Niemand hört mein Schreien
Gefangen im Palast Gaddafis. Ausgezeichnet mit dem Grand Prix de la Presse Internationale 2012 und dem International Club de Las 25 Prize
Offiziell existierte unter dem Diktator in Libyen keine Gewalt gegen Frauen doch die Realität war eine andere: Gaddafi selbst hielt Mädchen und Frauen in seinem Palast gefangen und misshandelte sie. Annick Cojean erzählt die Leidensgeschichte der 15-jährigen Sorayat.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Niemand hört mein Schreien “
Offiziell existierte unter dem Diktator in Libyen keine Gewalt gegen Frauen doch die Realität war eine andere: Gaddafi selbst hielt Mädchen und Frauen in seinem Palast gefangen und misshandelte sie. Annick Cojean erzählt die Leidensgeschichte der 15-jährigen Sorayat.
Klappentext zu „Niemand hört mein Schreien “
"Gaddafi hat mein Leben zerstört. Niemand wird jemals erfahren, was ich erlebt habe. Niemand wird sich davon auch nur eine Vorstellung machen können. Niemand."Muammar al-Gaddafi propagierte einen aufgeklärten Islamismus und die Gleichberechtigung der Frau, offiziell existierte unter Gaddafi keine Gewalt gegen Frauen - dabei, so wird nun bekannt, hielt der Diktator über Jahrzehnte unzählige Mädchen und Frauen im Keller seines Palastes gefangen, misshandelte und missbrauchte sie.
Die Journalistin Annick Cojean stößt auf dieses größte Tabu in der libyschen Gesellschaft nach Gaddafis Tod: In Tripolis trifft sie die junge Soraya, die den Mut hat, das Schweigen zu brechen. Sie erzählt der Journalistin ihre Lebensgeschichte. Als Fünfzehnjährige von Gaddafi ausgewählt und von seinen Schergen entführt, wurde sie jahrelang von dem Tyrannen gedemütigt und vergewaltigt. Doch auch Gaddafis Tod bedeutet für Soraya und ihre Leidensgenossinnen nicht das Ende ihrer Qualen - sie müssen weiterhin um ihr Leben fürchten, denn ihre Familien betrachten sie als entehrt. Und auch die libysche Gesellschaft verschließt noch immer die Augen vor dem wahren Ausmaß von Gaddafis Verbrechen und ist nicht bereit, die jungen Frauen als seine Opfer anzuerkennen und ihnen Rückhalt zu bieten.
Annick Cojean ist die erschütternde und zugleich hochpolitische Schilderung eines von Gewalt und emotionaler Zerstörung geprägten Lebens gelungen. Sie wurde für diese mutige journalistische Recherche mit dem Grand Prix de la Presse Internationale 2012 ausgezeichnet.
"Der Alptraum aus tausendundeiner Nacht." Le Point
"Eine brillante Spurensuche." L'Express
"Annick Cojean gelingt es, die entsetzliche Hilflosigkeit, die Einsamkeit und die Angst dieser jungen Mädchen spürbar werden zu lassen, die nicht nur Opfer ihres Diktators, sondern auch ihrer Gesellschaft sind." Livres Hebdo
"Entführt, vergewaltigt, gedemütigt - das war das Schicksal zahlreicher Frauen, die Gaddafi zu Diensten stehen mussten.
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Ineinem erschütternden Bericht lässt Annick Cojean sie zu Wort kommen." Elle
"Annick Cojeans Buch spricht eine präzise und außergewöhnlich gefühlvolle Sprache, trägt schockierende Fakten und Zeugenaussagen zusammen, bietet jedoch auch einen Einblick in eine höchst brisante journalistische Recherche. Brillant." Paris Match
"Eine bemerkenswerte Reportage. Sie enthüllt ein ganzes System, das auf dem Einsatz der Vergewaltigung als Waffe des Terrors beruht." Marie Claire
"Annick Cojeans Buch spricht eine präzise und außergewöhnlich gefühlvolle Sprache, trägt schockierende Fakten und Zeugenaussagen zusammen, bietet jedoch auch einen Einblick in eine höchst brisante journalistische Recherche. Brillant." Paris Match
"Eine bemerkenswerte Reportage. Sie enthüllt ein ganzes System, das auf dem Einsatz der Vergewaltigung als Waffe des Terrors beruht." Marie Claire
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Lese-Probe zu „Niemand hört mein Schreien “
Niemand hört mein Schreien von Annick Cojean Aus dem Französischen von Waltraud Schwarze und Claudia Puls
...
