Niemand wird dein Flehen hören
Das erste gemeinsame Buch der Bestsellerautorinnen und Schwestern Lisa Jackson und Nancy Bush!
Ein altes Geheimnis bringt neue Gefahren!
Als im Irrgarten der Schule St. Elizabeth ein Skelett gefunden wird, sind die Mitglieder ihrer...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Niemand wird dein Flehen hören “
Das erste gemeinsame Buch der Bestsellerautorinnen und Schwestern Lisa Jackson und Nancy Bush!
Ein altes Geheimnis bringt neue Gefahren!
Als im Irrgarten der Schule St. Elizabeth ein Skelett gefunden wird, sind die Mitglieder ihrer damaligen Clique fest davon überzeugt, dass es sich um Jessie Brentwood handelt, die vor zwanzig Jahren plötzlich verschwand. Alle, außer Detective McNally, gingen davon aus, dass sie ausgerissen war. Nun rollt McNally den Fall neu auf und muss nebenher auch noch die Anschläge auf die Mitglieder aus Jessies ehemaliger Clique aufklären. Welches Geheimnis hütete Jessie? Und welche Rolle spielt Becca, die sich damals in die Clique drängte und seit dem Auftauchen des Skeletts seltsame Visionen hat?
"Seine schnelle Taktung und eine verblüffende Handlung machen dieses Buch zu einem erstklassigen Thriller".
Publishers Weekly
Lese-Probe zu „Niemand wird dein Flehen hören “
Niemand wird dein Flehen hören von Lisa JacksonCampus von St. Elizabeth, Februar 1989
Mitternacht ...
... mehr
Heilige Muttergottes, hilf mir!
O bitte ... rette mich!
Das Mädchen rannte im aufsteigenden Nebel kopfl os durch
den Irrgarten. Sie stolperte, ein vorstehender Ast streifte ihr
Gesicht.
»Nein!« Sie deckte die Hand auf die Wange und spürte sogleich
warmes Blut zwischen ihren Fingern hindurchquellen.
Das gab ihr neuen Antrieb. Sie rannte weiter, atmete schwer.
Ihre Wadenmuskeln schmerzten, ihre Lungen brannten, und
noch immer prasselte der mitternächtliche Regen auf sie nieder.
Das hier ist nicht richtig. Ganz und gar nicht!
So sollte es nicht sein! Es kann nicht sein!
Sie warf einen Blick über die Schulter zurück, lauschte angestrengt,
das Klopfen ihres Herzens dröhnte ihr in den Ohren.
Sie hatte sich nicht verirrt. Sie wusste, wo sie war. Sie kannte
die Abzweigungen und Windungen, die zum Zentrum des Irrgartens
führten, und wenn sie es erst erreicht hatte, würde sie,
davon war sie überzeugt, einen weiteren Ausgang fi nden - vielleicht
auch zwei. Aber es war schon lange her, dass sie hier gewesen
war. Einen Augenblick dachte sie, sie würde sich viel-
leicht in ihren eigenen Untergang führen, in eine Falle, die sie
sich selbst gestellt hatte. Sie musste weiterlaufen, sich an die
Abzweigungen und Windungen erinnern ...
Aber es war so dunkel.
Und er kam näher. Sie spürte ihn. Als ob sein Atem bereits
ihren Nacken streifte.
Angst schnürte ihr die Kehle zu und sie schlitterte fast um
eine Ecke aus zitterndem Lorbeer. Er wusste von ihr> und jetzt
war er ihr auf den Fersen.
Woher wusste er das? Während sie selbst doch so viele Jahre
- ihr ganzes Leben, so kam es ihr vor - gebraucht hatte, um
die Wahrheit zu erfahren!
Doch dann hatte sie ihn dummerweise herausgefordert. Hatte
ihn selbst in den Irrgarten eingeladen, in der Hoff nung, mehr
zu erfahren; um ihn zu entlarven. Sie hatte geglaubt, den Spieß
umdrehen, das böse Geschick abwenden zu können. Aber es
läuft nicht nach Plan, sagte sie sich. Ihre Schuhsohlen rutschten
im langen Gras. Die Jägerin war zur Gejagten geworden.
Aber wie konnte er über sie Bescheid wissen ... es sei denn ...
es sei denn, er war einer von ihnen?
Sie hörte etwas. Ein Geräusch ... ein scharfes Zischen ... Ihre
Nackenhaare sträubten sich. Was zum Teufel war das?
Sie blieb wie erstarrt stehen, die Hände erhoben, als wolle
sie eine Gefahr abwehren. Auf den Fußballen stehend, zitterte
sie am ganzen Körper und keuchte verhalten. Er war da! Ganz
nahe. Er hatte den Irrgarten bereits betreten. Sie konnte ihn
jetzt deutlich hören, denn er gab sich keine Mühe, sein Näherkommen
zu verheimlichen. Ihr Herzschlag schmerzte an den
Rippen.
War er allein? Sie vermutete es. Er musste allein sein. Sie hatte
geplant, dass er allein sein würde, aber jetzt wusste sie es
nicht.
Gar nichts wusste sie.
Und das machte ihr Angst, denn bisher hatte sie immer alles
gewusst. Das war ihre Gabe. Und vielleicht ihr Fluch.
Deshalb hatten sie auch die Wahrheit nicht vor ihr verbergen
können. Sie hatte herausgefunden, wer sie waren und wer sie
selbst war, obwohl sie sich größte Mühe gegeben hatten, es zu
verhindern. Zu ihrer eigenen Sicherheit, hatten sie gesagt. Und
jetzt ... jetzt fi ng sie an zu verstehen, was sie gemeint hatten.
Es war wegen ihm.
Sie lauschte mit zitterndem Herzen, während ihre Angst
wuchs. Der Verfolger schritt durch den Irrgarten. Ohne Eile.
Unaufhaltsam. Nahm stets die richtige Abzweigung. War es nur
eine Person? War jemand bei ihm? Sie konnte es nicht mit Sicherheit
sagen.
Sie konnte nicht bleiben. Sie blickte über die hohe Hecke
hinweg und sah, als Wolken sich vor den Mond schoben, einen
blassen Lichtstrahl. Er zeichnete den Glockenturm der Kirche
in krassem, Unheil verkündendem Umriss nach, und südlicher,
ganz in der Nähe, war das Dach des Klosters zu erkennen.
Sie hatte diese Wahrzeichen schon hundert Mal gesehen.
Mit hämmerndem Herzen schlüpfte sie, nachdem sie die Orientierung
wiedergefunden hatte, zwischen den Hecken hindurch.
Schleichend tastete sie sich vor, um eine Bank und eine
scharfe Biegung herum, in Richtung Zentrum, zu der Statue. Sie
hatte die gespenstische Madonna immer mit leisem Argwohn
betrachtet, doch jetzt war es ihr brennender Wunsch, sie endlich
zu erreichen.
Zuflucht.
Sicherheit.
Darum betete sie jedenfalls. Das Blut fl oss kalt in ihren Adern,
sie fror so sehr, als wäre es zu Eis erstarrt.
Geräuschlos umrundete sie eine letzte Biegung und blieb abrupt
stehen, als plötzlich die Marienstatue auftauchte, die sie
in bleichem Weiß mit erhobenen Armen begrüßte. Inmitten
der schwankenden Äste und des modrigen Geruchs nach totem
Laub und Schlamm schimmerte sie gespenstisch.
Bei ihrem Anblick schnappte sie nach Luft, taumelte zurück
und wäre beinahe gestürzt. Ein Zweig knackte unter ihrem
Schuh.
Angstvoll sah sie sich um, duckte sich wie ein gehetztes Tier.
Hatte er sie gehört? Hinter sich hörte sie ihn im nachtdunklen
Irrgarten näher kommen. Unbeirrt. Immer näher. Er nahm die
richtigen Abzweigungen, ohne zu zögern. Ihr Herz klopfte im
Takt zu seinen Schritten, die ihr Verderben ankündigten. Sie
schluckte, leckte sich nervös über die Lippen und zwang ihre
Beine, sich wieder in Bewegung zu setzen. Eine Ecke ... eine
längere Strecke ... noch eine Ecke.
Aber wo war der Ausgang? Hatte sie ihn verfehlt?
Vor Angst und Hilfl osigkeit hätte sie schreien mögen. Sie sah
sich gezwungen, den gleichen Weg zurückzugehen, im Wissen,
dass er immer näher kam. Sie spürte seine Nähe jetzt so deutlich,
dass eine Gänsehaut ihre Arme überzog.
Sie fand keine Öff nung, keine Lücke zwischen den dicken
Ästen.
Panik erfasste sie. Es musste einen Ausgang geben, ein Versteck,
eine Möglichkeit, die Oberhand zu gewinnen ...
Er kam unaufhaltsam.
Näher. Mit entschlossenem Schritt, unüberhörbar auf dem
schlammigen Boden.
Wo? Wo zum Kuckuck war die Lücke in der Hecke?
Sie hastete an den Hecken entlang, schob die Hand ins Laubwerk,
tastete ... suchte ... Ihr Kopf dröhnte, ihr Herz raste,
Meeresbrandung rauschte in ihren Ohren, das Aufprallen von
Wellen an fernen Felsen ... obwohl sie in diesem geschlossenen
Labyrinth keineswegs in Strandnähe war. Aber so war es immer
gewesen. Immer hatte sie diese seltsam vertrauten Geräusche
gehört, immer einen fernen Ort mit salziger Luft gespürt ...
Doch hier fand sie keinen Ausgang. Keine Fluchtmöglichkeit.
Nur dicke Äste, lückenlos.
Sie schluckte krampfhaft. Das war das Ende. Es gab kein Entrinnen.
Sie kniete vor der Statue nieder und hauchte lautlos:
»Mutter Maria, rette meine Seele ...«
Sie war nicht gut gewesen.
Aber auch nicht durch und durch schlecht.
Hinter sich hörte sie ihn erbarmungslos näher rücken. Ganz
ohne Eile. Denn er wusste, dass er sie in der Hand hatte. Das
Entsetzen ließ sie wieder frösteln.
Sie hielt ganz still, betete verzweifelt, immer wieder: Mutter
Maria, rette meine Seele. Und dann erklang eine Stimme. Tief.
Rau. Sie hallte hohl in ihrem Kopf: Sie kann dir nicht helfen. Du
hast keine Seele, die sie retten könnte.
Waren das seine Worte? Hörte sie seine grausame Stimme?
Mit plötzlicher Klarheit dachte sie: Ich bin sechzehn Jahre alt
und werde sterben. Wie dumm sie war, ihn gereizt zu haben. Ihn
herauszufordern. Was hatte sie sich dabei gedacht?
Das war ja der Kernpunkt ihres Problems: Sie konnte nicht
nur in die Zukunft blicken, nein, sie versuchte manchmal auch,
sie zu verändern.
Und das würde sie nun umbringen. Mitten in diesem Irrgarten,
in der Winterkälte würde er ihrem Leben ein Ende machen.
Verzweifelt schob sie eine Hand in die Jackentasche und schloss
die Finger um das dort verborgene Klappmesser.
Inbrünstig betete sie um ihr Leben, um ihre Seele. Über das
Hämmern ihres Herzens hinweg hörte sie die Schritte des Jägers.
Sie kamen unerbittlich näher. Sie sprang auf, drehte sich
zu der gähnenden Öff nung im dichten Gestrüpp hin, dem einzig
möglichen Fluchtweg. Aus den Tiefen der Schatten tauchte
eine Gestalt auf.
Groß.
Bedrohlich.
Wie Luzifer persönlich.
Ihr Anfang und ihr Ende.
»Geh weg!«, befahl sie und hob das Messer.
Er kam weiter auf sie zu.
»Ich bringe dich um, ich schwör's.«
Ein träges, selbstgefälliges Lächeln trat auf sein Gesicht. Du
denkst, du hättest mich hierher eingeladen, Hure, während ich es
doch war, der dich gefunden und gejagt hat und dich töten wird.
Er sprach kein Wort und dennoch hallte seine Stimme durch
ihren Kopf.
»Es ist mein Ernst«, warnte sie ihn und schwang die kleine
Klinge, das Klappmesser, das sie aus der Schublade ihres Vaters
gestohlen hatte.
Meiner auch.
Sie stürzte ihm entgegen, stieß mit dem Messer zu, in der Absicht,
ihm den Leib aufzuschlitzen. Aber fl ink wie eine Schlange
schoss sein Arm vor. Kräftige Finger umspannten ihr Handgelenk.
»Ah!«
Mieses Weibsstück. Er bog ihre Hand zurück. Sie schrie auf
und brach in die Knie.
Er sah sie an. Starke Finger bogen ihr Handgelenk um.
»Hör auf!«, schrie sie.
Zischend stieß er den Atem aus. Mit einem kurzen Ruck
brach er ihr das Handgelenk.
Sie schrie leise auf. Das Messer entglitt ihren gefühllosen Fingern.
Seine dunklen Augen waren wie Laser, als er das Messer
aufhob und es ihr zwischen die Rippen stieß. »Schluss jetzt«,
krächzte er.
Sie schlug nach ihm, aber es war sinnlos. Sie sah ihn an und
fl üsterte: »Das ist erst der Anfang ...« Sie sah, wie sein Gesicht
sich vor Wut verzerrte. Er schüttelte vehement den Kopf und
stieß ihr das Messer noch tiefer in die Brust.
Die Nacht verwirbelte um sie herum. Sie brach vor der Statue
zusammen, nahm wahr, dass ihr Mörder sie mit gebleckten Zähnen
ansah. Sein keuchender Atem bildeten weiße Wölkchen,
die sich aufl östen, als sie den Blick hob. Blut quoll aus ihrer
Wunde.
Dann lag sie still wie der Tod unter der Madonnenstatue. Er
entzog sich ihrem brechenden Blick. Wolken verhüllten den
Mond. Nur wenige Sterne standen am Himmel. Irgendwo in der
Ferne schien eine Glocke zu läuten.
Ich bin ein Opfer, dachte sie.
Dann nahm die Dunkelheit sie auf.
Campus von St. Elizabeth Februar 2009
Mitternacht ...
Kyle Baskin hielt sich die Taschenlampe unters Kinn, den Lichtstrahl
nach oben gerichtet, sodass die Flächen und Mulden seines
Gesichts beleuchtet wurden.
