Never Knowing - Endlose Angst
Thriller. Deutsche Erstausgabe
Ein Schock für Adoptivkind Sara: Kurz vor ihrer Hochzeit erfährt sie, dass ihr leiblicher Vater ein berüchtigter Serienkiller ist, einer der meistgesuchten Verbrecher des Landes. Mit Therapeutin Nadine (aus "Still Missing") versucht sie,...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Never Knowing - Endlose Angst “
Ein Schock für Adoptivkind Sara: Kurz vor ihrer Hochzeit erfährt sie, dass ihr leiblicher Vater ein berüchtigter Serienkiller ist, einer der meistgesuchten Verbrecher des Landes. Mit Therapeutin Nadine (aus "Still Missing") versucht sie, ihre Ängste in den Griff zu bekommen. Doch was, wenn ihr Vater sie jetzt sucht?
Klappentext zu „Never Knowing - Endlose Angst “
Was ist schlimmer, als zu erfahren, dass dein Vater ein Serienmörder ist? Dass er von dir erfährt ...»In mir fließt das Blut eines Mörders. Ich habe Angst. Vor ihm. Und vor mir.« Seine Eltern kann sich niemand aussuchen. Aber was, wenn dein Vater ein gesuchter Serienkiller ist? Die adoptierte Sara lebt im idyllischen Städtchen Nanaimo auf Vancouver Island am Ozean. Sie hat sich immer gefragt, wer wohl ihre richtigen Eltern sind. Als ihre eigene Hochzeit bevorsteht, macht sie sich auf die Suche. Doch ihre leibliche Mutter verweigert schockiert den Kontakt. Verstört forscht Sara weiter und findet etwas Unfassbares heraus: Ihr leiblicher Vater ist ein berüchtigter Serienmörder. Sara versucht, mit ihren Ängsten fertigzuwerden: Hat sie mehr von ihrem Vater geerbt, als sie sich eingestehen will? Doch bald wird klar, dass es Schlimmeres gibt, als zu erfahren, dass dein Vater ein Killer ist - nämlich, dass er von dir erfährt ...
»Die Story raubt einem wirklich den Schlaf. Amerikas neue Thriller-Queen Chevy Stevens schreibt so packend, dass wir Saras Empfindungen regelrecht mitfühlen. Raffiniert bis zum letzten Blutstropfen.« Für Sie
»Chevy Stevens' verstörender Thriller über die Suche einer Frau nach ihrer Herkunft ist genauso intensiv und beeindruckend wie ihr Debüt 'Still Missing - Kein Entkommen'.« Publishers Weekly
Top-Spannung made in Kanada. Von der internationalen Thriller-Bestseller-Autorin Chevy Stevens.
Lese-Probe zu „Never Knowing - Endlose Angst “
Never Knowing- Endlose Angst von Chevy Stevens2. Sitzung
... mehr
Ich habe über alles nachgedacht, was Sie gesagt haben - dass ich nicht alles sofort entscheiden muss, dass ich mir über meine Erwartungen klarwerden muss ebenso wie über meine Gründe, warum ich mehr über meine Vergangenheit erfahren will. Ich habe sogar eine Tabelle mit den Pros und Kontras aufgestellt, so wie wir das früher zusammen gemacht haben. Ich habe alles ordentlich in Spalten sortiert, aber ich bin immer noch nicht schlauer. Also bin ich in meine Werkstatt gestapft, habe Sara McLachlan angemacht und mir die Seele aus dem Leib geheult, während ich mich über einen Eichenschrank hermachte. Mit jeder Farbschicht, die ich runter bekam, wurde ich ruhiger. Es war egal, ob sie gelogen hatte oder wo ich herkam. Was zählte, war mein Leben jetzt. Kaum war ich von der Wiedervereinigung mit meiner Mutter geflohen, hatte ich Evan angerufen. Als er am Wochenende nach Hause kam, brachte er mir Schokolade und Rotwein mit, als verfrühte Valentinsüberraschung - der Mann ist kein Dummkopf. Aber am klügsten war es, dass er mir keinen Vortrag gehalten, sondern mich einfach in den Arm genommen hat und mich schimpfen und toben ließ, bis mir die Puste ausging. Und natürlich ging mir irgendwann die Puste aus - und die Depression kam. Es war schon so lange her, seit ich die letzte hatte, dass ich es zuerst gar nicht merkte. Wie ein Exfreund, dem man zufällig über den Weg läuft und bei dem man sich nicht mehr erinnern kann, warum man sich seinetwegen so mies gefühlt hat, so wütend und alles. Erst zwei Wochen später begann ich, mich fast wieder normal zu fühlen. An diesem Punkt hätte ich aufhören sollen.
Evan war wieder in der Lodge, und Laurens Mann Greg, der für Dads Holzfällerunternehmen arbeitet, war gerade ins Camp aufgebrochen, also rauschten Ally und ich zum Abendessen rüber zu Lauren. Was das Kochen angeht, klappt es bei mir ganz gut, solange ich nicht von einem aktuellen Projekt besessen bin, aber gegen Laurens Roastbeef und Yorkshire Pudding sieht mein Pfannengemüse alt aus. Während Laurens zwei Jungs, genau wie sie flachsblond und mit großen, blauen Augen, mit Ally und Elch durch den Garten jagten, nahmen Lauren und ich unseren Kaffee und den Nachtisch mit ins Wohnzimmer. Ich war froh, dass wir dieses Jahr einen milden Winter hatten, obwohl es auf der Insel ja niemals richtig kalt wird, aber es war nett, sich vor ihrem Kamin zusammenzukuscheln und uns von den letzten Katastrophen unserer Kinder zu erzählen. Ihre zwei haben normalerweise nur etwas kaputtgemacht, während meine ständig Ärger in der Schule hat, weil sie andere Kinder herumkommandiert oder redet, wenn sie still sein soll. Evan lacht dann immer und sagt: »Wo sie das wohl herhat«, sobald ich mich darüber beklage. Nachdem wir den letzten Rest Schokolade von unseren Tellern gekratzt hatten, sagte Lauren: »Wie kommst du mit den Hochzeitsvorbereitungen voran?« »O Gott, erinner mich bloß nicht daran. Meine Liste ist ellenlang.« Lauren lachte und legte den Kopf zurück, so dass die Narbe an ihrem Kinn zu sehen war. Vor vielen Jahren war sie einmal vom Rad gefallen. Natürlich hatte Dad mir die Hölle heiß gemacht, weil ich nicht genügend auf sie aufgepasst hatte, aber ihrer natürlichen Schönheit tat das keinen Abbruch. Sie schminkt sich nur selten, doch mit dem herzförmigen Gesicht, dem honigfarbenen Teint und der leicht sommersprossigen Nase hat sie das auch nicht nötig. Außerdem gehört Lauren zu den wenigen Menschen, die genauso nett sind, wie sie aussehen - die Sorte, die sich merkt, welche Shampoosorte man benutzt und dann die Gutscheine für einen aufhebt. »Ich habe dir doch gesagt, dass eine Hochzeit mehr Arbeit macht, als man denkt. Und du hast gedacht, es würde leicht werden.« »Und das von einer Frau, die bei ihrer eigenen Hochzeit kein bisschen gestresst war.« Sie zuckte die Achseln. »Ich war zwanzig. Ich war einfach nur glücklich zu heiraten. Moms und Dads Garten war alles, was wir brauchten. Aber in der Lodge wird es wunderschön werden.« »Ja, das wird es. Aber da gibt es etwas, das ich dir erzählen muss ... « Lauren sah mich an. »Du bekommst doch wohl nicht etwa kalte Füße?«
