Nicht ohne meine Schwestern
Gefangen und missbraucht in einer Sekte - unsere wahre Geschichte
Die Schwestern Kristina, Celeste und Juliana wachsen in der Sekte "Kinder Gottes" auf. Hilflos müssen sie die Misshandlungen, Gewalt und Missbrauch ertragen. Erst im Erwachsenenalter schaffen sie es, sich aus der Gewalt der Gruppe zu befreien.
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Produktinformationen zu „Nicht ohne meine Schwestern “
Die Schwestern Kristina, Celeste und Juliana wachsen in der Sekte "Kinder Gottes" auf. Hilflos müssen sie die Misshandlungen, Gewalt und Missbrauch ertragen. Erst im Erwachsenenalter schaffen sie es, sich aus der Gewalt der Gruppe zu befreien.
Lese-Probe zu „Nicht ohne meine Schwestern “
Nicht ohne meine Schwester von Juliana Buhring, Celeste Jones und Kristina JonesEINLEITUNG
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DIE SEKTE »KINDER GOTTES« entstand Ende der Sechzigerjahre unter den Hippies und Aussteigern von Huntington Beach im Süden Kaliforniens. Ihr Gründer David Berg kam 1919 in Oakland in Kalifornien zur Welt. Seine Mutter Virginia Lee Brandt Berg war eine gefeierte Predigerin der Christian Missionary Alliance. 1944 heiratete Berg Jane Miller, eine Jugendarbeiterin bei der Baptistischen Kirche. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes wurde Berg Pastor an einer Christian Missionary Alliance Church in Arizona, wurde jedoch nach nur zwei Jahren seines Amtes enthoben, angeblich wegen eines Sexskandals. Diese Maßnahme begründete seine lebenslange Verbitterung über kirchliche Institutionen.
Im Dezember 1967 zog Berg mit seiner Familie - seiner Frau Jane, später »Mutter Eva« genannt, und ihren vier Kindern Deborah, Faithy, Aaron und Hosea - zu seiner achtzigjährigen Mutter nach Huntington Beach. Sie hatte dort einen Coffeeshop namens Light Club eröffnet und bot den Hippies, Surfern und Aussteigern, die sich am Pier versammelten, neben Sandwiches auch erbauliche Predigten an. Aber als das brave Saubermann-Image des Light Club bei den langhaarigen Hippies auf wenig Gegenliebe stieß, erkannte Mrs Berg eine Chance für Sohn und Enkelkinder, die jungen Leute mit dem anzusprechen, was sie wirklich bewegte: die Musik und das leidenschaftliche Aufbegehren ihrer Zeit. Innerhalb kurzer Zeit zogen David Berg und seine Familie die Jugendlichen mit Parolen und Botschaften gegen das System und den Vietnamkrieg in Scharen an.
Bei Fahrten quer durch die Vereinigten Staaten gelang es der Gruppe, immer mehr Anhänger zu gewinnen, und sie gründete bald an vielen Orten kleine Gemeinden. In den Medien fanden ihre Aktivitäten große Beachtung, und nachdem sie in einigen Artikeln »Kinder Gottes« genannt worden war, übernahm die Gruppe diesen Namen.
Nach etlichen Affären mit einigen seiner Anhängerinnen fand Berg in seiner jungen und ambitionierten Sekretärin Karen Zerby alias »Maria« eine glühende und bedingungslose Gefährtin. Nachdem er seine von ihm getrennt lebende Frau Jane und seine verstorbene Mutter öffentlich als »Alte Kirche« gebrandmarkt hatte, bezeichnete er Maria und die »Kinder Gottes« als die »Neue Kirche« und sich selbst als den letzten Propheten der Endzeit. Er legte sich das Pseudonym »Moses David« zu und setzte sich so mit König David und dem Propheten Moses gleich, der die Kinder Israels aus der ägyptischen Gefangenschaft (dem »System«) in das Gelobte Land geführt hatte. Berg beschloss die Gründung einer Dynastie. Seine zahlreichen Residenzen erhielten den Namen »The King's House«, und er krönte sich und Maria zu König und Königin.
Viele Jahre lang leitete ein Gremium die Sekte, vornehmlich Angehörige von Berg, die allgemein »Königliche Familie« genannt wurden. Von den Verwandten erwartete er, dass sie ihm und den anderen Sektenführern unbedingten Gehorsam leisteten. Der einzige Kontakt zwischen Berg und seinen Sektenmitgliedern erfolgte durch seine zahlreichen Schriften mit dem Titel Mo Letters, Mo-Briefe, in denen er seine Glaubensgrundsätze, Überzeugungen und Anordnungen für die richtige Gemeindeführung ebenso kundtat wie seine Prophezeiungen und Offenbarungen, die ihm angeblich direkt von Gott zuteilwurden.
Anfang der Siebzigerjahre gerieten die »Kinder Gottes« ins Visier der Medien und der Behörden, da Eltern bei ihren Kindern bedenkliche Persönlichkeitsveränderungen festgestellt hatten, nachdem diese sich der Sekte angeschlossen hatten. Noch beängstigender war die Tatsache, dass jeder Kontakt zu den Familienangehörigen abgebrochen wurde und manche Kinder sogar bei Nacht und Nebel verschwanden und jahrelang nicht wieder auftauchten.
Um der negativen Publicity und möglichen Gerichtsverfahren zu entgehen, fl oh Berg nach Europa und empfahl seinen Anhängern, sich ebenfalls abzusetzen. In einem Massenexodus verließ die Gruppe die Vereinigten Staaten, um in anderen Ländern zu missionieren und neue Sektenmitglieder zu rekrutieren, zunächst in Europa. 1972 kamen Berg und Maria nach England.
Weil er immer mehr um seine persönliche Sicherheit besorgt war, zog er sich allmählich von seinen Anhängern zurück und hielt seine Aufenthaltsorte geheim. In dieser Zeit der Abgeschiedenheit experimentierten Berg und Maria mit einer neuen Methode, um mit Hilfe des Sex Konvertiten und Anhänger zu gewinnen, dem berüchtigten »Flirty Fishing«. Indem er in seinen Briefen ihre Erfahrungen dokumentierte, machte Berg die Sektenmitglieder nach und nach mit seinen Vorstellungen bekannt. Darüber hinaus veröffentlichte er eine neue Offenbarung: das »Gebot der Liebe«. Berg erklärte, dass die Zehn Gebote überholt seien. Alles, was aus Liebe geschah (auch Sex), war in Gottes Augen heilig. Ehebruch, Inzest, außerehelicher Sex und Geschlechtsverkehr mit Kindern waren keine Sünde, wenn sie »aus Liebe« geschahen. Er forderte die Befolgung seines Gebots der Liebe und des Flirty Fishing, und von den Anhängern wurde verlangt, nach diesen Vorstellungen zu leben oder sich von ihm zu trennen. Daraufhin verließen zwei Drittel der Mitglieder die Sekte und markierten damit das Ende der »Kinder Gottes« und den Beginn der »Family of Love«, der »Familie der Liebe«.
1979 enthüllte Berg in einem Brief mit dem Titel »Sex in meiner Kindheit«, dass ein Kindermädchen ihn als Kleinkind mit oralen Praktiken bekannt gemacht habe, was ihm höchst angenehm gewesen sei. Er betonte, so etwas sei völlig normal, ganz natürlich und daran sei absolut nichts Verwerfliches. In den folgenden Jahren wurden in weiteren Mo-Briefen und anderen Publikationen der »Familie der Liebe« die Forderung erhoben, dass Kindern sexuelle Kontakte mit anderen Kindern und Erwachsenen erlaubt sein sollten - und viele Erwachsene in der Familie hörten diese Botschaft mit Freuden und setzten sie in die Tat um.
