Niemand, den du kennst
Roman. Deutsche Erstausgabe
Es ist nun schon 20 Jahre her, dass man die Leiche von Ellies Schwester Lila fand. Doch der Fall wurde nie aufgeklärt. War es doch nur ein tragischer Unfall? Nun fällt Ellie zufällig Lilas altes Notizbuch in die Hände. Und sie entdeckt eine gefährliche neue Spur.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Niemand, den du kennst “
Es ist nun schon 20 Jahre her, dass man die Leiche von Ellies Schwester Lila fand. Doch der Fall wurde nie aufgeklärt. War es doch nur ein tragischer Unfall? Nun fällt Ellie zufällig Lilas altes Notizbuch in die Hände. Und sie entdeckt eine gefährliche neue Spur.
"Ein exzellenter, intelligenter literarischer Psychothriller!" -- London Daily Mail
"Die Lebensechtheit von Michelle Richmonds Figuren, die psychologische Glaubwürdigkeit ihres Handelns, treibt die Story voran und hält den Leser bei der Stange bis zur letzten Seite." -- The Mississippi Press
"Dies ist ein literarischer Psychothriller vom Feinsten. Richmond zeichnet die Auswirkungen von Trauer und Schuldgefühlen aufs Genaueste nach. Sie zeigt auf, wie wenig wir sogar über die Menschen wissen, die uns am nächsten stehen." -- Alabama Public Radio
"Die Lebensechtheit von Michelle Richmonds Figuren, die psychologische Glaubwürdigkeit ihres Handelns, treibt die Story voran und hält den Leser bei der Stange bis zur letzten Seite." -- The Mississippi Press
"Dies ist ein literarischer Psychothriller vom Feinsten. Richmond zeichnet die Auswirkungen von Trauer und Schuldgefühlen aufs Genaueste nach. Sie zeigt auf, wie wenig wir sogar über die Menschen wissen, die uns am nächsten stehen." -- Alabama Public Radio
Lese-Probe zu „Niemand, den du kennst “
Niemand, den du kennst von Michelle Richmond1
Als ich ihn endlich fand, hatte ich die Suche längst aufgegeben. Es war Nacht und ich aß allein in einem kleinen Café in Diriomo in Nicaragua. Das Lokal war mir im Laufe meiner jährlichen Aufenthalte in dem Dorf lieb und teuer geworden, zu jeder Tages- und Nachtzeit konnte man dort einen Teller Bohnen und eine Tasse Kaffee bekommen.
Ich hatte den Abend damit verbracht, durch die dunklen, menschenleeren Straßen zu wandern. Julitage in Diriomo waren brütend heiß; mit Einbruch der Dunkelheit strahlten die Gebäude die tagsüber gesammelte Hitze ab, sodass die Luft einen verbrannten, staubigen Geruch annahm. Schließlich gelangte ich an die vertraute Kreuzung.
Links ging es zu meinem Hotel mit dem harten Bett und dem wenig hilfreichen Deckenventilator. Geradeaus lag ein Baseballfeld, auf dem ich einmal ein Kind aus dem Ort dabei beobachtet hatte, wie es eine Ratte mit einem alten Holzschläger totschlug.
Rechts führte eine breite Straße ab, die wiederum in eine gewundene Gasse überging, an deren Ende das Café lockte. Wenige Minuten später stand ich vor der Tür und zog an der kleinen Kupferglocke. Maria erschien in einem langen blauen Rock, weißer Bluse und ohne Schuhe, sie wirkte, als hätte sie mich erwartet.
»Habe ich Sie geweckt?«
»Nein«, sagte sie. »Willkommen.«
Das war ein Begrüßungsritual zwischen uns. Ich kam nie dahinter, ob Maria in solchen Nächten eigentlich schlief oder ob sie geduldig in ihrer Küche saß und auf Gäste wartete.
»Was gibt es heute?«, fragte ich. Das war ebenfalls ein Ritual, denn wir beide wussten, dass die Speisekarte sich nie änderte, gleich welche Uhr- oder Jahreszeit es war.
»Nacatamales«, sagte sie. »Está usted sola?«
... mehr
»Sí, señora, ich bin allein.« Meine Antwort blieb, ebenso wie die Speisekarte, seit Jahren unverändert. Und doch stellte sie die Frage jedes Mal, mit einer unverhüllten Hoffnung, dass sich eines Tages das Blatt für mich wenden würde.
Das Café war leer und dunkel, trotz der Hitze draußen beinahe kühl. Sie deutete auf einen kleinen Tisch, auf dem eine Kerze in einem Glas brannte. Ich dankte ihr und setzte mich. In der Küche, die vom Essraum durch einen schmalen, mit rotem Stoff verhängten Durchgang getrennt war, hörte ich sie den Kaffee zubereiten.
Ich betrachtete die Muster, die das Kerzenlicht auf die gegenüberliegende Wand zeichnete. Die Bilder schienen mir zu schön und symmetrisch, um zufällig zu sein ein Vogel, ein Segelboot, ein Stern, gefolgt von einer Reihe rechteckiger Lichtbalken.
Es löste ein Gefühl in mir aus, das ich oft in diesem Dorf hatte, und war einer der Gründe, weshalb ich immer wieder hierherkam, wenn mein Beruf als Kaffeeeinkäuferin mich nach Nicaragua führte das Gefühl, dass selbst die einfachsten natürlichen Vorgänge bestimmten Regeln gehorchten, als herrschte eine namenlose Ordnung über das Belebte wie auch das Unbelebte.
So empfand ich selten zu Hause in San Francisco. Kein Wunder, dass die Einheimischen von Diriomo als dem pueblo brujo sprachen dem verhexten Dorf.
Maria hatte gerade den Teller vor mir auf dem Tisch abgestellt, als die Glocke draußen ertönte. In all den Jahren, seit ich zwischen den Porzellanpuppen und fleischfressenden Pflanzen in Marias Café meine mitternächtlichen Mahlzeiten einnahm, war ich kaum je einem anderen Gast begegnet. Maria ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt.
