seiner Tasche. Am Morgen hatte er sich zu Hause Wurststullen geschmiert. Er überlegte. Die Brote würden ihm auch ohne Aufschnitt schmecken. Also zog er sie hervor, klappte gleich das erste auseinander, nahm die Wurstscheibe herunter und legte sie an den Rand der Decke. Die Katze stürzte sich sofort darauf und schlang sie hinunter. Arthur lächelte. Er zog die nächste Wurstscheibe vom Brot. So aßen sie gemeinsam. Arthur die trockenen Brote, die er mit etwas Tee hinunterspülte, und die Katze die ganze Wurst, die auf den Broten gewesen war. Anschließend leerte Arthur noch eines seiner Holzschälchen, putzte es aus, stellte es vor die Katze auf den Boden und goss etwas von der Milch hinein, die er sich für seinen Kaffee mitgenommen hatte. Er achtete sorgsam darauf, dass nicht diese Märchenerzählerin oder jemand anderes in der Nähe war und ihn beobachtete. Diese Blöße wollte er sich nicht geben.
Dann setzte er sich wieder in seinen Sessel und sah zufrieden hinaus auf die Verkaufsstände. Es tat gut, mal wieder in Gesellschaft zu essen. Plötzlich passierte etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Nachdem die Katze ihre Mahlzeit verspeist hatte, war sie aufgestanden, um ihm um die Beine zu streichen. Sie schmiegte sich eng an seine Knöchel und begann zu schnurren.
»Das war keine große Sache«, sagte Arthur leise. »Und falls du denkst, ich würde dich in Zukunft weiter durchfüttern, dann täuschst du dich. Also spar dir lieber deine Streicheleinheiten.« Doch die Katze ließ sich nicht beirren. Sie schnurrte weiter um seine Beine herum. Einen Augenblick lang überlegte Arthur, ob er das Tier davonjagen sollte. Doch dann ließ er es einfach gewähren. Und lächelte wieder. Irgendwann leerten sich die Marktgassen. Überall wurde aufgeräumt. Verkaufsfenster wurden mit Brettern verhängt, im Glühweinstand wurden Tassen und Behälter gespült, ein Angestellter der Stadt fegte mit einem breiten Besen den Müll zusammen. Auch Arthur räumte seine Sachen zusammen. Die Katze lag noch immer auf der Decke neben dem Öfchen. Sie spürte die Veränderung und spitzte die Ohren. Arthur zog den Stecker aus dem Ofen. »Ich gehe jetzt nach Hause«, sagte er. »Tut mir leid, aber du musst auch gehen.« Er zog die Fensterläden zu und verriegelte sie. Dann nahm er seine Tasche. Die Katze wollte bleiben, wo sie war. Doch das ging nicht. Er konnte sie hier nicht allein lassen. Sie würde ihm den ganzen Stand auseinandernehmen. »Du musst gehen, habe ich gesagt.« Arthur klatschte in die Hände. Das Tier zuckte zusammen und machte einen Buckel. Und blieb, wo es war. »Nein, so läuft das nicht. Raus jetzt!« Er gab der Katze einen Stups mit dem Stiefel, woraufhin sie blitzschnell nach draußen sprang. Dort blieb sie stehen und sah Arthur vorwurfsvoll an. Er trat ebenfalls ins Freie und zog die Tür hinter sich zu. »Ich kann es nicht ändern«, sagte er. »Du musst dahin zurückgehen, wo du hergekommen bist.« Nebenan im Sockenstand räumte der junge Mann gerade die Verkaufsfläche frei. Arthur hatte den Eindruck, er musterte ihn interessiert. Seine Miene verfinsterte sich. Was tat er hier auch? Sprach mit einer Katze! Mürrisch schüttelte er den Kopf und schloss die Tür ab. Er machte sich zum Narren. Ohne die Katze eines weiteren Blickes zu würdigen, nahm er seine Tasche und stapfte davon.