Christopher Jones kam im Dezember 1951 in der Nähe von Hameln in Deutschland zur Welt, als Sohn von Glen Jones, einem Offizier der britischen Armee, und Krystina, einer jungen Polin, die er bei einem Einsatz in Palästina kennengelernt hatte. Nach dem Besuch eines Internats in Cheltenham ging er an das Rose Burford College, um Schauspieler zu werden. Nach vier Semestern brach er das Studium ab und trat 1973 den »Kindern Gottes« bei. Er hatte mit sieben verschiedenen Frauen fünfzehn Kinder, darunter Celeste, Kristina und Juliana, und gehört der Sekte immer noch an.
Rebecca Jones wurde im März 1957 als Tochter einer gutbürgerlichen Familie im Süden von England geboren. Ihr Vater Barry Home war Bauingenieur, ihre Mutter Margaret eine überzeugte Hausfrau. Obwohl die Eltern nicht religiös waren, schickten sie Rebecca mit fünf Jahren in die örtliche Sonntagsschule. Mit zwölf wurde sie Lehrerin an der Sonntagsschule und zwei Jahre später getauft. Noch in der Schule kam Rebecca mit den »Kindern Gottes« in Berührung, trat ihnen mit sechzehn bei, lernte unseren Vater kennen und heiratete ihn 1974. Sie bekamen drei gemeinsame Kinder, darunter Celeste und Kristina, bevor sie sich trennten. 1987 verließ Rebecca die Sekte.
Serena Buhring wurde im Oktober 1956 in der Nähe von Hannover in Deutschland geboren. Ihr Vater war Architekt und ihre Mutter eine begabte Musikerin, die Klavier, Geige und Cello spielte. Serena reiste als Hippie durch Indien, wo sie sich den »Kindern Gottes« anschloss. Unseren Vater lernte sie nach dessen Trennung von Rebecca kennen und hatte mit ihm drei Kinder, unter ihnen Juliana. Serena ist noch immer Mitglied der Sekte.
1 Daddys kleines Mädchen
ICH SPIELTE ALLEIN im Vorgarten eines weißen Hauses nahe dem kleinen Fischerdorf Rafina in Griechenland. In unserem Garten standen drei Olivenbäume, ein Aprikosen-, ein Feigen- und ein Pfirsichbaum, alle schwer beladen mit Früchten. Ich saß im Schatten einer großen, alten Pinie. Von der Sonne war die Erde knochentrocken und ausgedörrt, und ich vergnügte mich damit, mit einem Stein Bilder in den Sand zu zeichnen. Ich war fünf Jahre alt.
An meine Mutter konnte ich mich kaum erinnern, nur daran, dass sie Gitarre spielte und »Jesus liebt mich, das weiß ich, weil die Bibel es mir sagt« sang, während ich mit meiner jüngeren Schwester Kristina auf einem Etagenbett spielte - doch das war in einem anderen Land. Ich hing sehr an Mum und sprach jeden Tag von ihr, obwohl ich sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ich vermisste sie, meine Schwester und meinen kleinen Bruder David. Verzweifelt klammerte ich mich an die Hoffnung, dass Mum zurückkommen würde, und fragte meinen Dad immer wieder: »Warum hat sie uns verlassen?«
»Mum hat beschlossen, mit einem anderen Mann zusammenzuleben, aber ich konnte mich nicht von dir trennen. Du warst die Älteste, und wir standen uns doch immer besonders nah, oder?« Ich nickte, denn ich liebte Dad genauso wie meine Mum, aber ich fand es ungerecht, mich zwischen ihnen entscheiden zu müssen.
»Und was ist mit Kristina und David?«, wollte ich wissen.
Dad nahm mich in die Arme. »Sie waren zu klein«, erklärte er mir. »Sie brauchten noch die enge Nähe ihrer Mutter.«
Dad verbrachte täglich viele Stunden in dem provisorischen Aufnahmestudio im Keller unseres Hauses und produzierte und arbeitete als Discjockey für die Radiosendung Music with Meaning. Deshalb hatte ich ein Kindermädchen, eine junge Deutsche, die Serena hieß. Ich konnte sie nicht leiden und machte ihr das Leben so schwer wie möglich, indem ich mich allem verweigerte, was sie vorschlug. Serena hatte lange, glatte dunkle Haare und braune Augen, die durch eine Brille mit dicken Gläsern vergrößert wurden. Die arme Serena. Obwohl sie ihr Möglichstes tat, mich für sich zu gewinnen, war ich fest entschlossen, sie nicht zu mögen. Ich fand, dass sich ihr deutscher Akzent komisch anhörte, und sie versuchte ständig, mich mit Weizenkeimen und ungesüßtem Joghurt zu füttern und mir löffelweise Lebertran einzuflößen, dessen Geruch und Geschmack ich nicht ausstehen konnte.
Wir gehörten den »Kindern Gottes« an, einer streng geheimen Glaubensgemeinschaft mit Verbindungen, die sich über die ganze Welt erstreckten. Der Anführer und Prophet hieß David Berg. Wir kannten ihn unter dem Namen »Moses David«, mein Dad nannte ihn »Mo«, und ich nannte ihn »Großvater«. Er schrieb uns vor, was wir sagten, taten und dachten, sogar unsere Träume. Alles in unserem Leben, selbst die belanglosesten Details wie unser Essen, wurde von Mo diktiert. Er hatte erklärt, dass wir uns gesund ernähren und auf weißen Zucker unbedingt verzichten sollten, und Serena richtete sich begeistert nach seinen Vorschriften. »Davon bekommst du starke Knochen und Zähne«, sagte sie zu mir, aber damit schmeckte es auch nicht besser. Sie war nicht grausam, aber streng, und ich betrachtete sie als unwillkommenen Eindringling in mein Leben. Als sie zu uns kam, hatte Dad mir gesagt, dass sie drei Monate bleiben würde, und ich zählte die Tage bis zu ihrer Abreise.
An dem Tag, als ich unter der Pinie spielte, hob ich plötzlich den Kopf und sah, wie Dad und Serena auf die Veranda traten. Sie standen sehr nah beieinander, und ich spürte instinktiv, dass irgendetwas zwischen ihnen knisterte.
»Schätzchen, ich muss dir etwas Tolles sagen.« Während mein großer, gut aussehender Dad, den ich mehr liebte als alles auf der Welt, das sagte, drehte er sich um und zog Serena in seine Arme.
Als ich auf die beiden zuging, bemerkte ich das Strahlen in ihren Gesichtern. Oh nein, stöhnte ich unhörbar. Das sieht gar nicht gut aus.
»Wir haben beschlossen, uns zusammenzutun«, verkündete mein Dad mit einer Stimme, die für meinen Geschmack viel zu glücklich klang. »Serena wird deine neue Mutter.«
»Nein!«, schrie ich. »Ich hasse sie!« Ich konnte es nicht einmal über mich bringen, ihren Namen auszusprechen. »Ich will meine Mutter wiederhaben. Warum kann sie nicht zu uns zurückkommen?« Ich brach in Schluchzen aus, drehte mich um, rannte in eine Ecke des Gartens und drehte ihnen den Rücken zu.
Besorgt kam Dad mir nach. Er legte seine Hand auf meine Schulter. »Süße, du weißt, dass deine Mutter für immer fort ist. Sie kommt nicht zurück.«
»Aber ich will mit meiner Schwester und meinem Bruder zusammen sein. Es ist einfach gemein.« Schmollend schob ich die Unterlippe vor.