»Was? Natürlich nicht!« Sie atmete wieder aus. »Gott sei Dank. Evan tut dir so gut. « »Warum erzählt mir das jeder?« Sie lächelte. »Weil es stimmt.« Da konnte ich ihr kaum widersprechen. Ich hatte Evan in einer Autowerkstatt kennengelernt, als wir beide auf unsere Fahrzeuge warteten - seines sollte frisiert werden, meines pfiff aus dem letzten Loch. Ich machte mir Sorgen, dass sie meinen Wagen nicht wieder hinkriegen würden, und hatte keine Ahnung, wie ich dann Ally abholen sollte, doch Evan beruhigte mich, dass schon alles gut gehen würde. Ich weiß noch, wie er die Papphülse über meinen heißen Becher schob, ehe er ihn mir reichte, wie entspannt und sicher seine Bewegungen waren. Wie ruhig ich mich in seiner Gegenwart fühlte. Lauren sagte: »Also, was willst du mir erzählen?« »Erinnerst du dich noch, wie ich immer davon gesprochen habe, meine Herkunftsfamilie zu suchen?«
»Natürlich, du warst ganz besessen davon, als wir klein waren. Weißt du noch, wie du einen Sommer lang überzeugt warst, du wärst eine indianische Prinzessin, und versucht hast, im Garten ein Kanu zu bauen?« Sie fing an zu lachen, dann sah sie mein Gesicht und sagte: »Warte, hast du sie tatsächlich gesucht?« »Vor ein paar Wochen habe ich meine leibliche Mutter gefunden.« »Wow. Das ist ... heftig.« Laurens Gesichtsausdruck wechselte von Überraschung über Verwirrung zu Schmerz. »Warum hast du mir nichts davon gesagt?« Das war eine gute Frage, die ich nicht beantworten konnte. Lauren hat ihren Freund von der Highschool geheiratet und ist noch mit denselben Leuten befreundet, mit denen sie schon in der Grundschule gespielt hat. Sie hat keine Ahnung, wie es sich anfühlt, zurückgewiesen zu werden oder allein zu sein. Der andere Grund war ihr Mann. Es war unmöglich zu reden, solange Greg dabei war. »Ich musste das erst alles verarbeiten«, erklärte ich. »Es ist nicht besonders gut gelaufen.« »Nicht? Was ist passiert? Lebt sie auf der Insel?« Ich erzählte Lauren den ganzen Schlamassel.
Sie verzog das Gesicht. »Das muss ja furchtbar gewesen sein. Wie geht's dir jetzt damit?« »Ich bin enttäuscht. Vor allem, weil sie mir nichts über meinen leiblichen Vater erzählt hat - sie war meine einzige Chance, ihn zu finden.« Die meisten meiner Tagträume liefen darauf hinaus, dass mein leiblicher Vater mich umgehend in seine Villa mitnahm und mich allen als seine lang verlorene Tochter vorstellte, während seine Hand warm auf meinem Rücken ruhte. »Mom und Dad hast du aber nichts erzählt, oder?« Ich schüttelte den Kopf.
Lauren wirkte erleichtert und starrte auf meinen Teller. Die Schokolade in meinem Mund schmeckte bitter. Ich hasste die Woge aus Schuldgefühlen und Angst, die mich überrollte, wann immer ich befürchtete, Mom und Dad könnten es herausfinden, und ich hasste mich dafür, dass ich es mir übelnahm. Ich bat: »Erzähl Melanie oder Greg nichts davon, okay?« »Natürlich nicht.« Ich betrachtete ihr Gesicht. Was mochte sie jetzt denken? Nach einer Weile sagte sie: »Vielleicht war dein Vater verheiratet, und sie hat Angst, dass es nach all den Jahren rauskommt?« »Vielleicht ... Aber ich glaube, sie hat sogar wegen ihres Namens gelogen.« »Willst du noch einmal mit ihr reden?« »Zum Teufel, nein! Wahrscheinlich würde sie die Polizei rufen. Ich werde die Sache einfach fallenlassen. «
»Das ist wahrscheinlich das Beste.« Wieder sah sie erleichtert aus. Ich wollte sie fragen, was sie meinte, für wen es »das Beste« sei, aber sie hatte bereits unsere Teller eingesammelt und ging in die Küche. Ich blieb allein und fröstelnd vor dem Feuer zurück. Sobald wir zu Hause waren, fielen Ally und Elch ins Bett, und ich räumte das Haus auf - ich neige dazu, die Dinge etwas schleifen zu lassen, wenn Evan nicht da ist. Nachdem alles erledigt war, war ich nicht in der Stimmung, in die Werkstatt zu gehen, so wie ich es normalerweise tue, wenn ich von Kaffee und Schokolade aufgekratzt bin, also schaltete ich den Computer ein. Ich hatte vor, nur mal kurz nach den E-Mails zu sehen, aber dann fielen mir Julias Worte ein. Meine Eltern sind bei einem Unfall ums Leben gekommen. Hatte Julia überhaupt in irgendeinem Punkt die Wahrheit gesagt? Vielleicht konnte ich zumindest die Namen ihrer Eltern im Internet finden. Zuerst googelte ich Autounfälle, Williams Lake, BC. Das ergab ein paar Treffer, aber nur einen tödlichen Unfall mit einem Ehepaar, und die waren erst vor kurzem gestorben. Außerdem war es der falsche Name. Ich weitete meine Suche auf ganz Kanada aus, stieß aber trotzdem auf keinen Unfall, bei dem eines der Opfer den Nachnamen meiner Mutter trug. Wenn sie schon vor Jahren gestorben waren, war der Artikel vermutlich ohnehin nicht im Internet zu finden. Noch nicht bereit aufzugeben, googelte ich Laroche. Merkwürdige Treffer, beiläufige Erwähnungen hier und da, aber außer der Seite der Universität, die ich schon kannte, fand ich nichts, das irgendwie in Verbindung mit Julia stand. Ehe ich für diesen Abend Schluss machte, beschloss ich, noch etwas über Williams Lake zu lesen. Ich war nie dort gewesen, aber ich wusste, dass die Stadt im Herzen von Cariboo lag, mitten in British Columbia. Julia kam mir nicht vor wie ein Kleinstadtmädchen, und ich fragte mich, ob sie wohl geflohen war, sobald sie mit der Schule fertig war. Ich starrte den Bildschirm an. Ich wollte mehr über sie herausfinden, aber wie? Ich hatte keine Kontakte an die Universität oder zu irgendwelchen Behörden, und Evan auch nicht. Ich brauchte jemanden mit Verbindungen.