An einem Aprilmorgen im Jahr 2004 - ich war gerade fünfzehn geworden - wandte sich der Direktor des Gymnasiums an alle im Hof versammelten Schülerinnen: »Der Führer er weist uns die große Ehre, uns morgen zu besuchen. Das ist eine Freude für die ganze Schule. Ich zähle also auf euch, dass ihr pünktlich seid, diszipliniert und tadellos gekleidet. Ihr sollt ihm das Bild einer wundervollen Schule geben, wie er sie liebt und verdient!« Was für eine Nachricht! Was für eine großartige Neuigkeit! Sie können sich unsere Aufregung nicht vorstellen. Gaddafi leibhaftig vor uns zu sehen ... Sein Bild begleitete mich, seit ich auf der Welt bin. Seine Fotos waren überall, auf den Mauern der Stadt, den Wänden der Verwaltungsgebäude, der öffentlichen Säle, der Geschäfte. Auf T-Shirts, Halsketten, Schulheften. Von den Geldscheinen gar nicht zu reden. Wir lebten pausenlos unter seinem Blick. In seinem Kult. Und trotz Mamas bitterböser Bemerkungen empfand ich für ihn eine furchtsame Verehrung. Sein Leben konnte ich mir nicht vorstellen, denn ich ordnete ihn gar nicht unter die Menschenwesen ein. Er stand über allen Dingen, er lebte auf einem unerreichbaren Olymp, in der absoluten Reinheit.
... mehr
Am nächsten Morgen rannte ich in frisch gewaschener und gebügelter Schulkleidung - schwarze Hose und Tunika, weißer Schal, der das Gesicht fest umschloss - zur Schule und wartete ungeduldig darauf, dass man uns den Tagesablauf erklären würde. Aber kaum hatte die erste Stunde begonnen, als ein Lehrer mich holen kam und mir sagte, ich sei auserwählt worden, dem Führer Blumen und Geschenke zu überreichen. Ich! Das Mädchen aus dem »Salon«! Die Schülerin, die man immer abseits setzte! Ein Schock, sage ich Ihnen! Erst mal habe ich ungläubig die Augen aufgerissen, dann bin ich strahlend aufgestanden in dem Bewusstsein, dass ich sehr viele Neider in der Klasse zurückließ. Man führte mich in einen großen Raum, wo ich noch andere, gleichfalls ausgewählte Schülerinnen traf, man wies uns an, uns sehr schnell umzuziehen und das traditionelle libysche Gewand überzustreifen. Die Sachen hingen schon auf Kleiderbügeln für uns parat. In Rot. Tunika, Hose, Schleier und ein kleines Hütchen, das man aufs Haar setzte. Wie aufregend das alles war! Wir drängelten uns lachend, unterstützt von Lehrerinnen, die uns die Schleier richteten, hier und da eine Nadel reinsteckten, einen Fön zur Hand nahmen, um widerspenstige Haare zu glätten. Ich fragte: »Sagen Sie mir bloß, ich flehe Sie an, wie soll ich ihn begrüßen? Was muss ich tun? Muss ich niederknien? Ihm die Hand küssen? Etwas aufsagen?« Mein Herz schlug wie wild, während alle um uns herum damit beschäftigt waren, uns wunderschön aussehen zu lassen. Wenn ich heute an diese Szene zurückdenke, sehe ich in ihr die Vorbereitung der Lämmer, die man zum Opferaltar führt.