»Aber du hast hier so viele Schwestern und Brüder, mit denen du spielen kannst«, wandte Dad ein.
»Das ist nicht dasselbe«, protestierte ich.
»Wir sind alle eine Familie. - Denk an deine Unterlippe. Du wirst noch darüber stolpern, wenn du nicht aufpasst.«
Ich lächelte dünn, wenn auch nur, um Dad einen Gefallen zu tun.
Mo sagte, dass wir unsere natürlichen Familien nicht überbewerten sollten. Unsere Brüder und Schwestern bei den »Kindern Gottes« seien unsere wahre Familie. Aber ich wollte auf meine Mutter, Kristina oder den kleinen David nicht verzichten, auch wenn ich allmählich vergaß, wie sie aussahen.
Auf dem einzigen Foto, das Dad von Mum hatte, stand sie hinter einem Zwillingsbuggy, in dem ich neben meiner kleinen Schwester saß. Ich betrachtete das Bild intensiv. Mum hatte Haare, die ihr bis zur Taille reichten, blaue Augen und ein strahlendes Lächeln.
»Sie ist sehr schön«, sagte ich. »Und das da ist meine Schwester?« Wegen der schlechten Qualität des Fotos konnte ich ihr Gesicht nicht genau erkennen. Kristina war noch klein, ungefähr ein Jahr alt, mit zwei Zöpfchen. Ich war achtzehn Monate älter und sah ihr sehr ähnlich. Jede von uns hatte ein hübsches Baumwollkleidchen an und einen Sonnenhut auf dem Kopf. So angestrengt ich auch auf das Foto starrte, ich konnte nicht die leiseste Erinnerung an sie heraufbeschwören, und ich fühlte eine bohrende Leere in meinem Inneren.
Dad erzählte mir, wie er und Mum uns immer mitnahmen, wenn sie auf der Straße Menschen bekehren wollten. »Ich schob den Kinderwagen Leuten in den Weg, drückte ihnen eine Broschüre in die Hand und erzählte von Jesus und wie sie gerettet werden konnten. Inder lieben nun einmal Kinder, und ihr habt so niedlich ausgesehen. Die Leute haben euch in die Backen gezwickt und mit euch geplaudert. Sie fanden, dass sie nicht unhöflich sein konnten, wenn ihr wie zwei kleine Engel zu ihnen aufschaut.«
»Hast du ein Bild von David?«, wollte ich wissen.
»Das wurde aufgenommen, als er gerade drei Monate alt war«, antwortete Dad und zeigte mir ein kleines Schwarz-Weiß-Foto.
»Oh, ist der süß«, rief ich aus. »Sieh dir doch nur seine Pausbäckchen an!« David lag auf dem Bauch und stützte breit lächelnd den Kopf auf seine dicken Ärmchen.
Meine eigenen Erinnerungen waren nur spärlich, wie eine Reihe flüchtiger Schnappschüsse. Vieles von dem, was ich wusste, hatte mir Dad in unseren seltenen gemeinsamen Momenten erzählt. Dabei kletterte ich auf seinen Schoß, und er gab ausgewählte Bruchstücke preis, die sich nach und nach zu einem größeren Bild zusammenfügten. Aber es war immer nur das halbe Bild; über Mum erzählte er mir kaum etwas.
Vielleicht um sie für mich lebendig zu erhalten, bat ich Dad oft, mir zu erzählen, wie er und Mum sich kennengelernt, wie sie geheiratet hatten und wie ich geboren wurde. Ohne großen Erfolg; erst als ich erwachsen war, erfuhr ich endlich die ganze Geschichte.
»Deine Mum war jung und sehr schön, gerade siebzehn Jahre alt, als wir heirateten. Ich war zweiundzwanzig.«
Ich war immer voller Fragen. »Und dein Dad?«
Dad erzählte mir, dass sein Vater Jurist und Militärrichter bei der britischen Armee gewesen war. An seine Mutter konnte er sich kaum erinnern, da er sie mit vier Jahren verloren hatte und sein Vater bald nach ihrem Tod eine neue Ehe eingegangen war. Er und sein Halbbruder wurden in ein Internat in Cheltenham geschickt.
»Im Internat war ich ziemlich rebellisch. Ich wurde sogar von der Schule verwiesen, weil ich eine Protestaktion initiiert hatte, bei der sich einige von uns in der Haupthalle verbarrikadierten.«
»Warum? Wogegen hast du denn protestiert?«, fragte ich.
»Die Männer von der Schulaufsicht haben uns bei fast jeder Gelegenheit verprügelt, ganz gleich, was wir getan hatten. Nachts kamen sie in die Schlafräume und leuchteten uns mit der Taschenlampe ins Gesicht, um uns zu wecken. Diese ungerechte Behandlung hatten wir satt und beschlossen, uns dagegen zu wehren.«
Nach dem Rauswurf schrieb er sich an einer Schauspielschule in London ein und reiste in den Ferien durch Europa. »Ich war auf der Suche nach dem Sinn des Lebens«, fügte er erklärend hinzu.
Ernst und gespannt lauschte ich seinen Schilderungen, wie er auf der Suche nach dem Sinn des Lebens viele spiritistische Bücher gelesen und sich mit Okkultismus und Meditation befasst hatte.
Ich erschauerte. Von Mo war uns unablässig eingehämmert worden, dass Drogen und Alphabettafeln für spiritistische Sitzungen gefährlich waren, weil sie dem Satan die Tür zu unserem Geist öffnen konnten.
Dad schloss seine Schilderung von diesen Jahren mit dem Geständnis: »Am Ende war ich tief deprimiert und desillusioniert vom Leben.«
»War der Besuch der Schauspielschule denn nicht dein großer Wunsch?«
»Sie konnte mir nichts geben. Ohne den Herrn ist alles bedeutungslos. Nichts als Schall und Rauch, mein Schatz.«
An diesem Tiefpunkt bekam er eines Tages Besuch von einem Freund, der gerade aus Istanbul zurückgekommen war. Der junge Mann hatte vorgehabt, zu Fuß nach Indien zu pilgern, war aber unterwegs von den »Kindern Gottes« bekehrt worden und nun nach England zurückgekehrt, um Gottes Wort zu verbreiten.
Dad war verblüfft über die einschneidende Veränderung im Wesen seines früher leicht wirren und von Drogen benebelten Freundes. Jetzt schien er selbstsicher zu sein, zielstrebig und voller Energie. »Das hätte er alles den ›Kindern Gottes‹ zu verdanken, sagte er. Das hat mich neugierig gemacht.«
In der Hippie-Ära mit ihrem Wunsch nach Liebe und Frieden wirkte die von den »Kindern Gottes« verbreitete Botschaft faszinierend: ein neues Leben in Christus zu finden, auszusteigen, in Gemeinschaft zu leben, dem Konsum zu entsagen und alle Besitztümer zu teilen, genau wie die ersten Jünger. Doch hier ging es nicht bloß um eine weitere fanatische amerikanische Sekte - es war Gottes Endzeitarmee, die Elite, die eine verlorene und dringend der Rettung bedürftige Welt durch ihre dunkelste Stunde geleiten wollte.
Die »Kinder Gottes« glaubten, dass mit dem nahenden Ende der Welt alles andere Streben im Leben sinnlos war. Das überzeugte Dad. Er verschenkte fast alles, was er besaß, und tauchte mit einem kleinen Koffer auf der Schwelle einer Kommune in Hollingbourne in Kent auf, bereit für sein künftiges Leben als Jünger.