Einen kurzen Moment lang wurde mein Tisch von Mondlicht überflutet. »Buenas noches, Maria«, sagte eine männliche Stimme. »Buenas noches.« Die Tür wurde wieder geschlossen und der Raum erneut in fast völlige Dunkelheit getaucht. Der Mann ging an meinem Tisch vorüber. Sein Gesicht war abgewandt, aber im schwachen Licht aus der Küche bemerkte ich, dass er, wie sehr große Männer es häufig tun, die Schultern nach vorn fallen ließ, wie um sich dafür zu entschuldigen, so viel Raum einzunehmen. Er trug eine Baseballkappe, die er tief in die Stirn gezogen hatte.
Unter einem Arm klemmte ein Buch. Er ging zu einem Tisch in der Ecke, dem von meinem am weitesten entfernten. Als er sich hinsetzte, mit dem Rücken zu mir, ächzte der Holzstuhl so heftig, dass ich befürchtete, er könnte zerbrechen. Maria holte ein Streichholz aus ihrer Schürzentasche, riss es an der Wand an und hielt die Flamme in ein dunkelrotes Glas auf dem Tisch des Mannes.
Erst als sie sich wieder in die Küche zurückgezogen hatte, um seinen Kaffee zu holen, drehte er sich um und warf mir unter dem Schirm seiner Kappe hervor einen Blick zu. Im flackernden roten Kerzenlicht war nur sein leicht vorspringendes Kinn zu erkennen, der Rest seines Gesichts duckte sich in die Schatten.
»Hallo«, sagte ich. »Guten Abend.«
»Sie sind Amerikaner«, sagte ich überrascht. Ausländer waren selten in Diriomo. Einem amerikanischen Landsmann mitten in der Nacht ausgerechnet in diesem Café zu begegnen war ausgesprochen merkwürdig.
»Ja, das bin ich«, sagte er. Dann winkte er höflich mit der Hand, beugte sich über den Tisch und blickte in sein Buch. Er hielt die Kerze über die Seite, und ich überlegte, ob ich ihn darauf aufmerksam machen sollte, dass Lesen im Dunkeln schlecht für die Augen war. Er wirkte wie der Typ Mann, dem man solche Dinge erklären musste, der Typ Mann, um den sich jemand kümmern sollte. Bald brachte Maria ihm Kaffee.
Etwas an der Art, wie er die Tasse hielt, wie er die Seiten seines Buches umblätterte, selbst wie er den Kopf in stillem Dank zu Maria hob, als sie ihm eine Serviette und eine Schüssel mit Zuckerstückchen brachte, kam mir bekannt vor. Ich betrachtete ihn eingehend, fragte mich, ob das Gefühl, ihn zu kennen, nur eine Illusion war, ausgelöst davon, dass ich schon zu lange allein unterwegs war. Doch je länger ich dort saß, desto überzeugter war ich, dass es sich nicht nur um die vage Vertrautheit unter Landsleuten handelte, sondern um etwas Persönlicheres.
Während er, scheinbar ohne mich wahrzunehmen, seinen Kaffee trank und in seinem Buch las, versuchte ich, mich an die Umstände zu erinnern, unter denen ich ihm schon einmal begegnet sein könnte. Ich spürte mehr, als dass ich es wusste, dass es vor langer Zeit gewesen war und dass zwischen uns ein gewisser Grad von Intimität bestanden hatte; diese Empfindung von Intimität, gemischt mit meiner mangelnden Erinnerung war in höchstem Maße verunsichernd.
Kurz schoss mir durch den Kopf, ob ich mit ihm geschlafen haben könnte. Nach dem Tod meiner Schwester hatte ich eine Phase durchlebt, in der ich mit vielen Männern schlief. Das lag aber
schon lange zurück, so lange, dass es mir fast wie ein anderes Leben vorkam. Maria brachte mein Essen. Ich wartete, bis die dampfenden Kochbananenblätter etwas abgekühlt waren, bevor ich sie abschälte, das nacatamal in die Hände nahm und hineinbiss.
Zu Hause hatte ich mehrfach versucht, Marias Mischung aus Schweinefleisch, Reis, Kartoffeln, Minzblättern, Rosinen und Gewürzen nachzukochen, aber es schmeckte irgendwie nie richtig gut. Doch wenn ich ihr das Rezept entlocken wollte, lachte sie nur und tat, als verstünde sie meine Bitte nicht. »Die sollten Sie mal probieren«, sagte ich zwischen zwei Bissen zu dem Mann.
»Ich kenne Marias nacatamales«, antwortete er und warf wieder einen kurzen Blick in meine Richtung. »Köstlich, aber ich habe schon gegessen.«
Was konnte er hier um diese Uhrzeit machen, überlegte ich, wenn er keinen Hunger mehr hatte? In Diriomo saßen Männer nicht allein im Café und lasen Bücher, nicht einmal amerikanische Männer. Einige Minuten später, als ich mein Geld zum Zahlen herausholte, klappte er sein Buch zu und starrte einige Sekunden lang auf das Cover, als müsse er seinen Mut zusammennehmen, dann stand er auf und kam an meinen Tisch.
Unverhohlen beobachtete uns Maria aus dem Küchendurchgang. Der rote Vorhang wurde zur Seite gezogen, der Raum von weichem Licht erfüllt. Mir schoss flüchtig durch den Kopf, dass Maria diese Begegnung vielleicht meinetwegen eingefädelt hatte, vielleicht wollte sie sich im Kuppeln versuchen. Der Mann zog seine Baseballkappe vom Kopf und hielt sie in beiden Händen. Sein struppiges Haar streifte die niedrige Decke und lud sich statisch auf.
»Verzeihung«, sagte er. Jetzt konnte ich sein Gesicht ganz erkennen die großen dunklen
Augen und den breiten Mund, die hohen Wangenknochen und das kräftige, von Stoppeln bedeckte Kinn und wusste sofort, wer er war.
Ich hatte ihn seit achtzehn Jahren nicht mehr gesehen. Damals auf dem College hatte ich einige Monate lang ununterbrochen an ihn gedacht. Ich hatte die Zeitung nach seinem Namen abgesucht, war mit dem Auto an seiner Erdgeschosswohnung in Russian Hill vorbeigefahren, hatte in einem kleinen italienischen Restaurant in North Beach, in dem er verkehrte, zu Mittag gegessen, obwohl die Preise mein Studentenbudget deutlich überstiegen.