Der Festsaal der Schule war bis auf den letzten Platz gefüllt. Lehrer, Schüler, Verwaltungspersonal, alles war in nervöser Erwartung. Die kleine Gruppe der Mädchen, die für seinen Empfang ausgewählt waren, hatte man vor der Eingangstür postiert, und wir warfen uns komplizenhafte Blicke zu, die besagen wollten: ›Mensch, haben wir ein Glück! Unser ganzes Leben werden wir uns an diesen Augenblick erinnern!‹ Ich klammerte mich an meinen Blumenstrauß und zitterte wie Espenlaub. Meine Beine erschienen mir wie aus Watte. Ein Lehrer warf mir einen strengen Blick zu: »Reiß dich zusammen, Soraya!«
Und plötzlich erschien er. In einem Blitzlichtgewitter und umgeben von einem Schwarm von Leuten und den Frauen seiner Leibgarde. Er trug ein weißes Gewand, die Brust voller Orden und Ehrenzeichen, über den Schultern einen beigefarbenen Schal und in der gleichen Farbe eine Kappe auf seinem Kopf, unter der tiefschwarze Haare hervorquollen. Es ging alles sehr schnell. Ich reichte ihm mein Bukett, dann nahm ich seine freie Hand in meine Hände und küsste sie, mich verneigend. Ich spürte, wie er meine Handfläche merkwürdig fest zusammendrückte. Dann maß er mich mit kaltem Blick von oben bis unten. Er presste meine Schulter, legte mir eine Hand auf den Kopf und streichelte mir das Haar. In dem Moment ging mein Leben zu Ende. Denn diese Geste, so erfuhr ich später, war das Zeichen, das seiner Leibgarde bedeutete: »Die will ich.«
[...]
Als ich am nächsten Morgen zur Schule kam, bemerkte ich eine radikale Veränderung im Verhalten der Lehrer mir gegenüber. Für gewöhnlich waren sie sehr schroff, ja verächtlich zu mir. Und auf einmal waren sie beinahe zartfühlend, oder sagen wir: aufmerksam. Schon als einer mich »Kleine Soraya« nannte, hob ich verwundert eine Augenbraue. Und als ein anderer mich fragte: »Und, kommst du weiter zum Unterricht?«, als ob ich das entscheiden könnte, habe ich mir gesagt, das ist doch wohl nicht normal. Aber immerhin, es war der Tag nach einem Fest, und ich habe nicht weiter darüber nachgedacht. Nach Unterrichtsschluss, um 13 Uhr, bin ich nach Hause geflitzt, um mich umzuziehen, und um 13 Uhr 30 war ich im Salon, um Mama zu helfen.
Um 15 Uhr ging die Tür auf, und die Frauen von Gaddafi kamen herein. Faiza als Erste, danach Salma und schließlich Mabruka. Salma war in ihrer Leibwächteruniform gekommen, einen Revolver am Gürtel. Die beiden anderen trugen klassische Gewänder. Sie sahen sich um - es war ein Tag mit viel Kundschaft -, fragten eine der Angestellten: »Wer von Ihnen ist Sorayas Mutter?« und gingen geradewegs auf sie zu.
»Wir gehören zum Revolutionskomitee und waren dabei, als Muammar gestern Morgen die Schule besucht hat. Soraya fiel auf, sie sah bezaubernd aus in ihrem traditionellen Gewand und hat ihre Aufgabe sehr gut gemacht. Wir möchten, dass sie Muammar erneut einen Strauß überreicht. Dazu müsste sie jetzt gleich mitkommen.«
»Der Augenblick ist nicht sehr günstig! Sie sehen, der Salon ist voll. Ich brauche meine Tochter hier!«
»Es wird nicht länger als eine Stunde dauern.«
»Und sie soll nur Blumen überreichen?«
»Es könnte sein, dass sie auch noch einigen Frauen ein Make-up machen muss.«
»Das ist was anderes. Aber dann gehe ich!«
»Nein, nein! Die Blumen soll Soraya überreichen.«
Ich folgte dem Gespräch zunächst neugierig, dann mit wachsender Erregung. Gewiss, Mama war tatsächlich überlastet an dem Tag, aber es war mir ein bisschen peinlich, dass sie ihre Abneigung so deutlich bekundete. Da es um den Führer ging, konnte sie in keinem Fall ablehnen! Am Ende hat meine Mutter zugestimmt - sie hatte ja gar keine Wahl -, und ich bin mit den drei Frauen mitgegangen. Ein großer Geländewagen stand vor dem Laden. Der Fahrer ließ den Motor an, noch bevor wir richtig drinsaßen. Mabruka auf dem Vordersitz, ich hinten eingeklemmt zwischen Salma und Faiza. Wir brausten los, gefolgt von einer Eskorte von zwei Wagen, die mir sofort auffielen.
Und meine Kindheit war zu Ende.
