Nichts kann ich mir am besten merken.
Komplett verzichtbar, unglaublich unnütz - absolut unvergesslich! »Von meinem Kollegen Dingsbums kann ich mir seit drei Jahren den Vornamen nicht merken, aber ich weiß, dass er einen roten Renault Twingo fährt, den er laut Nummernschildumrandung im Autohaus...
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Produktinformationen zu „Nichts kann ich mir am besten merken. “
Klappentext zu „Nichts kann ich mir am besten merken. “
Komplett verzichtbar, unglaublich unnütz - absolut unvergesslich! »Von meinem Kollegen Dingsbums kann ich mir seit drei Jahren den Vornamen nicht merken, aber ich weiß, dass er einen roten Renault Twingo fährt, den er laut Nummernschildumrandung im Autohaus Ziplinski gekauft hat. Von allen Klassenkameraden aus der Unterstufe kenne ich noch die Telefonnummern, rufe aber nie an, weil ich den Namen eh kein Gesicht zuordnen könnte.« Von einem, der sich immer nur an den unwichtigen Kram erinnern kann.
Lese-Probe zu „Nichts kann ich mir am besten merken. “
Nichts kann ich mir am besten merken von Tim FrühlingVorwort
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Ich habe jetzt doch ein bisschen die Sorge, Sie könnten mich für seltsam halten. Nachdem ich dieses Buch in Gänze noch mal durchgegangen bin, muss ich mir selbst einen Hang zum nörglerischen Besserwissertum beziehungsweise zur unnützen Schlaumeierei attestieren. Wie kann es sein, dass sich einer ohne Studium, strenggenommen sogar ohne anerkannte Ausbildung, hinsetzt und über Dutzende von Seiten Beobachtungen beschreibt, Erklärungen abgibt und ungefragt den Senf aus seiner Tube dazu drückt? Ich sag Ihnen, wie das sein kann: Wer mit offenen Augen und Ohren durch seine Heimat geht oder fährt, schnappt haufenweise Eindrücke auf. Wer sich darüberhinaus nicht nur aufs Aufschnappen, sondern auch aufs Hinterfragen einlässt, häuft im Laufe der Jahre ein krudes Sammelsurium an Wissen an, das weder bei einem Studium noch bei der täglichen Arbeit hilft und bei »Wer wird Millionär?« wahrscheinlich nicht mal für 500 Euro reichen würde. Es handelt sich dabei um kein mutwillig antrainiertes Wissen, sondern eher um eines, das einfach so im Vorbeihören und Vorbeilesen aufgeschnappt wurde. Ich nenne es mal Schnappwissen. Da ich nun aber meine Mitmenschen nicht permanent mit diesem Schnapp-
wissen belästigen will, habe ich nach einer Möglichkeit gesucht, mein dahingehendes (und allzu oft ausgebremstes) Mitteilungsbedürfnis anders zu kanalisieren. Ein Buch hielt ich für eine gute Idee. Während ich nämlich im Gespräch sofort bemerke, wann mein Schnappwissen zu langweilen anfängt, können Sie das Buch jederzeit diskret beiseitelegen, ohne dass ich es mitbekomme.
Nicht alle Daten und Fakten der folgenden Kapitel hatte ich ohne nachzuschlagen sofort parat, das gebe ich zu. Aber alle verarbeiteten Themen spukten mir schon lange im Kopf herum und wurden von mir als recherchierenswert erachtet. Denn nur, wer im Alltäglichen die kleinen Besonderheiten findet, kann das große Besondere im Nichtalltäglichen schätzen. Der französische Schriftsteller Antoine de Rivarol hat mit folgender Großkotzigkeit mal eine Lanze für das Alltägliche gebrochen: »Die außerordentlichen Geister wenden sich vor allem den alltäglichen, vertrauten Dingen zu, während den gewöhnlichen Köpfen nur die außerordentlichen Dinge auffallen.« Ich lade Sie deswegen auf eine Reise durch die deutsche und europäische Alltäglichkeit ein, bei der Sie sicher die eine oder andere Außerordentlichkeit entdecken werden und Ihren »gewöhnlichen Kopf« im Sinne de Rivarols zum » außerordentlichen Geist« pimpen können.
Eins noch: Sollte gerade Ihre Heimatstadt von mir im Folgenden verunglimpft werden, nehmen Sie es mir nicht krumm. Die meisten deutschen Städte haben sich ihr Gesicht nach 1945 ja nicht freiwillig ausgesucht.
