Niemandstochter
Historischer Roman
1525: Barbara erhofft sich durch die Heirat mit dem wohlhabenden Andres Breitwieser eine bessere Zukunft. Aber dann stirbt ihr Mann im Bauernkrieg und sie ist auf sich allein gestellt. Ihr einziger Ausweg scheint jetzt nur noch das Hurenhaus in Rottenburg zu sein.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Niemandstochter “
1525: Barbara erhofft sich durch die Heirat mit dem wohlhabenden Andres Breitwieser eine bessere Zukunft. Aber dann stirbt ihr Mann im Bauernkrieg und sie ist auf sich allein gestellt. Ihr einziger Ausweg scheint jetzt nur noch das Hurenhaus in Rottenburg zu sein.
Klappentext zu „Niemandstochter “
Eine Welt in Aufruhr. Eine Frau kämpft sich zurück ins Leben.Schwaben zur Zeit des Bauernkriegs 1525. Die Heirat mit dem jähzornigen, aber wohlhabenden Andres Breitwieser scheint für Barbara der Beginn einer besseren Zukunft. Aber der Bauernkrieg nimmt ihr Mann und Zuhause; die junge Frau gerät in die Kriegswirren und wird auf der Flucht durch geplünderte und niedergebrannte Dörfer von marodierenden Landsknechten vergewaltigt. Aus Glatt verbannt, ist das Hurenhaus in Rottenburg der einzige Platz, wo sie ihr Kind zur Welt bringen kann. Ihr Weg scheint vorgezeichnet ...
Lese-Probe zu „Niemandstochter “
Niemandstochter von Isabell Pfeiffer1
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« Komm jetzt, Barbara! » Energisch griff Gertrud Spaichin nach der Hand des Mädchens, aber das Kind riss sich los und lauschte : Sie hatten schon angefangen.
« . . . ne nos inducas in tentationem, sed libera nos a malo . . . » Der Singsang der Schüler drang an ihr Ohr, vertraut, so vertraut wie ein Wiegenlied. Sie würde ihre schäbige Wachstafel nehmen, wie an jedem Tag, leise die Tür zum Schulsaal öffnen und sich in ihrer Ecke zusammenkauern, sich unsichtbar machen wie eine Maus, während vorn der Magister die Bücher zurechtrückte und mit seiner tiefen Stimme sprach, die sie umfing wie eine warme Decke. Er würde durch die Reihen gehen und dem einen das Haar raufen, den anderen zurechtweisen, um sie dann schließlich doch zu finden und überrascht zu rufen : Da ist ja meine Barbara ! Noch einmal , noch einmal jetzt und immer wieder . . .
« Lass das, Kind. Wir haben doch darüber gesprochen. Hier, du kannst den Beutel nehmen. » Hastig hängte die Mutter Barbara ein Leinensäckchen um und griff dann selbst nach der großen Kiepe. Das Gestell war schwer ; es dauerte eine Weile, ehe sie es auf den Rücken gewuchtet und festgeschnallt hatte. Schließlich packte sie den Gehstock und wandte sich zur Tür. Barbaras Unterlippe begann zu zittern.
« Wollen - wollen wir nicht auf Wiedersehen sagen ? Und Gottes Segen ? » Sie sah die Mutter mit großen Augen an, in denen schon die Tränen schimmerten. Gertrud kniff die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. « Nein », sagte sie barscher als beabsichtigt. Sie öffnete die Tür und machte sich daran, die steile Stiege hinabzuklettern. « Ich will hierbleiben », flüsterte das Kind. Aber da waren sie schon auf dem Weg zum Stadttor hinaus und durch die Gärten, am Fluss entlang, wo das Tal enger wurde und die Weinberge steiler, vorbei an überschwemmten Wiesen und kleinen Weilern bis ans Ende der Welt.