Als ich bei Google nach Privatdetektiven in Nanaimo suchte, stellte ich überrascht fest, dass es gleich ein paar Firmen gab. Ich sah mir ihre Websites an, und meine Zuversicht wuchs, als ich merkte, dass es meistens Polizisten im Ruhestand waren. Als Evan mich später anrief, erzählte ich ihm von der Idee. »Und wie teuer sind die?«, wollte er wissen. »Das weiß ich noch nicht. Ich wollte morgen ein paar anrufen.« »Das kommt mir ziemlich extrem vor. Du weißt ja nicht sicher, ob sie wirklich gelogen hat.« »Sie hat mir eindeutig etwas verheimlicht - das macht mich wahnsinnig.«
»Und wenn es etwas ist, das du gar nicht wissen willst? Vielleicht hat sie einen guten Grund, es dir nicht zu erzählen.« »Ich würde lieber damit klarkommen müssen, als mich den Rest meines Lebens zu fragen, was es ist. Und vielleicht finden sie meinen leiblichen Vater. Was, wenn er gar nichts von mir weiß?« »Wenn du das Gefühl hast, du müsstest es tun, dann mach es. Aber überprüf sie zuerst. Beauftrage nicht einfach irgendjemanden aus dem Telefonbuch.« »Ich passe schon auf.« Am nächsten Tag rief ich bei dem Privatdetektiv mit der schicksten Website an, aber sobald er mir seinen Tarif nannte, wusste ich, wieso er sich so was leisten konnte. Bei den nächsten beiden Nummern landete ich direkt auf einem Anrufbeantworter. Der vierte, TBD Ermittlungen, hatte eine sehr schlichte Website, aber die Frau des Mannes klang am Telefon freundlich und sagte mir, »Tom« würde mich zurückrufen. Was er eine Stunde später auch tat. Als ich ihn nach seiner Vorgeschichte fragte, erklärte er, dass er ein pensionierter Cop sei und den Job mache, um genug Geld fürs Golfspielen zu haben und sich seine Frau vom Leibe zu halten. Er gefiel mir. Er rechnete stundenweise ab und nahm einen Vorschuss von fünfhundert Dollar. Wir verabredeten uns für den Nachmittag. Als ich auf dem öffentlichen Parkplatz neben Toms Wagen anhielt, kam ich mir vor wie in einem schlechten Film, aber nachdem wir uns ein paar Minuten unterhalten hatten und er mir versicherte, dass er alles, was er herausfände, vertraulich behandeln würde, fühlte ich mich besser. Ich füllte seine Formulare aus und fuhr mit gemischten Gefühlen davon. Ich empfand Schuld, weil ich in Julias Privatsphäre eindrang und ihre Adresse preisgegeben hatte, Hoffnung, meinen richtigen Vater zu finden, und Angst, dass er mich ebenfalls nicht kennenlernen wollte. Tom hatte mir gesagt, dass ich vielleicht nicht sofort von ihm hören würde, doch er rief bereits zwei Tage später an, als ich nach dem Abendessen am Aufräumen war. »Ich habe die Informationen, die Sie haben wollten.« Die freundliche Großvaterstimme war verschwunden, jetzt war er ganz der ernsthafte Cop. »Will ich sie wissen?« Ich lachte. Er nicht. »Sie hatten recht, Julia Laroche ist nicht ihr richtiger Name - der lautet Karen Christianson.«
»Interessant. Wissen Sie, warum sie ihn geändert hat?« »Sagt Ihnen der Name nichts?« »Sollte er?« »Karen Christianson war die einzige Überlebende des Campsite-Killers.« Ich schnappte nach Luft. Vom Campsite-Killer hatte ich gehört, ich habe mich schon immer für Serienmörder und ihre Verbrechen interessiert. Evan fand das morbid, aber sobald im Fernsehen eine Sendung über einen bekannten Mordfall lief, hing ich vor der Glotze. Sie haben alle so reißerische Namen wie Zodiac-Killer, Vampirvergewaltiger, Green-River-Mörder, doch beim Campsite-Killer konnte ich mich nicht mehr an viel erinnern - außer, dass er Leute im Landesinneren von British Columbia umbrachte. Tom redete immer noch. »Ich wollte ganz sicher sein, also bin ich runter nach Victoria gefahren und habe ein paar Aufnahmen von Julia an der Uni gemacht und sie dann mit Fotos von Karen Christianson im Internet verglichen. Sieht aus, als sei es dieselbe Frau.« »O Gott, kein Wunder, dass sie ihren Namen geändert hat. Wann wurde sie überfallen?« »Vor fünfunddreißig Jahren«, sagte Tom. »Ein paar Monate darauf zog sie auf die Insel und änderte ihren Namen.« Etwas Kaltes und Dunkles breitete sich in meinen Eingeweiden aus. »In welchem Monat wurde sie überfallen?« »Im Juli.« Meine Gedanken rasten, und ich überschlug Daten und Zeiträume. »Ich werde im April vierunddreißig. Sie glauben doch nicht ... « Er schwieg. Ich taumelte zurück, sackte auf einen Stuhl und versuchte zu begreifen, was er mir gerade erzählte. Aber meine Gedanken befanden sich in einem heillosen Durcheinander, waren nichts als Bruchstücke, die ich nicht zu fassen bekam. Dann dachte ich an Julias blasses Gesicht, ihre bebenden Hände. Der Campsite-Killer ist mein Vater. »Ich ... ich meine ... sind Sie sicher?« Ich wollte, dass er mir widersprach, dass er mir sagte, ich hätte mich verhört, würde da falsch denken, irgendetwas. »Karen ist die einzige Person, die es bestätigen könnte, aber die Daten passen.« Schweigend wartete er darauf, dass ich etwas sagte, aber ich starrte nur auf unseren Kalender am Kühlschrank. Allys beste Freundin, Meghan, feierte am Wochenende Geburtstag. Ich konnte mich nicht erinnern, ob ich schon ein Geschenk für sie besorgt hatte oder nicht. Toms Stimme klang wie aus weiter Ferne. »Falls Sie noch weitere Fragen haben, meine Nummer haben Sie. Ich schicke Ihnen die Bilder, die ich von Karen gemacht habe, zusammen mit der Rechnung.