Wir sind sehr lange gefahren. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber die Fahrt erschien mir unendlich. Nachdem wir Sirte hinter uns gelassen hatten, ging es quer durch die Wüste. Ich sah immer geradeaus, ich wagte keine Frage zu stellen. Und dann kamen wir in Sdadah an, einer Art Heerlager. Es bestand aus mehreren Zelten, zwischen ihnen eine Reihe Autos und ein riesiger Wohnwagen, vielmehr, es war ein unfassbar großer und ausgesprochen luxuriöser Wohnbus. Mabruka ging auf das Fahrzeug zu und bedeutete mir, ihr zu folgen, und da glaubte ich in einem Wagen, der gerade kehrtmachte, eine der Schülerinnen zu erkennen, die mit mir am Tag zuvor auserwählt worden waren, den Führer zu empfangen. Das hätte mich beruhigen können, und doch erfasste mich in dem Augenblick, als ich den Riesenwohnbus betrat, eine unbeschreibliche Angst. Als ob mein ganzes Wesen sich der Situation verweigerte. Als ob es intuitiv erfasste, dass sich etwas sehr Negatives über mir zusammenbraute.
Drinnen saß Muammar Gaddafi, er thronte auf einem roten Massage-Sessel, die Fernbedienung in der Hand. Wie ein Kaiser. Ich ging auf ihn zu, um ihm die Hand zu küssen, die er mir schlaff entgegenhielt, während er woandershin sah. »Wo sind Faiza und Salma?«, fragte er Mabruka gereizt. »Sie kommen auch gleich.« Ich war überrascht. Kein einziger Blick für mich. Ich existierte gar nicht. So vergingen ein paar Minuten. Ich wusste nicht, wohin mit mir. Schließlich stand er auf und fragte mich: »Woher stammt deine Familie?«
»Aus Zliten.«
Sein Gesicht blieb unbewegt. »Bereitet sie vor!«, befahl er und verließ den Raum.
[...]
Man zog mir einen String-Tanga an - so was hatte ich noch nie gesehen -, ein seidig glänzendes weißes Kleid, das seitlich geschlitzt war und auf der Brust und im Rücken tief ausgeschnitten. Mein offenes Haar fiel mir bis auf den Po herab.
Fathia schminkte mich, parfümierte mich und fügte noch ein wenig Gloss auf die Lippen hinzu, was Mama mir nie erlaubt hätte. Mabruka prüfte meine ganze Erscheinung mit strengem Blick, dann nahm sie mich bei der Hand und führte mich in den Flur. Vor einer Tür blieb sie stehen, öffnete sie und schob mich hinein.
Gaddafi saß nackt auf seinem Bett. Wie entsetzlich! Ich verbarg meine Augen und wich wie vor den Kopf geschlagen zurück. Ich dachte nur: Was für ein grässlicher Irrtum! Wie konnte ich in diesem Augenblick ...! O mein Gott! Ich drehte mich um, Mabruka stand in der Tür, ihr Gesicht war hart. »Er hat ja gar nichts an!«, flüsterte ich total verstört, in dem Glauben, sie hätte es nicht bemerkt. »Geh rein!«, herrschte sie mich an und drängte mich zurück. Da ergriff er meine Hand und zwang mich, mich neben ihn auf das Bett zu setzen. Ich wagte nicht, ihn anzusehen. »Dreh dich um, du Hure!«
Dieses Wort. Ich wusste nicht genau, was es bedeutete, aber ich ahnte, es war ein schlimmes, ein vulgäres Wort, ein Wort, das eine verachtenswerte Frau bezeichnete. Ich rührte mich nicht. Er versuchte, mich zu sich umzudrehen. Ich leistete ihm Widerstand. Er zog an meinem Arm, meiner Schulter. Mein ganzer Körper spannte sich. Da drehte er gewaltsam meinen Kopf zu sich, indem er mich an den Haaren zog.
»Hab keine Angst. Ich bin dein Papa, so nennst du mich doch, nicht wahr? Aber ich bin auch dein Bruder, und dann auch noch dein Geliebter. All das werde ich für dich sein. Denn du wirst nun für immer bei mir leben.« Sein Gesicht näherte sich dem meinen, ich spürte seinen Atem. Er begann mich zu küssen, auf den Hals, auf die Wangen. Ich blieb steif wie ein Stück Holz. Er wollte mich umschlingen, da wich ich zurück. Er zog mich wieder zu sich heran. Ich wandte den Kopf und brach in Tränen aus. Da versuchte er mein Gesicht mit den Händen zu umfassen. Mit einem Satz sprang ich auf, er zog mich am Arm, ich stieß ihn zurück, das machte ihn wütend, er versuchte mich mit Gewalt auf das Bett zu strecken, ich schlug um mich. Er brüllte.