»Bloody Bones betrat das Haus«, fl üsterte er mit tiefer, gespenstischer
Stimme. Sein Blick huschte über den Kreis der
Jungen zu seinen Füßen, die ernsthaft und mit ängstlichen Gesichter
zu ihm aufsahen. »Bloody Bones ging zur Treppe. Bloody
Bones blickte hinauf und konnte die Kinder durch die Wände
sehen.«
»Wie mit dem Röntgenblick?«, piepste Mikey Ferguson.
»Klappe.« James, sein älterer Bruder, bedachte ihn mit einem
strafenden Blick.
Über ihnen schwankten die Äste. Der Mond stand am Himmel,
war jedoch durch die hohen Hecken des Irrgartens nicht zu
sehen. Nur ganz wenig Licht sickerte durchs Laub.
»Ich bin auf der ersten Stufe«, sang Kyle und hielt um noch
größerer Wirkung willen inne. Über den Strahl der Taschenlampe
hinweg sah er die Kinder an, die er und James ins Zentrum
des Irrgartens geführt hatten. Sie hatten eigentlich nur
babysitten sollen, doch das war todlangweilig. »Ich bin auf
der zweiten Stufe.« Er holte zitternd Luft und sagte gedehnt:
»Ich ... bin ... auf ... der ... dritten ... Stufe ...«
Mikey warf einen furchtsamen Blick über die Schulter zurück
und drängte sich enger an James, dessen Feixen für Kyle
deutlich sichtbar war.
Tyler, der kleine Angsthase, fi ng an zu schniefen.
»Ich ... bin ... auf ... der ... vierten ... Stufe ...«
»Wie viele Stufen sind denn da?«, schrie Mikey und klammerte
sich an James' Arm.
»Halt die Klappe!« James versuchte, ihn abzuschütteln.
»Ich will nach Hause!«, jammerte Tyler.
»Ich bin auf ... der ... fünften Stufe!«
»Ich rufe meinen Dad.« Preston, der übergewichtige Junge,
stand auf. Seine gewöhnlich tonlose Stimme zitterte leicht.
»Das Handy liegt noch im Auto, du Idiot.«
»Ich bin auf der sechsten Stufe, ich bin auf der siebten Stufe, ich
bin auf der achten Stufe!«, haspelte Kyle rasch herunter.
Wie an Fäden gezogen sprangen die Jungen auf, schrien, sahen
sich hektisch um und suchten vergebens nach einem Fluchtweg,
doch die Hecken ragten bedrohlich in den Weg hinein.
Kyle sagte im Flüsterton: »Ich bin auf der neunten Stufe ...«
James wurde ein bisschen unruhig. Sie durften nicht zulassen,
dass diese Dummköpfe in alle Himmelsrichtungen davonfl
itzten. »Setzt euch!«
»Ich bin auf der zehnten Stufe ... und jetzt gehe ich den Flur
entlang ... Ich stehe vor eurer Tür ... ich öff ne sie ... knirsch!«
Irgendwie hörte es sich dämlich an, dachte James, wie Kyle
die Geschichte erzählte, aber es zeigte weiß Gott Wirkung.
Die Kleinen huschten durcheinander wie Kakerlaken, wich-
en angstvoll vor der schmutzigen alten Statue dieser Dame zurück,
schrien und heulten. James und Kyle fi ngen an zu lachen.
Sie konnten nicht anders. Das stachelte die Kleinen beinahe zur
Hysterie auf, und Mikey taumelte gegen die Statue - der Idiot
- und brachte das Ding zum Kippen. Die Planierraupen waren
schon auf dem Gelände gewesen. Die Schule wurde abgerissen,
der Irrgarten ebenfalls. Deswegen war Kyle überhaupt auf diese
Idee gekommen. Eine letzte Gruselfete, wo sie die Kleinen in
Angst und Schrecken versetzen konnten.
»Du Blödmann, du hast die alte Dame umgekippt«, sagte
James im Tonfall eines schwer geprüften Menschen.
Er ging zu seinem jüngeren Bruder, um ihm wieder auf die
Beine zu helfen, während Kyle Tyler und Preston einfi ng, die
weinten wie kleine Babys. Mikey war praktisch selbst zu einer
Statue erstarrt. Er stand da wie vom Donner gerührt und starrte
vor sich hin. Langsam hob er eine Hand, als James zu ihm kam,
und zeigte auf einen Erdhügel, der sich gebildet hatte, als die
Statue kippte.
»Bloody Bones«, fl üsterte er. Sein zeigender Finger zitterte.
James blickte in die angegebene Richtung. Aus dem Boden
hatte sich eine menschliche Skeletthand erhoben, gleichzeitig
schmutzig und sonderbar weiß, mit ausgestreckten Fingern, als
wollte sie um Hilfe bitten.
James fi elen fast die Augen aus dem Kopf. Er begann zu
schreien wie am Spieß und konnte nicht wieder aufhören.
Kyle starrte in nackter Angst auf die Hand. »Mist«, stieß er
zitternd hervor.
Der kleine Mikey packte James' Hand und zerrte ihn mit
sich aus dem Irrgarten heraus. Der Rest der Truppe rannte ihnen
nach. Sie alle rannten um ihr Leben; den ganzen Weg über
spürten sie Bloody Bones' kalten Atem in ihrem Nacken.
1 . Kapitel
Ich spüre sie ... diese Veränderung in der Atmosphäre, unterschwellig,
aber deutlich, wie die leise Erschütterung eines leichten
Erdstoßes mit seinen Nachbeben. Ich weiß, was das bedeutet.
Ich wusste, dass es geschehen würde. Habe gewartet.
Ich schlage die Decken des alten Bettes zurück und lausche auf
das Heulen des Windes, der von Westen her landeinwärts tobt
und das Wasser aufwühlt. Auf Kleidung verzichte ich und stoße
die Tür der alten Wärterwohnung auf, die zum Leuchtturm selbst
führt. Rasch bewältige ich die Wendeltreppe, laufe die verrosteten
Stufen empor und kümmere mich nicht darum, dass das Metall unter
meinem Gewicht ächzt.
Schneller! Schneller!
Mein Herz hämmert. Die Rastlosigkeit, die ich zu beherrschen
versucht, die Impulse, die ich in Schach gehalten habe, brechen
sich Bahn.
Die Treppe verengt sich, als ich zur Plattform hinaufsteige, wo
die einstmals helle Signallampe schläft. Ihr riesiger Strahler spendet
nun kein Licht mehr, warnt keine Seeleute mehr vor drohenden
Untiefen.
Ich öff ne die Tür nach draußen und betrete den verwitterten Gitterrost.
Regen sprüht aus den am Himmel brodelnden Wolken, der
Wind zerrt an meinem Haar, und die Nacht ist dunkel und winterlich.
Vierzig Meter unter mir umtost die wütende Brandung die -
se kleine, zerklüftete, seit einem halben Jahrhundert verlassene Insel.
Niemand wohnt hier.
Der Leuchtturm ist für die Öff entlichkeit tabu und wird umsichtig
vom Küstenschutz, einem alten, verbogenen Maschendrahtzaun
und der gefährlichen Brandung selbst bewacht.
Einige wenige haben es gewagt, hier einzudringen.
Aber sie sind in den trügerischen Strömungen rund um diesen erbärmlichen
kleinen Felsen ums Leben gekommen. Trotz der Dunkelheit
wende ich mich um und richte den Blick aufs Festland. Ich
weiß, dass sie da sind. Ich habe so viele geholt, wie ich konnte. Ihre
Festung kann genommen werden, aber ich habe Narben aus dem
Kampf davongetragen und muss vorsichtig sein.
Heute Nacht schimmert kein Licht aus ihren Fenstern. Der
Wald verdeckt sie.
Ich schaue aufs Meer hinaus, halte die Nase in den Wind, rieche
jedoch nichts außer dem brackigen Duft des tobenden Pazifi
ks vierzig Meter unter mir. Der Wind bläst mir das Haar in die
Augen, meine Haut wird kalt in der eisigen Luft, aber das Blut in
meinen Adern fl ießt heiß.
Ich stelle mir den Geruch ihrer Haut vor. Wie ein regennasser
Strand. Verlockend ...
Ich kann sie beinahe riechen. Beinahe.
Auch ohne ihre Witterung weiß ich, wo sie ist. Ich habe durch
eine andere von ihr erfahren, die mir ungewollt den Weg gewiesen hat.
Gut.
Es ist mal wieder an der Zeit, ein uraltes Übel auszuräumen.
Dieses Mal wird nichts fehlschlagen.
Ein kalter Schauer lief Becca Sutcliff über den Rücken. Sie atmete
tief durch und sah sich um. Das Mädchen an der Kasse von
Mutts & Stuff warf ihr einen Blick aus den Augenwinkeln zu.
»Alles in Ordnung?«
»Nur eine Gänsehaut, völlig grundlos«, sagte Becca.
Das Mädchen zog die Brauen hoch und Becca las ihr die Gedanken
praktisch von der Stirn ab: Ja. Klar. Wie du meinst. Sie
scannte Beccas Einkäufe ein und stopfte alles in eine Tüte. Becca
bedankte sich, balancierte die Päckchen aus, die sie bereits
trug, und nahm die Tüte an sich. Ja, es war reine Ersatzbefriedigung,
dass sie einkaufte wie ein Weltmeister, das Resultat der
chaotischen Nachwehen von ungeklärten Gefühlen seit ihrer
Trennung von Ben. Und jetzt war Ben tot. Einfach weg. Und
kam nie wieder. Und das alles gab ihr ein ... na ja ... komisches
Gefühl.
Sie setzte ihren Weg durch die Einkaufspassage fort. Die fröhlichen
roten und pinkfarbenen Herzchen in allen Schaufenstern
deprimierten sie. Valentinstag. Der traurigste Tag des Jahres für
die, die plötzlich wieder Single sind.
Gut. Sie war nicht restlos unglücklich. Sie hatte schon lange
gewusst, dass sie und Ben es nicht schaff en würden. Sie waren
nie verliebt gewesen. Nicht so, wie sie es sich gewünscht, erhoff
t, geplant hatte. Als sie erfuhr, dass er eine Aff äre hatte, war
sie wütend geworden. In erster Linie auf sich selbst. Im Grunde
konnte sie sich nicht einmal so recht daran erinnern, was sie
überhaupt veranlasst hatte zu heiraten. Was hatte sie gewollt?
Was hatte Ben gewollt? War es nur eine Frage des Zeitpunkts
gewesen? Die Frage, wenn nicht Ben, wer dann?
Dann erfuhr sie, dass er in den Armen seiner neuen Liebe gestorben
war. Herzinfarkt.
Weg ... weg für immer.
Daran hatte sie noch zu knacken. Musste sich noch mit der
Tatsache abfi nden, dass er sie wegen einer anderen Frau verlassen
hatte. Sie verlassen hatte ... während sie noch glaubte, sie
hätten vielleicht, vielleicht doch noch eine Chance. Die Chance,
eine Familie zu gründen. Ein Kind zu bekommen. Ein eigenes
Kind. Ihr eigenes Kind.
Das Schaufenster von Pink, Blue and You, Baby- und Um-
standsmoden, tauchte vor ihr auf. Sie war schon früher einmal
dort gewesen, um ein Geschenk für eine schwangere Kollegin zu
besorgen. Das war fast eine Folter für sie gewesen. Sie wünschte
sich ein Kind. Hatte sich schon immer ein Kind gewünscht.
Bei der Erinnerung, dass sie vor langer, langer Zeit ein ungeborenes
Baby verloren hatte, krampfte sich ihr Magen zusammen.
In Situationen wie dieser meldete sich der Schmerz zurück, so
frisch und grausam wie zur Zeit der Fehlgeburt. Tränen brannten
ihr in den Augen. Aber sie würde nicht zusammenbrechen.
Um Himmels willen, nicht jetzt. Sie hatte ohnehin viel zu lange
getrauert. Sie drängte die dummen Tränen zurück und wandte
den Blick von den niedlichen Sachen in Puderrosa, Hellblau
und Zitronengelb ab. Hatte sie Ben deswegen geheiratet? Um
ein Kind zu bekommen? Um das zu ersetzen, was ihr genommen
worden war?
Becca ermahnte sich, endlich darüber hinwegzukommen. Sie
hatte sich unzählige Male dieselbe Frage gestellt, hatte nicht
versucht, eine Antwort zu fi nden. Aber jetzt war das alles irrelevant.
Ben war nicht mehr. Und er hatte seine zweiundzwanzigjährige
neue Geliebte schwanger zurückgelassen. Er hatte nie
gewollt, dass Becca schwanger wurde.
»Ich will keine Kinder«, hatte er gesagt. »Das hast du gewusst,
als wir geheiratet haben.«
Ach, ja? Sie erinnerte sich nicht.
»Wir zwei alleine, Becca. Nur du und ich.«
Vielleicht hatte sie ihn wirklich nur geheiratet, um ein Kind
zu bekommen. Nein, besser: Um ein Kind zu ersetzen. Vielleicht
hatte sie die Sache mit der Liebe nur erfunden. Vielleicht hatte
sie sich nur gewünscht, dass alles so viel schöner sein würde,
als es dann tatsächlich war.
Aber sie hatte keine Zeit, sich in Selbstmitleid zu suhlen. Es
war vorbei. Endgültig! Sie kehrte dem Schaufenster den Rü-
cken zu. Nicht nötig, sich selbst noch länger zu quälen. Absolut
überfl üssig.
Zur Linken befand sich ein Selbstbedienungsrestaurant, und
sie warf einen Blick hinein, bevor sie eilig in die andere Richtung
weiterging. Doch plötzlich verschwamm ihr alles vor Augen,
was sie zwang, langsamer zu gehen und schließlich ganz
stehen zu bleiben. Ihr Puls schoss urplötzlich in die Höhe. Verfl
ixt! Sie spürte eine Ohnmacht nahen. So etwas hatte sie schon
früher erlebt, öfter, als ihr lieb war. Allerdings wurde sie nie
richtig bewusstlos. Oh nein. Es war eher so, als ... geriete sie
unter einen Bann. In einen Wachtraum. Doch es war seit Jahren
nicht mehr vorgekommen. Seit Jahren nicht!