Manchmal habe ich das Gefühl, im Laufe eines Tages doppelt so viele überflüssige Eindrücke wahrnehmen und abspeichern zu können wie normale Menschen. Ohnehin prasseln in der heutigen Zeit jede Menge Bilder, Fakten und Informationen auf unsere menschlichen Matschbirnen ein, wovon nur die wenigsten tatsächlich von Relevanz sind. In meinem Hirn vermute ich eine scharfe Trennkante, die eingehende Informationen in » wichtig<< (Namen von Kollegen, Wiedererkennung von Gesichtern, mathematische Formeln zum Bestehen des Abiturs etc.) und »unwichtig<< (Höhe von Bergen, Nummerierung von Bundesstraßen, Telefonvorwahlen etc.) dividiert. Das an sich ist ganz kommod. Ärgerlich ist allein, dass an das Bassin für die wichtigen Informationen offenbar ein riesiger Mülleimer angeschlossen ist, während die unwichtigen Fakten umgehend auf einer voluminösen Festplatte langzeitarchiviert werden.
Frappierend wurde dieses Ungleichgewicht bei einem Griechenlandurlaub deutlich: Ich verbrachte einen Nachmittag mit drei wirklich hübschen Mädchen beim Kurs »99 Worte Landessprache<<. Am nächsten Tag begrüßten mich die drei mit einem freundlichen » Kaliméra<<, worauf-
hin ich verwundert fragte, wo sie das denn gelernt hätten. Die drei Girls reagierten verstört und schnitten mich fortan. Wie sie ausgesehen hatten und hießen, habe ich offenkundig innerhalb von sechzehn Stunden vergessen. Bis heute erinnere ich mich allerdings, dass sie aus Sarstedt, Peine und Hildesheim-Himmelsthür kamen.
Von meinem Kollegen Dingsbums kann ich mir seit drei Jahren den Vornamen nicht merken, aber ich weiß, dass er einen roten Renault Twingo fährt, den er laut Nummernschildumrandung im Autohaus Ziplinski gekauft hat. Von allen Klassenkameraden aus der Unterstufe kenne ich noch die Telefonnummern, rufe aber nie an, weil ich den Namen eh kein Gesicht zuordnen könnte. Um es überspitzt auszudrücken: Informationen über Menschen sind schneller vergessen als gehört, andere, geographische Fakten beispielsweise oder Eindrücke saugen sich in meinem Oberstübchen dagegen so fest, dass die Magdeburger Halbkugeln ein Dreck dagegen sind.
Das ist nicht immer nur von Vorteil. Wenn man unglückseligerweise einen Tag in Ludwigshafen verbringt, wäre man froh, wenn man möglichst wenige Eindrücke in sich aufsaugen würde. Aber es ist nunmal so. Deswegen ist es wichtig, das Aufgesogene zu verarbeiten, zu bewerten und zu sortieren. Ist Ihnen zum Beispiel schon mal aufgefallen, dass südlich von Ludwigshafen etwas völlig Unlogisches passiert? Schauen Sie sich mal eine Postleitzahlenkarte an - und Sie wissen, was ich meine. Eine etwas größere Handvoll Orte hat plötzlich eine Postleitzahl, die mit 7 beginnt. Rheinland-Pfalz und eine 7! Früher undenkbar. Aber nach
der Wiedervereinigung musste das logische System der vierstelligen Postleitzahlen ja von einem unglückseligen, fünfstelligen vergewaltigt und niedergemacht werden. Selbst der freundliche, gelbe Handschuh namens Rolf, der die schwierige Aufgabe hatte, als Maskottchen über diesen Akt der postalischen Barbarei hinwegzutrösten, konnte meine Wut über die neuen Fünf-Ziffern-Monster nicht bändigen. Früher war - jedenfalls im Westen - alles so klar: Hinten eine Null - größerer Ort. Zwei Nullen - noch größer. Drei Nullen - unfassbar groß. Orte, die sich dann sogar noch mit einer weiteren zweistelligen Zahl hinter dem Ortsnamen schmückten, hatten es im Laufe der Geschichte echt zu was gebracht. Zustellbezirk hieß das im Fachjargon. 6000 Frankfurt 40 - das klingt doch schon wie ein Synonym für » freie Reichsstadt« oder »Krönungsort der Könige«. Wie klingt dagegen 65929 Frankfurt? Kaum besser als 65451 Kelsterbach? Eben.
Nicht nur dieses System der Logik wurde über Nacht außer Kraft gesetzt, auch mein antrainiertes Wissen, jede Postleitzahl mit mindestens einer Null am Schluss der richtigen Stadt zuordnen zu können, war reif für den Mülleimer oder fürs Vergessen - was mir leider nicht immer gelingt. Genauso absurd wie die 7 für Rheinland-Pfalz war die 8 für Teile Baden-Württembergs oder die 39 für den Norden Sachsen-Anhalts. Wenn einem die Wiedervereinigung schon sein Wissen raubt, will man doch wenigstens sofort erkennen können, was früher Zone war und was nicht. Deswegen fordere ich: Vorne die 0, die 1 oder die 9 --+ Zone; der Rest --+ West. Da höre ich übrigens gerade Beifall aus Franken aufbranden,
die ihre kuschlige 8 gegen die unentschlossene Ost-WestChimäre 9 tauschen mussten.