In der Erinnerung begannen seine Augen zu strahlen. »Es war unglaublich. Man lebte unter einem Dach und teilte sämtliche Dinge wie die ersten Christen in der Apostelgeschichte. Es war die Familie, nach der ich immer gesucht hatte.«
Von den Mitgliedern wurde verlangt, dass sie sich für ihr neues Leben einen biblischen Namen wählten. Dad entschied sich für Simon Peter. Seine Aufgabe bestand nun darin, auf die Straßen hinauszugehen und Zeugnis abzulegen. Das war die Bezeichnung für ihre Bekehrungsversuche. Gegen eine Spende Broschüren zu verteilen, wurde »Litnessing« genannt.
Um Einfälle nie verlegen, dachte sich Dad eine neue Masche für das Spendensammeln aus. Lachend erzählte er mir davon. »Ich verkleidete mich als Clown mit einer dicken roten Knollennase und einem witzigen Hut mit einem wippenden kleinen Plastikvogel.«
Er zog eine Grimasse, hob die Hand und wedelte mit den Fingern über dem Kopf. »Ich wette, du hast wahnsinnig komisch ausgesehen«, kicherte ich.
»Bestimmt, aber vergiss nicht, ich war ein Clown. Clowns müssen komisch aussehen. Ich sprang den Passanten in den Weg und brachte sie zum Lachen, bevor ich ihnen ein Traktat überreichte und um eine Spende bat. Ich wurde ein Top-Spendensammler. Jede Woche brachte ich der ›Familie‹ Hunderte von Pfund ein.«
Lachend versuchte ich mir vorzustellen, wie sich Dad in London zum Clown machte, in einer Stadt, an die ich mich nicht erinnern konnte, obwohl ich dort geboren war. Da Betteln und Hausieren gesetzlich verboten war, bekam Dad oft Probleme mit der Polizei. Natürlich konnte er in dem, was er tat, nichts Unrechtes erkennen. Er befolgte nur Gottes Gebot.
Dad berichtete mir, dass er meine Mum in Hollingbourne kennengelernt hatte, da sie am selben Tag wie er der Kommune beigetreten war. In ihrem jugendlichen Idealismus hielt sie die »Kinder Gottes« für eine ehrbare Missionierungsgesellschaft. Sie war erst sechzehn und in der Schule von der Sekte angeworben worden. Bevor meine Eltern legal heirateten, wurden sie von den »Kindern Gottes« »vermählt«. Nach drei Tagen Flitterwochen im Lake District zogen sie in ein großes Haus in Hampstead, das die Sekte übernommen hatte.
Dad nutzte seine Schauspielausbildung bei seinen Auftritten für die »Kinder Gottes« und zitierte ganze Passagen aus den Mo-Briefen, den Botschaften des Propheten, die als Leitfaden für uns Jünger regelmäßig an alle Kommunen verschickt wurden. Mein Vater liebte seine Auftritte, und seine Begabung machte ihn bald zu einer Art Star innerhalb der Gruppe. Angespornt von seinem Erfolg, nahm er etliche der Mo-Briefe auf Kassette auf und schickte sie unter dem Titel Wild Wind an andere Kommunen, damit die Jünger sie sich anhörten. Während Dad vollauf beschäftigt und zufrieden war, ging es meiner mittlerweile schwangeren Mutter ziemlich schlecht, und es muss eine große Erleichterung für sie gewesen sein, als ich nach drei Tage andauernden, heftigen Wehen am 29. Januar 1975 in einem kleinen Mansardenzimmer des Hauses in Hampstead zur Welt kam.
Ihre Aufgaben als junge Eltern hielten Mum und Dad nicht davon ab, die Welt zu retten. Missionierungsteams wurden ausgeschickt, und in einer »Prophezeiung« erhielten meine Eltern den Auftrag, nach Indien zu gehen. Jünger durften keinen eigenen Willen haben, sondern hatten dem Willen Gottes zu folgen, indem sie beteten und dann von Ihm mit Prophezeiungen belohnt wurden. Diese Prophezeiungen versahen alle Entscheidungen, die getroffen werden mussten, mit dem Stempel des Göttlichen.
In Wahrheit waren von den britischen Behörden Untersuchungen über die Aktivitäten der Sekte eingeleitet worden, vor allem über ihr aggressives Spendensammeln und Missionieren. Daher hatte Mo den Jüngern befohlen, Großbritannien zu verlassen und sich nach besseren Möglichkeiten umzusehen, beispielsweise in Indien, Südamerika und dem Fernen Osten - Gegenden, in denen die Behörden weit weniger daran interessiert sein würden, was eine Gruppe westlicher Aussteiger trieb.
Nach der Ankunft in Indien zog unsere kleine Familie in eine Wohnung in Bombay, die über drei Zimmer verfügte, die wir mit zwei weiteren Paaren und zwei alleinstehenden Brüdern teilten. Nach ein paar Wochen fanden meine Eltern eine Zweizimmer-Wohnung in Khar, einem anderen Bezirk von Bombay. Da ständig andere Jünger bei uns übernachteten, herrschte meistens drangvolle Enge. Bis auf zwei Betten, einen Tisch und Stühle im Wohnzimmer gab es kaum Möbel.
Mum war wieder hochschwanger, doch bis zur Geburt schliefen sie und Dad auf Laken, die sie auf dem Fußboden ausbreiteten, weil die Matratzen voller Wanzen waren. Häufig hielten sich bis zu zwanzig Personen in der Wohnung auf, und Mum gab sich große Mühe, damit der Hausbesitzer nichts davon merkte. Meine Schwester kam im Juni 1976 in einem nahe gelegenen Privatkrankenhaus zur Welt und erhielt den Namen von Dads Mutter: Kristina. Obwohl ich erst achtzehn Monate alt war, liebte ich sie vom ersten Moment an. Ich legte mich neben sie auf Mums Laken und bedeckte sie zärtlich mit schmatzenden Küssen. Ich wurde die in ihre kleine Schwester vernarrte »Ältere« und sah Mum gern dabei zu, wie sie Kristina wickelte und stillte. Für mich war sie Nina.
Für Dad stellten viele Dinge in Indien einen gewaltigen Kulturschock dar. Obwohl er als Hippie auf Zypern und in Israel gewesen und quer durch Europa gereist war, hasste er die Hitze, den Schmutz und die Krankheiten, denen er in Bombay ausgesetzt war. Er zog sich eine böse Hepatitis zu und verbrachte nach Kristinas Geburt einige Wochen im Krankenhaus.
»Das schlechte Wasser und das Essen machten mich krank. Ich bekam eine schwere Diarrhö, durch die ich bis auf die Knochen abgemagert bin. Und ich fand es beschämend, als Ausländer auf den Straßen Broschüren anbieten zu müssen wie ein Bettler, wo es bereits unendlich viele andere Bettler gab und Kinder, die kein Dach über dem Kopf hatten und nichts zu essen«, erzählte er mir.
Genug Essen zu beschaffen erwies sich für meine Eltern und die anderen Sektenmitglieder als großes Problem. Zunächst hatten sie kaum Geld, weil sie sich mit dem Verkauf der Broschüren über Wasser halten mussten. Manchmal konnten sie sich tagelang nichts anderes leisten als Reis und Linsen, oder sie mussten an Marktständen um übrig gebliebenes Obst und Gemüse bitten. Natürlich war das für die »Kinder Gottes« kein Betteln. Als Auserwählte Gottes hatten sie ein Anrecht darauf, den Reichtum der Erde gratis zu bekommen. Aber arme Bauern um Almosen zu bitten, empfand Dad als entwürdigend. Dennoch hielt er seine Abneigung gegen das Spendensammeln unter den Ärmsten der Armen für eine Eingebung des Teufels, der ihn dazu verleiten wollte, seiner Berufung zu entsagen.