Das Dorf lag in der Talaue des Flüsschens Glatt, das westlich von Dornstetten im Schwarzwald entsprang und sich zunächst an Neuneck, Leinstetten und Hopfau vorbeischlängelte, um schließlich keine halbe Meile entfernt von hier zwischen Horb und Sulz in den Neckar zu münden. Zwei Tage hatten sie gebraucht, um von Rottenburg neckaraufwärts herzugelangen, und schon von weitem hatten sie den klobigen, viereckigen Bau der Wasserburg gesehen, die mit ihrem großen Wehrturm das Bild beherrschte.
« Das ist Glatt », erklärte Gertrud und blieb für einen Augen blick auf der schmalen Holzbrücke stehen, die sie von Norden her über den Fluss führte, wo die Hänge dicht mit Weinreben bewachsen waren. « Hier in diesem Dorf bin ich geboren und aufgewachsen. » Barbara folgte mit den Augen der ausgestreckten Hand : Eine bescheidene Ansammlung von Höfen drängte sich zwischen Kirchlein und Burg wie Gänse zwischen den Stecken der Hütekinder. Wo noch Platz war neben Strohdächern, Schuppen und Fachwerk, lagen kleine Gärten eingestreut, in denen sich schon das erste Grün des Frühlings regte. Ein mannshoher Flechtzaun umschloss das ganze Dorf. Dahinter erstreckte sich ein Streifen Grünland, bevor das Gelände an der gegenüberliegenden Talseite wieder steil zu den bewaldeten Höhen anstieg. Schafe und Kühe weideten dort träge in der Abendsonne.
« Schau mal, da drüben am Ufer haben wir als Kinder immer gespielt. Jetzt ist natürlich viel zu viel Wasser da, weil im Schwarzwald oben der Schnee schmilzt, aber im Sommer kann man sogar durch den Fluss waten. Und wenn du ein Stöckchen hineinwirfst, dann schwimmt es mit der Glatt zum Neckar und kommt in ein paar Tagen in Rottenburg vorbei. » Gertrud versuchte ihrer Stimme einen heiteren Klang zu geben.
Sie waren mittlerweile am Ende der Brücke angekommen. Irgendwo kläffte ein Hund, es roch nach Mist und verbranntem Holz. Die Mutter nahm Barbara fest an die Hand, wich den Schweinen aus, die mit ihren Schnauzen den weichen Boden des Dorfplatzes nach Schnecken und Würmern durchwühlten, und machte vor einem niedrigen Bauernhaus halt. Die Sonne stand schon tief im Westen. Barbara kniff ihre Augen zusammen und blinzelte.
« So, Barbara. Jetzt sei schön brav und sprich nur, wenn du gefragt wirst, verstanden ? » Das Kind nickte, während Gertrud auf ihren Rockzipfel spuckte und ihm damit über das Gesicht wischte. « Wie siehst du nur wieder aus . . . So. » Sie hob die Hand und klopfte. Stimmen waren von innen zu hören, dann kräftige Schritte. Schließlich öffnete sich die Tür. Ein Mann stand ihnen gegenüber und musterte sie von oben bis unten.
« Gertrud ? » Er war vielleicht Mitte dreißig, mit wirrem Haar und einem stoppeligen Bart und Wangen, die von staubgrauen Furchen zerklüftet wurden. « Was machst du hier ? Wir haben dich nicht erwartet. » Er sprach nur mit den Lippen, ohne den Kiefer dabei zu bewegen. Aber die Augen wanderten unruhig hin und her und streiften immer wieder Barbaras Gesicht.
« Ich weiß. » Die Mutter nickte. « Ich habe erst vor ein paar Tagen beschlossen, wieder zurückzukommen. Das hier ist Barbara, meine Tochter. Sie ist neun. » Der Mann beugte
sich hinunter, legte Barbara die Hand unter das Kinn und hob es hoch. Sie spürte die kratzigen Schwielen an seinen Fingerkuppen, die abgebrochenen Fingernägel.