« Ein paar Minuten saß ich in meiner Küche und starrte immer noch den Kalender an. Oben hörte ich eine Schranktür zuknallen, und mir fiel ein, dass Ally im Bad war. Um diese Sache musste ich mich später kümmern. Ich zwang mich, vom Stuhl aufzustehen. Ally war schon wieder aus dem Badezimmer raus und hatte eine Spur aus nach Erdbeeren duftendem Badeschaum und nassen Handtüchern hinterlassen. Normalerweise liebe ich es, sie ins Bett zu bringen. Beim Rumkuscheln erzählt sie mir, was am Tag alles passiert ist, teils kleines Mädchen, das manche Wörter falsch ausspricht, teils kleine Frau, wenn sie beschreibt, was die anderen Mädchen angehabt haben. Früher, als ich noch Single war, durfte sie immer in meinem Bett schlafen. Ich liebte die Nähe, liebte es, sie neben mir atmen zu hören. Schon als ich schwanger war und Jason um die Häuser zog, konnte ich nur einschlafen, wenn ich die Hand auf meinen Bauch legte. Normalerweise war er bis in die Puppen unterwegs. Wenn ich ausflippte, und das tat ich immer, schob er mich einfach aus dem Zimmer und schloss ab. Ich schrie ihn durch die Tür an, bis ich heiser war. Schließlich verließ ich ihn, als ich im fünften Monat war. Er hat seine Tochter nie gesehen - einen Monat vor ihrer Geburt hat er seinen Truck an einen Baum gesetzt. Zu seinen Eltern habe ich immer noch Kontakt, und sie sind echt klasse zu Ally. Erzählen ihr Geschichten über Jason und heben Dinge von ihm auf, für später, wenn sie älter ist. Ab und zu übernachtet sie bei ihnen. Beim ersten Mal hatte ich Angst, dass sie weinend aufwachen würde, aber es ging ihr gut. Ich war diejenige, die nicht schlafen konnte. Dasselbe am ersten Schultag - Ally schaffte das mit links, aber ich vermisste sie jede Minute, vermisste die Geräusche im Haus, vermisste ihr Kichern. Normalerweise lechze ich nach diesen kleinen Fenstern zu ihrem Leben draußen, weg von zu Hause, und will wissen, wie sie sich in jedem Moment gefühlt hat. »Hat es dich zum Lachen gebracht?« »Hast du irgendetwas daraus gelernt?« Doch an diesem Tag gingen mir immer wieder Toms Worte durch den Kopf: Die Daten passen. Es fühlte sich unwirklich an, es konnte nicht wirklich wahr sein. Als Ally eingeschlummert war, küsste ich ihre warme Stirn und ließ Elch bei ihr. In meinem Büro machte ich den Computer an und googelte den Campsite-Killer. Die erste Website in der Liste war seinen Opfern gewidmet. Während düstere Musik aus den Lautsprechern erschallte, scrollte ich durch die Fotos seiner Opfer mit den Namen und Todesdaten unter dem Bild. Die Überfälle hatten von den frühen Siebzigern an alle paar Jahre stattgefunden, aber manchmal hatte er auch zwei Sommer in Folge zugeschlagen. Dann waren wieder Jahre vergangen, ohne dass er irgendwo aufgetaucht war.
Ich klickte auf einen Link, der mich zum PDF einer Karte brachte, auf der jeder Ort, an dem er jemanden umgebracht hatte, mit einem kleinen Kreuz markiert war. Er war überall im Landesinneren und im Norden von British Columbia unterwegs, hatte jedoch nie in einem Park zweimal getötet. Wenn die Mädchen mit ihren Eltern oder ihrem Freund zelteten, brachte er diese zuerst um. Doch es war klar, dass die Frauen sein eigentliches Ziel waren. Ich zählte fünfzehn Frauen - gesunde, lächelnde, junge Frauen. Alles in allem schrieb man ihm mindestens dreißig Morde zu - er war einer der übelsten Serienmörder in der Geschichte Kanadas. Auf der Website wurde auch die einzige Frau erwähnt, die ihm jemals entkommen war: sein drittes Opfer, Karen Christianson. Das Foto war grobkörnig, und sie hatte den Kopf von der Kamera abgewandt. Ich ging zurück zu Google und tippte Karen Christianson ein. Dieses Mal wurden zahlreiche Artikel aufgelistet. Im Sommer vor fünfunddreißig Jahren hatten Karen und ihre Eltern im Tweedsmuir Provincial Park in der westlichen Zentralregion von BC gezeltet. Die Eltern wurden im Schlaf in ihrem Zelt erschossen, Karen hingegen jagte er stundenlang durch den Wald, ehe er sie erwischte und vergewaltigte. Ehe er sie umbringen konnte, gelang es ihr, ihm mit einem Stein auf den Kopf zu schlagen und zu fliehen. Zwei Tage lang irrte sie in den Bergen herum, bis sie endlich aus dem Wald herausstolperte und ein vorbeifahrendes Wohnmobil anhielt. Auf den meisten Fotos hatte sie ihr Gesicht versteckt, aber ein paar eifrige Journalisten hatten ihr Bild vom Abschlussjahr im Jahrbuch ihrer Highschool gefunden, aufgenommen nur wenige Monate vor jenem verhängnisvollen Sommer. Ich betrachtete das Bild des hübschen dunkelhaarigen Mädchens mit den braunen Augen. Sie sah Julia sehr ähnlich. Das Telefon klingelte, und ich fuhr zusammen. Es war Evan. »Hi, Schatz. Ist Ally schon im Bett?« »Ja, sie war heute müde.« »Wie war dein Tag, irgendetwas vom Privatdetektiv gehört?« Normalerweise erzähle ich Evan alles, sobald er zur Tür hereinkommt oder ans Telefon geht. Doch dieses Mal blieben mir die Worte im Halse stecken. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken, um alles einzusortieren. »Hallo?« »Er ist noch dabei.« In dieser Nacht lag ich in meinem Bett und starrte die Decke an, versuchte, die entsetzlichen Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben und nicht daran zu denken, wie Julia ihr Gesicht von den Kameras wegdrehte, weg von mir. Stunden später wachte ich aus einem Traum auf, mein Nacken war schweißnass. Ich fühlte mich verkatert, mein Mund war trocken. Traumfetzen fielen mir ein - ein Mädchen rennt barfuß durch den dunklen Wald, ein blutiges Zelt, schwarze Leichensäcke. Dann fiel es mir wieder ein. Ich drehte mich um und sah auf die Uhr. 5:30. Nach diesem Albtraum noch einmal einzuschlafen konnte ich vergessen. Wie ein von einem Magneten angezogenes Stück Metall setzte ich mich wieder an den Computer. Ich betrachtete die Fotos der Opfer, las jeden Artikel über den Campsite-Killer, den ich finden konnte, erfüllt von Angst und Abscheu. Ich studierte alle Zeitungsartikel über Julia, jeden Informationsschnipsel in jeder Zeitschrift, musterte prüfend jedes Foto. Die Reporter hatten sie wochenlang verfolgt, hatten ihr Haus belagert und waren ihr überallhin gefolgt. Es waren hauptsächlich kanadische Medien, aber auch einige US-amerikanische Zeitungen hatten die Story aufgegriffen und verglichen Karen mit einem von Ted Bundys Opfern, das ebenfalls entkommen war. Als Karen verschwand, verlegten sich die Artikel auf Spekulationen darüber, wo sie sein mochte, doch allmählich wurde die Berichterstattung spärlicher. An diesem Morgen erhielt ich auch die E-Mail von Tom mit Julias Fotos - an der Universität, wie sie zu ihrem Auto ging oder mit Katharine vor ihrem Haus stand. Ich verglich die Bilder mit den Fotos von Karen Christianson aus dem Internet. Es war definitiv dieselbe Frau. Auf einer Aufnahme berührte Julia eine Studentin am Arm und lächelte ihr aufmunternd zu. Ob sie mich berührt hatte, nachdem sie mich zur Welt gebracht hatte? Oder hatte sie einfach nur gesagt, man solle mich fortbringen?