Warum jetzt?, fragte sie sich, eine halbe Sekunde, bevor
sengender Schmerz durch ihren Kopf schoss. Sie wankte und
fiel auf die Knie. Ihre Einkäufe entglitten ihr. Becca senkte den
Kopf, verbarg in einem letzten lichten Moment vor dem Einsetzen
der Vision instinktiv ihr Gesicht vor neugierigen Gaffern.
In einer ebenso vertrauten wie gefürchteten Transformation
fühlte sich Becca aus der Einkaufspassage und dem Verlustschmerz
wegen ihres Babys herausgenommen. Sie befand sich
nicht mehr in der realen Welt, sondern in einer verwässerten,
substanzlosen, in einer Welt, die sie in ihrer Jugend gepeinigt
hatte, und die ihr als Erwachsene jedoch merkwürdigerweise
abhandengekommen war ... bis jetzt.
Vor ihr, in geringer Entfernung, stand ein Mädchen im Teenie-
Alter auf einer Landspitze oberhalb eines grauen, schäumenden
Meers. Ihr langes hellbraunes Haar wehte im Wind,
der ihr mit seiner Gewalt Hemd und Jeans an den Körper presste.
Ihr Blick ging über die aufgewühlte See hinweg zu einer
regenverhangenen kleinen Insel. Becca folgte dem Blick des
Mädchens zu der Insel, einer verlorenen felsigen Anhöhe, so
unwirtlich wie ein fremder Planet. Das Mädchen schauderte,
Becca ebenfalls. Die Kälte fraß sich in ihren Körper und überzog
ihn mit einer Gänsehaut.
Das Mädchen kam ihr bekannt vor. Sehr bekannt ...
Becca musterte sie eingehend, unter nahezu körperlicher Anstrengung.
Kenne ich sie?
Becca rang mit der Erinnerung. Wer war sie? Wo war sie?
Warum zerrte sie Becca hinüber in ihre Welt?
Vage empfand sie den leichten Schwindel, die beklemmende
Warnung vor der bevorstehenden Ohnmacht. Nein, nein, nein!
Zwischen zwei Welten gefangen, wo ihr Körper in der einen versagte
und ihr Geist in der anderen verzweifelt nach Antworten
suchte, fi xierte Becca das Mädchen.
»Wer bist du?«, rief sie, doch der auff rischende Wind verwehte
ihr die Worte.
Das gespenstische Mädchen trat einen Schritt vor; ihre Schuhspitzen
ragten über den Rand des Abgrunds. Becca streckte einen
Arm aus. Ihr Mund öff nete sich zum Protest.
»Halt! Halt!« Wollte sie sich in den Tod stürzen? Becca
preschte im selben Moment vor, als das Mädchen sich ihr zuwandte.
Anstelle des Profi ls sah Becca nun ihr Gesicht von vorn.
»Jessie?«, fl üsterte sie erschrocken. Jessie sah Becca nur an,
und Becca, machtlos, erwiderte ihren Blick. Der Wind zauste
Jessies Haar, das ihr ernstes kleines Gesicht umtanzte. Beccas
Herz hämmerte schmerzhaft.
Jessie Brentwood? Ihre verschollene Klassenkameradin? Die
seit zwanzig Jahren verschwunden war ...
Nicht aber jetzt, in Beccas Vision.
»Du stehst zu nah am Abgrund!«, warnte Becca. Das Gespenstermädchen
hob einen Finger an die Lippen, dann formte sie für
Becca bestimmte Worte.
»Wie bitte?« Becca kämpfte um einen klaren Kopf. »Was
sagst Du?«
Im einsetzenden Nebel verblich das Bild des Mädchens. Becca
strebte ihr entgegen, doch ihre Füße schienen mit dem Boden
verwachsen zu sein. »Jessie!«, schrie sie.
Das Mädchen verschmolz mit dem Regen und die verwässerte
Welt trübte sich zu endlosem Grau.
Becca spürte Tränen an den Wimpern und ein dumpfes Pochen
im Kopf. Von irgendwoher sagte eine Männerstimme: »Hey,
Lady. Fehlt Ihnen was?«
Mit einiger Mühe schlug Becca die Augen auf. Sie befand
sich noch immer im Einkaufszentrum. Lag auf dem gefl iesten
Boden. Inmitten ihrer verstreuten Einkäufe. Kein Meer. Kein
Wind. Keine Jessie.
Oh, wie blamabel!
Becca zog die Beine an und versuchte, einen klaren Kopf zu
bekommen. Es war schwer, in die Wirklichkeit zurückzufi nden.
Nach einer Vision war es immer so. Diese dummen Aussetzer! Sie
dachte, sie hätte sie hinter sich. Ein Symptom aus ihrer Kindheit.
Seit ihrer Highschoolzeit hatte sie keine Visionen mehr gehabt,
und inzwischen war sie vierunddreißig Jahre alt.
Doch vergessen hatte sie sie nie. Nicht vollständig.
»Mir fehlt nichts«, sagte sie mit einer Stimme, die sie nicht als
ihre eigene erkannte. Sie räusperte sich und wehrte sich gegen
die stechenden Kopfschmerzen. Auch so ein unwillkommener
Bestandteil ihrer Visionen. »Ich bin gestolpert.«
»Ach, ja?«
Der junge Mann, der sich über sie beugte, glaubte ihr nicht.
Eine kleine Schar von jungen Leuten hatte sich angesammelt,
klein genug, um Becca zu verraten, dass sie nicht lange bewusstlos
gewesen sein konnte, höchstens ein paar Sekunden
lang. Eines der Mädchen sah sie aus riesigen runden Augen an,
und Becca hörte im Kopf noch immer den Nachhall des Schreis
bei ihrem, Beccas, Sturz. In der Hand hielt es einen Becher mit
Limo aus dem Restaurant. Verschwommen erinnerte Becca sich,
kurz in Richtung dieses Mädchens gesehen zu haben, bevor die
Vision über sie kam.
»Sie hatten wohl so eine Art Anfall«, sagte ein anderes Mädchen.
Sie trug eine Mütze, die ihr die Ponyfransen an die Stirn
presste, sodass sie zwischen den blonden Strähnen hindurchblinzeln
musste. Sie alle sahen irgendwie fl uchtbereit aus. Becca
erwog kurz, »Buh!« zu rufen, damit sie alle vor der Verrückten
die Flucht ergriff en.
Klick. Klick. Klick.
Becca hörte, wie ein Handy zugeklappt wurde. Einer der Typen
hatte eine Fotoserie von ihrem Ohnmachtsanfall geknipst.
Das reichte! Dämlicher Bengel! Unsicher kam Becca auf die Füße
und bedachte den Jungen mit einem vernichtenden Blick. Er
schien hin- und hergerissen zu sein zwischen Mut und Angst.
Becca war schon im Begriff , ihm gehörig die Meinung zu sagen,
doch das wurde ihr erspart, als eine stämmige Frau in gedeckt
blauer Uniform auf sie zukam.
»Zurück«, fauchte sie den Jungen an, der sich stolz geschwellt
unter seine Freunde mischen wollte, während er sich gleichzeitig
am liebsten aus dem Staub gemacht hätte. Sie alle suchten
im Dauerlauf ihr Heil in der Flucht zum Restaurant und einem
Ausgang.
»Alles in Ordnung, Ma'am?«, fragte die Sicherheitsbeamtin.
Rot vor Verlegenheit nickte Becca und sammelte ihre Einkaufspäckchen
und -tüten ein. In Ordnung war weiß Gott
nichts.
»Sie sind ein bisschen blass. Vielleicht sollten Sie sich irgendwo
setzen.«
»Das passiert mir manchmal. Dann bekomme ich nicht genug
Luft. Der Vagusnerv, wissen Sie? Bringt manchmal das gesamte
System zum Kollabieren.«
Die Securitydame verstand augenscheinlich nur Bahnhof,
und außerdem war es eine faustdicke Lüge. Die Ärzte hatten
sich früher schon immer am Kinn gekratzt und über den Grund
ihrer Ohnmachtsanfälle und Visionen spekuliert. Die Visionen
ignorierten sie, konzentrierten sich auf die Ohnmacht und stellten
Beccas Eltern gegenüber, Barbara und Jim Ryan, allerlei
Theorien und Behauptungen auf, ohne jemals plausible Erklärungen
abgeben zu können.
»Mir fehlt nichts«, versicherte sie der Frau noch einmal, bemüht,
sich einen Rest von Würde zu bewahren. Bevor sie noch
weiter ausgefragt werden konnte, hastete Becca zum Ausgang
der Passage und mit gegen den Regen gesenktem Kopf zu ihrem
Auto, einem blauen Volkswagen, der eingequetscht zwischen
zwei übergroßen Geländewagen stand. Sie spürte ein Stechen in
der Schulter, das wohl von dem Fall herrührte, als sie sich zur
Fahrertür hindurchzwängte, ihre Einkäufe auf den Beifahrersitz
warf und einstieg. Außerdem kribbelte es am ganzen Körper,
als wären sämtliche Muskeln eingeschlafen. Sie legte die
Stirn aufs Lenkrad und holte ein paar Mal tief Luft. Diese Vision
war anders gewesen. Beinahe greifbar. Sie hatte tatsächlich
die Arme nach dem Mädchen ausgestreckt. So etwas war nie
zuvor passiert.
War es denn wirklich Jessie gewesen? Becca wischte sich das
regenfeuchte Haar aus den Augen und riet sich im Stillen, die
Sache einfach zu vergessen, dann hob sie den Kopf und starrte
blicklos durch die Frontscheibe auf die kremfarbenen Gipsputzwände
der Einkaufspassage. Eine Frau knapp über zwanzig
stand unter dem überdachten Eingang, rauchte und sprach
in ihr Handy, doch Becca war so in Gedanken verloren, dass sie
sie kaum wahrnahm.
Seit dem letzten Jahr auf der Highschool hatte Becca keine
Vision mehr erlebt. Mit Erfolg hatte sie sich im Laufe der Jahre
eingeredet, dass sie kein Sonderling wäre. Dass sie nicht den
Verstand verlor.
Doch diese Vision von Jessie war deutlicher gewesen als al-
les bisher Erlebte. Und entschieden beängstigender. Was hatte
sie zu bedeuten?
»Nichts! Sieh den Tatsachen ins Auge, du spinnst eben«, fl üsterte
sie. Gruselige Visionen oder Anfälle oder wie immer man
es nennen wollte, waren das Letzte, was sie im Moment gebrauchen
konnte. Sie hatte so gehoff t, dass sie für immer gestorben
wären.
Becca versuchte das anhaltend merkwürdige Gefühl abzuschütteln
und fuhr vom Parkplatz. Die Scheibenwischer
kämpften gegen den Regen. Der Himmel hatte sich verdunkelt,
die Nacht senkte sich rasch herab. Eines ihrer Päckchen war
umgekippt, und das Geschenk für das Baby, das sie gekauft hatte,
lag auf dem Sitz, eine bunte, zierliche Meerjungfrau-Puppe
in Silberlamé mit Pailletten in Pink und Grün.
Die alte Traurigkeit drohte wieder über sie herzufallen, doch
sie ließ es nicht zu. Sie lenkte mit einer Hand, mit der anderen
stopfte sie die Puppe zurück in die Schachtel und fuhr zielstrebig
zu der Eigentumswohnung, die sie früher mit Ben geteilt
hatte. Jetzt gehörte die Drei-Zimmer-Wohnung ihr allein - die
gesamten zweihundert Quadratmeter ›entzückender Fünfzigerjahre‹-
Architektur, wie sie angepriesen wurde. In Laiensprache
beschrieb das ein in den späten Fünfzigern errichtetes Apartmenthaus,
das in den späten Neunzigern mit geringfügigen
Neuerungen zu Eigentumswohnungen umgebaut worden war.
Aber es war immerhin ihr Zuhause. Auch ohne Ben.
Als sie dann auf dem Stellplatz einparkte, war es Becca gelungen,
die verfl ixte Vision und ihre unwillkommene Depression
abzuschütteln. Es war schon dunkel und der Himmel öff nete
erneut seine Schleusen.
Durch die Regenschleier lief sie zur Haustür und suchte nach
ihren Schlüsseln. Die Abendzeitung, verpackt in einer Plastikhülle,
lag auf der Treppe. Beim Eintreten hob sie sie, mit ihren
Päckchen jonglierend, auf und legte sie zusammen mit den Ein-
käufen auf dem Klapptisch im Foyer ab. Als sie ihren feuchten
Mantel auszog und in den Garderobenschrank hängte, kündigte
das Klicken von Krallen die Ankunft ihres Hundes Ringo an.
»Hey, Alter«, sagte sie. Der Köter mit dem schwarz-weißen
lockigen Fell wedelte wild mit dem Schwanz und sah sie erwartungsvoll
an. »Sieh mal, was ich für dich habe.«
Sie hielt das blaue Halsband mit dem kleinen Hundeknochenmotiv
in die Höhe, doch Ringo sah nur sie an. Wenn es sich
nicht um etwas Fressbares handelte, zeigte er kein Interesse.
»Okay.« Becca gab nach und ging in die Küche, wo sie nach
einem Glas mit kleinen Hundekuchen griff . Ringo bellte zweimal
glückselig, als Becca den Deckel abschraubte, ein paar Kekse
herausfi schte und sie dem Hund zuwarf, der in die Höhe
sprang und einen nach dem anderen auffi ng, um dann mit ihnen
zurück in sein Körbchen zu springen, sie zu beschnuppern
und schließlich zu fressen.
»Wir machen gleich einen Spaziergang«, sagte sie und füllte
etwas Hundefutter in seinen Napf. Ringo verschlang rasch seine
Kekse und lief zu seinem Napf, um seine reguläre Mahlzeit
mit dem gleichen Appetit zu verzehren wie die Kekse. Er war
nicht sehr wählerisch.
Becca sah aus dem Küchenfenster auf die Rückseite eines weiteren
Apartmenthauses und eine Rasenfl äche. Sie konnte direkt
in die fremde Küche schauen, die mit roten und pinkfarbenen
Plastikherz-Girlanden geschmückt war. Am Tisch saß ein junges
Mädchen und leckte den Guss von einem mit Zuckerherzen
dekorierten Törtchen.
Becca dachte an den letzten Valentinstag. Sie hatte auf Ben gewartet.