« Barbara also. Sieht aus wie du, als du klein warst. » Er richtete sich wieder zu seiner vollen Größe auf. « Zurückzukommen ? Wie meinst du das ? », fragte er dann. Der Griff um Barbaras Hand wurde fester.
« Balthes, ich - es war besser so. » Die Finger der Mutter waren nass geworden, sie pressten Barbaras kleine Hand so fest zusammen, dass es wehtat.
« Haben sie dich rausgeworfen ? Oder was ? », fragte der Mann. Barbara versuchte, an ihm vorbei ins Hausinnere zu spähen. Irgendwo hinten hörte sie jemanden mit Kesseln und Töpfen hantieren - vielleicht jemand, der diesen kantigen Mann einfach wegschicken und sie hereinbitten würde zu einer heißen Suppe und einem Stück Brot ? Sie war so schrecklich müde nach diesem langen Weg.
« Oder was ? » Die Augen des Mannes hatten sich verengt, seine Stimme war jetzt schneidend. Er schien noch viel fragen zu wollen, aber in diesem Augenblick wurde er zur Seite geschoben, und eine hagere Frau erschien an seiner Seite. Sie beugte sich zur Mutter hinüber und küsste sie auf die Wange.
« Willkommen, Gertrud. Wie schön, dich nach all der Zeit wiederzusehen ! Und ? Willst du deine Schwester nicht hereinlassen ? » Langsam und unwillig löste sich Balthes von den Türpfosten und gab den Eingang frei.
Barbara saß auf der schmalen Bank neben ihrer Mutter und löffelte dankbar die dünne Suppe, die Tante Mia aufgetischt hatte. Unter gesenkten Lidern betrachtete sie die Familienmitglieder. Balthes Spaich duckte sich über seinen Teller, als müsste er ihn verteidigen. Er war kräftig und braun gebrannt von der Arbeit im Freien, und doch ging von seinen trüben Augen, seinen gespannten Zügen etwas Ungesundes aus. Feine rote Äderchen liefen von seiner Nase über beide Wangen, und die Lippen waren so schmal, als würde er sie beständig nach innen ziehen. Er aß wie jemand, der noch nie im Leben wirklich satt geworden war : hastig, gierig, ohne ein Wort. Obwohl seine Augen seinen Teller keinen Moment losließen, hätte Barbara geschworen, dass er genau zählte, wie viele Löffel Brei jeder andere am Tisch zu sich nahm. Tante Mia mit den strähnigen Haaren und den wässrigen Augen, die jeden Moment überzulaufen schienen, wagte in seiner Gegenwart kaum hochzuschauen, und ihre Bewegungen waren fahrig und schuldbewusst. Jeden Augenblick schien sie kurz davor, etwas zu verschütten oder umzukippen, und murmelte eine Entschuldigung vor sich hin, während sie Liesbeth, der Jüngsten, den Brei mit dem Löffelchen in den Mund schob. Die Kleine brabbelte vor sich hin ; Brei hing an ihrem Mündchen, Brei klebte an ihren Händen und sogar in ihrem Haar, und die Fliegen hatten es darauf abgesehen. Das Mädchen mit den langen braunen Zöpfen, der kecken Nase und den Zahnlücken, das ihr gelegentlich einen Blick zuwarf und verhalten lächelte, hieß Gunda. Sie war wohl nur wenig älter als Barbara selbst, während Hans, der ihr gegenübersaß, vielleicht drei, vier Jahre jünger war. Er war ein gedrungener kleiner Kerl und schnaufte beim Essen, als müsste er schwere Arbeit verrichten. In zwei fetten grünen Bändern lief ihm der Rotz aus der Nase, obwohl er ihn sich immer wieder mit dem Ärmel abwischte.