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Mainz 2011
Ich habe über alles nachgedacht, was Sie gesagt haben - dass ich nicht alles sofort entscheiden muss, dass ich mir über meine Erwartungen klarwerden muss ebenso wie über meine Gründe, warum ich mehr über meine Vergangenheit erfahren will. Ich habe sogar eine Tabelle mit den Pros und Kontras aufgestellt, so wie wir das früher zusammen gemacht haben. Ich habe alles ordentlich in Spalten sortiert, aber ich bin immer noch nicht schlauer. Also bin ich in meine Werkstatt gestapft, habe Sara McLachlan angemacht und mir die Seele aus dem Leib geheult, während ich mich über einen Eichenschrank hermachte. Mit jeder Farbschicht, die ich runter bekam, wurde ich ruhiger. Es war egal, ob sie gelogen hatte oder wo ich herkam. Was zählte, war mein Leben jetzt. Kaum war ich von der Wiedervereinigung mit meiner Mutter geflohen, hatte ich Evan angerufen. Als er am Wochenende nach Hause kam, brachte er mir Schokolade und Rotwein mit, als verfrühte Valentinsüberraschung - der Mann ist kein Dummkopf. Aber am klügsten war es, dass er mir keinen Vortrag gehalten, sondern mich einfach in den Arm genommen hat und mich schimpfen und toben ließ, bis mir die Puste ausging. Und natürlich ging mir irgendwann die Puste aus - und die Depression kam. Es war schon so lange her, seit ich die letzte hatte, dass ich es zuerst gar nicht merkte. Wie ein Exfreund, dem man zufällig über den Weg läuft und bei dem man sich nicht mehr erinnern kann, warum man sich seinetwegen so mies gefühlt hat, so wütend und alles. Erst zwei Wochen später begann ich, mich fast wieder normal zu fühlen. An diesem Punkt hätte ich aufhören sollen.
Evan war wieder in der Lodge, und Laurens Mann Greg, der für Dads Holzfällerunternehmen arbeitet, war gerade ins Camp aufgebrochen, also rauschten Ally und ich zum Abendessen rüber zu Lauren. Was das Kochen angeht, klappt es bei mir ganz gut, solange ich nicht von einem aktuellen Projekt besessen bin, aber gegen Laurens Roastbeef und Yorkshire Pudding sieht mein Pfannengemüse alt aus. Während Laurens zwei Jungs, genau wie sie flachsblond und mit großen, blauen Augen, mit Ally und Elch durch den Garten jagten, nahmen Lauren und ich unseren Kaffee und den Nachtisch mit ins Wohnzimmer. Ich war froh, dass wir dieses Jahr einen milden Winter hatten, obwohl es auf der Insel ja niemals richtig kalt wird, aber es war nett, sich vor ihrem Kamin zusammenzukuscheln und uns von den letzten Katastrophen unserer Kinder zu erzählen. Ihre zwei haben normalerweise nur etwas kaputtgemacht, während meine ständig Ärger in der Schule hat, weil sie andere Kinder herumkommandiert oder redet, wenn sie still sein soll. Evan lacht dann immer und sagt: »Wo sie das wohl herhat«, sobald ich mich darüber beklage. Nachdem wir den letzten Rest Schokolade von unseren Tellern gekratzt hatten, sagte Lauren: »Wie kommst du mit den Hochzeitsvorbereitungen voran?« »O Gott, erinner mich bloß nicht daran. Meine Liste ist ellenlang.« Lauren lachte und legte den Kopf zurück, so dass die Narbe an ihrem Kinn zu sehen war. Vor vielen Jahren war sie einmal vom Rad gefallen. Natürlich hatte Dad mir die Hölle heiß gemacht, weil ich nicht genügend auf sie aufgepasst hatte, aber ihrer natürlichen Schönheit tat das keinen Abbruch. Sie schminkt sich nur selten, doch mit dem herzförmigen Gesicht, dem honigfarbenen Teint und der leicht sommersprossigen Nase hat sie das auch nicht nötig. Außerdem gehört Lauren zu den wenigen Menschen, die genauso nett sind, wie sie aussehen - die Sorte, die sich merkt, welche Shampoosorte man benutzt und dann die Gutscheine für einen aufhebt. »Ich habe dir doch gesagt, dass eine Hochzeit mehr Arbeit macht, als man denkt. Und du hast gedacht, es würde leicht werden.« »Und das von einer Frau, die bei ihrer eigenen Hochzeit kein bisschen gestresst war.« Sie zuckte die Achseln. »Ich war zwanzig. Ich war einfach nur glücklich zu heiraten. Moms und Dads Garten war alles, was wir brauchten. Aber in der Lodge wird es wunderschön werden.« »Ja, das wird es. Aber da gibt es etwas, das ich dir erzählen muss ... « Lauren sah mich an. »Du bekommst doch wohl nicht etwa kalte Füße?«
»Was? Natürlich nicht!« Sie atmete wieder aus. »Gott sei Dank. Evan tut dir so gut. « »Warum erzählt mir das jeder?« Sie lächelte. »Weil es stimmt.« Da konnte ich ihr kaum widersprechen. Ich hatte Evan in einer Autowerkstatt kennengelernt, als wir beide auf unsere Fahrzeuge warteten - seines sollte frisiert werden, meines pfiff aus dem letzten Loch. Ich machte mir Sorgen, dass sie meinen Wagen nicht wieder hinkriegen würden, und hatte keine Ahnung, wie ich dann Ally abholen sollte, doch Evan beruhigte mich, dass schon alles gut gehen würde. Ich weiß noch, wie er die Papphülse über meinen heißen Becher schob, ehe er ihn mir reichte, wie entspannt und sicher seine Bewegungen waren. Wie ruhig ich mich in seiner Gegenwart fühlte. Lauren sagte: »Also, was willst du mir erzählen?« »Erinnerst du dich noch, wie ich immer davon gesprochen habe, meine Herkunftsfamilie zu suchen?«
»Natürlich, du warst ganz besessen davon, als wir klein waren. Weißt du noch, wie du einen Sommer lang überzeugt warst, du wärst eine indianische Prinzessin, und versucht hast, im Garten ein Kanu zu bauen?« Sie fing an zu lachen, dann sah sie mein Gesicht und sagte: »Warte, hast du sie tatsächlich gesucht?« »Vor ein paar Wochen habe ich meine leibliche Mutter gefunden.« »Wow. Das ist ... heftig.« Laurens Gesichtsausdruck wechselte von Überraschung über Verwirrung zu Schmerz. »Warum hast du mir nichts davon gesagt?« Das war eine gute Frage, die ich nicht beantworten konnte. Lauren hat ihren Freund von der Highschool geheiratet und ist noch mit denselben Leuten befreundet, mit denen sie schon in der Grundschule gespielt hat. Sie hat keine Ahnung, wie es sich anfühlt, zurückgewiesen zu werden oder allein zu sein. Der andere Grund war ihr Mann. Es war unmöglich zu reden, solange Greg dabei war. »Ich musste das erst alles verarbeiten«, erklärte ich. »Es ist nicht besonders gut gelaufen.« »Nicht? Was ist passiert? Lebt sie auf der Insel?« Ich erzählte Lauren den ganzen Schlamassel.