In diesem Moment erschien Mabruka. »Sieh dir diese Hure an!«, schrie er. »Sie macht nicht, was ich will! Bring es ihr bei! Erzieh sie! Und dann bring sie mir wieder!«
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin.
Am nächsten Morgen rannte ich in frisch gewaschener und gebügelter Schulkleidung - schwarze Hose und Tunika, weißer Schal, der das Gesicht fest umschloss - zur Schule und wartete ungeduldig darauf, dass man uns den Tagesablauf erklären würde. Aber kaum hatte die erste Stunde begonnen, als ein Lehrer mich holen kam und mir sagte, ich sei auserwählt worden, dem Führer Blumen und Geschenke zu überreichen. Ich! Das Mädchen aus dem »Salon«! Die Schülerin, die man immer abseits setzte! Ein Schock, sage ich Ihnen! Erst mal habe ich ungläubig die Augen aufgerissen, dann bin ich strahlend aufgestanden in dem Bewusstsein, dass ich sehr viele Neider in der Klasse zurückließ. Man führte mich in einen großen Raum, wo ich noch andere, gleichfalls ausgewählte Schülerinnen traf, man wies uns an, uns sehr schnell umzuziehen und das traditionelle libysche Gewand überzustreifen. Die Sachen hingen schon auf Kleiderbügeln für uns parat. In Rot. Tunika, Hose, Schleier und ein kleines Hütchen, das man aufs Haar setzte. Wie aufregend das alles war! Wir drängelten uns lachend, unterstützt von Lehrerinnen, die uns die Schleier richteten, hier und da eine Nadel reinsteckten, einen Fön zur Hand nahmen, um widerspenstige Haare zu glätten. Ich fragte: »Sagen Sie mir bloß, ich flehe Sie an, wie soll ich ihn begrüßen? Was muss ich tun? Muss ich niederknien? Ihm die Hand küssen? Etwas aufsagen?« Mein Herz schlug wie wild, während alle um uns herum damit beschäftigt waren, uns wunderschön aussehen zu lassen. Wenn ich heute an diese Szene zurückdenke, sehe ich in ihr die Vorbereitung der Lämmer, die man zum Opferaltar führt.
Der Festsaal der Schule war bis auf den letzten Platz gefüllt. Lehrer, Schüler, Verwaltungspersonal, alles war in nervöser Erwartung. Die kleine Gruppe der Mädchen, die für seinen Empfang ausgewählt waren, hatte man vor der Eingangstür postiert, und wir warfen uns komplizenhafte Blicke zu, die besagen wollten: ›Mensch, haben wir ein Glück! Unser ganzes Leben werden wir uns an diesen Augenblick erinnern!‹ Ich klammerte mich an meinen Blumenstrauß und zitterte wie Espenlaub. Meine Beine erschienen mir wie aus Watte. Ein Lehrer warf mir einen strengen Blick zu: »Reiß dich zusammen, Soraya!«
Und plötzlich erschien er. In einem Blitzlichtgewitter und umgeben von einem Schwarm von Leuten und den Frauen seiner Leibgarde. Er trug ein weißes Gewand, die Brust voller Orden und Ehrenzeichen, über den Schultern einen beigefarbenen Schal und in der gleichen Farbe eine Kappe auf seinem Kopf, unter der tiefschwarze Haare hervorquollen. Es ging alles sehr schnell. Ich reichte ihm mein Bukett, dann nahm ich seine freie Hand in meine Hände und küsste sie, mich verneigend. Ich spürte, wie er meine Handfläche merkwürdig fest zusammendrückte. Dann maß er mich mit kaltem Blick von oben bis unten. Er presste meine Schulter, legte mir eine Hand auf den Kopf und streichelte mir das Haar. In dem Moment ging mein Leben zu Ende. Denn diese Geste, so erfuhr ich später, war das Zeichen, das seiner Leibgarde bedeutete: »Die will ich.«
[...]
Als ich am nächsten Morgen zur Schule kam, bemerkte ich eine radikale Veränderung im Verhalten der Lehrer mir gegenüber. Für gewöhnlich waren sie sehr schroff, ja verächtlich zu mir. Und auf einmal waren sie beinahe zartfühlend, oder sagen wir: aufmerksam. Schon als einer mich »Kleine Soraya« nannte, hob ich verwundert eine Augenbraue. Und als ein anderer mich fragte: »Und, kommst du weiter zum Unterricht?«, als ob ich das entscheiden könnte, habe ich mir gesagt, das ist doch wohl nicht normal. Aber immerhin, es war der Tag nach einem Fest, und ich habe nicht weiter darüber nachgedacht. Nach Unterrichtsschluss, um 13 Uhr, bin ich nach Hause geflitzt, um mich umzuziehen, und um 13 Uhr 30 war ich im Salon, um Mama zu helfen.