Wenigstens die Telefonvorwahlen sind noch ein sicherer Indikator dafür, wo der angerufene Fernsprecher steht. Wenn die Vorwahl mit 03 beginnt und sich danach eine Zahlenkette epischer Länge anschließt, landet man auf jeden Fall auf der ehemals besser ausgeleuchteten Seite des Eisernen Vorhangs.
Für seinen Gram mit den - Achtung: Wortspiel - Postleidzahlen ist Franken allerdings großzügig entschädigt worden. Hat es doch seit der Wiedervereinigung gefühlt mehr Autobahnkilometer als Einwohner. Schon im Mittel-alter war es der größte Wunsch des Menschen, so schnell wie möglich von Schweinfurt nach Ilmenau zu kommen. Zwei lupenreine Metropolen - und Jahrhunderte lang nur über Trampelpfade miteinander verbunden. Bis 2003, um genau zu sein. In diesem glorreichen Jahr wurde nämlich Deutsch-lands längster Tunnel eröffnet: der Rennsteigtunnel. Bedarf und Kosten waren in den wilden Jahren nach dem Mauerfall zweitrangig, deswegen waren sinnlose und besonders teure Projekte schwer en vogue: der Rennsteigtunnel. Um wenigstens einen Teil der Kosten wieder reinzuholen, hat man sich entschieden, ein sinnloses Tempolimit von 80 Stundenkilometern zu verhängen. Sinnlos deswegen, weil ich fast noch nie zwei Autos gleichzeitig die 7,9 Kilometer lange Röhre habe durchfahren sehen: Karambolage-Gefahr daher eher gering.
Derselbe Feuereifer, der beim Bau unnötiger Routen an den Tag gelegt wurde, herrscht offenbar bei der vorsätz-
lichen Ignorierung dringenden Ausbaubedarfs. Und da tut sich besonders die Perle des deutschen Südostens hervor - Bayern. Natürlich ist der Bau von Bundesautobahnen Bundesangelegenheit, aber offenbar muss etwa vierzig Jahre irgendein bayernhassender Dämon im Verkehrsministerium gesessen haben, der von Hanns Seidel bis Horst Seehofer keinem Freistaatsvater standesgemäß ausgebaute Autobahnen genehmigte. Das grausamste Beispiel konsequenter Ausbauverweigerung fand sich jahrzehntelang an der A 3 hinter der hessisch-bayrischen Grenze. Gleitet man rasant von Köln über Frankfurt Richtung Bajuwarien, so findet die gleitende Rasanz genau mit dem Erreichen desselben ein jähes Ende. Mit dem Passieren des Bundesland-Begrüßungsschildes verengt sich die Autobahn auf ein menschenunwürdiges Maß, strotzt vor unübersichtlichen Kurven und ist von Oktober bis Mai mit einer meterdicken Schneeschicht bedeckt. Das Wort » Standstreifen« ist ab der Aschaffenburger Mainseite kein Teil des gängigen Vokabulars mehr. Mittlerweile allerdings sind Bautrupps angerückt, um das Nadelöhr bis Nürnberg wenigstens partiell zu entschärfen. Aber mittlerweile hat ja auch die CSU keine absolute Mehrheit mehr - und da hat sich der Ministeriumsdämon vielleicht mal großzügig gezeigt.