Übersetzung: Hedda Pänke
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
DIE SEKTE »KINDER GOTTES« entstand Ende der Sechzigerjahre unter den Hippies und Aussteigern von Huntington Beach im Süden Kaliforniens. Ihr Gründer David Berg kam 1919 in Oakland in Kalifornien zur Welt. Seine Mutter Virginia Lee Brandt Berg war eine gefeierte Predigerin der Christian Missionary Alliance. 1944 heiratete Berg Jane Miller, eine Jugendarbeiterin bei der Baptistischen Kirche. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes wurde Berg Pastor an einer Christian Missionary Alliance Church in Arizona, wurde jedoch nach nur zwei Jahren seines Amtes enthoben, angeblich wegen eines Sexskandals. Diese Maßnahme begründete seine lebenslange Verbitterung über kirchliche Institutionen.
Im Dezember 1967 zog Berg mit seiner Familie - seiner Frau Jane, später »Mutter Eva« genannt, und ihren vier Kindern Deborah, Faithy, Aaron und Hosea - zu seiner achtzigjährigen Mutter nach Huntington Beach. Sie hatte dort einen Coffeeshop namens Light Club eröffnet und bot den Hippies, Surfern und Aussteigern, die sich am Pier versammelten, neben Sandwiches auch erbauliche Predigten an. Aber als das brave Saubermann-Image des Light Club bei den langhaarigen Hippies auf wenig Gegenliebe stieß, erkannte Mrs Berg eine Chance für Sohn und Enkelkinder, die jungen Leute mit dem anzusprechen, was sie wirklich bewegte: die Musik und das leidenschaftliche Aufbegehren ihrer Zeit. Innerhalb kurzer Zeit zogen David Berg und seine Familie die Jugendlichen mit Parolen und Botschaften gegen das System und den Vietnamkrieg in Scharen an.
Bei Fahrten quer durch die Vereinigten Staaten gelang es der Gruppe, immer mehr Anhänger zu gewinnen, und sie gründete bald an vielen Orten kleine Gemeinden. In den Medien fanden ihre Aktivitäten große Beachtung, und nachdem sie in einigen Artikeln »Kinder Gottes« genannt worden war, übernahm die Gruppe diesen Namen.
Nach etlichen Affären mit einigen seiner Anhängerinnen fand Berg in seiner jungen und ambitionierten Sekretärin Karen Zerby alias »Maria« eine glühende und bedingungslose Gefährtin. Nachdem er seine von ihm getrennt lebende Frau Jane und seine verstorbene Mutter öffentlich als »Alte Kirche« gebrandmarkt hatte, bezeichnete er Maria und die »Kinder Gottes« als die »Neue Kirche« und sich selbst als den letzten Propheten der Endzeit. Er legte sich das Pseudonym »Moses David« zu und setzte sich so mit König David und dem Propheten Moses gleich, der die Kinder Israels aus der ägyptischen Gefangenschaft (dem »System«) in das Gelobte Land geführt hatte. Berg beschloss die Gründung einer Dynastie. Seine zahlreichen Residenzen erhielten den Namen »The King's House«, und er krönte sich und Maria zu König und Königin.
Viele Jahre lang leitete ein Gremium die Sekte, vornehmlich Angehörige von Berg, die allgemein »Königliche Familie« genannt wurden. Von den Verwandten erwartete er, dass sie ihm und den anderen Sektenführern unbedingten Gehorsam leisteten. Der einzige Kontakt zwischen Berg und seinen Sektenmitgliedern erfolgte durch seine zahlreichen Schriften mit dem Titel Mo Letters, Mo-Briefe, in denen er seine Glaubensgrundsätze, Überzeugungen und Anordnungen für die richtige Gemeindeführung ebenso kundtat wie seine Prophezeiungen und Offenbarungen, die ihm angeblich direkt von Gott zuteilwurden.
Anfang der Siebzigerjahre gerieten die »Kinder Gottes« ins Visier der Medien und der Behörden, da Eltern bei ihren Kindern bedenkliche Persönlichkeitsveränderungen festgestellt hatten, nachdem diese sich der Sekte angeschlossen hatten. Noch beängstigender war die Tatsache, dass jeder Kontakt zu den Familienangehörigen abgebrochen wurde und manche Kinder sogar bei Nacht und Nebel verschwanden und jahrelang nicht wieder auftauchten.
Um der negativen Publicity und möglichen Gerichtsverfahren zu entgehen, fl oh Berg nach Europa und empfahl seinen Anhängern, sich ebenfalls abzusetzen. In einem Massenexodus verließ die Gruppe die Vereinigten Staaten, um in anderen Ländern zu missionieren und neue Sektenmitglieder zu rekrutieren, zunächst in Europa. 1972 kamen Berg und Maria nach England.
Weil er immer mehr um seine persönliche Sicherheit besorgt war, zog er sich allmählich von seinen Anhängern zurück und hielt seine Aufenthaltsorte geheim. In dieser Zeit der Abgeschiedenheit experimentierten Berg und Maria mit einer neuen Methode, um mit Hilfe des Sex Konvertiten und Anhänger zu gewinnen, dem berüchtigten »Flirty Fishing«. Indem er in seinen Briefen ihre Erfahrungen dokumentierte, machte Berg die Sektenmitglieder nach und nach mit seinen Vorstellungen bekannt. Darüber hinaus veröffentlichte er eine neue Offenbarung: das »Gebot der Liebe«. Berg erklärte, dass die Zehn Gebote überholt seien. Alles, was aus Liebe geschah (auch Sex), war in Gottes Augen heilig. Ehebruch, Inzest, außerehelicher Sex und Geschlechtsverkehr mit Kindern waren keine Sünde, wenn sie »aus Liebe« geschahen. Er forderte die Befolgung seines Gebots der Liebe und des Flirty Fishing, und von den Anhängern wurde verlangt, nach diesen Vorstellungen zu leben oder sich von ihm zu trennen. Daraufhin verließen zwei Drittel der Mitglieder die Sekte und markierten damit das Ende der »Kinder Gottes« und den Beginn der »Family of Love«, der »Familie der Liebe«.
1979 enthüllte Berg in einem Brief mit dem Titel »Sex in meiner Kindheit«, dass ein Kindermädchen ihn als Kleinkind mit oralen Praktiken bekannt gemacht habe, was ihm höchst angenehm gewesen sei. Er betonte, so etwas sei völlig normal, ganz natürlich und daran sei absolut nichts Verwerfliches. In den folgenden Jahren wurden in weiteren Mo-Briefen und anderen Publikationen der »Familie der Liebe« die Forderung erhoben, dass Kindern sexuelle Kontakte mit anderen Kindern und Erwachsenen erlaubt sein sollten - und viele Erwachsene in der Familie hörten diese Botschaft mit Freuden und setzten sie in die Tat um.
Christopher Jones kam im Dezember 1951 in der Nähe von Hameln in Deutschland zur Welt, als Sohn von Glen Jones, einem Offizier der britischen Armee, und Krystina, einer jungen Polin, die er bei einem Einsatz in Palästina kennengelernt hatte. Nach dem Besuch eines Internats in Cheltenham ging er an das Rose Burford College, um Schauspieler zu werden. Nach vier Semestern brach er das Studium ab und trat 1973 den »Kindern Gottes« bei. Er hatte mit sieben verschiedenen Frauen fünfzehn Kinder, darunter Celeste, Kristina und Juliana, und gehört der Sekte immer noch an.