Damals hielt ich es für möglich, dass, wenn ich ihn nur unaufhörlich beschattete, ich etwas begreifen könnte vielleicht nicht, was er getan hatte, aber doch den Mechanismus, der ihn dazu befähigt hatte. Dieser Mechanismus, dessen war ich mir sicher, war eine psychologische Abnormität: eine Art moralische Stimmgabel, die normalerweise bei Menschen vorhanden war, bei ihm jedoch fehlte. Dann, eines Nachmittags im August 1991, verschwand er. An jenem Tag betrat ich um halb eins das Restaurant in North Beach, wie ich es drei Monate lang jede Woche getan hatte.
Sofort wanderte mein Blick zu einem Tisch in der Ecke, über dem eine Miniatur des Mailänder Doms in Öl hing. Dort saß er sonst immer, an einem Platz, der offenbar speziell für ihn reserviert war. Jeden Montag kam er um Viertel nach zwölf, setzte sich und legte rechts von seinem Brotteller einen Block auf den Tisch.
Er sah nur selten auf und nahm seine Umgebung kaum wahr, kritzelte nur fieberhaft mit einem Druckbleistift auf den Block. Er hielt nur inne, um Spaghetti mit Garnelen in Marinarasoße zu bestellen, die er hastig herunterschlang, gefolgt von einem Espresso, den er langsam trank. Die ganze Zeit über arbeitete er an etwas, schrieb mit der rechten Hand und aß mit der Linken. Doch an jenem Tag im August war er nicht da. Ich spürte sofort, dass sich etwas verändert hatte. Ich tunkte mein Brot in Olivenöl und wartete.
Als der Kellner meinen Salat brachte, wusste ich, dass er nicht mehr kommen würde. Um Viertel nach eins meldete ich mich in der Bibliothek der University of San Francisco, wo ich eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft hatte, krank und nahm den Bus nach Russian Hill. An seiner Wohnung hing ein Zu-vermieten-Schild und die Fensterläden standen offen.
Durch die großen Fenster konnte ich sehen, dass alles leer war, alle Möbel waren weg. Mir kam der Gedanke, dass ich ihn möglicherweise nie wieder sehen würde.
2
»eine geschichte hat weder Anfang noch Ende«, pflegte mein Englischdozent im zweiten College-Jahr immer zu sagen. »Willkürlich wählt man den Moment, von dem aus man ein Erlebnis rückschauend betrachtet oder sich vorstellt, wie es weitergeht.«
Dieses Motto wusste Andrew Thorpe in jede Unterrichtsstunde einzuflechten, gleich über welches Buch wir diskutierten. Man konnte fast den Moment erahnen, in dem er es sagen würde, da dem Satz immer eine ausgedehnte Pause vorausging, ein Heben der Augenbrauen, ein schnelles Luftholen.
Ich würde einen Mittwoch im Dezember 1989 wählen. Jedes Mal, wenn ich über die Einzelheiten nachgrübelte, wählte ich diesen Tag, und er wurde zum Ausgangspunkt, von dem aus alle anderen Ereignisse sich entwickelten, wurde zu dem Augenblick, nach dem ich die beiden Teile meines Lebens beurteilte: die Jahre mit Lila und die ohne sie.
An jenem Morgen hörte ich in der Küche Jimmy Cliff im Radio und wartete darauf, dass der Kaffee durchlief. Unsere Eltern waren schon zur Arbeit gefahren. Lila kam in einer schwarzen Rüschenbluse, einem grünen Cordrock und Converse High Tops nach unten.
Ihre Augen waren gerötet, und erschrocken stellte ich fest, dass sie geweint hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich Lila zuletzt hatte weinen sehen.
»Was ist denn los?«
»Nichts. Es ist einfach nur eine stressige Woche.« Sie machte eine kleine Handbewegung, als wollte sie die ganze Sache schnell abtun. Sie trug einen Ring, den ich noch nie gesehen hatte, einen zarten Goldreif mit einem kleinen schwarzen Stein.
»Tanz mit mir«, sagte ich, um sie aufzumuntern. Ich nahm ihre Hand und versuchte, sie herumzuwirbeln, aber sie entzog sich mir. Die Kaffeemaschine piepte. Ich stellte das Radio leiser und goss ihr eine Tasse ein.
»Hat es was mit ihm zu tun?«, fragte ich.
»Mit wem?« »Stimmt doch, oder? Komm schon. Sprich mit mir.« Sie betrachtete durch das Küchenfenster einen Ast, der in der vorangegangenen Woche während eines Gewitters auf unsere Terrasse gefallen war.
Erst später, als ich die Ereignisse dieser Tage in meinem Kopf wieder und wieder durchspielte, kam es mir merkwürdig vor, dass niemand von uns sich die Mühe gemacht hatte, den Ast aufzuheben. »Wie lange liegt der schon da?«, fragte Lila. »Eine Weile.«
»Wir sollten ihn wegräumen.«
»Ja.« Aber keine von uns machte einen Schritt auf die Küchentür zu.
»Sag mir, wie er heißt«, sagte ich schließlich. »Ich kenne ein paar Jungs aus dem Footballteam. Ich kann ihm einen Denkzettel verpassen lassen.«
Das war nur halb als Witz gemeint. Lila reagierte nicht; es war, als hätte sie mich überhaupt nicht gehört. Schon vor langer Zeit hatte ich gelernt, mich durch ihr Schweigen nicht gekränkt zu fühlen. Einmal, als ich ihr vorgehalten hatte, mich zu ignorieren, hatte sie erklärt: »Es ist, als würde ich durch ein Haus wandern. Ich gehe zufällig in ein anderes Zimmer, und die Tür fällt hinter mir zu. Und dann lasse ich mich auf das ein, was in dem Zimmer vorgeht, und alles andere verschwindet irgendwie.« Ich streckte den Arm aus und berührte ihre Hand, um sie wieder zurückzuholen.