Apropos Bundesland-Begrüßungsschild. Gibt es dafür eigentlich keinen Fachterminus? Es kann doch nicht angehen, dass alle paar hundert Kilometer in Deutschland ein Schild steht, das in der StVO nicht benamt wurde. Wenn ein armer Depp mit seiner Karre in eine Ampel rast, heißt es im Polizeireport: »Der Personenkraftwagen kollidierte mit der Licht-
zeichenanlage aufgrund nicht angepasster Geschwindigkeit.<< Was nun, wenn jemand genau an einer Landesgrenze in ein Bundesland-Begrüßungsschild donnert? Das kann man so ja nicht schreiben, nachher versteht man's sofort. Ich schlage daher als Wording für Polizei-Pressestuben das Wort »föderalistisches Eigenwerbesymbol eines Bundeslandes bzw. Freistaats<< vor. Dann sind auch die Polizeimeldungen wieder das, was sie einmal waren, nämlich unverständlich: »Auf Höhe der ehem. GÜSt Marienborn verunfallte infolge Verstoßes gegen das BtMG der Fahrzeuglenker und kollidierte mit dem föderalistischen Eigenwerbesymbol des Landes Sachsen-Anhalt.<<
Ach, und überhaupt: Sachsen-Anhalt. Früher grüßte den Autofahrer vom Straßenrand nur das neutrale Wappen des Landes, auf dem der Bär so lustig auf Backsteinzinnen balanciert. Heute weist ein anderes Schild den Einreisenden darauf hin, die Keimzelle des Einwohnerrückgangs erreicht zu haben: »Willkommen im Land der Frühaufsteher.<< Sachsen-Anhaltiner! Was habt ihr euch dabei gedacht, beziehungsweise welche kokainistische Werbeagentur ist dafür verantwortlich? Eine windige Umfrage aus dem Jahr 2006 hatte ergeben, dass die Menschen zwischen Zeitz und Salzwedel im Schnitt tatsächlich neun Minuten eher aus dem Bett kriechen als im Rest der Republik. Aber wie rar müssen Alleinstellungsmerkmale in diesem Land gesät sein, wenn aus dieser Tatsache gleich eine ganze Kampagne gemacht wird? Freunde, wenn ihr schon beim Bild der Frühaufsteher bleiben wollt, dann schreibt doch wenigstens drauf: »Wer früher aufsteht, ist schneller weg.<< Das hätte mehr Esprit
und Witz, als man den Menschen des einzigen Bundeslandes ohne internationalen Verkehrsflughafen zutrauen würde.
Ich lobe mir Länder, die an ihrer Grenze schlicht und würdevoll mit ihrem Wappen grüßen. Hamburg oder BadenWürttemberg zum Beispiel. In Hessen hibbeln derart viele Bälger auf dem föderalistischen Eigenwerbesymbol herum, dass man sich nicht sicher sein kann, ob man eine Landesgrenze überfährt oder auf dem Hof einer Kinderwunschpraxis gelandet ist.
Eine besonders feine Idee hatte zeitweise übrigens das Saarland. Dort hießen Promis die Gäste auf den Schildern willkommen. Also Nicole. Denn außer der Grand-Prix-Siegerin von 1982 hatte das Beitrittsgebiet ja nie viel mehr an Promis zu bieten, außer Oskar Lafontaine vielleicht, der allerdings abschreckend auf die raren Investoren aus der Wirtschaft wirken könnte. Immerhin hat Saarbrücken einen internationalen Verkehrsflughafen (SCN), und Zweibrücken gleich den nächsten (ZQW). Zwischen den Airports liegt die gewaltige Distanz von dreißig Kilometern - der eine allerdings im Saarland, der andere in Rheinland-Pfalz. Wahrscheinlich hatte der Entscheidungsträger, der den Ausbau von Zweibrücken anordnete, ein Problem mit der Schlagersängerin Nicole, weswegen er nie gucken fahren konnte, ob nicht zufällig im Nachbarland schon ein internationaler Verkehrsflughafen vorhanden ist. Jedenfalls können sich die Einwohner Blieskastels, das genau zwischen SCN und ZQW liegt, rühmen, in der Region mit der höchsten Dichte an internationalen Verkehrsflughäfen zu wohnen. Und viel zu rühmen gab es in Blieskastel bisher nicht.
Wobei nahezu jeder Ort in Deutschland irgendeine Besonderheit hat, der ihn von der Masse abhebt. Und sei es nur die Lage. Was haben zum Beispiel List auf Sylt, Görlitz, Oberstdorf und Selfkant bei Aachen gemeinsam? Sie sind die Orte, die in Deutschland am weitesten nördlich, östlich, südlich und westlich liegen. Und damit die vier Mitglieder im Zipfelbund. Ja, dieses Wort klingt irgendwas zwischen erfunden, albern und anrüchig, ist aber existent. Der Zipfelbund präsentiert sich alljährlich auf den Feierlichkeiten zur deutschen Einheit, u. a. mit einer vierzipfeligen Wurst. Am Zipfelstand bekommt man außerdem den Zipfelpass, und wer nachweislich alle vier unterschiedlich sehenswerten Orte bereist hat, darf sich - naaaaa? - Zipfelstürmer nennen.
Aber auch Orte ohne geographische Extremlagen glänzen gelegentlich mit schönen Einzelleistungen. Hellschen-Heringsand-Unterschaar im Schleswig-Holsteinischen Kreis Dithmarschen ist der Ort mit dem längsten Namen Deutsch-lands, das bayrische Kirchdorf am Inn konnte mit seiner Lage an der kürzesten Bundesstraße (B 340, Länge 600 Meter) protzen, und Dierfeld in Rheinland-Pfalz ist die eigenständige Gemeinde mit den wenigsten Einwohnern (acht).