Sie verzog das Gesicht. »Das muss ja furchtbar gewesen sein. Wie geht's dir jetzt damit?« »Ich bin enttäuscht. Vor allem, weil sie mir nichts über meinen leiblichen Vater erzählt hat - sie war meine einzige Chance, ihn zu finden.« Die meisten meiner Tagträume liefen darauf hinaus, dass mein leiblicher Vater mich umgehend in seine Villa mitnahm und mich allen als seine lang verlorene Tochter vorstellte, während seine Hand warm auf meinem Rücken ruhte. »Mom und Dad hast du aber nichts erzählt, oder?« Ich schüttelte den Kopf.
Lauren wirkte erleichtert und starrte auf meinen Teller. Die Schokolade in meinem Mund schmeckte bitter. Ich hasste die Woge aus Schuldgefühlen und Angst, die mich überrollte, wann immer ich befürchtete, Mom und Dad könnten es herausfinden, und ich hasste mich dafür, dass ich es mir übelnahm. Ich bat: »Erzähl Melanie oder Greg nichts davon, okay?« »Natürlich nicht.« Ich betrachtete ihr Gesicht. Was mochte sie jetzt denken? Nach einer Weile sagte sie: »Vielleicht war dein Vater verheiratet, und sie hat Angst, dass es nach all den Jahren rauskommt?« »Vielleicht ... Aber ich glaube, sie hat sogar wegen ihres Namens gelogen.« »Willst du noch einmal mit ihr reden?« »Zum Teufel, nein! Wahrscheinlich würde sie die Polizei rufen. Ich werde die Sache einfach fallenlassen. «
»Das ist wahrscheinlich das Beste.« Wieder sah sie erleichtert aus. Ich wollte sie fragen, was sie meinte, für wen es »das Beste« sei, aber sie hatte bereits unsere Teller eingesammelt und ging in die Küche. Ich blieb allein und fröstelnd vor dem Feuer zurück. Sobald wir zu Hause waren, fielen Ally und Elch ins Bett, und ich räumte das Haus auf - ich neige dazu, die Dinge etwas schleifen zu lassen, wenn Evan nicht da ist. Nachdem alles erledigt war, war ich nicht in der Stimmung, in die Werkstatt zu gehen, so wie ich es normalerweise tue, wenn ich von Kaffee und Schokolade aufgekratzt bin, also schaltete ich den Computer ein. Ich hatte vor, nur mal kurz nach den E-Mails zu sehen, aber dann fielen mir Julias Worte ein. Meine Eltern sind bei einem Unfall ums Leben gekommen. Hatte Julia überhaupt in irgendeinem Punkt die Wahrheit gesagt? Vielleicht konnte ich zumindest die Namen ihrer Eltern im Internet finden. Zuerst googelte ich Autounfälle, Williams Lake, BC. Das ergab ein paar Treffer, aber nur einen tödlichen Unfall mit einem Ehepaar, und die waren erst vor kurzem gestorben. Außerdem war es der falsche Name. Ich weitete meine Suche auf ganz Kanada aus, stieß aber trotzdem auf keinen Unfall, bei dem eines der Opfer den Nachnamen meiner Mutter trug. Wenn sie schon vor Jahren gestorben waren, war der Artikel vermutlich ohnehin nicht im Internet zu finden. Noch nicht bereit aufzugeben, googelte ich Laroche. Merkwürdige Treffer, beiläufige Erwähnungen hier und da, aber außer der Seite der Universität, die ich schon kannte, fand ich nichts, das irgendwie in Verbindung mit Julia stand. Ehe ich für diesen Abend Schluss machte, beschloss ich, noch etwas über Williams Lake zu lesen. Ich war nie dort gewesen, aber ich wusste, dass die Stadt im Herzen von Cariboo lag, mitten in British Columbia. Julia kam mir nicht vor wie ein Kleinstadtmädchen, und ich fragte mich, ob sie wohl geflohen war, sobald sie mit der Schule fertig war. Ich starrte den Bildschirm an. Ich wollte mehr über sie herausfinden, aber wie? Ich hatte keine Kontakte an die Universität oder zu irgendwelchen Behörden, und Evan auch nicht. Ich brauchte jemanden mit Verbindungen.