»Schöner Ring. Ist das ein Opal?« Sie steckte die Hand in die Tasche. »Der ist nicht echt.«
»Woher hast du ihn?« Sie zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht mehr.«
Lila kaufte sich nie selbst Schmuck. Der Ring musste ein Geschenk von ihm sein, wer auch immer er war. Allein der Gedanke, sich Lila in einer Liebesbeziehung vorzustellen, war ungewohnt. Sie hatte während ihrer gesamten Highschool- und College-Zeit höchstens eine Handvoll Verabredungen gehabt.
Meine Mutter verkündete gern, dass die Jungs ein Mädchen von solch außergewöhnlicher Intelligenz nicht zu schätzen wussten, aber ich hegte den Verdacht, dass meine Mutter das völlig falsch sah. Jungs waren sehr wohl an Lila interessiert; sie hatte nur einfach keine Verwendung für sie.
Als ich in der neunten Klasse war und Lila in der zwölften, hatte ich beobachtet, wie die Jungen sie ansahen. Ich war diejenige, mit der sie sprachen, die sie zu Partys einluden und mit der sie sich verabredeten, die lustige und unkomplizierte Schwester, auf die man zählen konnte, wenn Gruppenausflüge organisiert oder den Lehrern ausgeklügelte Streiche gespielt werden sollten, aber Lila war alles andere als unsichtbar.
Mit ihrem langen dunklen Haar, ihrer Unnahbarkeit, ihrem sonderbaren Sinn für Humor, ihrer Leidenschaft für Mathematik schüchterte sie, so stellte ich es mir vor, die Jungs auf eine Art und Weise ein, wie ich es nie können würde. Wenn sie den Flur hinunterlief, allein und tief in Gedanken versunken, gekleidet in die exzentrischen Klamotten, die sie sich selbst auf der alten Singer-Nähmaschine meiner Mutter nähte, muss sie vollkommen unzugänglich gewirkt haben.
Obwohl die Jungs nicht mit ihr sprachen, war für mich klar, dass sie sie sahen. Ich wurde gemocht, aber Lila hatte ein Geheimnis.
Selbst nachdem sie die UC Berkeley absolviert und angefangen hatte, in Stanford reine Mathematik zu studieren, reichte es Lila voll und ganz, in ihrem alten Zimmer zu wohnen, an den meisten Abenden mit der Familie zu essen, mit Mom und Dad am Wochenende Videos auszuleihen, während ich mit meinen Freunden unterwegs war. In letzter Zeit jedoch ging sie mehrmals die Woche abends aus und kam erst nach Mitternacht mit einem Lächeln auf dem Gesicht zurück.
Wenn ich aus ihr herauszubekommen versuchte, mit wem sie unterwegs gewesen war, antwortete sie jedes Mal: »Nur ein Bekannter.« Unsere Mutter war, genau wie ich, begeistert von der Vorstellung, dass Lila sich möglicherweise mit einem Mann traf.
»Ich will nicht, dass sie einsam durchs Leben geht«, sagte sie mehr als einmal, wenn ich auch argwöhnte, dass Lila nicht unbedingt in der Lage war, Einsamkeit auf dieselbe Weise zu empfinden wie die meisten Leute.
In ihrem Kopf ging so viel vor, dass sie sich nie nach der Gesellschaft von Freunden sehnte. Obwohl wir uns stundenlang leise in der Dunkelheit unterhalten konnten, wusste ich, dass sie genauso zufrieden war, wenn sie allein war, einen Bleistift in der Hand, und an irgendeinem komplizierten mathematischen Problem tüftelte. Ich dachte, für andere Mädchen wäre eine Schwester zu haben wie vor einer Milchglasscheibe zu stehen, durch die die eigene Vergangenheit und Persönlichkeit mit interessanten Variationen auf einen selbst zurückgeworfen wird.
Abgesehen von unserer äußerlichen Ähnlichkeit aber waren Lila und ich so verschieden, dass ich meine Zweifel hegte, ob wir auch Freundinnen gewesen wären, wenn wir in unterschiedliche Familien geboren worden wären.
Lila trank ihren Kaffee aus, nahm einen Apfel aus einer Schale, schnappte sich ihren Rucksack und sagte: »Richte Mom aus, dass ich heute spät nach Hause komme.«
»Wie spät?«
»Spät.«
»Wer auch immer er sein mag«, sagte ich, »sei nicht zu nachsichtig mit ihm. Er darf nicht glauben, dass er machen kann, was er will.«
Ich sah den Ansatz eines Lächelns auf ihrem Gesicht.
»Ist das eine Regel?«
»Eine Grundregel.« Ich folgte ihr in den Hausflur und nahm ihre schwarze Marinejacke vom Haken neben der Treppe. Während ich ihr hineinhalf, sagte sie, als fiele es ihr gerade ein: »Könnte ich unter Umständen heute das Auto haben?«
Seit ich drei Jahre zuvor meinen Führerschein gemacht hatte, teilten wir uns einen blauen Toyota. Lila war diejenige, die jeden Monat unseren Benutzungsplan aufstellte, und in diesem Monat hatte sie mir den Mittwoch zugeteilt.
»An sich schon, aber ich muss bis vier Uhr in der Bibliothek arbeiten und habe um halb fünf einen Zahnarzttermin am anderen Ende der Stadt. Das schaffe ich nie mit dem Bus.«
»Ist auch nicht so wichtig«, sagte sie. Bevor sie durch die Tür ging, verabschiedete ich sie noch mit unserem traditionellen Pfadfindergruß. Zwei, vielleicht drei Sekunden lang hörte ich die vertrauten Geräusche der Außenwelt in unser stilles Haus eindringen ein vorbeifahrendes Auto, ein Kind, das mit seinem Skateboard den steilen Bürgersteig hinunterrollte, ein paar Takte Musik aus einem offenen Fenster gegenüber.
Dann fiel die Haustür leise hinter ihr ins Schloss und sie war weg. Wann immer ich mir in den folgenden Monaten diesen Augenblick ins Gedächtnis rief, hatte ich das Gefühl, dass das klickende Geräusch nicht das Türschloss gewesen war, sondern etwas in meinem eigenen Kopf, ein kaum vernehmbares übersinnliches Geräusch. Dann redete ich mir ein, wenn ich nur zugehört, wenn ich nur aufgepasst hätte, dann hätte ich den Verlauf der Geschichte irgendwie verändern können.