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Ich habe jetzt doch ein bisschen die Sorge, Sie könnten mich für seltsam halten. Nachdem ich dieses Buch in Gänze noch mal durchgegangen bin, muss ich mir selbst einen Hang zum nörglerischen Besserwissertum beziehungsweise zur unnützen Schlaumeierei attestieren. Wie kann es sein, dass sich einer ohne Studium, strenggenommen sogar ohne anerkannte Ausbildung, hinsetzt und über Dutzende von Seiten Beobachtungen beschreibt, Erklärungen abgibt und ungefragt den Senf aus seiner Tube dazu drückt? Ich sag Ihnen, wie das sein kann: Wer mit offenen Augen und Ohren durch seine Heimat geht oder fährt, schnappt haufenweise Eindrücke auf. Wer sich darüberhinaus nicht nur aufs Aufschnappen, sondern auch aufs Hinterfragen einlässt, häuft im Laufe der Jahre ein krudes Sammelsurium an Wissen an, das weder bei einem Studium noch bei der täglichen Arbeit hilft und bei »Wer wird Millionär?« wahrscheinlich nicht mal für 500 Euro reichen würde. Es handelt sich dabei um kein mutwillig antrainiertes Wissen, sondern eher um eines, das einfach so im Vorbeihören und Vorbeilesen aufgeschnappt wurde. Ich nenne es mal Schnappwissen. Da ich nun aber meine Mitmenschen nicht permanent mit diesem Schnapp-
wissen belästigen will, habe ich nach einer Möglichkeit gesucht, mein dahingehendes (und allzu oft ausgebremstes) Mitteilungsbedürfnis anders zu kanalisieren. Ein Buch hielt ich für eine gute Idee. Während ich nämlich im Gespräch sofort bemerke, wann mein Schnappwissen zu langweilen anfängt, können Sie das Buch jederzeit diskret beiseitelegen, ohne dass ich es mitbekomme.
Nicht alle Daten und Fakten der folgenden Kapitel hatte ich ohne nachzuschlagen sofort parat, das gebe ich zu. Aber alle verarbeiteten Themen spukten mir schon lange im Kopf herum und wurden von mir als recherchierenswert erachtet. Denn nur, wer im Alltäglichen die kleinen Besonderheiten findet, kann das große Besondere im Nichtalltäglichen schätzen. Der französische Schriftsteller Antoine de Rivarol hat mit folgender Großkotzigkeit mal eine Lanze für das Alltägliche gebrochen: »Die außerordentlichen Geister wenden sich vor allem den alltäglichen, vertrauten Dingen zu, während den gewöhnlichen Köpfen nur die außerordentlichen Dinge auffallen.« Ich lade Sie deswegen auf eine Reise durch die deutsche und europäische Alltäglichkeit ein, bei der Sie sicher die eine oder andere Außerordentlichkeit entdecken werden und Ihren »gewöhnlichen Kopf« im Sinne de Rivarols zum » außerordentlichen Geist« pimpen können.
Eins noch: Sollte gerade Ihre Heimatstadt von mir im Folgenden verunglimpft werden, nehmen Sie es mir nicht krumm. Die meisten deutschen Städte haben sich ihr Gesicht nach 1945 ja nicht freiwillig ausgesucht.
Manchmal habe ich das Gefühl, im Laufe eines Tages doppelt so viele überflüssige Eindrücke wahrnehmen und abspeichern zu können wie normale Menschen. Ohnehin prasseln in der heutigen Zeit jede Menge Bilder, Fakten und Informationen auf unsere menschlichen Matschbirnen ein, wovon nur die wenigsten tatsächlich von Relevanz sind. In meinem Hirn vermute ich eine scharfe Trennkante, die eingehende Informationen in » wichtig<< (Namen von Kollegen, Wiedererkennung von Gesichtern, mathematische Formeln zum Bestehen des Abiturs etc.) und »unwichtig<< (Höhe von Bergen, Nummerierung von Bundesstraßen, Telefonvorwahlen etc.) dividiert. Das an sich ist ganz kommod. Ärgerlich ist allein, dass an das Bassin für die wichtigen Informationen offenbar ein riesiger Mülleimer angeschlossen ist, während die unwichtigen Fakten umgehend auf einer voluminösen Festplatte langzeitarchiviert werden.