Rebecca Jones wurde im März 1957 als Tochter einer gutbürgerlichen Familie im Süden von England geboren. Ihr Vater Barry Home war Bauingenieur, ihre Mutter Margaret eine überzeugte Hausfrau. Obwohl die Eltern nicht religiös waren, schickten sie Rebecca mit fünf Jahren in die örtliche Sonntagsschule. Mit zwölf wurde sie Lehrerin an der Sonntagsschule und zwei Jahre später getauft. Noch in der Schule kam Rebecca mit den »Kindern Gottes« in Berührung, trat ihnen mit sechzehn bei, lernte unseren Vater kennen und heiratete ihn 1974. Sie bekamen drei gemeinsame Kinder, darunter Celeste und Kristina, bevor sie sich trennten. 1987 verließ Rebecca die Sekte.
Serena Buhring wurde im Oktober 1956 in der Nähe von Hannover in Deutschland geboren. Ihr Vater war Architekt und ihre Mutter eine begabte Musikerin, die Klavier, Geige und Cello spielte. Serena reiste als Hippie durch Indien, wo sie sich den »Kindern Gottes« anschloss. Unseren Vater lernte sie nach dessen Trennung von Rebecca kennen und hatte mit ihm drei Kinder, unter ihnen Juliana. Serena ist noch immer Mitglied der Sekte.
1 Daddys kleines Mädchen
ICH SPIELTE ALLEIN im Vorgarten eines weißen Hauses nahe dem kleinen Fischerdorf Rafina in Griechenland. In unserem Garten standen drei Olivenbäume, ein Aprikosen-, ein Feigen- und ein Pfirsichbaum, alle schwer beladen mit Früchten. Ich saß im Schatten einer großen, alten Pinie. Von der Sonne war die Erde knochentrocken und ausgedörrt, und ich vergnügte mich damit, mit einem Stein Bilder in den Sand zu zeichnen. Ich war fünf Jahre alt.
An meine Mutter konnte ich mich kaum erinnern, nur daran, dass sie Gitarre spielte und »Jesus liebt mich, das weiß ich, weil die Bibel es mir sagt« sang, während ich mit meiner jüngeren Schwester Kristina auf einem Etagenbett spielte - doch das war in einem anderen Land. Ich hing sehr an Mum und sprach jeden Tag von ihr, obwohl ich sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ich vermisste sie, meine Schwester und meinen kleinen Bruder David. Verzweifelt klammerte ich mich an die Hoffnung, dass Mum zurückkommen würde, und fragte meinen Dad immer wieder: »Warum hat sie uns verlassen?«
»Mum hat beschlossen, mit einem anderen Mann zusammenzuleben, aber ich konnte mich nicht von dir trennen. Du warst die Älteste, und wir standen uns doch immer besonders nah, oder?« Ich nickte, denn ich liebte Dad genauso wie meine Mum, aber ich fand es ungerecht, mich zwischen ihnen entscheiden zu müssen.
»Und was ist mit Kristina und David?«, wollte ich wissen.
Dad nahm mich in die Arme. »Sie waren zu klein«, erklärte er mir. »Sie brauchten noch die enge Nähe ihrer Mutter.«
Dad verbrachte täglich viele Stunden in dem provisorischen Aufnahmestudio im Keller unseres Hauses und produzierte und arbeitete als Discjockey für die Radiosendung Music with Meaning. Deshalb hatte ich ein Kindermädchen, eine junge Deutsche, die Serena hieß. Ich konnte sie nicht leiden und machte ihr das Leben so schwer wie möglich, indem ich mich allem verweigerte, was sie vorschlug. Serena hatte lange, glatte dunkle Haare und braune Augen, die durch eine Brille mit dicken Gläsern vergrößert wurden. Die arme Serena. Obwohl sie ihr Möglichstes tat, mich für sich zu gewinnen, war ich fest entschlossen, sie nicht zu mögen. Ich fand, dass sich ihr deutscher Akzent komisch anhörte, und sie versuchte ständig, mich mit Weizenkeimen und ungesüßtem Joghurt zu füttern und mir löffelweise Lebertran einzuflößen, dessen Geruch und Geschmack ich nicht ausstehen konnte.
Wir gehörten den »Kindern Gottes« an, einer streng geheimen Glaubensgemeinschaft mit Verbindungen, die sich über die ganze Welt erstreckten. Der Anführer und Prophet hieß David Berg. Wir kannten ihn unter dem Namen »Moses David«, mein Dad nannte ihn »Mo«, und ich nannte ihn »Großvater«. Er schrieb uns vor, was wir sagten, taten und dachten, sogar unsere Träume. Alles in unserem Leben, selbst die belanglosesten Details wie unser Essen, wurde von Mo diktiert. Er hatte erklärt, dass wir uns gesund ernähren und auf weißen Zucker unbedingt verzichten sollten, und Serena richtete sich begeistert nach seinen Vorschriften. »Davon bekommst du starke Knochen und Zähne«, sagte sie zu mir, aber damit schmeckte es auch nicht besser. Sie war nicht grausam, aber streng, und ich betrachtete sie als unwillkommenen Eindringling in mein Leben. Als sie zu uns kam, hatte Dad mir gesagt, dass sie drei Monate bleiben würde, und ich zählte die Tage bis zu ihrer Abreise.
An dem Tag, als ich unter der Pinie spielte, hob ich plötzlich den Kopf und sah, wie Dad und Serena auf die Veranda traten. Sie standen sehr nah beieinander, und ich spürte instinktiv, dass irgendetwas zwischen ihnen knisterte.
»Schätzchen, ich muss dir etwas Tolles sagen.« Während mein großer, gut aussehender Dad, den ich mehr liebte als alles auf der Welt, das sagte, drehte er sich um und zog Serena in seine Arme.
Als ich auf die beiden zuging, bemerkte ich das Strahlen in ihren Gesichtern. Oh nein, stöhnte ich unhörbar. Das sieht gar nicht gut aus.
»Wir haben beschlossen, uns zusammenzutun«, verkündete mein Dad mit einer Stimme, die für meinen Geschmack viel zu glücklich klang. »Serena wird deine neue Mutter.«
»Nein!«, schrie ich. »Ich hasse sie!« Ich konnte es nicht einmal über mich bringen, ihren Namen auszusprechen. »Ich will meine Mutter wiederhaben. Warum kann sie nicht zu uns zurückkommen?« Ich brach in Schluchzen aus, drehte mich um, rannte in eine Ecke des Gartens und drehte ihnen den Rücken zu.
Besorgt kam Dad mir nach. Er legte seine Hand auf meine Schulter. »Süße, du weißt, dass deine Mutter für immer fort ist. Sie kommt nicht zurück.«
»Aber ich will mit meiner Schwester und meinem Bruder zusammen sein. Es ist einfach gemein.« Schmollend schob ich die Unterlippe vor.
»Aber du hast hier so viele Schwestern und Brüder, mit denen du spielen kannst«, wandte Dad ein.
»Das ist nicht dasselbe«, protestierte ich.
»Wir sind alle eine Familie. - Denk an deine Unterlippe. Du wirst noch darüber stolpern, wenn du nicht aufpasst.«
Ich lächelte dünn, wenn auch nur, um Dad einen Gefallen zu tun.