« Los, raus mit euch. Wir haben zu reden, da können wir euch nicht gebrauchen. Und sperrt die Hühner in den Stall ! » Balthes Spaich war aufgestanden und gab seinem Sohn einen leichten Klaps. « Marsch jetzt. » Gunda warf einen fragenden Blick zu ihrer Mutter, die kaum merklich nickte, packte Liesbeth am Ärmel und lief zur Tür. Zögernd rutschte Barbara von der Bank herunter und folgte ihr.
Auf dem Dorfplatz war schon eine ganze Schar Kinder versammelt. Nur noch wenige Schritte, und alle würden sich zu ihr umdrehen, würden zu ihr herübersehen, neugierig, abschätzig, würden anfangen, zu tuscheln und zu kichern, und Gesten machen, deren Sinn sie nicht verstand. Ihr Herz schlug schneller. Sie stolperte und starrte auf den Boden.
« Hierher, los. Setz dich hin. » Staubige Füße traten zur Seite, verschlissener Stoff schabte über ihren Arm. Aber niemand schien auf sie zu achten, schien überhaupt zu bemerken, dass eine Fremde unter ihnen war. Die Aufmerksamkeit der Dorfkinder ruhte auf einem hoch aufgeschossenen blonden Jungen in ihrer Mitte.
« Lass ihn springen, Simon, noch einmal ! Bitte, lass ihn springen ! » Der blonde Junge lachte und warf seine wilden Haare zurück. Um die Stirn hatte er sich ein buntes Tuch gebunden, was ihm ein verwegenes Aussehen verlieh, und in der Hand hielt er eine lange Haselrute, mit der er einen scheckigen kleinen Hund hin und her dirigierte. Der Hund stand auf den Hinterpfoten und hüpfte, sobald der Junge die Stockspitze hob, als hinge er an einem unsichtbaren Faden.
« Brav, Fex, braver Hund. Bist ein ganz Braver. » Der Junge ließ den Stock sinken und fuhr dem Tier mit seinen langen Fingern durch das Fell. Dann zog er einen Happen aus der Tasche ; das Tier schnappte glücklich danach und ließ sich den Bauch kraulen.
« Weiter ! Was soll er weiter tun ? » Fragend blickte er in die Runde und richtete sich auf. « Springen ! Simon, er soll über den brennenden Stock springen, wie letztes Mal ! » Simon runzelte die Stirn und setzte eine bedenkliche Miene auf.
« Über den brennenden Stock . . . das ist schwierig. Sehr schwierig ! Was meinst du, Fex ? » Er schnippte mit den Fingern. Der Hund sprang auf, leckte kurz die ausgestreckte Hand des Jungen und schlug dann einen Purzelbaum. Die Kinder lachten, Barbara saß wie verzaubert. « Einer muss das Feuer holen. » Er streckte den Stock aus; gleich rannten zwei Kleine zu ihm hin und prügelten sich fast um die Ehre, die Haselrute am Kochfeuer eines Herdes anzünden zu dürfen. « Und jetzt . . . wer hält den Stock, während ich ihn anlocke ? », fragte er lächelnd.
« Ich, Simon, ich ! Nimm mich ! » Alle schrien gleichzeitig los, rissen die Hände in die Höhe, schubsten, knufften. Hohheitsvoll betrachtete der Blonde sein Publikum und ließ den Blick über die aufgeregten Köpfe schweifen.
« Nein, du nicht . . . und Georg, du bist so ein Schisser, du lässt nur den Stock fallen . . . Martin war's schon das letzte Mal . . . » Wie sie sich aufplusterten, während er an ihnen vorbeischritt, wie die Gesichter rot anliefen und die Hälse immer länger wurden ! Plötzlich blieb er vor Barbara stehen.
« Du. » Er nahm ihre Hand und zog sie auf die Füße. « Wie heißt du ? »
« Ich . . . Barbara. »
« Barbara, du machst es. » Wie eine Puppe ließ sie sich hinter ihm herziehen, die brennende Haselrute in die Hand drücken und in die richtige Position bringen. Die Dorfkinder sahen sie neidisch an. Die Rute zitterte in ihrer Hand.