Zwar hatte sie gespürt - oder vielmehr längst gewusst -,
dass ihre Ehe in den letzten Zügen lag, doch sie hatte spontan
einen Kuchen und eine Flasche Sekt gekauft. Der Kuchen war
herzförmig und in roter Schrift stand auf weißem Zuckerguss:
Sei mein.
In jener Nacht war Ben nicht nach Hause gekommen, und
Becca hatte den Sekt geöff net, allein ein halbes Glas getrunken
und den Rest in die Spüle gegossen. Anrufe auf seinem Handy
und SMS blieben bis tief in die Nacht unbeantwortet, bis
er schlicht zurückschrieb: Mir ist etwas dazwischengekommen.
Keine Sorge. Alles in Ordnung. Sie wäre beinahe in Panik geraten
und hätte die Polizei gerufen, doch tief im Herzen wusste sie,
was auf sie zukam. Am nächsten Tag erschien er mit der Nachricht,
dass er sich in eine andere verliebt hatte und dass diese
andere Frau schwanger war.
Obwohl sie sich sagte, dass sie so etwas erwartet hatte, versuchte
Becca völlig vergebens, nicht schockiert, gekränkt und
wütend zu sein. Aber ihn einer Aff äre zu verdächtigen war die
eine Sache, diese Aff äre und eine Schwangerschaft bestätigt zu
sehen, eine völlig andere.
»Zu mir hast du gesagt, du wolltest keine Kinder«, erinnerte
Becca ihn, bemüht, ihn nicht anzuschreien.
»Dann habe ich es mir wohl anders überlegt«, antwortete er
und wich ihrem vorwurfsvollen Blick aus.
»Ach so?«
»Hör zu, es tut mir leid. Ich wollte das nicht.«
»Wenn du es nicht wolltest, hättest du ein Kondom benutzen
können.«
»Wer sagt, dass ich das nicht getan habe?«
»Hast du's denn getan?«, wollte Becca wissen. Hielt er sie für
blöd?
Fast hätte er sie angelogen. Sie sah ihm an, dass er überlegte,
ob sie ihm glauben würde. Doch er kannte sie fast so gut wie
sie ihn. »So war es nicht geplant«, brummte er, ging ins Schlafzimmer
und holte seinen Koff er hervor.
Sie folgte ihm, fühlte sich zu sehr verraten, um ihn einfach
gehen zu lassen. Sie riss eine Reisetasche vom Schrank und
stopfte sie mit seinen Sachen voll. Ihre Empörung, ihre verzeh-
rende Wut trieben sie dazu, seine teuren Oberhemden zusammenzuknüllen.
»Nimm alles mit. Alles. Komm nicht wieder. Nie
wieder.«
»Becca, du bist jetzt sauer. Ich muss doch zurückkommen
und ...«
»Versuch nicht, vernünftig mit mir zu reden, Ben, oder, ich
schwör's dir, ich fange an zu schreien.« Sie funkelte ihn an, sah
aber nur das Baby vor sich. Das Baby, das er bekam ... mit einer
anderen Frau. »Falls du nicht alles tragen kannst, wartet der
Rest auf der Veranda auf dich.«
»Mach dich nicht lächerlich!«
»Ich, lächerlich?«, fuhr sie auf und ließ eines seiner weißen
Hemden zu Boden fallen.
Ben, der Feigling, konnte ihr nicht in die Augen sehen. Unter
angespanntem Schweigen hob er das Hemd auf, packte seine
restlichen Sachen zusammen und stürmte aus der Wohnung.
Sie warf ihm den anderen Koff er hinterher, gleichgültig, ob er
ihn aufhob oder nicht. Zwei Tage lang stand er auf der vorderen
Veranda und sie stopfte noch weitere Sachen dazu und krönte
den Haufen mit seiner liebsten Golftrophäe. Halb rechnete sie
damit, dass der Hauseigentümerverband sich über das Chaos
beschweren würde, doch bevor es dazu kam, hatte Ben alles
abgeholt. Er kam vorbei, als Becca nicht zu Hause war, also gab
es keine weiteren bösen Worte. Ein paar Monate lang wechselten
sie dann überhaupt kein Wort mehr. Becca hatte gerade beschlossen,
den Kontakt wieder aufzunehmen und sich auf die
unvermeidliche Scheidung vorzubereiten, als sie einen Anruf
von Kendra Wallace - der anderen - bekam, die ihr zwischen
Schluchzern, Schreien und unter Tränen mitteilte, dass Ben in
ihren Armen off enbar an einem Herzinfarkt gestorben war. Mit
zweiundvierzig.
Gut zehn Minuten lang drang nichts anderes zu Becca vor.
Nichts außer der Tatsache, dass Ben tot war. Als sie wieder zu
sich kam, hörte sie Kendras selbstmitleidiges Jammern: »Ich
Arme, was soll ich bloß machen?«
»Das Baby«, sagte Becca und fand aus ihrem Schockzustand
zurück in die Realität. Ben wurde doch Vater ...
»Das Baby gehört mir!«, fuhr Kendra sie scharf an, als wüsste
sie von Beccas großer Sehnsucht nach einem eigenen Kind.
»Hast du Verwandte?« Jemanden, der dir hilft?
»Was hat das mit der Sache zu tun?«
»Du brauchst doch jemanden ...«
»Ich brauche Ben, und der ist tot!«, sagte sie schniefend und
schluchzend. »Und ... und ... du hörst von meinem Anwalt.«
»Von deinem Anwalt? Warum ...« Dann begriff sie. Die Scheidung
war noch nicht ausgesprochen, die Regelung der Finanzen
noch nicht geklärt. Lieber Himmel.
Kendra knallte den Hörer auf.
Becca blickte ins Leere. Ihr war klar, dass Kendra sie zur Kasse
bitten würde, aber wenn das Kind Bens Kind war, bitte schön.
Als sie dann zwei Monate später den entsprechenden Anruf erhielt,
wählte sie die Nummer, unter der sie Kendra gespeichert
hatte, und erfuhr, dass es die Nummer von Kendras Mutter war.
Die erklärte Becca, Kendra sei mit ihrem neuen Freund nach Los
Angeles gezogen. »Und das Kind?«, fragte Becca, und die Frau
teilte ihr unterkühlt mit, dass Kendras Freund den kleinen Jungen
adoptieren würde, und das ... ginge ... sie ... nichts an. Die
Anwälte würden das regeln.
Und das taten sie. Kendras Kind erhielt letztendlich ein Treuhandkonto,
bestückt mit der Hälfte des Erlöses von Bens Lebensversicherung
und eingerichtet von Beccas Anwalt, der mit
Ben befreundet gewesen war. Becca akzeptierte, dass es dem
Kind zustünde, doch falls Kendra mehr von ihr verlangen sollte,
würde sie kämpfen.
Jetzt umarmte Becca Ringo kurz, legte ihm das neue Halsband
an und hakte die Leine ein, dann schlüpfte sie in ihre Lieblings-
regenjacke. Mit einer Hand drehte sie ihr Haar zu einem Knoten
und zog sich eine Basecap darüber, während Ringo an der
Tür tänzelte.
Draußen herrschten schwarze Nacht, Regen und Kälte. Sie
spazierten über das Grundstück der Wohnanlage. Ringo wedelte
mit dem Schwanz, wenn ihnen andere Hunde begegneten,
bellte jedoch nicht. Abgesehen von dem einen oder anderen Gebell,
wenn er zu fressen bekam, war er ziemlich ruhig, knurrte
selten und machte keinen Lärm. Beim Gassi gehen reichte es
ihm, an allen interessanten Baumstämmen zu schnuppern oder
das Bein zu heben.
Dieser Abend bildete keine Ausnahme. Aufgrund des Regens
waren nicht viele Fußgänger unterwegs. Mit hochgeschlagenem
Kragen und gesenktem Kopf marschierte Becca ein paar Häuserblocks
entlang in Richtung Fluss und wieder zurück und ließ
Ringo Zeit für seine Geschäfte.
Etwa einen Block von ihrer Haustür entfernt blieb Ringo
plötzlich starr stehen und ließ tief in der Kehle ein Knurren
hören. Becca zerrte an der Leine, aber Ringo rührte sich nicht
vom Fleck. »Komm schon«, sagte sie. Ihre Nackenhärchen richteten
sich auf. Das war ein ziemlich untypisches Verhalten für
Ringo.
Der Hund fi xierte einen Punkt ungefähr hundert Meter entfernt,
wo eine dichte Gruppe Tannen hoch und dunkel aufragte,
deren Äste sich im schräg fallenden Regen auf und ab bewegten,
als ob sie winkten. Beccas Puls beschleunigte sich. Da war etwas
faul. Sie sah sich ruckartig um und rechnete halb damit, dass
der Schwarze Mann sich auf sie stürzen würde.
Ringo stieß jetzt ein scharfes Bellen aus und ruckte an der
Leine.
»Du jagst mir Angst ein, Hund«, schimpfte Becca, beugte
sich herab, nahm das nasse Tier auf den Arm und lief zur Haustür.
Sie fühlte seinen Körper vom Knurren vibrieren.
In der Wohnung verriegelte sie die Tür, nahm Ringo die Leine
ab, nahm vom Garderobenschrank ein bereitgelegtes Handtuch
und versuchte, Ringo trockenzureiben, doch er schoss zum
nächstgelegenen Fenster, erhob sich auf die Hinterbeine und
presste, die Zähne gebleckt, die Nase an die Scheibe.
»Hör auf damit«, befahl Becca auf dem Weg in die Küche, wo
sie den Teekessel mit Wasser füllte. Wahrscheinlich hat er bloß
ein Eichhörnchen gesehen. Oder die fette gelbe Katze, die sonst immer
auf der Dachterrasse der oberen Wohnung hockt. Nichts Gefährliches.
Reiß dich zusammen!
Sie wehrte sich gegen ein Schaudern und fi ng an, im Schrank
zu kramen. An diesem Valentinstag gab es keinen Sekt. Tee würde
reichen.
Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, saß Ringo auf dem Hinterteil,
blickte jedoch noch immer unentwegt auf einen Punkt
draußen vor dem Fenster.
Becca versuchte, ihn zu sich aufs Sofa zu locken, doch als sie
zu ihm ging, um ihn aufzuheben, entzog er sich ihr und lief
vor dem Fenster auf und ab. Sein Verhalten machte sie nervös.
Sie griff nach der Zeitung und löste die Plastikhülle. Ihr Blick
fiel auf das Foto einer Statue. Die Madonna im Irrgarten von
St. Elizabeth. Die Schlagzeile verkündete: JUNGEN FINDEN
MENSCHLICHES SKELETT IM IRRGARTEN.
Vor Schreck blieb ihr der Mund off en stehen.
Der Teekessel pfi ff , und Becca stieß erschreckt einen kurzen
Schrei aus. Ringo fi ng an, wie wild zu bellen. Es dauerte, bis sie
den Hund und ihren rasenden Puls wieder beruhigt hatte und
den Artikel über den Leichenfund auf dem Grundstück der privaten
Highschool lesen konnte, die sie besucht hatte und die
jetzt abgerissen wurde.
Als sie zum Ende kam, zählte sie ihre immer noch beschleunigten
Herzschläge, während sie auf die Regenschlieren an ihrer
Fensterscheibe starrte. Ihre Gedanken wanderten weit fort
von diesem trüben Valentinstag, ihrem verstorbenen Mann und
Ringos Verhalten.
Die Vergangenheit, die Zeit an der Highschool, wurde vor
ihr lebendig. Sie wusste, dass es sich um die Leiche von Jessie
Brentwood handeln musste, dem Mädchen aus ihrer Vision, der
Highschoolfreundin, die spurlos verschwunden war, die Freundin
von Hudson Walker, Beccas heimlicher Liebe und der Vater
ihres ungeborenen Kindes, von dem er nichts wusste.
Jezebel ›Jessie‹ Brentwood. Sie war sechzehn Jahre alt gewesen,
als sie verschwand.
An diesem Tag war sie Becca im Traum erschienen.
Jessie hatte etwas gesagt. Etwas Wichtiges. Während der
Wind in ihrem Haar wühlte und sie die Fußspitzen über den
Rand des Abgrunds schob. Sie hatte Worte gefl üstert, die eine
Bedeutung haben mussten. Die Becca nicht verstanden hatte.
»Jessie ...«, sagte sie laut. Sie senkte den Blick auf die Zeitung
und das gespenstische Bild der Madonnenstatue. »Was ist
dir nur zugestoßen?«
2 . Kapitel
Sam McNally stand ohne Kopfbedeckung im Regen am Tatort
und untersuchte den abgesperrten Bereich, den die Kriminaltechniker
im Lauf der vergangenen zwanzig Stunden penibelst
durchkämmt hatten. Die Schaulustigen waren weniger geworden,
die Presse war längst fort, die meisten Polizisten entweder
zu Hause oder irgendwo sonst im Einsatz. An diesem Abend
war der Tatort ein dunkles, matschiges, schlammiges Chaos.
Die Knochen waren entfernt worden und die Forensiker nahmen
sie gründlich in Augenschein. Erste Ergebnisse besagten,
dass es sich um das Skelett eines fünfzehn- oder sechzehnjährigen
Mädchens handeln musste. Wenn dies nicht Jezebel Brentwoods
sterbliche Überreste waren, würde er einen Besen fressen,
ein Spruch, den er unzählige Male von seinem Sohn Levi
gehört hatte, als dieser noch ein Kleinkind war.
Er sah sich in dem zugewucherten Irrgarten um, dessen früher
so gepfl egte Hecken von Rankgewächsen überzogen waren.
Vor Jahren hatte es Gerede gegeben, Gerüchte, der Irrgarten sei
von einem schurkischen Priester angelegt worden, der mit dem
Bischof und der Erzdiözese in Fehde lag, und das üppig grüne
Labyrinth würde Geheimnisse verbergen, doch man war geteilter
Meinung und lachte weitgehend darüber. Eine Legende, die
einfach nicht sterben wollte, aufrechterhalten von Verschwörungstheoretikern.
Doch dann geschah vor Jahren tatsächlich
ein Mord an einem Schüler namens Jake Marcott, der ausgerechnet
am Valentinstag durch einen Messerstich ins Herz ums leben kam.
Leben kam. Eine Ironie des Schicksals. Vor über zwanzig Jahren
war er in genau diesem Irrgarten umgebracht worden.
Und jetzt dieses Skelett.
Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Hartmann
Nancy Bush
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2009
unter dem Titel Wicked Game
bei Kensington Publishing Corp., New York.
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www.weltbild.de
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2009 by
Susan Lisa Jackson and Nancy Bush
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by
Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur GmbH & Co. KG, München.
Übersetzung: Elisabeth Hartmann
Umschlaggestaltung: Maria Seidel, Atelier Seidel - Verlagsgrafik, Teising
Umschlagmotiv: © Trevillion / Allan Jenkins
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-671-1
Heilige Muttergottes, hilf mir!
O bitte ... rette mich!
Das Mädchen rannte im aufsteigenden Nebel kopfl os durch
den Irrgarten. Sie stolperte, ein vorstehender Ast streifte ihr
Gesicht.
»Nein!« Sie deckte die Hand auf die Wange und spürte sogleich
warmes Blut zwischen ihren Fingern hindurchquellen.
Das gab ihr neuen Antrieb. Sie rannte weiter, atmete schwer.
Ihre Wadenmuskeln schmerzten, ihre Lungen brannten, und
noch immer prasselte der mitternächtliche Regen auf sie nieder.
Das hier ist nicht richtig. Ganz und gar nicht!
So sollte es nicht sein! Es kann nicht sein!
Sie warf einen Blick über die Schulter zurück, lauschte angestrengt,
das Klopfen ihres Herzens dröhnte ihr in den Ohren.
Sie hatte sich nicht verirrt. Sie wusste, wo sie war. Sie kannte
die Abzweigungen und Windungen, die zum Zentrum des Irrgartens
führten, und wenn sie es erst erreicht hatte, würde sie,
davon war sie überzeugt, einen weiteren Ausgang fi nden - vielleicht
auch zwei. Aber es war schon lange her, dass sie hier gewesen
war. Einen Augenblick dachte sie, sie würde sich viel-
leicht in ihren eigenen Untergang führen, in eine Falle, die sie
sich selbst gestellt hatte. Sie musste weiterlaufen, sich an die
Abzweigungen und Windungen erinnern ...
Aber es war so dunkel.
Und er kam näher. Sie spürte ihn. Als ob sein Atem bereits
ihren Nacken streifte.
Angst schnürte ihr die Kehle zu und sie schlitterte fast um
eine Ecke aus zitterndem Lorbeer. Er wusste von ihr> und jetzt
war er ihr auf den Fersen.
Woher wusste er das? Während sie selbst doch so viele Jahre
- ihr ganzes Leben, so kam es ihr vor - gebraucht hatte, um
die Wahrheit zu erfahren!
Doch dann hatte sie ihn dummerweise herausgefordert. Hatte
ihn selbst in den Irrgarten eingeladen, in der Hoff nung, mehr
zu erfahren; um ihn zu entlarven. Sie hatte geglaubt, den Spieß
umdrehen, das böse Geschick abwenden zu können. Aber es
läuft nicht nach Plan, sagte sie sich. Ihre Schuhsohlen rutschten
im langen Gras. Die Jägerin war zur Gejagten geworden.
Aber wie konnte er über sie Bescheid wissen ... es sei denn ...
es sei denn, er war einer von ihnen?
Sie hörte etwas. Ein Geräusch ... ein scharfes Zischen ... Ihre
Nackenhaare sträubten sich. Was zum Teufel war das?
Sie blieb wie erstarrt stehen, die Hände erhoben, als wolle
sie eine Gefahr abwehren. Auf den Fußballen stehend, zitterte
sie am ganzen Körper und keuchte verhalten. Er war da! Ganz
nahe. Er hatte den Irrgarten bereits betreten. Sie konnte ihn
jetzt deutlich hören, denn er gab sich keine Mühe, sein Näherkommen
zu verheimlichen. Ihr Herzschlag schmerzte an den
Rippen.
War er allein? Sie vermutete es. Er musste allein sein. Sie hatte
geplant, dass er allein sein würde, aber jetzt wusste sie es
nicht.
Gar nichts wusste sie.
Und das machte ihr Angst, denn bisher hatte sie immer alles
gewusst. Das war ihre Gabe. Und vielleicht ihr Fluch.
Deshalb hatten sie auch die Wahrheit nicht vor ihr verbergen
können. Sie hatte herausgefunden, wer sie waren und wer sie
selbst war, obwohl sie sich größte Mühe gegeben hatten, es zu
verhindern. Zu ihrer eigenen Sicherheit, hatten sie gesagt. Und
jetzt ... jetzt fi ng sie an zu verstehen, was sie gemeint hatten.
Es war wegen ihm.
Sie lauschte mit zitterndem Herzen, während ihre Angst
wuchs. Der Verfolger schritt durch den Irrgarten. Ohne Eile.
Unaufhaltsam. Nahm stets die richtige Abzweigung. War es nur
eine Person? War jemand bei ihm? Sie konnte es nicht mit Sicherheit
sagen.
Sie konnte nicht bleiben. Sie blickte über die hohe Hecke
hinweg und sah, als Wolken sich vor den Mond schoben, einen
blassen Lichtstrahl. Er zeichnete den Glockenturm der Kirche
in krassem, Unheil verkündendem Umriss nach, und südlicher,
ganz in der Nähe, war das Dach des Klosters zu erkennen.
Sie hatte diese Wahrzeichen schon hundert Mal gesehen.
Mit hämmerndem Herzen schlüpfte sie, nachdem sie die Orientierung
wiedergefunden hatte, zwischen den Hecken hindurch.
Schleichend tastete sie sich vor, um eine Bank und eine
scharfe Biegung herum, in Richtung Zentrum, zu der Statue. Sie
hatte die gespenstische Madonna immer mit leisem Argwohn
betrachtet, doch jetzt war es ihr brennender Wunsch, sie endlich
zu erreichen.
Zuflucht.
Sicherheit.
Darum betete sie jedenfalls. Das Blut fl oss kalt in ihren Adern,
sie fror so sehr, als wäre es zu Eis erstarrt.
Geräuschlos umrundete sie eine letzte Biegung und blieb abrupt
stehen, als plötzlich die Marienstatue auftauchte, die sie
in bleichem Weiß mit erhobenen Armen begrüßte. Inmitten
der schwankenden Äste und des modrigen Geruchs nach totem
Laub und Schlamm schimmerte sie gespenstisch.
Bei ihrem Anblick schnappte sie nach Luft, taumelte zurück
und wäre beinahe gestürzt. Ein Zweig knackte unter ihrem
Schuh.
Angstvoll sah sie sich um, duckte sich wie ein gehetztes Tier.
Hatte er sie gehört? Hinter sich hörte sie ihn im nachtdunklen
Irrgarten näher kommen. Unbeirrt. Immer näher. Er nahm die
richtigen Abzweigungen, ohne zu zögern. Ihr Herz klopfte im
Takt zu seinen Schritten, die ihr Verderben ankündigten. Sie
schluckte, leckte sich nervös über die Lippen und zwang ihre
Beine, sich wieder in Bewegung zu setzen. Eine Ecke ... eine
längere Strecke ... noch eine Ecke.
Aber wo war der Ausgang? Hatte sie ihn verfehlt?
Vor Angst und Hilfl osigkeit hätte sie schreien mögen. Sie sah
sich gezwungen, den gleichen Weg zurückzugehen, im Wissen,
dass er immer näher kam. Sie spürte seine Nähe jetzt so deutlich,
dass eine Gänsehaut ihre Arme überzog.
Sie fand keine Öff nung, keine Lücke zwischen den dicken
Ästen.
Panik erfasste sie. Es musste einen Ausgang geben, ein Versteck,
eine Möglichkeit, die Oberhand zu gewinnen ...
Er kam unaufhaltsam.
Näher. Mit entschlossenem Schritt, unüberhörbar auf dem
schlammigen Boden.
Wo? Wo zum Kuckuck war die Lücke in der Hecke?
Sie hastete an den Hecken entlang, schob die Hand ins Laubwerk,
tastete ... suchte ... Ihr Kopf dröhnte, ihr Herz raste,
Meeresbrandung rauschte in ihren Ohren, das Aufprallen von
Wellen an fernen Felsen ... obwohl sie in diesem geschlossenen
Labyrinth keineswegs in Strandnähe war. Aber so war es immer
gewesen. Immer hatte sie diese seltsam vertrauten Geräusche
gehört, immer einen fernen Ort mit salziger Luft gespürt ...
Doch hier fand sie keinen Ausgang. Keine Fluchtmöglichkeit.
Nur dicke Äste, lückenlos.
Sie schluckte krampfhaft. Das war das Ende. Es gab kein Entrinnen.
Sie kniete vor der Statue nieder und hauchte lautlos:
»Mutter Maria, rette meine Seele ...«
Sie war nicht gut gewesen.
Aber auch nicht durch und durch schlecht.
Hinter sich hörte sie ihn erbarmungslos näher rücken. Ganz
ohne Eile. Denn er wusste, dass er sie in der Hand hatte. Das
Entsetzen ließ sie wieder frösteln.
Sie hielt ganz still, betete verzweifelt, immer wieder: Mutter
Maria, rette meine Seele. Und dann erklang eine Stimme. Tief.
Rau. Sie hallte hohl in ihrem Kopf: Sie kann dir nicht helfen. Du
hast keine Seele, die sie retten könnte.
Waren das seine Worte? Hörte sie seine grausame Stimme?
Mit plötzlicher Klarheit dachte sie: Ich bin sechzehn Jahre alt
und werde sterben. Wie dumm sie war, ihn gereizt zu haben. Ihn
herauszufordern. Was hatte sie sich dabei gedacht?
Das war ja der Kernpunkt ihres Problems: Sie konnte nicht
nur in die Zukunft blicken, nein, sie versuchte manchmal auch,
sie zu verändern.
Und das würde sie nun umbringen. Mitten in diesem Irrgarten,
in der Winterkälte würde er ihrem Leben ein Ende machen.
Verzweifelt schob sie eine Hand in die Jackentasche und schloss
die Finger um das dort verborgene Klappmesser.
Inbrünstig betete sie um ihr Leben, um ihre Seele. Über das
Hämmern ihres Herzens hinweg hörte sie die Schritte des Jägers.
Sie kamen unerbittlich näher. Sie sprang auf, drehte sich
zu der gähnenden Öff nung im dichten Gestrüpp hin, dem einzig
möglichen Fluchtweg. Aus den Tiefen der Schatten tauchte
eine Gestalt auf.
Groß.
Bedrohlich.
Wie Luzifer persönlich.
Ihr Anfang und ihr Ende.
»Geh weg!«, befahl sie und hob das Messer.
Er kam weiter auf sie zu.
»Ich bringe dich um, ich schwör's.«
Ein träges, selbstgefälliges Lächeln trat auf sein Gesicht. Du
denkst, du hättest mich hierher eingeladen, Hure, während ich es
doch war, der dich gefunden und gejagt hat und dich töten wird.
Er sprach kein Wort und dennoch hallte seine Stimme durch
ihren Kopf.
»Es ist mein Ernst«, warnte sie ihn und schwang die kleine
Klinge, das Klappmesser, das sie aus der Schublade ihres Vaters
gestohlen hatte.
Meiner auch.
Sie stürzte ihm entgegen, stieß mit dem Messer zu, in der Absicht,
ihm den Leib aufzuschlitzen. Aber fl ink wie eine Schlange
schoss sein Arm vor. Kräftige Finger umspannten ihr Handgelenk.
»Ah!«
Mieses Weibsstück. Er bog ihre Hand zurück. Sie schrie auf
und brach in die Knie.
Er sah sie an. Starke Finger bogen ihr Handgelenk um.
»Hör auf!«, schrie sie.
Zischend stieß er den Atem aus. Mit einem kurzen Ruck
brach er ihr das Handgelenk.
Sie schrie leise auf. Das Messer entglitt ihren gefühllosen Fingern.
Seine dunklen Augen waren wie Laser, als er das Messer
aufhob und es ihr zwischen die Rippen stieß. »Schluss jetzt«,
krächzte er.
Sie schlug nach ihm, aber es war sinnlos. Sie sah ihn an und
fl üsterte: »Das ist erst der Anfang ...« Sie sah, wie sein Gesicht
sich vor Wut verzerrte. Er schüttelte vehement den Kopf und
stieß ihr das Messer noch tiefer in die Brust.
Die Nacht verwirbelte um sie herum. Sie brach vor der Statue
zusammen, nahm wahr, dass ihr Mörder sie mit gebleckten Zähnen
ansah. Sein keuchender Atem bildeten weiße Wölkchen,
die sich aufl östen, als sie den Blick hob. Blut quoll aus ihrer
Wunde.
Dann lag sie still wie der Tod unter der Madonnenstatue. Er
entzog sich ihrem brechenden Blick. Wolken verhüllten den
Mond. Nur wenige Sterne standen am Himmel. Irgendwo in der
Ferne schien eine Glocke zu läuten.
Ich bin ein Opfer, dachte sie.
Dann nahm die Dunkelheit sie auf.
Campus von St. Elizabeth Februar 2009
Mitternacht ...
Kyle Baskin hielt sich die Taschenlampe unters Kinn, den Lichtstrahl
nach oben gerichtet, sodass die Flächen und Mulden seines
Gesichts beleuchtet wurden.
»Bloody Bones betrat das Haus«, fl üsterte er mit tiefer, gespenstischer
Stimme. Sein Blick huschte über den Kreis der
Jungen zu seinen Füßen, die ernsthaft und mit ängstlichen Gesichter
zu ihm aufsahen. »Bloody Bones ging zur Treppe. Bloody
Bones blickte hinauf und konnte die Kinder durch die Wände
sehen.«
»Wie mit dem Röntgenblick?«, piepste Mikey Ferguson.
»Klappe.« James, sein älterer Bruder, bedachte ihn mit einem
strafenden Blick.
Über ihnen schwankten die Äste. Der Mond stand am Himmel,
war jedoch durch die hohen Hecken des Irrgartens nicht zu
sehen. Nur ganz wenig Licht sickerte durchs Laub.