Anna hatte das Radio eingeschaltet. Die Regensburger Domspatzen sangen Weihnachtslieder und erfüllten mit ihren klaren Knabenstimmen die Küche. Wenn sie schon alleine Plätzchen backen musste, wollte sie wenigstens ein bisschen Adventsstimmung haben. Aus Max' Zimmer drang seit Stunden schon das elektronische Gedudel seiner Computerspiele, und der matte Widerschein des Monitors fiel in den Hausflur. Er würde vor seinem Computer noch einen Sehschaden bekommen. Sie hatte ihm heute extra Nürnberger Würstchen gebraten, obwohl sie es hasste, Fleisch zuzubereiten, seit sie Vegetarierin war. Er hatte das nur mit einem knappen »Hoppla!« quittiert, hatte die Würstchen in Sekundenschnelle verschlungen und war danach in sein Zimmer abgetaucht. Von einem Dankeschön keine Spur. Das hatte Anna rasend gemacht. Laura war mit Freundinnen unterwegs. Sie wollten nach der Schule zu McDonald's, um sich mit Jungs aus der Nachbarklasse zu treffen. Ausgerechnet bei McDonald's - Weihnachtsplätzchen kamen für sie ja nicht infrage, weil sie auf ihr Gewicht achtete. Aber Anna verstand schon: Das hatte wohl weniger mit den Kalorien zu tun als damit, gemeinsam mit ihrer peinlichen Mutter in der Küche stehen zu müssen. Doch davon würde sich Anna nicht aus dem Konzept bringen lassen. Dann backte sie eben alleine. Was blieb ihr auch anderes übrig? Sie konnte Weihnachten ja schlecht ausfallen lassen. Das würde den Kindern nämlich genauso wenig gefallen.
Also band sie sich ihre Schürze um, lauschte den Weihnachtsliedern im Radio und machte sich an die Arbeit. Alles stand bereit: Rührschüssel, Nudelholz, Ausstecher, Pinsel, Bleche, Backpapier und die ganzen Zutaten. Sie erinnerte sich, wie Laura und Max links und rechts neben ihr auf Kinderstühlchen gestanden hatten, um an die Arbeitsfläche heranzureichen. Sie hatten kleine Schürzen getragen, und Anna hatte ihnen die Ärmel hochkrempeln müssen, damit sie nach Lust und Laune den Teig kneten konnten. Andächtig hatten sie Weihnachtsbäume und Engelchen ausgestochen und die fertigen Plätzchen dann mit buntem Zuckerguss bemalt. Am Ende waren sie jedes Mal von oben bis unten mit Mehl und Schokoladenflecken übersät. Was war das nur immer für ein Spaß gewesen. Und damals gehörte es zu jedem Weihnachten ganz selbstverständlich dazu. Trotzig machte sich Anna daran, den Teig für die Haselnussmakronen zuzubereiten. Das waren immer die ersten Plätzchen, die sie machte. Zwölf unterschiedliche Plätzchen würden es am Ende werden, die nostalgischen Blechdosen standen schon bereit. Heute würde sie nur die erste Hälfte backen. Den Rest würde sie sich für einen anderen Tag aufheben, denn vielleicht hatte Laura ja in der nächsten Woche mehr Lust, sich an der Weihnachtsbäckerei zu beteiligen. Ihr Blick fiel durchs Fenster nach draußen. Im grauen Nachmittagsdunst lag hell erleuchtet das Haus der Grünbergs. Nelson war noch immer verschwunden. Dorothee Grünberg hatte den Urlaub zunächst umbuchen wollen. Sie hatte die Hoffnung gehabt, ohne zu großen finanziellen Verlust ein paar Tage später fliegen zu können. Aber da keiner sagen konnte, wann Nelson wieder auftauchen würde - und ob er überhaupt je zurückkäme -, hatte Dorothee den Urlaub schließlich ganz abgesagt. Die Familie würde über Weihnachten in Berlin bleiben.