An jenem Abend richtete ich meinen Eltern aus, was Lila gesagt hatte, und wir alle gingen zur gewohnten Zeit ins Bett.
Als ich am nächsten Morgen nach unten kam, stand meine Mutter an die Arbeitsfläche gelehnt, aß Cornflakes und studierte einen juristischen Schriftsatz. Mein Vater saß mit der Zeitung am Tisch und strich Butter auf einen Toast.
»Geh deine Schwester wecken, Ellie«, bat meine Mutter. »Ich kann nicht fassen, dass sie noch nicht auf ist. Sie hat um neun Uhr ein Seminar.«
Ich ging nach oben und klopfte an Lilas Zimmer, aber sie reagierte nicht. Also machte ich die Tür auf und sah, dass ihr Bett unbenutzt war, die weißen Kissen und die Tagesdecke ordentlich und glatt. Unser kleines gemeinsames Bad lag direkt neben meinem Zimmer, und Lila hörte immer den Sender KLIV im Radio, wenn sie sich morgens fertig machte.
Sie hätte sich unmöglich duschen und anziehen können, ohne dass ich sie gehört hätte. Ich ging wieder nach unten. Meine Mutter spülte ihre Müslischale unter dem Wasserhahn ab.
»Sie ist nicht da«, sagte ich. »Sieht so aus, als wäre sie gestern Nacht nicht nach Hause gekommen.«
Übersetzung: Astrid Finke
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
»Sí, señora, ich bin allein.« Meine Antwort blieb, ebenso wie die Speisekarte, seit Jahren unverändert. Und doch stellte sie die Frage jedes Mal, mit einer unverhüllten Hoffnung, dass sich eines Tages das Blatt für mich wenden würde.
Das Café war leer und dunkel, trotz der Hitze draußen beinahe kühl. Sie deutete auf einen kleinen Tisch, auf dem eine Kerze in einem Glas brannte. Ich dankte ihr und setzte mich. In der Küche, die vom Essraum durch einen schmalen, mit rotem Stoff verhängten Durchgang getrennt war, hörte ich sie den Kaffee zubereiten.
Ich betrachtete die Muster, die das Kerzenlicht auf die gegenüberliegende Wand zeichnete. Die Bilder schienen mir zu schön und symmetrisch, um zufällig zu sein ein Vogel, ein Segelboot, ein Stern, gefolgt von einer Reihe rechteckiger Lichtbalken.
Es löste ein Gefühl in mir aus, das ich oft in diesem Dorf hatte, und war einer der Gründe, weshalb ich immer wieder hierherkam, wenn mein Beruf als Kaffeeeinkäuferin mich nach Nicaragua führte das Gefühl, dass selbst die einfachsten natürlichen Vorgänge bestimmten Regeln gehorchten, als herrschte eine namenlose Ordnung über das Belebte wie auch das Unbelebte.
So empfand ich selten zu Hause in San Francisco. Kein Wunder, dass die Einheimischen von Diriomo als dem pueblo brujo sprachen dem verhexten Dorf.
Maria hatte gerade den Teller vor mir auf dem Tisch abgestellt, als die Glocke draußen ertönte. In all den Jahren, seit ich zwischen den Porzellanpuppen und fleischfressenden Pflanzen in Marias Café meine mitternächtlichen Mahlzeiten einnahm, war ich kaum je einem anderen Gast begegnet. Maria ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt.
Einen kurzen Moment lang wurde mein Tisch von Mondlicht überflutet. »Buenas noches, Maria«, sagte eine männliche Stimme. »Buenas noches.« Die Tür wurde wieder geschlossen und der Raum erneut in fast völlige Dunkelheit getaucht. Der Mann ging an meinem Tisch vorüber. Sein Gesicht war abgewandt, aber im schwachen Licht aus der Küche bemerkte ich, dass er, wie sehr große Männer es häufig tun, die Schultern nach vorn fallen ließ, wie um sich dafür zu entschuldigen, so viel Raum einzunehmen. Er trug eine Baseballkappe, die er tief in die Stirn gezogen hatte.
Unter einem Arm klemmte ein Buch. Er ging zu einem Tisch in der Ecke, dem von meinem am weitesten entfernten. Als er sich hinsetzte, mit dem Rücken zu mir, ächzte der Holzstuhl so heftig, dass ich befürchtete, er könnte zerbrechen. Maria holte ein Streichholz aus ihrer Schürzentasche, riss es an der Wand an und hielt die Flamme in ein dunkelrotes Glas auf dem Tisch des Mannes.
Erst als sie sich wieder in die Küche zurückgezogen hatte, um seinen Kaffee zu holen, drehte er sich um und warf mir unter dem Schirm seiner Kappe hervor einen Blick zu. Im flackernden roten Kerzenlicht war nur sein leicht vorspringendes Kinn zu erkennen, der Rest seines Gesichts duckte sich in die Schatten.
»Hallo«, sagte ich. »Guten Abend.«
»Sie sind Amerikaner«, sagte ich überrascht. Ausländer waren selten in Diriomo. Einem amerikanischen Landsmann mitten in der Nacht ausgerechnet in diesem Café zu begegnen war ausgesprochen merkwürdig.
»Ja, das bin ich«, sagte er. Dann winkte er höflich mit der Hand, beugte sich über den Tisch und blickte in sein Buch. Er hielt die Kerze über die Seite, und ich überlegte, ob ich ihn darauf aufmerksam machen sollte, dass Lesen im Dunkeln schlecht für die Augen war. Er wirkte wie der Typ Mann, dem man solche Dinge erklären musste, der Typ Mann, um den sich jemand kümmern sollte. Bald brachte Maria ihm Kaffee.