Als ich bei Google nach Privatdetektiven in Nanaimo suchte, stellte ich überrascht fest, dass es gleich ein paar Firmen gab. Ich sah mir ihre Websites an, und meine Zuversicht wuchs, als ich merkte, dass es meistens Polizisten im Ruhestand waren. Als Evan mich später anrief, erzählte ich ihm von der Idee. »Und wie teuer sind die?«, wollte er wissen. »Das weiß ich noch nicht. Ich wollte morgen ein paar anrufen.« »Das kommt mir ziemlich extrem vor. Du weißt ja nicht sicher, ob sie wirklich gelogen hat.« »Sie hat mir eindeutig etwas verheimlicht - das macht mich wahnsinnig.«
»Und wenn es etwas ist, das du gar nicht wissen willst? Vielleicht hat sie einen guten Grund, es dir nicht zu erzählen.« »Ich würde lieber damit klarkommen müssen, als mich den Rest meines Lebens zu fragen, was es ist. Und vielleicht finden sie meinen leiblichen Vater. Was, wenn er gar nichts von mir weiß?« »Wenn du das Gefühl hast, du müsstest es tun, dann mach es. Aber überprüf sie zuerst. Beauftrage nicht einfach irgendjemanden aus dem Telefonbuch.« »Ich passe schon auf.« Am nächsten Tag rief ich bei dem Privatdetektiv mit der schicksten Website an, aber sobald er mir seinen Tarif nannte, wusste ich, wieso er sich so was leisten konnte. Bei den nächsten beiden Nummern landete ich direkt auf einem Anrufbeantworter. Der vierte, TBD Ermittlungen, hatte eine sehr schlichte Website, aber die Frau des Mannes klang am Telefon freundlich und sagte mir, »Tom« würde mich zurückrufen. Was er eine Stunde später auch tat. Als ich ihn nach seiner Vorgeschichte fragte, erklärte er, dass er ein pensionierter Cop sei und den Job mache, um genug Geld fürs Golfspielen zu haben und sich seine Frau vom Leibe zu halten. Er gefiel mir. Er rechnete stundenweise ab und nahm einen Vorschuss von fünfhundert Dollar. Wir verabredeten uns für den Nachmittag. Als ich auf dem öffentlichen Parkplatz neben Toms Wagen anhielt, kam ich mir vor wie in einem schlechten Film, aber nachdem wir uns ein paar Minuten unterhalten hatten und er mir versicherte, dass er alles, was er herausfände, vertraulich behandeln würde, fühlte ich mich besser. Ich füllte seine Formulare aus und fuhr mit gemischten Gefühlen davon. Ich empfand Schuld, weil ich in Julias Privatsphäre eindrang und ihre Adresse preisgegeben hatte, Hoffnung, meinen richtigen Vater zu finden, und Angst, dass er mich ebenfalls nicht kennenlernen wollte. Tom hatte mir gesagt, dass ich vielleicht nicht sofort von ihm hören würde, doch er rief bereits zwei Tage später an, als ich nach dem Abendessen am Aufräumen war. »Ich habe die Informationen, die Sie haben wollten.« Die freundliche Großvaterstimme war verschwunden, jetzt war er ganz der ernsthafte Cop. »Will ich sie wissen?« Ich lachte. Er nicht. »Sie hatten recht, Julia Laroche ist nicht ihr richtiger Name - der lautet Karen Christianson.«
»Interessant. Wissen Sie, warum sie ihn geändert hat?« »Sagt Ihnen der Name nichts?« »Sollte er?« »Karen Christianson war die einzige Überlebende des Campsite-Killers.« Ich schnappte nach Luft. Vom Campsite-Killer hatte ich gehört, ich habe mich schon immer für Serienmörder und ihre Verbrechen interessiert. Evan fand das morbid, aber sobald im Fernsehen eine Sendung über einen bekannten Mordfall lief, hing ich vor der Glotze. Sie haben alle so reißerische Namen wie Zodiac-Killer, Vampirvergewaltiger, Green-River-Mörder, doch beim Campsite-Killer konnte ich mich nicht mehr an viel erinnern - außer, dass er Leute im Landesinneren von British Columbia umbrachte. Tom redete immer noch. »Ich wollte ganz sicher sein, also bin ich runter nach Victoria gefahren und habe ein paar Aufnahmen von Julia an der Uni gemacht und sie dann mit Fotos von Karen Christianson im Internet verglichen. Sieht aus, als sei es dieselbe Frau.« »O Gott, kein Wunder, dass sie ihren Namen geändert hat. Wann wurde sie überfallen?« »Vor fünfunddreißig Jahren«, sagte Tom. »Ein paar Monate darauf zog sie auf die Insel und änderte ihren Namen.« Etwas Kaltes und Dunkles breitete sich in meinen Eingeweiden aus. »In welchem Monat wurde sie überfallen?« »Im Juli.« Meine Gedanken rasten, und ich überschlug Daten und Zeiträume. »Ich werde im April vierunddreißig. Sie glauben doch nicht ... « Er schwieg. Ich taumelte zurück, sackte auf einen Stuhl und versuchte zu begreifen, was er mir gerade erzählte. Aber meine Gedanken befanden sich in einem heillosen Durcheinander, waren nichts als Bruchstücke, die ich nicht zu fassen bekam. Dann dachte ich an Julias blasses Gesicht, ihre bebenden Hände. Der Campsite-Killer ist mein Vater. »Ich ... ich meine ... sind Sie sicher?« Ich wollte, dass er mir widersprach, dass er mir sagte, ich hätte mich verhört, würde da falsch denken, irgendetwas. »Karen ist die einzige Person, die es bestätigen könnte, aber die Daten passen.« Schweigend wartete er darauf, dass ich etwas sagte, aber ich starrte nur auf unseren Kalender am Kühlschrank. Allys beste Freundin, Meghan, feierte am Wochenende Geburtstag. Ich konnte mich nicht erinnern, ob ich schon ein Geschenk für sie besorgt hatte oder nicht. Toms Stimme klang wie aus weiter Ferne. »Falls Sie noch weitere Fragen haben, meine Nummer haben Sie. Ich schicke Ihnen die Bilder, die ich von Karen gemacht habe, zusammen mit der Rechnung.« Ein paar Minuten saß ich in meiner Küche und starrte immer noch den Kalender an. Oben hörte ich eine Schranktür zuknallen, und mir fiel ein, dass Ally im Bad war. Um diese Sache musste ich mich später kümmern. Ich zwang mich, vom Stuhl aufzustehen. Ally war schon wieder aus dem Badezimmer raus und hatte eine Spur aus nach Erdbeeren duftendem Badeschaum und nassen Handtüchern hinterlassen. Normalerweise liebe ich es, sie ins Bett zu bringen. Beim Rumkuscheln erzählt sie mir, was am Tag alles passiert ist, teils kleines Mädchen, das manche Wörter falsch ausspricht, teils kleine Frau, wenn sie beschreibt, was die anderen Mädchen angehabt haben. Früher, als ich noch Single war, durfte sie immer in meinem Bett schlafen. Ich liebte die Nähe, liebte es, sie neben mir atmen zu hören. Schon als ich schwanger war und Jason um die Häuser zog, konnte ich nur einschlafen, wenn ich die Hand auf meinen Bauch legte. Normalerweise war er bis in die Puppen unterwegs. Wenn ich ausflippte, und das tat ich immer, schob er mich einfach aus dem Zimmer und schloss ab. Ich schrie ihn durch die Tür an, bis ich heiser war. Schließlich verließ ich ihn, als ich im fünften Monat war. Er hat seine Tochter nie gesehen - einen Monat vor ihrer Geburt hat er seinen Truck an einen Baum gesetzt. Zu seinen Eltern habe ich immer noch Kontakt, und sie sind echt klasse zu Ally. Erzählen ihr Geschichten über Jason und heben Dinge von ihm auf, für später, wenn sie älter ist. Ab und zu übernachtet sie bei ihnen. Beim ersten Mal hatte ich Angst, dass sie weinend aufwachen würde, aber es ging ihr gut. Ich war diejenige, die nicht schlafen konnte. Dasselbe am ersten Schultag - Ally schaffte das mit links, aber ich vermisste sie jede Minute, vermisste die Geräusche im Haus, vermisste ihr Kichern. Normalerweise lechze ich nach diesen kleinen Fenstern zu ihrem Leben draußen, weg von zu Hause, und will wissen, wie sie sich in jedem Moment gefühlt hat. »Hat es dich zum Lachen gebracht?« »Hast du irgendetwas daraus gelernt?« Doch an diesem Tag gingen mir immer wieder Toms Worte durch den Kopf: Die Daten passen. Es fühlte sich unwirklich an, es konnte nicht wirklich wahr sein. Als Ally eingeschlummert war, küsste ich ihre warme Stirn und ließ Elch bei ihr. In meinem Büro machte ich den Computer an und googelte den Campsite-Killer. Die erste Website in der Liste war seinen Opfern gewidmet. Während düstere Musik aus den Lautsprechern erschallte, scrollte ich durch die Fotos seiner Opfer mit den Namen und Todesdaten unter dem Bild. Die Überfälle hatten von den frühen Siebzigern an alle paar Jahre stattgefunden, aber manchmal hatte er auch zwei Sommer in Folge zugeschlagen. Dann waren wieder Jahre vergangen, ohne dass er irgendwo aufgetaucht war.