Dorothee und Bernd Grünberg versuchten, nicht Marie die Schuld für den ausgefallenen Urlaub zu geben, das konnte Anna ihnen anmerken. Doch es fiel ihnen sichtlich schwer. Sie hatten sich das ganze Jahr über auf die Kanarischen Inseln gefreut, und nun kam so ein blödes Haustier dazwischen und machte alles zunichte. Ganz zu schweigen von den Stornogebühren, die auf sie zukamen. Anna hatte sich aktiv in die Suche eingeschaltet. Dorothee war das ganz recht gewesen, so konnte sie sich um andere Dinge kümmern. Zuerst hatte Anna gemeinsam mit Marie die Tierheime abtelefoniert. Aber Nelson war nirgendwo abgegeben worden. Sie waren zur Apotheke am Alexanderplatz gefahren, wo Nelson verschwunden war, und hatten sich dort ein bisschen umgesehen. Aber Anna hatte schon vorher geahnt, dass nicht viel dabei herauskommen würde. Die Apotheke lag an einer mehrspurigen, stark befahrenen Straße und schräg gegenüber von einer riesigen Kreuzung, über die in dichtem Abstand Straßenbahnen donnerten. Wenn Nelson sich immer noch dort aufhielt, waren seine Überlebenschancen gleich Null. Anna fragte sich, ob es inzwischen etwas Neues gab. Heute hatte sie noch gar nicht mit Marie gesprochen, und sie beschloss, später zu den Grünbergs hinüberzugehen und sich zu erkundigen. Sie öffnete den Ofen und schob das Blech mit den Makronen hinein. Als Nächstes war der Teig für die Vanillekipferl dran. Nach einer Weile ging sie nach draußen, um eine Schüssel mit Eier- und Nussschalen zum Kompost zu bringen. Die klare kalte Luft tat ihr gut. Sie blickte wieder hinüber zum Haus der Grünbergs. Oben im Kinderzimmer sah sie Marie auf der Fensterbank sitzen. Traurig und reglos starrte sie vor sich hin. Anna dachte an das Versprechen, das sie Marie so leichtfertig gegeben hatte. Es war nicht richtig gewesen, dem Mädchen solche Hoffnungen zu machen.
Sie fühlte sich schuldig. Mit schwerem Herzen ging sie zurück in die Küche. Sie hielt inne. Die blöde Weihnachtsbäckerei konnte ihr doch im Grunde egal sein. Es interessierte sich ohnehin niemand dafür. Also fasste sie einen Entschluss. Sie zog das Blech mit den mittlerweile fertigen Makronen aus dem Ofen, schaltete diesen aus, nahm dann ihren Mantel und ging hinüber zu den Grünbergs. Dorothee öffnete ihr die Tür. Sie wirkte abgekämpft und müde. »Ach, du bist das«, sagte sie. »Komm doch herein.« »Ich will gar nicht lange stören. Eigentlich bin ich nur gekommen, um zu hören, ob es Neuigkeiten von Nelson gibt.« »Nein, leider nicht.« Dorothee blickte nach oben, wie um sicherzugehen, dass Marie sie nicht belauschte. »Und wenn ich ehrlich bin, Anna, glaub ich auch nicht, dass wir noch etwas hören werden.« »Du meinst, er ist tot?« »Seien wir realistisch: Es würde an ein Wunder grenzen, wenn Nelson nicht überfahren worden ist.« Anna dachte an das Versprechen, das sie Marie gegeben hatte. »Ich wäre mir da nicht so sicher, dass er tot ist«, sagte sie hoffnungsvoll. »Er hat doch diesen implantierten Chip. Jeder Tierarzt hätte den unter seiner Haut gefunden und euch sofort angerufen.« »Falls sein Kadaver überhaupt zu einem Tierarzt gebracht worden ist. Und selbst wenn Nelson nicht tot ist ... dann hat ihn jemand bei sich aufgenommen. Denn sonst wäre er doch irgendwo aufgetaucht.« »Es wird Marie das Herz brechen«, sagte Anna leise. Dorothee sah wieder hinauf zum Kinderzimmer und nickte. Anna dachte nach. Marie musste abgelenkt werden. Einfach nur dazusitzen und zu warten war für ein Kind in dieser Situation absolut das Falsche. Sie musste etwas tun, um Nelson zu suchen. Aktiv werden. »Ich könnte mit Marie die Tierheime abfahren«, schlug Anna vor. »Aber die Leute vom Tierheim hätten uns längst angerufen, Anna. Die wissen auch, dass Katzen so einen Chip tragen können.« »Trotzdem. Wir sollten alles probieren. Vielleicht haben sie ja den Chip einfach übersehen. Am besten, wir gehen hin und sehen selber nach, ob eine der Katzen Nelson ist. Außerdem ist es für Marie wichtig, dass wir etwas unternehmen. « »Ach, Anna.« Dorothee lächelte dankbar. »Willst du das wirklich für uns tun? Du hast doch sicherlich mit deiner eigenen Familie genug zu tun.« Anna machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach was, das mache ich gern. Wirklich.« Dorothee nahm sie kurz in den Arm und bedankte sich noch einmal. Dann wandte sie sich ab und lief die Treppe zum Kinderzimmer hoch. »Marie! Komm schnell runter! Anna ist da, sie will mit dir nach Nelson suchen!« Anna blieb im Hausflur stehen und wartete. Ihr Lächeln gefror jetzt ein wenig. Sie wollte Dorothee lieber nicht sagen, was sie Marie für ein Versprechen gegeben hatte.