« So. » Simon setzte den Hund ein paar Schritte von Barbara entfernt auf die Erde. « Da bleibst du sitzen, bis ich pfeife, verstanden ? » Der Hund sah ihn mit großen Augen an und wedelte mit dem Schwanz, und dann tänzelte Simon an ihm vorbei auf die andere Seite.
« Jetzt ! » Er hob die Hand, hielt ein kleines Stück Fleisch hoch und pfiff. Der Hund rannte und sprang, aber Barbara sah, dass er zu kurz springen würde. Er hatte Angst, das konnte sie spüren, die Angst lähmte ihm die Beine, er war hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu seinem Herrn und der Angst und würde sich das Fell verbrennen. Im letzten Augenblick ließ sie den Stock fallen.
Die Dorfkinder schrien auf vor Enttäuschung. Barbara hörte sie böse zischen, spürte die wütenden Blicke auf ihrem Gesicht und zog den Kopf ein. Jetzt, jetzt würden sie sich auf sie stürzen und sie in den Dreck werfen, würden sie verprügeln, weil sie ihr Spiel verdorben hatte . . . Schon fasste eine Hand nach ihrer Schulter, und sie zuckte zusammen.
« Du hast ihn gerettet », sagte Simon feierlich. Er zog sich das Tuch vom Kopf, verbeugte sich feierlich und überreichte es ihr. Das feindselige Gemurmel verstummte augenblicklich.
« Er war einfach schon zu müde. Wenn du nicht aufgepasst hättest, hätte er sich verbrannt. » Es war inzwischen fast schon dunkel geworden, und sie konnte nicht erkennen, ob es nur der Schalk war, der aus Simons Augen blitzte. Bevor sie noch etwas sagen konnte, hob er den kleinen Hund auf und hielt ihn hoch.
« Wollt ihr nicht klatschen für den besten Hund der Welt ? » Gehorsam klatschten die Dorfkinder, und Simon nickte zufrieden. In diesem Augenblick drängte sich ein Halbwüchsiger nach vorn und blieb knapp vor Simon stehen. Er war ein kräftiger Bursche, fast schon ein Mann, und der verbissene Ernst in seinem Gesicht stand in merkwürdigem Gegensatz zu den weichen, dunklen Locken, die ihm ungebändigt in die Stirn fielen.
« Schluss mit den Faxen, Simon », sagte er scharf. « Du kommst sofort nach Hause, verstanden ? Vater ist fuchsteufelswild, weil du das Holz nicht klein gemacht hast. » Verblüfft schaute Barbara von einem zum anderen : So unterschiedlich sie waren, es gab doch eine Ähnlichkeit. Und natürlich, wenn man es wusste, war es nicht zu übersehen, auch wenn Simon blond, der andere aber dunkelhaarig war : dieselbe kräftige Gestalt, bei Simon etwas mehr in die Länge gezogen, dieselben eindringlichen, weit auseinanderliegenden Augen, dieselben kantigen Gesichtszüge mit der vorspringenden Kinnpartie. Sie mussten Brüder sein. Simon schien ein bisschen geschrumpft zu sein, seit sein Bruder die Bildfläche betreten hatte. Er setzte den kleinen Hund vorsichtig wieder auf die Erde, zuckte mit den Schultern und murmelte eine Entschuldigung. Die Dorfkinder standen langsam auf und machten sich davon. Heute würde es nichts mehr zu sehen geben. Barbara beeilte sich, hinter Gunda herzulaufen, die mit der kleinen Liesbeth auf dem Arm schon ungeduldig auf sie wartete.
Copyright © 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
« Komm jetzt, Barbara! » Energisch griff Gertrud Spaichin nach der Hand des Mädchens, aber das Kind riss sich los und lauschte : Sie hatten schon angefangen.