Frappierend wurde dieses Ungleichgewicht bei einem Griechenlandurlaub deutlich: Ich verbrachte einen Nachmittag mit drei wirklich hübschen Mädchen beim Kurs »99 Worte Landessprache<<. Am nächsten Tag begrüßten mich die drei mit einem freundlichen » Kaliméra<<, worauf-
hin ich verwundert fragte, wo sie das denn gelernt hätten. Die drei Girls reagierten verstört und schnitten mich fortan. Wie sie ausgesehen hatten und hießen, habe ich offenkundig innerhalb von sechzehn Stunden vergessen. Bis heute erinnere ich mich allerdings, dass sie aus Sarstedt, Peine und Hildesheim-Himmelsthür kamen.
Von meinem Kollegen Dingsbums kann ich mir seit drei Jahren den Vornamen nicht merken, aber ich weiß, dass er einen roten Renault Twingo fährt, den er laut Nummernschildumrandung im Autohaus Ziplinski gekauft hat. Von allen Klassenkameraden aus der Unterstufe kenne ich noch die Telefonnummern, rufe aber nie an, weil ich den Namen eh kein Gesicht zuordnen könnte. Um es überspitzt auszudrücken: Informationen über Menschen sind schneller vergessen als gehört, andere, geographische Fakten beispielsweise oder Eindrücke saugen sich in meinem Oberstübchen dagegen so fest, dass die Magdeburger Halbkugeln ein Dreck dagegen sind.
Das ist nicht immer nur von Vorteil. Wenn man unglückseligerweise einen Tag in Ludwigshafen verbringt, wäre man froh, wenn man möglichst wenige Eindrücke in sich aufsaugen würde. Aber es ist nunmal so. Deswegen ist es wichtig, das Aufgesogene zu verarbeiten, zu bewerten und zu sortieren. Ist Ihnen zum Beispiel schon mal aufgefallen, dass südlich von Ludwigshafen etwas völlig Unlogisches passiert? Schauen Sie sich mal eine Postleitzahlenkarte an - und Sie wissen, was ich meine. Eine etwas größere Handvoll Orte hat plötzlich eine Postleitzahl, die mit 7 beginnt. Rheinland-Pfalz und eine 7! Früher undenkbar. Aber nach
der Wiedervereinigung musste das logische System der vierstelligen Postleitzahlen ja von einem unglückseligen, fünfstelligen vergewaltigt und niedergemacht werden. Selbst der freundliche, gelbe Handschuh namens Rolf, der die schwierige Aufgabe hatte, als Maskottchen über diesen Akt der postalischen Barbarei hinwegzutrösten, konnte meine Wut über die neuen Fünf-Ziffern-Monster nicht bändigen. Früher war - jedenfalls im Westen - alles so klar: Hinten eine Null - größerer Ort. Zwei Nullen - noch größer. Drei Nullen - unfassbar groß. Orte, die sich dann sogar noch mit einer weiteren zweistelligen Zahl hinter dem Ortsnamen schmückten, hatten es im Laufe der Geschichte echt zu was gebracht. Zustellbezirk hieß das im Fachjargon. 6000 Frankfurt 40 - das klingt doch schon wie ein Synonym für » freie Reichsstadt« oder »Krönungsort der Könige«. Wie klingt dagegen 65929 Frankfurt? Kaum besser als 65451 Kelsterbach? Eben.
Nicht nur dieses System der Logik wurde über Nacht außer Kraft gesetzt, auch mein antrainiertes Wissen, jede Postleitzahl mit mindestens einer Null am Schluss der richtigen Stadt zuordnen zu können, war reif für den Mülleimer oder fürs Vergessen - was mir leider nicht immer gelingt. Genauso absurd wie die 7 für Rheinland-Pfalz war die 8 für Teile Baden-Württembergs oder die 39 für den Norden Sachsen-Anhalts. Wenn einem die Wiedervereinigung schon sein Wissen raubt, will man doch wenigstens sofort erkennen können, was früher Zone war und was nicht. Deswegen fordere ich: Vorne die 0, die 1 oder die 9 --+ Zone; der Rest --+ West. Da höre ich übrigens gerade Beifall aus Franken aufbranden,
die ihre kuschlige 8 gegen die unentschlossene Ost-WestChimäre 9 tauschen mussten.
Wenigstens die Telefonvorwahlen sind noch ein sicherer Indikator dafür, wo der angerufene Fernsprecher steht. Wenn die Vorwahl mit 03 beginnt und sich danach eine Zahlenkette epischer Länge anschließt, landet man auf jeden Fall auf der ehemals besser ausgeleuchteten Seite des Eisernen Vorhangs.