Denn damit hatte sie alles nur noch schlimmer gemacht, sollte Nelson tatsächlich überfahren worden sein. Und welche Mutter hörte so etwas schon gern? Am frühen Abend kehrten Anna und Marie von ihrer Rundreise durch die Tierheime zurück. Nach der anfänglichen Begeisterung hatte sich Ernüchterung eingestellt. In keinem der Tierheime war Nelson gewesen, und sie waren wieder an dem Punkt, wo sie wenige Stunden vorher gewesen waren. Marie saß ganz still auf dem Rücksitz und blickte aus dem Fenster. Sie machte Anna keinerlei Vorwürfe, dass sie ihr Versprechen nicht einhalten konnte. Als wäre es völlig normal, dass Erwachsene Dinge versprachen, die sie später nicht hielten. Anna wollte das nicht auf sich sitzen lassen. Sie musste irgendetwas tun, um Marie Hoffnung zu geben. Sie betrachtete das Mädchen im Rückspiegel. »Glaub mir, das muss noch gar nichts bedeuten. Dann ist Nelson eben nicht ins Tierheim gekommen. Er kann trotzdem überall sein. Wir müssen weitersuchen.« Marie stieß ein leises Brummen aus.
Offenbar überzeugten diese Worte sie nicht sonderlich. »Kopf hoch, Marie. Ich hab auch schon eine Idee, wie wir weitermachen können.« Im Rückspiegel sah sie, wie in Maries Gesicht ein Funken Hoffnung aufblitzte. Anna spürte Erleichterung. »Nelson ist vielleicht bei jemandem untergekommen«, fuhr sie fort, »der gar nicht weiß, dass man entlaufene Katzen ins Tierheim bringt. Oder Nelson hat irgendwo ein Versteck gefunden, wo er sich vor der Kälte schützen kann und was zu fressen hat. In beiden Fällen muss ihn einer gesehen haben. Nelson kann sich ja nicht unsichtbar machen. Wir müssen also nur die Leute finden, die ihn gesehen haben könnten. Die können uns bestimmt Hinweise geben, wie wir Nelson aufspüren können. Vielleicht finden wir sogar denjenigen, der Nelson bei sich aufgenommen hat.« Maries Stimme war leise und belegt. »Und wie sollen wir das machen?« »Du hast doch bestimmt ein Foto von Nelson, oder?« »Ja. Mama hat ganz viele Fotos gemacht, damit ich die mit in den Urlaub nehmen kann.« »Hervorragend! Dann machen wir Plakate mit diesen Fotos, kopieren sie und hängen sie rund um den Alexanderplatz an Laternenpfähle und in Schaufenster. Überall da, wo Nelson gewesen sein könnte.«
© 2013 Verlagsgruppe Weltbild, Augsburg
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Autoren-Porträt von HANNES STEINBACH
Hannes Steinbach ist das Pseudonym eines erfolgreichen deutschen Schriftstellers, der mit vier Katzen und einem Hund auf einem Bauernhof in Westfalen aufgewachsen ist. Heute lebt und schreibt er in Berlin, wo er - manchmal häufiger als ihm lieb ist - für die Katzen seiner reiselustigen Freunde verantwortlich ist. Inspiriert jedoch von diesen kleinen Feriengästen (und von einem ganz besonders!) entstand die Idee für den vorliegenden Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: HANNES STEINBACH
- 2013, 1, 224 Seiten, Geb. mit Su.
- ISBN-10: 3863651871
- ISBN-13: 9783863651879
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