Etwas an der Art, wie er die Tasse hielt, wie er die Seiten seines Buches umblätterte, selbst wie er den Kopf in stillem Dank zu Maria hob, als sie ihm eine Serviette und eine Schüssel mit Zuckerstückchen brachte, kam mir bekannt vor. Ich betrachtete ihn eingehend, fragte mich, ob das Gefühl, ihn zu kennen, nur eine Illusion war, ausgelöst davon, dass ich schon zu lange allein unterwegs war. Doch je länger ich dort saß, desto überzeugter war ich, dass es sich nicht nur um die vage Vertrautheit unter Landsleuten handelte, sondern um etwas Persönlicheres.
Während er, scheinbar ohne mich wahrzunehmen, seinen Kaffee trank und in seinem Buch las, versuchte ich, mich an die Umstände zu erinnern, unter denen ich ihm schon einmal begegnet sein könnte. Ich spürte mehr, als dass ich es wusste, dass es vor langer Zeit gewesen war und dass zwischen uns ein gewisser Grad von Intimität bestanden hatte; diese Empfindung von Intimität, gemischt mit meiner mangelnden Erinnerung war in höchstem Maße verunsichernd.
Kurz schoss mir durch den Kopf, ob ich mit ihm geschlafen haben könnte. Nach dem Tod meiner Schwester hatte ich eine Phase durchlebt, in der ich mit vielen Männern schlief. Das lag aber
schon lange zurück, so lange, dass es mir fast wie ein anderes Leben vorkam. Maria brachte mein Essen. Ich wartete, bis die dampfenden Kochbananenblätter etwas abgekühlt waren, bevor ich sie abschälte, das nacatamal in die Hände nahm und hineinbiss.
Zu Hause hatte ich mehrfach versucht, Marias Mischung aus Schweinefleisch, Reis, Kartoffeln, Minzblättern, Rosinen und Gewürzen nachzukochen, aber es schmeckte irgendwie nie richtig gut. Doch wenn ich ihr das Rezept entlocken wollte, lachte sie nur und tat, als verstünde sie meine Bitte nicht. »Die sollten Sie mal probieren«, sagte ich zwischen zwei Bissen zu dem Mann.
»Ich kenne Marias nacatamales«, antwortete er und warf wieder einen kurzen Blick in meine Richtung. »Köstlich, aber ich habe schon gegessen.«
Was konnte er hier um diese Uhrzeit machen, überlegte ich, wenn er keinen Hunger mehr hatte? In Diriomo saßen Männer nicht allein im Café und lasen Bücher, nicht einmal amerikanische Männer. Einige Minuten später, als ich mein Geld zum Zahlen herausholte, klappte er sein Buch zu und starrte einige Sekunden lang auf das Cover, als müsse er seinen Mut zusammennehmen, dann stand er auf und kam an meinen Tisch.
Unverhohlen beobachtete uns Maria aus dem Küchendurchgang. Der rote Vorhang wurde zur Seite gezogen, der Raum von weichem Licht erfüllt. Mir schoss flüchtig durch den Kopf, dass Maria diese Begegnung vielleicht meinetwegen eingefädelt hatte, vielleicht wollte sie sich im Kuppeln versuchen. Der Mann zog seine Baseballkappe vom Kopf und hielt sie in beiden Händen. Sein struppiges Haar streifte die niedrige Decke und lud sich statisch auf.
»Verzeihung«, sagte er. Jetzt konnte ich sein Gesicht ganz erkennen die großen dunklen
Augen und den breiten Mund, die hohen Wangenknochen und das kräftige, von Stoppeln bedeckte Kinn und wusste sofort, wer er war.
Ich hatte ihn seit achtzehn Jahren nicht mehr gesehen. Damals auf dem College hatte ich einige Monate lang ununterbrochen an ihn gedacht. Ich hatte die Zeitung nach seinem Namen abgesucht, war mit dem Auto an seiner Erdgeschosswohnung in Russian Hill vorbeigefahren, hatte in einem kleinen italienischen Restaurant in North Beach, in dem er verkehrte, zu Mittag gegessen, obwohl die Preise mein Studentenbudget deutlich überstiegen.
Damals hielt ich es für möglich, dass, wenn ich ihn nur unaufhörlich beschattete, ich etwas begreifen könnte vielleicht nicht, was er getan hatte, aber doch den Mechanismus, der ihn dazu befähigt hatte. Dieser Mechanismus, dessen war ich mir sicher, war eine psychologische Abnormität: eine Art moralische Stimmgabel, die normalerweise bei Menschen vorhanden war, bei ihm jedoch fehlte. Dann, eines Nachmittags im August 1991, verschwand er. An jenem Tag betrat ich um halb eins das Restaurant in North Beach, wie ich es drei Monate lang jede Woche getan hatte.
Sofort wanderte mein Blick zu einem Tisch in der Ecke, über dem eine Miniatur des Mailänder Doms in Öl hing. Dort saß er sonst immer, an einem Platz, der offenbar speziell für ihn reserviert war. Jeden Montag kam er um Viertel nach zwölf, setzte sich und legte rechts von seinem Brotteller einen Block auf den Tisch.
Er sah nur selten auf und nahm seine Umgebung kaum wahr, kritzelte nur fieberhaft mit einem Druckbleistift auf den Block. Er hielt nur inne, um Spaghetti mit Garnelen in Marinarasoße zu bestellen, die er hastig herunterschlang, gefolgt von einem Espresso, den er langsam trank. Die ganze Zeit über arbeitete er an etwas, schrieb mit der rechten Hand und aß mit der Linken. Doch an jenem Tag im August war er nicht da. Ich spürte sofort, dass sich etwas verändert hatte. Ich tunkte mein Brot in Olivenöl und wartete.
Als der Kellner meinen Salat brachte, wusste ich, dass er nicht mehr kommen würde. Um Viertel nach eins meldete ich mich in der Bibliothek der University of San Francisco, wo ich eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft hatte, krank und nahm den Bus nach Russian Hill. An seiner Wohnung hing ein Zu-vermieten-Schild und die Fensterläden standen offen.
Durch die großen Fenster konnte ich sehen, dass alles leer war, alle Möbel waren weg. Mir kam der Gedanke, dass ich ihn möglicherweise nie wieder sehen würde.