Mo sagte, dass wir unsere natürlichen Familien nicht überbewerten sollten. Unsere Brüder und Schwestern bei den »Kindern Gottes« seien unsere wahre Familie. Aber ich wollte auf meine Mutter, Kristina oder den kleinen David nicht verzichten, auch wenn ich allmählich vergaß, wie sie aussahen.
Auf dem einzigen Foto, das Dad von Mum hatte, stand sie hinter einem Zwillingsbuggy, in dem ich neben meiner kleinen Schwester saß. Ich betrachtete das Bild intensiv. Mum hatte Haare, die ihr bis zur Taille reichten, blaue Augen und ein strahlendes Lächeln.
»Sie ist sehr schön«, sagte ich. »Und das da ist meine Schwester?« Wegen der schlechten Qualität des Fotos konnte ich ihr Gesicht nicht genau erkennen. Kristina war noch klein, ungefähr ein Jahr alt, mit zwei Zöpfchen. Ich war achtzehn Monate älter und sah ihr sehr ähnlich. Jede von uns hatte ein hübsches Baumwollkleidchen an und einen Sonnenhut auf dem Kopf. So angestrengt ich auch auf das Foto starrte, ich konnte nicht die leiseste Erinnerung an sie heraufbeschwören, und ich fühlte eine bohrende Leere in meinem Inneren.
Dad erzählte mir, wie er und Mum uns immer mitnahmen, wenn sie auf der Straße Menschen bekehren wollten. »Ich schob den Kinderwagen Leuten in den Weg, drückte ihnen eine Broschüre in die Hand und erzählte von Jesus und wie sie gerettet werden konnten. Inder lieben nun einmal Kinder, und ihr habt so niedlich ausgesehen. Die Leute haben euch in die Backen gezwickt und mit euch geplaudert. Sie fanden, dass sie nicht unhöflich sein konnten, wenn ihr wie zwei kleine Engel zu ihnen aufschaut.«
»Hast du ein Bild von David?«, wollte ich wissen.
»Das wurde aufgenommen, als er gerade drei Monate alt war«, antwortete Dad und zeigte mir ein kleines Schwarz-Weiß-Foto.
»Oh, ist der süß«, rief ich aus. »Sieh dir doch nur seine Pausbäckchen an!« David lag auf dem Bauch und stützte breit lächelnd den Kopf auf seine dicken Ärmchen.
Meine eigenen Erinnerungen waren nur spärlich, wie eine Reihe flüchtiger Schnappschüsse. Vieles von dem, was ich wusste, hatte mir Dad in unseren seltenen gemeinsamen Momenten erzählt. Dabei kletterte ich auf seinen Schoß, und er gab ausgewählte Bruchstücke preis, die sich nach und nach zu einem größeren Bild zusammenfügten. Aber es war immer nur das halbe Bild; über Mum erzählte er mir kaum etwas.
Vielleicht um sie für mich lebendig zu erhalten, bat ich Dad oft, mir zu erzählen, wie er und Mum sich kennengelernt, wie sie geheiratet hatten und wie ich geboren wurde. Ohne großen Erfolg; erst als ich erwachsen war, erfuhr ich endlich die ganze Geschichte.
»Deine Mum war jung und sehr schön, gerade siebzehn Jahre alt, als wir heirateten. Ich war zweiundzwanzig.«
Ich war immer voller Fragen. »Und dein Dad?«
Dad erzählte mir, dass sein Vater Jurist und Militärrichter bei der britischen Armee gewesen war. An seine Mutter konnte er sich kaum erinnern, da er sie mit vier Jahren verloren hatte und sein Vater bald nach ihrem Tod eine neue Ehe eingegangen war. Er und sein Halbbruder wurden in ein Internat in Cheltenham geschickt.
»Im Internat war ich ziemlich rebellisch. Ich wurde sogar von der Schule verwiesen, weil ich eine Protestaktion initiiert hatte, bei der sich einige von uns in der Haupthalle verbarrikadierten.«
»Warum? Wogegen hast du denn protestiert?«, fragte ich.
»Die Männer von der Schulaufsicht haben uns bei fast jeder Gelegenheit verprügelt, ganz gleich, was wir getan hatten. Nachts kamen sie in die Schlafräume und leuchteten uns mit der Taschenlampe ins Gesicht, um uns zu wecken. Diese ungerechte Behandlung hatten wir satt und beschlossen, uns dagegen zu wehren.«
Nach dem Rauswurf schrieb er sich an einer Schauspielschule in London ein und reiste in den Ferien durch Europa. »Ich war auf der Suche nach dem Sinn des Lebens«, fügte er erklärend hinzu.
Ernst und gespannt lauschte ich seinen Schilderungen, wie er auf der Suche nach dem Sinn des Lebens viele spiritistische Bücher gelesen und sich mit Okkultismus und Meditation befasst hatte.
Ich erschauerte. Von Mo war uns unablässig eingehämmert worden, dass Drogen und Alphabettafeln für spiritistische Sitzungen gefährlich waren, weil sie dem Satan die Tür zu unserem Geist öffnen konnten.
Dad schloss seine Schilderung von diesen Jahren mit dem Geständnis: »Am Ende war ich tief deprimiert und desillusioniert vom Leben.«
»War der Besuch der Schauspielschule denn nicht dein großer Wunsch?«
»Sie konnte mir nichts geben. Ohne den Herrn ist alles bedeutungslos. Nichts als Schall und Rauch, mein Schatz.«
An diesem Tiefpunkt bekam er eines Tages Besuch von einem Freund, der gerade aus Istanbul zurückgekommen war. Der junge Mann hatte vorgehabt, zu Fuß nach Indien zu pilgern, war aber unterwegs von den »Kindern Gottes« bekehrt worden und nun nach England zurückgekehrt, um Gottes Wort zu verbreiten.
Dad war verblüfft über die einschneidende Veränderung im Wesen seines früher leicht wirren und von Drogen benebelten Freundes. Jetzt schien er selbstsicher zu sein, zielstrebig und voller Energie. »Das hätte er alles den ›Kindern Gottes‹ zu verdanken, sagte er. Das hat mich neugierig gemacht.«
In der Hippie-Ära mit ihrem Wunsch nach Liebe und Frieden wirkte die von den »Kindern Gottes« verbreitete Botschaft faszinierend: ein neues Leben in Christus zu finden, auszusteigen, in Gemeinschaft zu leben, dem Konsum zu entsagen und alle Besitztümer zu teilen, genau wie die ersten Jünger. Doch hier ging es nicht bloß um eine weitere fanatische amerikanische Sekte - es war Gottes Endzeitarmee, die Elite, die eine verlorene und dringend der Rettung bedürftige Welt durch ihre dunkelste Stunde geleiten wollte.
Die »Kinder Gottes« glaubten, dass mit dem nahenden Ende der Welt alles andere Streben im Leben sinnlos war. Das überzeugte Dad. Er verschenkte fast alles, was er besaß, und tauchte mit einem kleinen Koffer auf der Schwelle einer Kommune in Hollingbourne in Kent auf, bereit für sein künftiges Leben als Jünger.
In der Erinnerung begannen seine Augen zu strahlen. »Es war unglaublich. Man lebte unter einem Dach und teilte sämtliche Dinge wie die ersten Christen in der Apostelgeschichte. Es war die Familie, nach der ich immer gesucht hatte.«
Von den Mitgliedern wurde verlangt, dass sie sich für ihr neues Leben einen biblischen Namen wählten. Dad entschied sich für Simon Peter. Seine Aufgabe bestand nun darin, auf die Straßen hinauszugehen und Zeugnis abzulegen. Das war die Bezeichnung für ihre Bekehrungsversuche. Gegen eine Spende Broschüren zu verteilen, wurde »Litnessing« genannt.