Ich klickte auf einen Link, der mich zum PDF einer Karte brachte, auf der jeder Ort, an dem er jemanden umgebracht hatte, mit einem kleinen Kreuz markiert war. Er war überall im Landesinneren und im Norden von British Columbia unterwegs, hatte jedoch nie in einem Park zweimal getötet. Wenn die Mädchen mit ihren Eltern oder ihrem Freund zelteten, brachte er diese zuerst um. Doch es war klar, dass die Frauen sein eigentliches Ziel waren. Ich zählte fünfzehn Frauen - gesunde, lächelnde, junge Frauen. Alles in allem schrieb man ihm mindestens dreißig Morde zu - er war einer der übelsten Serienmörder in der Geschichte Kanadas. Auf der Website wurde auch die einzige Frau erwähnt, die ihm jemals entkommen war: sein drittes Opfer, Karen Christianson. Das Foto war grobkörnig, und sie hatte den Kopf von der Kamera abgewandt. Ich ging zurück zu Google und tippte Karen Christianson ein. Dieses Mal wurden zahlreiche Artikel aufgelistet. Im Sommer vor fünfunddreißig Jahren hatten Karen und ihre Eltern im Tweedsmuir Provincial Park in der westlichen Zentralregion von BC gezeltet. Die Eltern wurden im Schlaf in ihrem Zelt erschossen, Karen hingegen jagte er stundenlang durch den Wald, ehe er sie erwischte und vergewaltigte. Ehe er sie umbringen konnte, gelang es ihr, ihm mit einem Stein auf den Kopf zu schlagen und zu fliehen. Zwei Tage lang irrte sie in den Bergen herum, bis sie endlich aus dem Wald herausstolperte und ein vorbeifahrendes Wohnmobil anhielt. Auf den meisten Fotos hatte sie ihr Gesicht versteckt, aber ein paar eifrige Journalisten hatten ihr Bild vom Abschlussjahr im Jahrbuch ihrer Highschool gefunden, aufgenommen nur wenige Monate vor jenem verhängnisvollen Sommer. Ich betrachtete das Bild des hübschen dunkelhaarigen Mädchens mit den braunen Augen. Sie sah Julia sehr ähnlich. Das Telefon klingelte, und ich fuhr zusammen. Es war Evan. »Hi, Schatz. Ist Ally schon im Bett?« »Ja, sie war heute müde.« »Wie war dein Tag, irgendetwas vom Privatdetektiv gehört?« Normalerweise erzähle ich Evan alles, sobald er zur Tür hereinkommt oder ans Telefon geht. Doch dieses Mal blieben mir die Worte im Halse stecken. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken, um alles einzusortieren. »Hallo?« »Er ist noch dabei.« In dieser Nacht lag ich in meinem Bett und starrte die Decke an, versuchte, die entsetzlichen Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben und nicht daran zu denken, wie Julia ihr Gesicht von den Kameras wegdrehte, weg von mir. Stunden später wachte ich aus einem Traum auf, mein Nacken war schweißnass. Ich fühlte mich verkatert, mein Mund war trocken. Traumfetzen fielen mir ein - ein Mädchen rennt barfuß durch den dunklen Wald, ein blutiges Zelt, schwarze Leichensäcke. Dann fiel es mir wieder ein. Ich drehte mich um und sah auf die Uhr. 5:30. Nach diesem Albtraum noch einmal einzuschlafen konnte ich vergessen. Wie ein von einem Magneten angezogenes Stück Metall setzte ich mich wieder an den Computer. Ich betrachtete die Fotos der Opfer, las jeden Artikel über den Campsite-Killer, den ich finden konnte, erfüllt von Angst und Abscheu. Ich studierte alle Zeitungsartikel über Julia, jeden Informationsschnipsel in jeder Zeitschrift, musterte prüfend jedes Foto. Die Reporter hatten sie wochenlang verfolgt, hatten ihr Haus belagert und waren ihr überallhin gefolgt. Es waren hauptsächlich kanadische Medien, aber auch einige US-amerikanische Zeitungen hatten die Story aufgegriffen und verglichen Karen mit einem von Ted Bundys Opfern, das ebenfalls entkommen war. Als Karen verschwand, verlegten sich die Artikel auf Spekulationen darüber, wo sie sein mochte, doch allmählich wurde die Berichterstattung spärlicher. An diesem Morgen erhielt ich auch die E-Mail von Tom mit Julias Fotos - an der Universität, wie sie zu ihrem Auto ging oder mit Katharine vor ihrem Haus stand. Ich verglich die Bilder mit den Fotos von Karen Christianson aus dem Internet. Es war definitiv dieselbe Frau. Auf einer Aufnahme berührte Julia eine Studentin am Arm und lächelte ihr aufmunternd zu. Ob sie mich berührt hatte, nachdem sie mich zur Welt gebracht hatte? Oder hatte sie einfach nur gesagt, man solle mich fortbringen?
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Mainz 2011
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Autoren-Porträt von Chevy Stevens
Chevy Stevens ist die einzige Kanadierin unter den internationalen Top-Thrillerautor:innen. Sie lebt in Nanaimo auf Vancouver Island mit seiner beeindruckenden Natur. Ihre eindrücklichen Thriller um Frauen, die ums Überleben kämpfen, stehen weltweit auf den Bestsellerlisten. Chevy Stevens ist auf einer Ranch aufgewachsen und liebt Wandern, Paddeln und Zelten mit ihrem Mann, ihrer Tochter und ihren Hunden. Maria Poets übersetzt seit vielen Jahren Belletristik, darunter viele Spannungstitel, und zeichnet sich u.a. durch Dialogstärke und ihr Gespür für Ton und Tempo aus. Sie lebt als freie Übersetzerin und Lektorin in Norddeutschland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Chevy Stevens
- 2011, 4. Aufl., 496 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Maria Poets
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596192749
- ISBN-13: 9783596192748
- Erscheinungsdatum: 05.10.2011
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