2
»eine geschichte hat weder Anfang noch Ende«, pflegte mein Englischdozent im zweiten College-Jahr immer zu sagen. »Willkürlich wählt man den Moment, von dem aus man ein Erlebnis rückschauend betrachtet oder sich vorstellt, wie es weitergeht.«
Dieses Motto wusste Andrew Thorpe in jede Unterrichtsstunde einzuflechten, gleich über welches Buch wir diskutierten. Man konnte fast den Moment erahnen, in dem er es sagen würde, da dem Satz immer eine ausgedehnte Pause vorausging, ein Heben der Augenbrauen, ein schnelles Luftholen.
Ich würde einen Mittwoch im Dezember 1989 wählen. Jedes Mal, wenn ich über die Einzelheiten nachgrübelte, wählte ich diesen Tag, und er wurde zum Ausgangspunkt, von dem aus alle anderen Ereignisse sich entwickelten, wurde zu dem Augenblick, nach dem ich die beiden Teile meines Lebens beurteilte: die Jahre mit Lila und die ohne sie.
An jenem Morgen hörte ich in der Küche Jimmy Cliff im Radio und wartete darauf, dass der Kaffee durchlief. Unsere Eltern waren schon zur Arbeit gefahren. Lila kam in einer schwarzen Rüschenbluse, einem grünen Cordrock und Converse High Tops nach unten.
Ihre Augen waren gerötet, und erschrocken stellte ich fest, dass sie geweint hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich Lila zuletzt hatte weinen sehen.
»Was ist denn los?«
»Nichts. Es ist einfach nur eine stressige Woche.« Sie machte eine kleine Handbewegung, als wollte sie die ganze Sache schnell abtun. Sie trug einen Ring, den ich noch nie gesehen hatte, einen zarten Goldreif mit einem kleinen schwarzen Stein.
»Tanz mit mir«, sagte ich, um sie aufzumuntern. Ich nahm ihre Hand und versuchte, sie herumzuwirbeln, aber sie entzog sich mir. Die Kaffeemaschine piepte. Ich stellte das Radio leiser und goss ihr eine Tasse ein.
»Hat es was mit ihm zu tun?«, fragte ich.
»Mit wem?« »Stimmt doch, oder? Komm schon. Sprich mit mir.« Sie betrachtete durch das Küchenfenster einen Ast, der in der vorangegangenen Woche während eines Gewitters auf unsere Terrasse gefallen war.
Erst später, als ich die Ereignisse dieser Tage in meinem Kopf wieder und wieder durchspielte, kam es mir merkwürdig vor, dass niemand von uns sich die Mühe gemacht hatte, den Ast aufzuheben. »Wie lange liegt der schon da?«, fragte Lila. »Eine Weile.«
»Wir sollten ihn wegräumen.«
»Ja.« Aber keine von uns machte einen Schritt auf die Küchentür zu.
»Sag mir, wie er heißt«, sagte ich schließlich. »Ich kenne ein paar Jungs aus dem Footballteam. Ich kann ihm einen Denkzettel verpassen lassen.«
Das war nur halb als Witz gemeint. Lila reagierte nicht; es war, als hätte sie mich überhaupt nicht gehört. Schon vor langer Zeit hatte ich gelernt, mich durch ihr Schweigen nicht gekränkt zu fühlen. Einmal, als ich ihr vorgehalten hatte, mich zu ignorieren, hatte sie erklärt: »Es ist, als würde ich durch ein Haus wandern. Ich gehe zufällig in ein anderes Zimmer, und die Tür fällt hinter mir zu. Und dann lasse ich mich auf das ein, was in dem Zimmer vorgeht, und alles andere verschwindet irgendwie.« Ich streckte den Arm aus und berührte ihre Hand, um sie wieder zurückzuholen.
»Schöner Ring. Ist das ein Opal?« Sie steckte die Hand in die Tasche. »Der ist nicht echt.«
»Woher hast du ihn?« Sie zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht mehr.«
Lila kaufte sich nie selbst Schmuck. Der Ring musste ein Geschenk von ihm sein, wer auch immer er war. Allein der Gedanke, sich Lila in einer Liebesbeziehung vorzustellen, war ungewohnt. Sie hatte während ihrer gesamten Highschool- und College-Zeit höchstens eine Handvoll Verabredungen gehabt.
Meine Mutter verkündete gern, dass die Jungs ein Mädchen von solch außergewöhnlicher Intelligenz nicht zu schätzen wussten, aber ich hegte den Verdacht, dass meine Mutter das völlig falsch sah. Jungs waren sehr wohl an Lila interessiert; sie hatte nur einfach keine Verwendung für sie.
Als ich in der neunten Klasse war und Lila in der zwölften, hatte ich beobachtet, wie die Jungen sie ansahen. Ich war diejenige, mit der sie sprachen, die sie zu Partys einluden und mit der sie sich verabredeten, die lustige und unkomplizierte Schwester, auf die man zählen konnte, wenn Gruppenausflüge organisiert oder den Lehrern ausgeklügelte Streiche gespielt werden sollten, aber Lila war alles andere als unsichtbar.
Mit ihrem langen dunklen Haar, ihrer Unnahbarkeit, ihrem sonderbaren Sinn für Humor, ihrer Leidenschaft für Mathematik schüchterte sie, so stellte ich es mir vor, die Jungs auf eine Art und Weise ein, wie ich es nie können würde. Wenn sie den Flur hinunterlief, allein und tief in Gedanken versunken, gekleidet in die exzentrischen Klamotten, die sie sich selbst auf der alten Singer-Nähmaschine meiner Mutter nähte, muss sie vollkommen unzugänglich gewirkt haben.
Obwohl die Jungs nicht mit ihr sprachen, war für mich klar, dass sie sie sahen. Ich wurde gemocht, aber Lila hatte ein Geheimnis.
Selbst nachdem sie die UC Berkeley absolviert und angefangen hatte, in Stanford reine Mathematik zu studieren, reichte es Lila voll und ganz, in ihrem alten Zimmer zu wohnen, an den meisten Abenden mit der Familie zu essen, mit Mom und Dad am Wochenende Videos auszuleihen, während ich mit meinen Freunden unterwegs war. In letzter Zeit jedoch ging sie mehrmals die Woche abends aus und kam erst nach Mitternacht mit einem Lächeln auf dem Gesicht zurück.