Um 15 Uhr ging die Tür auf, und die Frauen von Gaddafi kamen herein. Faiza als Erste, danach Salma und schließlich Mabruka. Salma war in ihrer Leibwächteruniform gekommen, einen Revolver am Gürtel. Die beiden anderen trugen klassische Gewänder. Sie sahen sich um - es war ein Tag mit viel Kundschaft -, fragten eine der Angestellten: »Wer von Ihnen ist Sorayas Mutter?« und gingen geradewegs auf sie zu.
»Wir gehören zum Revolutionskomitee und waren dabei, als Muammar gestern Morgen die Schule besucht hat. Soraya fiel auf, sie sah bezaubernd aus in ihrem traditionellen Gewand und hat ihre Aufgabe sehr gut gemacht. Wir möchten, dass sie Muammar erneut einen Strauß überreicht. Dazu müsste sie jetzt gleich mitkommen.«
»Der Augenblick ist nicht sehr günstig! Sie sehen, der Salon ist voll. Ich brauche meine Tochter hier!«
»Es wird nicht länger als eine Stunde dauern.«
»Und sie soll nur Blumen überreichen?«
»Es könnte sein, dass sie auch noch einigen Frauen ein Make-up machen muss.«
»Das ist was anderes. Aber dann gehe ich!«
»Nein, nein! Die Blumen soll Soraya überreichen.«
Ich folgte dem Gespräch zunächst neugierig, dann mit wachsender Erregung. Gewiss, Mama war tatsächlich überlastet an dem Tag, aber es war mir ein bisschen peinlich, dass sie ihre Abneigung so deutlich bekundete. Da es um den Führer ging, konnte sie in keinem Fall ablehnen! Am Ende hat meine Mutter zugestimmt - sie hatte ja gar keine Wahl -, und ich bin mit den drei Frauen mitgegangen. Ein großer Geländewagen stand vor dem Laden. Der Fahrer ließ den Motor an, noch bevor wir richtig drinsaßen. Mabruka auf dem Vordersitz, ich hinten eingeklemmt zwischen Salma und Faiza. Wir brausten los, gefolgt von einer Eskorte von zwei Wagen, die mir sofort auffielen.
Und meine Kindheit war zu Ende.
Wir sind sehr lange gefahren. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber die Fahrt erschien mir unendlich. Nachdem wir Sirte hinter uns gelassen hatten, ging es quer durch die Wüste. Ich sah immer geradeaus, ich wagte keine Frage zu stellen. Und dann kamen wir in Sdadah an, einer Art Heerlager. Es bestand aus mehreren Zelten, zwischen ihnen eine Reihe Autos und ein riesiger Wohnwagen, vielmehr, es war ein unfassbar großer und ausgesprochen luxuriöser Wohnbus. Mabruka ging auf das Fahrzeug zu und bedeutete mir, ihr zu folgen, und da glaubte ich in einem Wagen, der gerade kehrtmachte, eine der Schülerinnen zu erkennen, die mit mir am Tag zuvor auserwählt worden waren, den Führer zu empfangen. Das hätte mich beruhigen können, und doch erfasste mich in dem Augenblick, als ich den Riesenwohnbus betrat, eine unbeschreibliche Angst. Als ob mein ganzes Wesen sich der Situation verweigerte. Als ob es intuitiv erfasste, dass sich etwas sehr Negatives über mir zusammenbraute.
Drinnen saß Muammar Gaddafi, er thronte auf einem roten Massage-Sessel, die Fernbedienung in der Hand. Wie ein Kaiser. Ich ging auf ihn zu, um ihm die Hand zu küssen, die er mir schlaff entgegenhielt, während er woandershin sah. »Wo sind Faiza und Salma?«, fragte er Mabruka gereizt. »Sie kommen auch gleich.« Ich war überrascht. Kein einziger Blick für mich. Ich existierte gar nicht. So vergingen ein paar Minuten. Ich wusste nicht, wohin mit mir. Schließlich stand er auf und fragte mich: »Woher stammt deine Familie?«
»Aus Zliten.«
Sein Gesicht blieb unbewegt. »Bereitet sie vor!«, befahl er und verließ den Raum.