»Ich bin auf der ersten Stufe«, sang Kyle und hielt um noch
größerer Wirkung willen inne. Über den Strahl der Taschenlampe
hinweg sah er die Kinder an, die er und James ins Zentrum
des Irrgartens geführt hatten. Sie hatten eigentlich nur
babysitten sollen, doch das war todlangweilig. »Ich bin auf
der zweiten Stufe.« Er holte zitternd Luft und sagte gedehnt:
»Ich ... bin ... auf ... der ... dritten ... Stufe ...«
Mikey warf einen furchtsamen Blick über die Schulter zurück
und drängte sich enger an James, dessen Feixen für Kyle
deutlich sichtbar war.
Tyler, der kleine Angsthase, fi ng an zu schniefen.
»Ich ... bin ... auf ... der ... vierten ... Stufe ...«
»Wie viele Stufen sind denn da?«, schrie Mikey und klammerte
sich an James' Arm.
»Halt die Klappe!« James versuchte, ihn abzuschütteln.
»Ich will nach Hause!«, jammerte Tyler.
»Ich bin auf ... der ... fünften Stufe!«
»Ich rufe meinen Dad.« Preston, der übergewichtige Junge,
stand auf. Seine gewöhnlich tonlose Stimme zitterte leicht.
»Das Handy liegt noch im Auto, du Idiot.«
»Ich bin auf der sechsten Stufe, ich bin auf der siebten Stufe, ich
bin auf der achten Stufe!«, haspelte Kyle rasch herunter.
Wie an Fäden gezogen sprangen die Jungen auf, schrien, sahen
sich hektisch um und suchten vergebens nach einem Fluchtweg,
doch die Hecken ragten bedrohlich in den Weg hinein.
Kyle sagte im Flüsterton: »Ich bin auf der neunten Stufe ...«
James wurde ein bisschen unruhig. Sie durften nicht zulassen,
dass diese Dummköpfe in alle Himmelsrichtungen davonfl
itzten. »Setzt euch!«
»Ich bin auf der zehnten Stufe ... und jetzt gehe ich den Flur
entlang ... Ich stehe vor eurer Tür ... ich öff ne sie ... knirsch!«
Irgendwie hörte es sich dämlich an, dachte James, wie Kyle
die Geschichte erzählte, aber es zeigte weiß Gott Wirkung.
Die Kleinen huschten durcheinander wie Kakerlaken, wich-
en angstvoll vor der schmutzigen alten Statue dieser Dame zurück,
schrien und heulten. James und Kyle fi ngen an zu lachen.
Sie konnten nicht anders. Das stachelte die Kleinen beinahe zur
Hysterie auf, und Mikey taumelte gegen die Statue - der Idiot
- und brachte das Ding zum Kippen. Die Planierraupen waren
schon auf dem Gelände gewesen. Die Schule wurde abgerissen,
der Irrgarten ebenfalls. Deswegen war Kyle überhaupt auf diese
Idee gekommen. Eine letzte Gruselfete, wo sie die Kleinen in
Angst und Schrecken versetzen konnten.
»Du Blödmann, du hast die alte Dame umgekippt«, sagte
James im Tonfall eines schwer geprüften Menschen.
Er ging zu seinem jüngeren Bruder, um ihm wieder auf die
Beine zu helfen, während Kyle Tyler und Preston einfi ng, die
weinten wie kleine Babys. Mikey war praktisch selbst zu einer
Statue erstarrt. Er stand da wie vom Donner gerührt und starrte
vor sich hin. Langsam hob er eine Hand, als James zu ihm kam,
und zeigte auf einen Erdhügel, der sich gebildet hatte, als die
Statue kippte.
»Bloody Bones«, fl üsterte er. Sein zeigender Finger zitterte.
James blickte in die angegebene Richtung. Aus dem Boden
hatte sich eine menschliche Skeletthand erhoben, gleichzeitig
schmutzig und sonderbar weiß, mit ausgestreckten Fingern, als
wollte sie um Hilfe bitten.
James fi elen fast die Augen aus dem Kopf. Er begann zu
schreien wie am Spieß und konnte nicht wieder aufhören.
Kyle starrte in nackter Angst auf die Hand. »Mist«, stieß er
zitternd hervor.
Der kleine Mikey packte James' Hand und zerrte ihn mit
sich aus dem Irrgarten heraus. Der Rest der Truppe rannte ihnen
nach. Sie alle rannten um ihr Leben; den ganzen Weg über
spürten sie Bloody Bones' kalten Atem in ihrem Nacken.
1 . Kapitel
Ich spüre sie ... diese Veränderung in der Atmosphäre, unterschwellig,
aber deutlich, wie die leise Erschütterung eines leichten
Erdstoßes mit seinen Nachbeben. Ich weiß, was das bedeutet.
Ich wusste, dass es geschehen würde. Habe gewartet.
Ich schlage die Decken des alten Bettes zurück und lausche auf
das Heulen des Windes, der von Westen her landeinwärts tobt
und das Wasser aufwühlt. Auf Kleidung verzichte ich und stoße
die Tür der alten Wärterwohnung auf, die zum Leuchtturm selbst
führt. Rasch bewältige ich die Wendeltreppe, laufe die verrosteten
Stufen empor und kümmere mich nicht darum, dass das Metall unter
meinem Gewicht ächzt.
Schneller! Schneller!
Mein Herz hämmert. Die Rastlosigkeit, die ich zu beherrschen
versucht, die Impulse, die ich in Schach gehalten habe, brechen
sich Bahn.
Die Treppe verengt sich, als ich zur Plattform hinaufsteige, wo
die einstmals helle Signallampe schläft. Ihr riesiger Strahler spendet
nun kein Licht mehr, warnt keine Seeleute mehr vor drohenden
Untiefen.
Ich öff ne die Tür nach draußen und betrete den verwitterten Gitterrost.
Regen sprüht aus den am Himmel brodelnden Wolken, der
Wind zerrt an meinem Haar, und die Nacht ist dunkel und winterlich.
Vierzig Meter unter mir umtost die wütende Brandung die -
se kleine, zerklüftete, seit einem halben Jahrhundert verlassene Insel.
Niemand wohnt hier.
Der Leuchtturm ist für die Öff entlichkeit tabu und wird umsichtig
vom Küstenschutz, einem alten, verbogenen Maschendrahtzaun
und der gefährlichen Brandung selbst bewacht.
Einige wenige haben es gewagt, hier einzudringen.
Aber sie sind in den trügerischen Strömungen rund um diesen erbärmlichen
kleinen Felsen ums Leben gekommen. Trotz der Dunkelheit
wende ich mich um und richte den Blick aufs Festland. Ich
weiß, dass sie da sind. Ich habe so viele geholt, wie ich konnte. Ihre
Festung kann genommen werden, aber ich habe Narben aus dem
Kampf davongetragen und muss vorsichtig sein.
Heute Nacht schimmert kein Licht aus ihren Fenstern. Der
Wald verdeckt sie.
Ich schaue aufs Meer hinaus, halte die Nase in den Wind, rieche
jedoch nichts außer dem brackigen Duft des tobenden Pazifi
ks vierzig Meter unter mir. Der Wind bläst mir das Haar in die
Augen, meine Haut wird kalt in der eisigen Luft, aber das Blut in
meinen Adern fl ießt heiß.
Ich stelle mir den Geruch ihrer Haut vor. Wie ein regennasser
Strand. Verlockend ...
Ich kann sie beinahe riechen. Beinahe.
Auch ohne ihre Witterung weiß ich, wo sie ist. Ich habe durch
eine andere von ihr erfahren, die mir ungewollt den Weg gewiesen hat.
Gut.
Es ist mal wieder an der Zeit, ein uraltes Übel auszuräumen.
Dieses Mal wird nichts fehlschlagen.
Ein kalter Schauer lief Becca Sutcliff über den Rücken. Sie atmete
tief durch und sah sich um. Das Mädchen an der Kasse von
Mutts & Stuff warf ihr einen Blick aus den Augenwinkeln zu.
»Alles in Ordnung?«
»Nur eine Gänsehaut, völlig grundlos«, sagte Becca.
Das Mädchen zog die Brauen hoch und Becca las ihr die Gedanken
praktisch von der Stirn ab: Ja. Klar. Wie du meinst. Sie
scannte Beccas Einkäufe ein und stopfte alles in eine Tüte. Becca
bedankte sich, balancierte die Päckchen aus, die sie bereits
trug, und nahm die Tüte an sich. Ja, es war reine Ersatzbefriedigung,
dass sie einkaufte wie ein Weltmeister, das Resultat der
chaotischen Nachwehen von ungeklärten Gefühlen seit ihrer
Trennung von Ben. Und jetzt war Ben tot. Einfach weg. Und
kam nie wieder. Und das alles gab ihr ein ... na ja ... komisches
Gefühl.
Sie setzte ihren Weg durch die Einkaufspassage fort. Die fröhlichen
roten und pinkfarbenen Herzchen in allen Schaufenstern
deprimierten sie. Valentinstag. Der traurigste Tag des Jahres für
die, die plötzlich wieder Single sind.
Gut. Sie war nicht restlos unglücklich. Sie hatte schon lange
gewusst, dass sie und Ben es nicht schaff en würden. Sie waren
nie verliebt gewesen. Nicht so, wie sie es sich gewünscht, erhoff
t, geplant hatte. Als sie erfuhr, dass er eine Aff äre hatte, war
sie wütend geworden. In erster Linie auf sich selbst. Im Grunde
konnte sie sich nicht einmal so recht daran erinnern, was sie
überhaupt veranlasst hatte zu heiraten. Was hatte sie gewollt?
Was hatte Ben gewollt? War es nur eine Frage des Zeitpunkts
gewesen? Die Frage, wenn nicht Ben, wer dann?
Dann erfuhr sie, dass er in den Armen seiner neuen Liebe gestorben
war. Herzinfarkt.
Weg ... weg für immer.
Daran hatte sie noch zu knacken. Musste sich noch mit der
Tatsache abfi nden, dass er sie wegen einer anderen Frau verlassen
hatte. Sie verlassen hatte ... während sie noch glaubte, sie
hätten vielleicht, vielleicht doch noch eine Chance. Die Chance,
eine Familie zu gründen. Ein Kind zu bekommen. Ein eigenes
Kind. Ihr eigenes Kind.
Das Schaufenster von Pink, Blue and You, Baby- und Um-
standsmoden, tauchte vor ihr auf. Sie war schon früher einmal
dort gewesen, um ein Geschenk für eine schwangere Kollegin zu
besorgen. Das war fast eine Folter für sie gewesen. Sie wünschte
sich ein Kind. Hatte sich schon immer ein Kind gewünscht.
Bei der Erinnerung, dass sie vor langer, langer Zeit ein ungeborenes
Baby verloren hatte, krampfte sich ihr Magen zusammen.
In Situationen wie dieser meldete sich der Schmerz zurück, so
frisch und grausam wie zur Zeit der Fehlgeburt. Tränen brannten
ihr in den Augen. Aber sie würde nicht zusammenbrechen.
Um Himmels willen, nicht jetzt. Sie hatte ohnehin viel zu lange
getrauert. Sie drängte die dummen Tränen zurück und wandte
den Blick von den niedlichen Sachen in Puderrosa, Hellblau
und Zitronengelb ab. Hatte sie Ben deswegen geheiratet? Um
ein Kind zu bekommen? Um das zu ersetzen, was ihr genommen
worden war?
Becca ermahnte sich, endlich darüber hinwegzukommen. Sie
hatte sich unzählige Male dieselbe Frage gestellt, hatte nicht
versucht, eine Antwort zu fi nden. Aber jetzt war das alles irrelevant.
Ben war nicht mehr. Und er hatte seine zweiundzwanzigjährige
neue Geliebte schwanger zurückgelassen. Er hatte nie
gewollt, dass Becca schwanger wurde.
»Ich will keine Kinder«, hatte er gesagt. »Das hast du gewusst,
als wir geheiratet haben.«
Ach, ja? Sie erinnerte sich nicht.
»Wir zwei alleine, Becca. Nur du und ich.«
Vielleicht hatte sie ihn wirklich nur geheiratet, um ein Kind
zu bekommen. Nein, besser: Um ein Kind zu ersetzen. Vielleicht
hatte sie die Sache mit der Liebe nur erfunden. Vielleicht hatte
sie sich nur gewünscht, dass alles so viel schöner sein würde,
als es dann tatsächlich war.
Aber sie hatte keine Zeit, sich in Selbstmitleid zu suhlen. Es
war vorbei. Endgültig! Sie kehrte dem Schaufenster den Rü-
cken zu. Nicht nötig, sich selbst noch länger zu quälen. Absolut
überfl üssig.
Zur Linken befand sich ein Selbstbedienungsrestaurant, und
sie warf einen Blick hinein, bevor sie eilig in die andere Richtung
weiterging. Doch plötzlich verschwamm ihr alles vor Augen,
was sie zwang, langsamer zu gehen und schließlich ganz
stehen zu bleiben. Ihr Puls schoss urplötzlich in die Höhe. Verfl
ixt! Sie spürte eine Ohnmacht nahen. So etwas hatte sie schon
früher erlebt, öfter, als ihr lieb war. Allerdings wurde sie nie
richtig bewusstlos. Oh nein. Es war eher so, als ... geriete sie
unter einen Bann. In einen Wachtraum. Doch es war seit Jahren
nicht mehr vorgekommen. Seit Jahren nicht!
Warum jetzt?, fragte sie sich, eine halbe Sekunde, bevor
sengender Schmerz durch ihren Kopf schoss. Sie wankte und
fiel auf die Knie. Ihre Einkäufe entglitten ihr. Becca senkte den
Kopf, verbarg in einem letzten lichten Moment vor dem Einsetzen
der Vision instinktiv ihr Gesicht vor neugierigen Gaffern.
In einer ebenso vertrauten wie gefürchteten Transformation
fühlte sich Becca aus der Einkaufspassage und dem Verlustschmerz
wegen ihres Babys herausgenommen. Sie befand sich
nicht mehr in der realen Welt, sondern in einer verwässerten,
substanzlosen, in einer Welt, die sie in ihrer Jugend gepeinigt
hatte, und die ihr als Erwachsene jedoch merkwürdigerweise
abhandengekommen war ... bis jetzt.
Vor ihr, in geringer Entfernung, stand ein Mädchen im Teenie-
Alter auf einer Landspitze oberhalb eines grauen, schäumenden
Meers. Ihr langes hellbraunes Haar wehte im Wind,
der ihr mit seiner Gewalt Hemd und Jeans an den Körper presste.