Um Einfälle nie verlegen, dachte sich Dad eine neue Masche für das Spendensammeln aus. Lachend erzählte er mir davon. »Ich verkleidete mich als Clown mit einer dicken roten Knollennase und einem witzigen Hut mit einem wippenden kleinen Plastikvogel.«
Er zog eine Grimasse, hob die Hand und wedelte mit den Fingern über dem Kopf. »Ich wette, du hast wahnsinnig komisch ausgesehen«, kicherte ich.
»Bestimmt, aber vergiss nicht, ich war ein Clown. Clowns müssen komisch aussehen. Ich sprang den Passanten in den Weg und brachte sie zum Lachen, bevor ich ihnen ein Traktat überreichte und um eine Spende bat. Ich wurde ein Top-Spendensammler. Jede Woche brachte ich der ›Familie‹ Hunderte von Pfund ein.«
Lachend versuchte ich mir vorzustellen, wie sich Dad in London zum Clown machte, in einer Stadt, an die ich mich nicht erinnern konnte, obwohl ich dort geboren war. Da Betteln und Hausieren gesetzlich verboten war, bekam Dad oft Probleme mit der Polizei. Natürlich konnte er in dem, was er tat, nichts Unrechtes erkennen. Er befolgte nur Gottes Gebot.
Dad berichtete mir, dass er meine Mum in Hollingbourne kennengelernt hatte, da sie am selben Tag wie er der Kommune beigetreten war. In ihrem jugendlichen Idealismus hielt sie die »Kinder Gottes« für eine ehrbare Missionierungsgesellschaft. Sie war erst sechzehn und in der Schule von der Sekte angeworben worden. Bevor meine Eltern legal heirateten, wurden sie von den »Kindern Gottes« »vermählt«. Nach drei Tagen Flitterwochen im Lake District zogen sie in ein großes Haus in Hampstead, das die Sekte übernommen hatte.
Dad nutzte seine Schauspielausbildung bei seinen Auftritten für die »Kinder Gottes« und zitierte ganze Passagen aus den Mo-Briefen, den Botschaften des Propheten, die als Leitfaden für uns Jünger regelmäßig an alle Kommunen verschickt wurden. Mein Vater liebte seine Auftritte, und seine Begabung machte ihn bald zu einer Art Star innerhalb der Gruppe. Angespornt von seinem Erfolg, nahm er etliche der Mo-Briefe auf Kassette auf und schickte sie unter dem Titel Wild Wind an andere Kommunen, damit die Jünger sie sich anhörten. Während Dad vollauf beschäftigt und zufrieden war, ging es meiner mittlerweile schwangeren Mutter ziemlich schlecht, und es muss eine große Erleichterung für sie gewesen sein, als ich nach drei Tage andauernden, heftigen Wehen am 29. Januar 1975 in einem kleinen Mansardenzimmer des Hauses in Hampstead zur Welt kam.
Ihre Aufgaben als junge Eltern hielten Mum und Dad nicht davon ab, die Welt zu retten. Missionierungsteams wurden ausgeschickt, und in einer »Prophezeiung« erhielten meine Eltern den Auftrag, nach Indien zu gehen. Jünger durften keinen eigenen Willen haben, sondern hatten dem Willen Gottes zu folgen, indem sie beteten und dann von Ihm mit Prophezeiungen belohnt wurden. Diese Prophezeiungen versahen alle Entscheidungen, die getroffen werden mussten, mit dem Stempel des Göttlichen.
In Wahrheit waren von den britischen Behörden Untersuchungen über die Aktivitäten der Sekte eingeleitet worden, vor allem über ihr aggressives Spendensammeln und Missionieren. Daher hatte Mo den Jüngern befohlen, Großbritannien zu verlassen und sich nach besseren Möglichkeiten umzusehen, beispielsweise in Indien, Südamerika und dem Fernen Osten - Gegenden, in denen die Behörden weit weniger daran interessiert sein würden, was eine Gruppe westlicher Aussteiger trieb.
Nach der Ankunft in Indien zog unsere kleine Familie in eine Wohnung in Bombay, die über drei Zimmer verfügte, die wir mit zwei weiteren Paaren und zwei alleinstehenden Brüdern teilten. Nach ein paar Wochen fanden meine Eltern eine Zweizimmer-Wohnung in Khar, einem anderen Bezirk von Bombay. Da ständig andere Jünger bei uns übernachteten, herrschte meistens drangvolle Enge. Bis auf zwei Betten, einen Tisch und Stühle im Wohnzimmer gab es kaum Möbel.
Mum war wieder hochschwanger, doch bis zur Geburt schliefen sie und Dad auf Laken, die sie auf dem Fußboden ausbreiteten, weil die Matratzen voller Wanzen waren. Häufig hielten sich bis zu zwanzig Personen in der Wohnung auf, und Mum gab sich große Mühe, damit der Hausbesitzer nichts davon merkte. Meine Schwester kam im Juni 1976 in einem nahe gelegenen Privatkrankenhaus zur Welt und erhielt den Namen von Dads Mutter: Kristina. Obwohl ich erst achtzehn Monate alt war, liebte ich sie vom ersten Moment an. Ich legte mich neben sie auf Mums Laken und bedeckte sie zärtlich mit schmatzenden Küssen. Ich wurde die in ihre kleine Schwester vernarrte »Ältere« und sah Mum gern dabei zu, wie sie Kristina wickelte und stillte. Für mich war sie Nina.
Für Dad stellten viele Dinge in Indien einen gewaltigen Kulturschock dar. Obwohl er als Hippie auf Zypern und in Israel gewesen und quer durch Europa gereist war, hasste er die Hitze, den Schmutz und die Krankheiten, denen er in Bombay ausgesetzt war. Er zog sich eine böse Hepatitis zu und verbrachte nach Kristinas Geburt einige Wochen im Krankenhaus.
»Das schlechte Wasser und das Essen machten mich krank. Ich bekam eine schwere Diarrhö, durch die ich bis auf die Knochen abgemagert bin. Und ich fand es beschämend, als Ausländer auf den Straßen Broschüren anbieten zu müssen wie ein Bettler, wo es bereits unendlich viele andere Bettler gab und Kinder, die kein Dach über dem Kopf hatten und nichts zu essen«, erzählte er mir.
Genug Essen zu beschaffen erwies sich für meine Eltern und die anderen Sektenmitglieder als großes Problem. Zunächst hatten sie kaum Geld, weil sie sich mit dem Verkauf der Broschüren über Wasser halten mussten. Manchmal konnten sie sich tagelang nichts anderes leisten als Reis und Linsen, oder sie mussten an Marktständen um übrig gebliebenes Obst und Gemüse bitten. Natürlich war das für die »Kinder Gottes« kein Betteln. Als Auserwählte Gottes hatten sie ein Anrecht darauf, den Reichtum der Erde gratis zu bekommen. Aber arme Bauern um Almosen zu bitten, empfand Dad als entwürdigend. Dennoch hielt er seine Abneigung gegen das Spendensammeln unter den Ärmsten der Armen für eine Eingebung des Teufels, der ihn dazu verleiten wollte, seiner Berufung zu entsagen.
Übersetzung: Hedda Pänke
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autoren: Juliana Buhring , Kristina Jones , Celeste Jones
- 429 Seiten, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 13,5 x 19,2 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868006001
- ISBN-13: 9783868006001
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