[...]
Man zog mir einen String-Tanga an - so was hatte ich noch nie gesehen -, ein seidig glänzendes weißes Kleid, das seitlich geschlitzt war und auf der Brust und im Rücken tief ausgeschnitten. Mein offenes Haar fiel mir bis auf den Po herab.
Fathia schminkte mich, parfümierte mich und fügte noch ein wenig Gloss auf die Lippen hinzu, was Mama mir nie erlaubt hätte. Mabruka prüfte meine ganze Erscheinung mit strengem Blick, dann nahm sie mich bei der Hand und führte mich in den Flur. Vor einer Tür blieb sie stehen, öffnete sie und schob mich hinein.
Gaddafi saß nackt auf seinem Bett. Wie entsetzlich! Ich verbarg meine Augen und wich wie vor den Kopf geschlagen zurück. Ich dachte nur: Was für ein grässlicher Irrtum! Wie konnte ich in diesem Augenblick ...! O mein Gott! Ich drehte mich um, Mabruka stand in der Tür, ihr Gesicht war hart. »Er hat ja gar nichts an!«, flüsterte ich total verstört, in dem Glauben, sie hätte es nicht bemerkt. »Geh rein!«, herrschte sie mich an und drängte mich zurück. Da ergriff er meine Hand und zwang mich, mich neben ihn auf das Bett zu setzen. Ich wagte nicht, ihn anzusehen. »Dreh dich um, du Hure!«
Dieses Wort. Ich wusste nicht genau, was es bedeutete, aber ich ahnte, es war ein schlimmes, ein vulgäres Wort, ein Wort, das eine verachtenswerte Frau bezeichnete. Ich rührte mich nicht. Er versuchte, mich zu sich umzudrehen. Ich leistete ihm Widerstand. Er zog an meinem Arm, meiner Schulter. Mein ganzer Körper spannte sich. Da drehte er gewaltsam meinen Kopf zu sich, indem er mich an den Haaren zog.
»Hab keine Angst. Ich bin dein Papa, so nennst du mich doch, nicht wahr? Aber ich bin auch dein Bruder, und dann auch noch dein Geliebter. All das werde ich für dich sein. Denn du wirst nun für immer bei mir leben.« Sein Gesicht näherte sich dem meinen, ich spürte seinen Atem. Er begann mich zu küssen, auf den Hals, auf die Wangen. Ich blieb steif wie ein Stück Holz. Er wollte mich umschlingen, da wich ich zurück. Er zog mich wieder zu sich heran. Ich wandte den Kopf und brach in Tränen aus. Da versuchte er mein Gesicht mit den Händen zu umfassen. Mit einem Satz sprang ich auf, er zog mich am Arm, ich stieß ihn zurück, das machte ihn wütend, er versuchte mich mit Gewalt auf das Bett zu strecken, ich schlug um mich. Er brüllte.
In diesem Moment erschien Mabruka. »Sieh dir diese Hure an!«, schrie er. »Sie macht nicht, was ich will! Bring es ihr bei! Erzieh sie! Und dann bring sie mir wieder!«
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin.
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Autoren-Porträt von Annick Cojean
Annick Cojean, geb. 1957, ist Korrespondentin von Le Monde und eine der bekanntesten Journalistinnen Frankreichs. Sie hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht und wurde mit dem Prix Albert Londres ausgezeichnet.Waltraud Schwarze studierte Romanistik und Bibliothekswissenschaft, betreute über 30 Jahre die Literatur aus den romanischen Sprachen in einem Verlag und entdeckte Fred Vargas für den deutschen Buchmarkt. Sie lebt als Übersetzerin und freie Lektorin in Berlin.2009 wurde Waltraud Schwarze vom französischen Ministerium für Kultur und Kommunikation zum Chevalier dans l'ordre des Arts et des Lettres / Ritter im Orden Arts et Lettres ernannt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Annick Cojean
- 2013, 3. Aufl., 296 Seiten, Maße: 13,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Französ. v. Waltrud Schwarze u. Claudia Puls
- Übersetzer: Waltraud Schwarze, Claudia Puls
- Verlag: Aufbau-Verlag
- ISBN-10: 3351027664
- ISBN-13: 9783351027667
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