Ihr Blick ging über die aufgewühlte See hinweg zu einer
regenverhangenen kleinen Insel. Becca folgte dem Blick des
Mädchens zu der Insel, einer verlorenen felsigen Anhöhe, so
unwirtlich wie ein fremder Planet. Das Mädchen schauderte,
Becca ebenfalls. Die Kälte fraß sich in ihren Körper und überzog
ihn mit einer Gänsehaut.
Das Mädchen kam ihr bekannt vor. Sehr bekannt ...
Becca musterte sie eingehend, unter nahezu körperlicher Anstrengung.
Kenne ich sie?
Becca rang mit der Erinnerung. Wer war sie? Wo war sie?
Warum zerrte sie Becca hinüber in ihre Welt?
Vage empfand sie den leichten Schwindel, die beklemmende
Warnung vor der bevorstehenden Ohnmacht. Nein, nein, nein!
Zwischen zwei Welten gefangen, wo ihr Körper in der einen versagte
und ihr Geist in der anderen verzweifelt nach Antworten
suchte, fi xierte Becca das Mädchen.
»Wer bist du?«, rief sie, doch der auff rischende Wind verwehte
ihr die Worte.
Das gespenstische Mädchen trat einen Schritt vor; ihre Schuhspitzen
ragten über den Rand des Abgrunds. Becca streckte einen
Arm aus. Ihr Mund öff nete sich zum Protest.
»Halt! Halt!« Wollte sie sich in den Tod stürzen? Becca
preschte im selben Moment vor, als das Mädchen sich ihr zuwandte.
Anstelle des Profi ls sah Becca nun ihr Gesicht von vorn.
»Jessie?«, fl üsterte sie erschrocken. Jessie sah Becca nur an,
und Becca, machtlos, erwiderte ihren Blick. Der Wind zauste
Jessies Haar, das ihr ernstes kleines Gesicht umtanzte. Beccas
Herz hämmerte schmerzhaft.
Jessie Brentwood? Ihre verschollene Klassenkameradin? Die
seit zwanzig Jahren verschwunden war ...
Nicht aber jetzt, in Beccas Vision.
»Du stehst zu nah am Abgrund!«, warnte Becca. Das Gespenstermädchen
hob einen Finger an die Lippen, dann formte sie für
Becca bestimmte Worte.
»Wie bitte?« Becca kämpfte um einen klaren Kopf. »Was
sagst Du?«
Im einsetzenden Nebel verblich das Bild des Mädchens. Becca
strebte ihr entgegen, doch ihre Füße schienen mit dem Boden
verwachsen zu sein. »Jessie!«, schrie sie.
Das Mädchen verschmolz mit dem Regen und die verwässerte
Welt trübte sich zu endlosem Grau.
Becca spürte Tränen an den Wimpern und ein dumpfes Pochen
im Kopf. Von irgendwoher sagte eine Männerstimme: »Hey,
Lady. Fehlt Ihnen was?«
Mit einiger Mühe schlug Becca die Augen auf. Sie befand
sich noch immer im Einkaufszentrum. Lag auf dem gefl iesten
Boden. Inmitten ihrer verstreuten Einkäufe. Kein Meer. Kein
Wind. Keine Jessie.
Oh, wie blamabel!
Becca zog die Beine an und versuchte, einen klaren Kopf zu
bekommen. Es war schwer, in die Wirklichkeit zurückzufi nden.
Nach einer Vision war es immer so. Diese dummen Aussetzer! Sie
dachte, sie hätte sie hinter sich. Ein Symptom aus ihrer Kindheit.
Seit ihrer Highschoolzeit hatte sie keine Visionen mehr gehabt,
und inzwischen war sie vierunddreißig Jahre alt.
Doch vergessen hatte sie sie nie. Nicht vollständig.
»Mir fehlt nichts«, sagte sie mit einer Stimme, die sie nicht als
ihre eigene erkannte. Sie räusperte sich und wehrte sich gegen
die stechenden Kopfschmerzen. Auch so ein unwillkommener
Bestandteil ihrer Visionen. »Ich bin gestolpert.«
»Ach, ja?«
Der junge Mann, der sich über sie beugte, glaubte ihr nicht.
Eine kleine Schar von jungen Leuten hatte sich angesammelt,
klein genug, um Becca zu verraten, dass sie nicht lange bewusstlos
gewesen sein konnte, höchstens ein paar Sekunden
lang. Eines der Mädchen sah sie aus riesigen runden Augen an,
und Becca hörte im Kopf noch immer den Nachhall des Schreis
bei ihrem, Beccas, Sturz. In der Hand hielt es einen Becher mit
Limo aus dem Restaurant. Verschwommen erinnerte Becca sich,
kurz in Richtung dieses Mädchens gesehen zu haben, bevor die
Vision über sie kam.
»Sie hatten wohl so eine Art Anfall«, sagte ein anderes Mädchen.
Sie trug eine Mütze, die ihr die Ponyfransen an die Stirn
presste, sodass sie zwischen den blonden Strähnen hindurchblinzeln
musste. Sie alle sahen irgendwie fl uchtbereit aus. Becca
erwog kurz, »Buh!« zu rufen, damit sie alle vor der Verrückten
die Flucht ergriff en.
Klick. Klick. Klick.
Becca hörte, wie ein Handy zugeklappt wurde. Einer der Typen
hatte eine Fotoserie von ihrem Ohnmachtsanfall geknipst.
Das reichte! Dämlicher Bengel! Unsicher kam Becca auf die Füße
und bedachte den Jungen mit einem vernichtenden Blick. Er
schien hin- und hergerissen zu sein zwischen Mut und Angst.
Becca war schon im Begriff , ihm gehörig die Meinung zu sagen,
doch das wurde ihr erspart, als eine stämmige Frau in gedeckt
blauer Uniform auf sie zukam.
»Zurück«, fauchte sie den Jungen an, der sich stolz geschwellt
unter seine Freunde mischen wollte, während er sich gleichzeitig
am liebsten aus dem Staub gemacht hätte. Sie alle suchten
im Dauerlauf ihr Heil in der Flucht zum Restaurant und einem
Ausgang.
»Alles in Ordnung, Ma'am?«, fragte die Sicherheitsbeamtin.
Rot vor Verlegenheit nickte Becca und sammelte ihre Einkaufspäckchen
und -tüten ein. In Ordnung war weiß Gott
nichts.
»Sie sind ein bisschen blass. Vielleicht sollten Sie sich irgendwo
setzen.«
»Das passiert mir manchmal. Dann bekomme ich nicht genug
Luft. Der Vagusnerv, wissen Sie? Bringt manchmal das gesamte
System zum Kollabieren.«
Die Securitydame verstand augenscheinlich nur Bahnhof,
und außerdem war es eine faustdicke Lüge. Die Ärzte hatten
sich früher schon immer am Kinn gekratzt und über den Grund
ihrer Ohnmachtsanfälle und Visionen spekuliert. Die Visionen
ignorierten sie, konzentrierten sich auf die Ohnmacht und stellten
Beccas Eltern gegenüber, Barbara und Jim Ryan, allerlei
Theorien und Behauptungen auf, ohne jemals plausible Erklärungen
abgeben zu können.
»Mir fehlt nichts«, versicherte sie der Frau noch einmal, bemüht,
sich einen Rest von Würde zu bewahren. Bevor sie noch
weiter ausgefragt werden konnte, hastete Becca zum Ausgang
der Passage und mit gegen den Regen gesenktem Kopf zu ihrem
Auto, einem blauen Volkswagen, der eingequetscht zwischen
zwei übergroßen Geländewagen stand. Sie spürte ein Stechen in
der Schulter, das wohl von dem Fall herrührte, als sie sich zur
Fahrertür hindurchzwängte, ihre Einkäufe auf den Beifahrersitz
warf und einstieg. Außerdem kribbelte es am ganzen Körper,
als wären sämtliche Muskeln eingeschlafen. Sie legte die
Stirn aufs Lenkrad und holte ein paar Mal tief Luft. Diese Vision
war anders gewesen. Beinahe greifbar. Sie hatte tatsächlich
die Arme nach dem Mädchen ausgestreckt. So etwas war nie
zuvor passiert.
War es denn wirklich Jessie gewesen? Becca wischte sich das
regenfeuchte Haar aus den Augen und riet sich im Stillen, die
Sache einfach zu vergessen, dann hob sie den Kopf und starrte
blicklos durch die Frontscheibe auf die kremfarbenen Gipsputzwände
der Einkaufspassage. Eine Frau knapp über zwanzig
stand unter dem überdachten Eingang, rauchte und sprach
in ihr Handy, doch Becca war so in Gedanken verloren, dass sie
sie kaum wahrnahm.
Seit dem letzten Jahr auf der Highschool hatte Becca keine
Vision mehr erlebt. Mit Erfolg hatte sie sich im Laufe der Jahre
eingeredet, dass sie kein Sonderling wäre. Dass sie nicht den
Verstand verlor.
Doch diese Vision von Jessie war deutlicher gewesen als al-
les bisher Erlebte. Und entschieden beängstigender. Was hatte
sie zu bedeuten?
»Nichts! Sieh den Tatsachen ins Auge, du spinnst eben«, fl üsterte
sie. Gruselige Visionen oder Anfälle oder wie immer man
es nennen wollte, waren das Letzte, was sie im Moment gebrauchen
konnte. Sie hatte so gehoff t, dass sie für immer gestorben
wären.
Becca versuchte das anhaltend merkwürdige Gefühl abzuschütteln
und fuhr vom Parkplatz. Die Scheibenwischer
kämpften gegen den Regen. Der Himmel hatte sich verdunkelt,
die Nacht senkte sich rasch herab. Eines ihrer Päckchen war
umgekippt, und das Geschenk für das Baby, das sie gekauft hatte,
lag auf dem Sitz, eine bunte, zierliche Meerjungfrau-Puppe
in Silberlamé mit Pailletten in Pink und Grün.
Die alte Traurigkeit drohte wieder über sie herzufallen, doch
sie ließ es nicht zu. Sie lenkte mit einer Hand, mit der anderen
stopfte sie die Puppe zurück in die Schachtel und fuhr zielstrebig
zu der Eigentumswohnung, die sie früher mit Ben geteilt
hatte. Jetzt gehörte die Drei-Zimmer-Wohnung ihr allein - die
gesamten zweihundert Quadratmeter ›entzückender Fünfzigerjahre‹-
Architektur, wie sie angepriesen wurde. In Laiensprache
beschrieb das ein in den späten Fünfzigern errichtetes Apartmenthaus,
das in den späten Neunzigern mit geringfügigen
Neuerungen zu Eigentumswohnungen umgebaut worden war.
Aber es war immerhin ihr Zuhause. Auch ohne Ben.
Als sie dann auf dem Stellplatz einparkte, war es Becca gelungen,
die verfl ixte Vision und ihre unwillkommene Depression
abzuschütteln. Es war schon dunkel und der Himmel öff nete
erneut seine Schleusen.
Durch die Regenschleier lief sie zur Haustür und suchte nach
ihren Schlüsseln. Die Abendzeitung, verpackt in einer Plastikhülle,
lag auf der Treppe. Beim Eintreten hob sie sie, mit ihren
Päckchen jonglierend, auf und legte sie zusammen mit den Ein-
käufen auf dem Klapptisch im Foyer ab. Als sie ihren feuchten
Mantel auszog und in den Garderobenschrank hängte, kündigte
das Klicken von Krallen die Ankunft ihres Hundes Ringo an.
»Hey, Alter«, sagte sie. Der Köter mit dem schwarz-weißen
lockigen Fell wedelte wild mit dem Schwanz und sah sie erwartungsvoll
an. »Sieh mal, was ich für dich habe.«
Sie hielt das blaue Halsband mit dem kleinen Hundeknochenmotiv
in die Höhe, doch Ringo sah nur sie an. Wenn es sich
nicht um etwas Fressbares handelte, zeigte er kein Interesse.
»Okay.« Becca gab nach und ging in die Küche, wo sie nach
einem Glas mit kleinen Hundekuchen griff . Ringo bellte zweimal
glückselig, als Becca den Deckel abschraubte, ein paar Kekse
herausfi schte und sie dem Hund zuwarf, der in die Höhe
sprang und einen nach dem anderen auffi ng, um dann mit ihnen
zurück in sein Körbchen zu springen, sie zu beschnuppern
und schließlich zu fressen.
»Wir machen gleich einen Spaziergang«, sagte sie und füllte
etwas Hundefutter in seinen Napf. Ringo verschlang rasch seine
Kekse und lief zu seinem Napf, um seine reguläre Mahlzeit
mit dem gleichen Appetit zu verzehren wie die Kekse. Er war
nicht sehr wählerisch.
Becca sah aus dem Küchenfenster auf die Rückseite eines weiteren
Apartmenthauses und eine Rasenfl äche. Sie konnte direkt
in die fremde Küche schauen, die mit roten und pinkfarbenen
Plastikherz-Girlanden geschmückt war. Am Tisch saß ein junges
Mädchen und leckte den Guss von einem mit Zuckerherzen
dekorierten Törtchen.
Becca dachte an den letzten Valentinstag. Sie hatte auf Ben gewartet.
Zwar hatte sie gespürt - oder vielmehr längst gewusst -,
dass ihre Ehe in den letzten Zügen lag, doch sie hatte spontan
einen Kuchen und eine Flasche Sekt gekauft. Der Kuchen war
herzförmig und in roter Schrift stand auf weißem Zuckerguss:
Sei mein.
In jener Nacht war Ben nicht nach Hause gekommen, und
Becca hatte den Sekt geöff net, allein ein halbes Glas getrunken
und den Rest in die Spüle gegossen. Anrufe auf seinem Handy
und SMS blieben bis tief in die Nacht unbeantwortet, bis
er schlicht zurückschrieb: Mir ist etwas dazwischengekommen.
Keine Sorge. Alles in Ordnung. Sie wäre beinahe in Panik geraten
und hätte die Polizei gerufen, doch tief im Herzen wusste sie,
was auf sie zukam. Am nächsten Tag erschien er mit der Nachricht,
dass er sich in eine andere verliebt hatte und dass diese
andere Frau schwanger war.
Obwohl sie sich sagte, dass sie so etwas erwartet hatte, versuchte
Becca völlig vergebens, nicht schockiert, gekränkt und
wütend zu sein. Aber ihn einer Aff äre zu verdächtigen war die
eine Sache, diese Aff äre und eine Schwangerschaft bestätigt zu
sehen, eine völlig andere.