Für seinen Gram mit den - Achtung: Wortspiel - Postleidzahlen ist Franken allerdings großzügig entschädigt worden. Hat es doch seit der Wiedervereinigung gefühlt mehr Autobahnkilometer als Einwohner. Schon im Mittel-alter war es der größte Wunsch des Menschen, so schnell wie möglich von Schweinfurt nach Ilmenau zu kommen. Zwei lupenreine Metropolen - und Jahrhunderte lang nur über Trampelpfade miteinander verbunden. Bis 2003, um genau zu sein. In diesem glorreichen Jahr wurde nämlich Deutsch-lands längster Tunnel eröffnet: der Rennsteigtunnel. Bedarf und Kosten waren in den wilden Jahren nach dem Mauerfall zweitrangig, deswegen waren sinnlose und besonders teure Projekte schwer en vogue: der Rennsteigtunnel. Um wenigstens einen Teil der Kosten wieder reinzuholen, hat man sich entschieden, ein sinnloses Tempolimit von 80 Stundenkilometern zu verhängen. Sinnlos deswegen, weil ich fast noch nie zwei Autos gleichzeitig die 7,9 Kilometer lange Röhre habe durchfahren sehen: Karambolage-Gefahr daher eher gering.
Derselbe Feuereifer, der beim Bau unnötiger Routen an den Tag gelegt wurde, herrscht offenbar bei der vorsätz-
lichen Ignorierung dringenden Ausbaubedarfs. Und da tut sich besonders die Perle des deutschen Südostens hervor - Bayern. Natürlich ist der Bau von Bundesautobahnen Bundesangelegenheit, aber offenbar muss etwa vierzig Jahre irgendein bayernhassender Dämon im Verkehrsministerium gesessen haben, der von Hanns Seidel bis Horst Seehofer keinem Freistaatsvater standesgemäß ausgebaute Autobahnen genehmigte. Das grausamste Beispiel konsequenter Ausbauverweigerung fand sich jahrzehntelang an der A 3 hinter der hessisch-bayrischen Grenze. Gleitet man rasant von Köln über Frankfurt Richtung Bajuwarien, so findet die gleitende Rasanz genau mit dem Erreichen desselben ein jähes Ende. Mit dem Passieren des Bundesland-Begrüßungsschildes verengt sich die Autobahn auf ein menschenunwürdiges Maß, strotzt vor unübersichtlichen Kurven und ist von Oktober bis Mai mit einer meterdicken Schneeschicht bedeckt. Das Wort » Standstreifen« ist ab der Aschaffenburger Mainseite kein Teil des gängigen Vokabulars mehr. Mittlerweile allerdings sind Bautrupps angerückt, um das Nadelöhr bis Nürnberg wenigstens partiell zu entschärfen. Aber mittlerweile hat ja auch die CSU keine absolute Mehrheit mehr - und da hat sich der Ministeriumsdämon vielleicht mal großzügig gezeigt.
Apropos Bundesland-Begrüßungsschild. Gibt es dafür eigentlich keinen Fachterminus? Es kann doch nicht angehen, dass alle paar hundert Kilometer in Deutschland ein Schild steht, das in der StVO nicht benamt wurde. Wenn ein armer Depp mit seiner Karre in eine Ampel rast, heißt es im Polizeireport: »Der Personenkraftwagen kollidierte mit der Licht-
zeichenanlage aufgrund nicht angepasster Geschwindigkeit.<< Was nun, wenn jemand genau an einer Landesgrenze in ein Bundesland-Begrüßungsschild donnert? Das kann man so ja nicht schreiben, nachher versteht man's sofort. Ich schlage daher als Wording für Polizei-Pressestuben das Wort »föderalistisches Eigenwerbesymbol eines Bundeslandes bzw. Freistaats<< vor. Dann sind auch die Polizeimeldungen wieder das, was sie einmal waren, nämlich unverständlich: »Auf Höhe der ehem. GÜSt Marienborn verunfallte infolge Verstoßes gegen das BtMG der Fahrzeuglenker und kollidierte mit dem föderalistischen Eigenwerbesymbol des Landes Sachsen-Anhalt.<<
Ach, und überhaupt: Sachsen-Anhalt. Früher grüßte den Autofahrer vom Straßenrand nur das neutrale Wappen des Landes, auf dem der Bär so lustig auf Backsteinzinnen balanciert. Heute weist ein anderes Schild den Einreisenden darauf hin, die Keimzelle des Einwohnerrückgangs erreicht zu haben: »Willkommen im Land der Frühaufsteher.<< Sachsen-Anhaltiner! Was habt ihr euch dabei gedacht, beziehungsweise welche kokainistische Werbeagentur ist dafür verantwortlich? Eine windige Umfrage aus dem Jahr 2006 hatte ergeben, dass die Menschen zwischen Zeitz und Salzwedel im Schnitt tatsächlich neun Minuten eher aus dem Bett kriechen als im Rest der Republik. Aber wie rar müssen Alleinstellungsmerkmale in diesem Land gesät sein, wenn aus dieser Tatsache gleich eine ganze Kampagne gemacht wird? Freunde, wenn ihr schon beim Bild der Frühaufsteher bleiben wollt, dann schreibt doch wenigstens drauf: »Wer früher aufsteht, ist schneller weg.<< Das hätte mehr Esprit
und Witz, als man den Menschen des einzigen Bundeslandes ohne internationalen Verkehrsflughafen zutrauen würde.