Wenn ich aus ihr herauszubekommen versuchte, mit wem sie unterwegs gewesen war, antwortete sie jedes Mal: »Nur ein Bekannter.« Unsere Mutter war, genau wie ich, begeistert von der Vorstellung, dass Lila sich möglicherweise mit einem Mann traf.
»Ich will nicht, dass sie einsam durchs Leben geht«, sagte sie mehr als einmal, wenn ich auch argwöhnte, dass Lila nicht unbedingt in der Lage war, Einsamkeit auf dieselbe Weise zu empfinden wie die meisten Leute.
In ihrem Kopf ging so viel vor, dass sie sich nie nach der Gesellschaft von Freunden sehnte. Obwohl wir uns stundenlang leise in der Dunkelheit unterhalten konnten, wusste ich, dass sie genauso zufrieden war, wenn sie allein war, einen Bleistift in der Hand, und an irgendeinem komplizierten mathematischen Problem tüftelte. Ich dachte, für andere Mädchen wäre eine Schwester zu haben wie vor einer Milchglasscheibe zu stehen, durch die die eigene Vergangenheit und Persönlichkeit mit interessanten Variationen auf einen selbst zurückgeworfen wird.
Abgesehen von unserer äußerlichen Ähnlichkeit aber waren Lila und ich so verschieden, dass ich meine Zweifel hegte, ob wir auch Freundinnen gewesen wären, wenn wir in unterschiedliche Familien geboren worden wären.
Lila trank ihren Kaffee aus, nahm einen Apfel aus einer Schale, schnappte sich ihren Rucksack und sagte: »Richte Mom aus, dass ich heute spät nach Hause komme.«
»Wie spät?«
»Spät.«
»Wer auch immer er sein mag«, sagte ich, »sei nicht zu nachsichtig mit ihm. Er darf nicht glauben, dass er machen kann, was er will.«
Ich sah den Ansatz eines Lächelns auf ihrem Gesicht.
»Ist das eine Regel?«
»Eine Grundregel.« Ich folgte ihr in den Hausflur und nahm ihre schwarze Marinejacke vom Haken neben der Treppe. Während ich ihr hineinhalf, sagte sie, als fiele es ihr gerade ein: »Könnte ich unter Umständen heute das Auto haben?«
Seit ich drei Jahre zuvor meinen Führerschein gemacht hatte, teilten wir uns einen blauen Toyota. Lila war diejenige, die jeden Monat unseren Benutzungsplan aufstellte, und in diesem Monat hatte sie mir den Mittwoch zugeteilt.
»An sich schon, aber ich muss bis vier Uhr in der Bibliothek arbeiten und habe um halb fünf einen Zahnarzttermin am anderen Ende der Stadt. Das schaffe ich nie mit dem Bus.«
»Ist auch nicht so wichtig«, sagte sie. Bevor sie durch die Tür ging, verabschiedete ich sie noch mit unserem traditionellen Pfadfindergruß. Zwei, vielleicht drei Sekunden lang hörte ich die vertrauten Geräusche der Außenwelt in unser stilles Haus eindringen ein vorbeifahrendes Auto, ein Kind, das mit seinem Skateboard den steilen Bürgersteig hinunterrollte, ein paar Takte Musik aus einem offenen Fenster gegenüber.
Dann fiel die Haustür leise hinter ihr ins Schloss und sie war weg. Wann immer ich mir in den folgenden Monaten diesen Augenblick ins Gedächtnis rief, hatte ich das Gefühl, dass das klickende Geräusch nicht das Türschloss gewesen war, sondern etwas in meinem eigenen Kopf, ein kaum vernehmbares übersinnliches Geräusch. Dann redete ich mir ein, wenn ich nur zugehört, wenn ich nur aufgepasst hätte, dann hätte ich den Verlauf der Geschichte irgendwie verändern können.
An jenem Abend richtete ich meinen Eltern aus, was Lila gesagt hatte, und wir alle gingen zur gewohnten Zeit ins Bett.
Als ich am nächsten Morgen nach unten kam, stand meine Mutter an die Arbeitsfläche gelehnt, aß Cornflakes und studierte einen juristischen Schriftsatz. Mein Vater saß mit der Zeitung am Tisch und strich Butter auf einen Toast.
»Geh deine Schwester wecken, Ellie«, bat meine Mutter. »Ich kann nicht fassen, dass sie noch nicht auf ist. Sie hat um neun Uhr ein Seminar.«
Ich ging nach oben und klopfte an Lilas Zimmer, aber sie reagierte nicht. Also machte ich die Tür auf und sah, dass ihr Bett unbenutzt war, die weißen Kissen und die Tagesdecke ordentlich und glatt. Unser kleines gemeinsames Bad lag direkt neben meinem Zimmer, und Lila hörte immer den Sender KLIV im Radio, wenn sie sich morgens fertig machte.
Sie hätte sich unmöglich duschen und anziehen können, ohne dass ich sie gehört hätte. Ich ging wieder nach unten. Meine Mutter spülte ihre Müslischale unter dem Wasserhahn ab.
»Sie ist nicht da«, sagte ich. »Sieht so aus, als wäre sie gestern Nacht nicht nach Hause gekommen.«
Übersetzung: Astrid Finke
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Michelle Richmond
Michelle Richmond unterrichtet Creative Writing und ist Herausgeberin der Literaturzeitschrift "Fiction Attic". Sie lebt mit ihrer Familie in San Francisco.
Bibliographische Angaben
- Autor: Michelle Richmond
- 2010, 400 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Astrid Finke
- Verlag: Diana
- ISBN-10: 345335477X
- ISBN-13: 9783453354777
Rezension zu „Niemand, den du kennst “
"Dies ist ein literarischer Psychothriller vom Feinsten. Richmond zeichnet die Auswirkungen von Trauer und Schuldgefühlen aufs Genaueste nach. Sie zeigt auf, wie wenig wir sogar über die Menschen wissen, die uns am nächsten stehen."
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