»Zu mir hast du gesagt, du wolltest keine Kinder«, erinnerte
Becca ihn, bemüht, ihn nicht anzuschreien.
»Dann habe ich es mir wohl anders überlegt«, antwortete er
und wich ihrem vorwurfsvollen Blick aus.
»Ach so?«
»Hör zu, es tut mir leid. Ich wollte das nicht.«
»Wenn du es nicht wolltest, hättest du ein Kondom benutzen
können.«
»Wer sagt, dass ich das nicht getan habe?«
»Hast du's denn getan?«, wollte Becca wissen. Hielt er sie für
blöd?
Fast hätte er sie angelogen. Sie sah ihm an, dass er überlegte,
ob sie ihm glauben würde. Doch er kannte sie fast so gut wie
sie ihn. »So war es nicht geplant«, brummte er, ging ins Schlafzimmer
und holte seinen Koff er hervor.
Sie folgte ihm, fühlte sich zu sehr verraten, um ihn einfach
gehen zu lassen. Sie riss eine Reisetasche vom Schrank und
stopfte sie mit seinen Sachen voll. Ihre Empörung, ihre verzeh-
rende Wut trieben sie dazu, seine teuren Oberhemden zusammenzuknüllen.
»Nimm alles mit. Alles. Komm nicht wieder. Nie
wieder.«
»Becca, du bist jetzt sauer. Ich muss doch zurückkommen
und ...«
»Versuch nicht, vernünftig mit mir zu reden, Ben, oder, ich
schwör's dir, ich fange an zu schreien.« Sie funkelte ihn an, sah
aber nur das Baby vor sich. Das Baby, das er bekam ... mit einer
anderen Frau. »Falls du nicht alles tragen kannst, wartet der
Rest auf der Veranda auf dich.«
»Mach dich nicht lächerlich!«
»Ich, lächerlich?«, fuhr sie auf und ließ eines seiner weißen
Hemden zu Boden fallen.
Ben, der Feigling, konnte ihr nicht in die Augen sehen. Unter
angespanntem Schweigen hob er das Hemd auf, packte seine
restlichen Sachen zusammen und stürmte aus der Wohnung.
Sie warf ihm den anderen Koff er hinterher, gleichgültig, ob er
ihn aufhob oder nicht. Zwei Tage lang stand er auf der vorderen
Veranda und sie stopfte noch weitere Sachen dazu und krönte
den Haufen mit seiner liebsten Golftrophäe. Halb rechnete sie
damit, dass der Hauseigentümerverband sich über das Chaos
beschweren würde, doch bevor es dazu kam, hatte Ben alles
abgeholt. Er kam vorbei, als Becca nicht zu Hause war, also gab
es keine weiteren bösen Worte. Ein paar Monate lang wechselten
sie dann überhaupt kein Wort mehr. Becca hatte gerade beschlossen,
den Kontakt wieder aufzunehmen und sich auf die
unvermeidliche Scheidung vorzubereiten, als sie einen Anruf
von Kendra Wallace - der anderen - bekam, die ihr zwischen
Schluchzern, Schreien und unter Tränen mitteilte, dass Ben in
ihren Armen off enbar an einem Herzinfarkt gestorben war. Mit
zweiundvierzig.
Gut zehn Minuten lang drang nichts anderes zu Becca vor.
Nichts außer der Tatsache, dass Ben tot war. Als sie wieder zu
sich kam, hörte sie Kendras selbstmitleidiges Jammern: »Ich
Arme, was soll ich bloß machen?«
»Das Baby«, sagte Becca und fand aus ihrem Schockzustand
zurück in die Realität. Ben wurde doch Vater ...
»Das Baby gehört mir!«, fuhr Kendra sie scharf an, als wüsste
sie von Beccas großer Sehnsucht nach einem eigenen Kind.
»Hast du Verwandte?« Jemanden, der dir hilft?
»Was hat das mit der Sache zu tun?«
»Du brauchst doch jemanden ...«
»Ich brauche Ben, und der ist tot!«, sagte sie schniefend und
schluchzend. »Und ... und ... du hörst von meinem Anwalt.«
»Von deinem Anwalt? Warum ...« Dann begriff sie. Die Scheidung
war noch nicht ausgesprochen, die Regelung der Finanzen
noch nicht geklärt. Lieber Himmel.
Kendra knallte den Hörer auf.
Becca blickte ins Leere. Ihr war klar, dass Kendra sie zur Kasse
bitten würde, aber wenn das Kind Bens Kind war, bitte schön.
Als sie dann zwei Monate später den entsprechenden Anruf erhielt,
wählte sie die Nummer, unter der sie Kendra gespeichert
hatte, und erfuhr, dass es die Nummer von Kendras Mutter war.
Die erklärte Becca, Kendra sei mit ihrem neuen Freund nach Los
Angeles gezogen. »Und das Kind?«, fragte Becca, und die Frau
teilte ihr unterkühlt mit, dass Kendras Freund den kleinen Jungen
adoptieren würde, und das ... ginge ... sie ... nichts an. Die
Anwälte würden das regeln.
Und das taten sie. Kendras Kind erhielt letztendlich ein Treuhandkonto,
bestückt mit der Hälfte des Erlöses von Bens Lebensversicherung
und eingerichtet von Beccas Anwalt, der mit
Ben befreundet gewesen war. Becca akzeptierte, dass es dem
Kind zustünde, doch falls Kendra mehr von ihr verlangen sollte,
würde sie kämpfen.
Jetzt umarmte Becca Ringo kurz, legte ihm das neue Halsband
an und hakte die Leine ein, dann schlüpfte sie in ihre Lieblings-
regenjacke. Mit einer Hand drehte sie ihr Haar zu einem Knoten
und zog sich eine Basecap darüber, während Ringo an der
Tür tänzelte.
Draußen herrschten schwarze Nacht, Regen und Kälte. Sie
spazierten über das Grundstück der Wohnanlage. Ringo wedelte
mit dem Schwanz, wenn ihnen andere Hunde begegneten,
bellte jedoch nicht. Abgesehen von dem einen oder anderen Gebell,
wenn er zu fressen bekam, war er ziemlich ruhig, knurrte
selten und machte keinen Lärm. Beim Gassi gehen reichte es
ihm, an allen interessanten Baumstämmen zu schnuppern oder
das Bein zu heben.
Dieser Abend bildete keine Ausnahme. Aufgrund des Regens
waren nicht viele Fußgänger unterwegs. Mit hochgeschlagenem
Kragen und gesenktem Kopf marschierte Becca ein paar Häuserblocks
entlang in Richtung Fluss und wieder zurück und ließ
Ringo Zeit für seine Geschäfte.
Etwa einen Block von ihrer Haustür entfernt blieb Ringo
plötzlich starr stehen und ließ tief in der Kehle ein Knurren
hören. Becca zerrte an der Leine, aber Ringo rührte sich nicht
vom Fleck. »Komm schon«, sagte sie. Ihre Nackenhärchen richteten
sich auf. Das war ein ziemlich untypisches Verhalten für
Ringo.
Der Hund fi xierte einen Punkt ungefähr hundert Meter entfernt,
wo eine dichte Gruppe Tannen hoch und dunkel aufragte,
deren Äste sich im schräg fallenden Regen auf und ab bewegten,
als ob sie winkten. Beccas Puls beschleunigte sich. Da war etwas
faul. Sie sah sich ruckartig um und rechnete halb damit, dass
der Schwarze Mann sich auf sie stürzen würde.
Ringo stieß jetzt ein scharfes Bellen aus und ruckte an der
Leine.
»Du jagst mir Angst ein, Hund«, schimpfte Becca, beugte
sich herab, nahm das nasse Tier auf den Arm und lief zur Haustür.
Sie fühlte seinen Körper vom Knurren vibrieren.
In der Wohnung verriegelte sie die Tür, nahm Ringo die Leine
ab, nahm vom Garderobenschrank ein bereitgelegtes Handtuch
und versuchte, Ringo trockenzureiben, doch er schoss zum
nächstgelegenen Fenster, erhob sich auf die Hinterbeine und
presste, die Zähne gebleckt, die Nase an die Scheibe.
»Hör auf damit«, befahl Becca auf dem Weg in die Küche, wo
sie den Teekessel mit Wasser füllte. Wahrscheinlich hat er bloß
ein Eichhörnchen gesehen. Oder die fette gelbe Katze, die sonst immer
auf der Dachterrasse der oberen Wohnung hockt. Nichts Gefährliches.
Reiß dich zusammen!
Sie wehrte sich gegen ein Schaudern und fi ng an, im Schrank
zu kramen. An diesem Valentinstag gab es keinen Sekt. Tee würde
reichen.
Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, saß Ringo auf dem Hinterteil,
blickte jedoch noch immer unentwegt auf einen Punkt
draußen vor dem Fenster.
Becca versuchte, ihn zu sich aufs Sofa zu locken, doch als sie
zu ihm ging, um ihn aufzuheben, entzog er sich ihr und lief
vor dem Fenster auf und ab. Sein Verhalten machte sie nervös.
Sie griff nach der Zeitung und löste die Plastikhülle. Ihr Blick
fiel auf das Foto einer Statue. Die Madonna im Irrgarten von
St. Elizabeth. Die Schlagzeile verkündete: JUNGEN FINDEN
MENSCHLICHES SKELETT IM IRRGARTEN.
Vor Schreck blieb ihr der Mund off en stehen.
Der Teekessel pfi ff , und Becca stieß erschreckt einen kurzen
Schrei aus. Ringo fi ng an, wie wild zu bellen. Es dauerte, bis sie
den Hund und ihren rasenden Puls wieder beruhigt hatte und
den Artikel über den Leichenfund auf dem Grundstück der privaten
Highschool lesen konnte, die sie besucht hatte und die
jetzt abgerissen wurde.
Als sie zum Ende kam, zählte sie ihre immer noch beschleunigten
Herzschläge, während sie auf die Regenschlieren an ihrer
Fensterscheibe starrte. Ihre Gedanken wanderten weit fort
von diesem trüben Valentinstag, ihrem verstorbenen Mann und
Ringos Verhalten.
Die Vergangenheit, die Zeit an der Highschool, wurde vor
ihr lebendig. Sie wusste, dass es sich um die Leiche von Jessie
Brentwood handeln musste, dem Mädchen aus ihrer Vision, der
Highschoolfreundin, die spurlos verschwunden war, die Freundin
von Hudson Walker, Beccas heimlicher Liebe und der Vater
ihres ungeborenen Kindes, von dem er nichts wusste.
Jezebel ›Jessie‹ Brentwood. Sie war sechzehn Jahre alt gewesen,
als sie verschwand.
An diesem Tag war sie Becca im Traum erschienen.
Jessie hatte etwas gesagt. Etwas Wichtiges. Während der
Wind in ihrem Haar wühlte und sie die Fußspitzen über den
Rand des Abgrunds schob. Sie hatte Worte gefl üstert, die eine
Bedeutung haben mussten. Die Becca nicht verstanden hatte.
»Jessie ...«, sagte sie laut. Sie senkte den Blick auf die Zeitung
und das gespenstische Bild der Madonnenstatue. »Was ist
dir nur zugestoßen?«
2 . Kapitel
Sam McNally stand ohne Kopfbedeckung im Regen am Tatort
und untersuchte den abgesperrten Bereich, den die Kriminaltechniker
im Lauf der vergangenen zwanzig Stunden penibelst
durchkämmt hatten. Die Schaulustigen waren weniger geworden,
die Presse war längst fort, die meisten Polizisten entweder
zu Hause oder irgendwo sonst im Einsatz. An diesem Abend
war der Tatort ein dunkles, matschiges, schlammiges Chaos.
Die Knochen waren entfernt worden und die Forensiker nahmen
sie gründlich in Augenschein. Erste Ergebnisse besagten,
dass es sich um das Skelett eines fünfzehn- oder sechzehnjährigen
Mädchens handeln musste. Wenn dies nicht Jezebel Brentwoods
sterbliche Überreste waren, würde er einen Besen fressen,
ein Spruch, den er unzählige Male von seinem Sohn Levi
gehört hatte, als dieser noch ein Kleinkind war.
Er sah sich in dem zugewucherten Irrgarten um, dessen früher
so gepfl egte Hecken von Rankgewächsen überzogen waren.
Vor Jahren hatte es Gerede gegeben, Gerüchte, der Irrgarten sei
von einem schurkischen Priester angelegt worden, der mit dem
Bischof und der Erzdiözese in Fehde lag, und das üppig grüne
Labyrinth würde Geheimnisse verbergen, doch man war geteilter
Meinung und lachte weitgehend darüber. Eine Legende, die
einfach nicht sterben wollte, aufrechterhalten von Verschwörungstheoretikern.
Doch dann geschah vor Jahren tatsächlich
ein Mord an einem Schüler namens Jake Marcott, der ausgerechnet
am Valentinstag durch einen Messerstich ins Herz ums leben kam.
Leben kam. Eine Ironie des Schicksals. Vor über zwanzig Jahren
war er in genau diesem Irrgarten umgebracht worden.
Und jetzt dieses Skelett.
Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Hartmann
Nancy Bush
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2009
unter dem Titel Wicked Game
bei Kensington Publishing Corp., New York.
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www.weltbild.de
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2009 by
Susan Lisa Jackson and Nancy Bush
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by
Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur GmbH & Co. KG, München.
Übersetzung: Elisabeth Hartmann
Umschlaggestaltung: Maria Seidel, Atelier Seidel - Verlagsgrafik, Teising
Umschlagmotiv: © Trevillion / Allan Jenkins
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-671-1
... weniger
Autoren-Porträt von Lisa Jackson, Nancy Bush
Lisa Jackson veröffentlichte schon zahlreiche Liebesromane, die in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt wurden. Sie ist allein erziehende Mutter und lebt mit ihren beiden Söhnen in Oregon. Nach ihrem Erfolg befragt, antwortete sie: "Ich halte es mit Oscar Wilde: Das Leben ist zu wichtig, als dass man es ernst nehmen sollte."
Bibliographische Angaben
- Autoren: Lisa Jackson , Nancy Bush
- 2011, 1, 511 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868006710
- ISBN-13: 9783868006711
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