Ich lobe mir Länder, die an ihrer Grenze schlicht und würdevoll mit ihrem Wappen grüßen. Hamburg oder BadenWürttemberg zum Beispiel. In Hessen hibbeln derart viele Bälger auf dem föderalistischen Eigenwerbesymbol herum, dass man sich nicht sicher sein kann, ob man eine Landesgrenze überfährt oder auf dem Hof einer Kinderwunschpraxis gelandet ist.
Eine besonders feine Idee hatte zeitweise übrigens das Saarland. Dort hießen Promis die Gäste auf den Schildern willkommen. Also Nicole. Denn außer der Grand-Prix-Siegerin von 1982 hatte das Beitrittsgebiet ja nie viel mehr an Promis zu bieten, außer Oskar Lafontaine vielleicht, der allerdings abschreckend auf die raren Investoren aus der Wirtschaft wirken könnte. Immerhin hat Saarbrücken einen internationalen Verkehrsflughafen (SCN), und Zweibrücken gleich den nächsten (ZQW). Zwischen den Airports liegt die gewaltige Distanz von dreißig Kilometern - der eine allerdings im Saarland, der andere in Rheinland-Pfalz. Wahrscheinlich hatte der Entscheidungsträger, der den Ausbau von Zweibrücken anordnete, ein Problem mit der Schlagersängerin Nicole, weswegen er nie gucken fahren konnte, ob nicht zufällig im Nachbarland schon ein internationaler Verkehrsflughafen vorhanden ist. Jedenfalls können sich die Einwohner Blieskastels, das genau zwischen SCN und ZQW liegt, rühmen, in der Region mit der höchsten Dichte an internationalen Verkehrsflughäfen zu wohnen. Und viel zu rühmen gab es in Blieskastel bisher nicht.
Wobei nahezu jeder Ort in Deutschland irgendeine Besonderheit hat, der ihn von der Masse abhebt. Und sei es nur die Lage. Was haben zum Beispiel List auf Sylt, Görlitz, Oberstdorf und Selfkant bei Aachen gemeinsam? Sie sind die Orte, die in Deutschland am weitesten nördlich, östlich, südlich und westlich liegen. Und damit die vier Mitglieder im Zipfelbund. Ja, dieses Wort klingt irgendwas zwischen erfunden, albern und anrüchig, ist aber existent. Der Zipfelbund präsentiert sich alljährlich auf den Feierlichkeiten zur deutschen Einheit, u. a. mit einer vierzipfeligen Wurst. Am Zipfelstand bekommt man außerdem den Zipfelpass, und wer nachweislich alle vier unterschiedlich sehenswerten Orte bereist hat, darf sich - naaaaa? - Zipfelstürmer nennen.
Aber auch Orte ohne geographische Extremlagen glänzen gelegentlich mit schönen Einzelleistungen. Hellschen-Heringsand-Unterschaar im Schleswig-Holsteinischen Kreis Dithmarschen ist der Ort mit dem längsten Namen Deutsch-lands, das bayrische Kirchdorf am Inn konnte mit seiner Lage an der kürzesten Bundesstraße (B 340, Länge 600 Meter) protzen, und Dierfeld in Rheinland-Pfalz ist die eigenständige Gemeinde mit den wenigsten Einwohnern (acht).
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Tim Frühling
Tim Frühling, geboren 1975 im 77 Meter ü. NN gelegenen Wolfenbüttel, ist im Stuttgarter Stadtteil Bad Cannstatt aufgewachsen, der bekanntlich nach Budapest das zweithöchste Quellwasseraufkommen Europas hat. Nach dem Abitur folgten ein Praktikum und ein 730-tägiges Volontariat beim Rems-Murr-Bürgerradio in 71332 Waiblingen. Seit 1998 ist Tim Frühling im Frankfurter Dornbusch beim Hessischen Rundfunk (zunächst bei YOU FM, seit 2006 bei hr3), und seit 2008 präsentiert er außerdem im hr-Fernsehen und der ARD das Wetter.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tim Frühling
- 2013, 2. Auflage, 222 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596195772
- ISBN-13: 9783596195770
- Erscheinungsdatum: 25.04.2013
Rezension zu „Nichts kann ich mir am besten merken. “
ein extrem komisches Buch - sprachlich gewandt mit viel Wortwitz Westdeutscher Rundfunk, WDR 5 201311
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