« . . . ne nos inducas in tentationem, sed libera nos a malo . . . » Der Singsang der Schüler drang an ihr Ohr, vertraut, so vertraut wie ein Wiegenlied. Sie würde ihre schäbige Wachstafel nehmen, wie an jedem Tag, leise die Tür zum Schulsaal öffnen und sich in ihrer Ecke zusammenkauern, sich unsichtbar machen wie eine Maus, während vorn der Magister die Bücher zurechtrückte und mit seiner tiefen Stimme sprach, die sie umfing wie eine warme Decke. Er würde durch die Reihen gehen und dem einen das Haar raufen, den anderen zurechtweisen, um sie dann schließlich doch zu finden und überrascht zu rufen : Da ist ja meine Barbara ! Noch einmal , noch einmal jetzt und immer wieder . . .
« Lass das, Kind. Wir haben doch darüber gesprochen. Hier, du kannst den Beutel nehmen. » Hastig hängte die Mutter Barbara ein Leinensäckchen um und griff dann selbst nach der großen Kiepe. Das Gestell war schwer ; es dauerte eine Weile, ehe sie es auf den Rücken gewuchtet und festgeschnallt hatte. Schließlich packte sie den Gehstock und wandte sich zur Tür. Barbaras Unterlippe begann zu zittern.
« Wollen - wollen wir nicht auf Wiedersehen sagen ? Und Gottes Segen ? » Sie sah die Mutter mit großen Augen an, in denen schon die Tränen schimmerten. Gertrud kniff die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. « Nein », sagte sie barscher als beabsichtigt. Sie öffnete die Tür und machte sich daran, die steile Stiege hinabzuklettern. « Ich will hierbleiben », flüsterte das Kind. Aber da waren sie schon auf dem Weg zum Stadttor hinaus und durch die Gärten, am Fluss entlang, wo das Tal enger wurde und die Weinberge steiler, vorbei an überschwemmten Wiesen und kleinen Weilern bis ans Ende der Welt.
Das Dorf lag in der Talaue des Flüsschens Glatt, das westlich von Dornstetten im Schwarzwald entsprang und sich zunächst an Neuneck, Leinstetten und Hopfau vorbeischlängelte, um schließlich keine halbe Meile entfernt von hier zwischen Horb und Sulz in den Neckar zu münden. Zwei Tage hatten sie gebraucht, um von Rottenburg neckaraufwärts herzugelangen, und schon von weitem hatten sie den klobigen, viereckigen Bau der Wasserburg gesehen, die mit ihrem großen Wehrturm das Bild beherrschte.
« Das ist Glatt », erklärte Gertrud und blieb für einen Augen blick auf der schmalen Holzbrücke stehen, die sie von Norden her über den Fluss führte, wo die Hänge dicht mit Weinreben bewachsen waren. « Hier in diesem Dorf bin ich geboren und aufgewachsen. » Barbara folgte mit den Augen der ausgestreckten Hand : Eine bescheidene Ansammlung von Höfen drängte sich zwischen Kirchlein und Burg wie Gänse zwischen den Stecken der Hütekinder. Wo noch Platz war neben Strohdächern, Schuppen und Fachwerk, lagen kleine Gärten eingestreut, in denen sich schon das erste Grün des Frühlings regte. Ein mannshoher Flechtzaun umschloss das ganze Dorf. Dahinter erstreckte sich ein Streifen Grünland, bevor das Gelände an der gegenüberliegenden Talseite wieder steil zu den bewaldeten Höhen anstieg. Schafe und Kühe weideten dort träge in der Abendsonne.
« Schau mal, da drüben am Ufer haben wir als Kinder immer gespielt. Jetzt ist natürlich viel zu viel Wasser da, weil im Schwarzwald oben der Schnee schmilzt, aber im Sommer kann man sogar durch den Fluss waten. Und wenn du ein Stöckchen hineinwirfst, dann schwimmt es mit der Glatt zum Neckar und kommt in ein paar Tagen in Rottenburg vorbei. » Gertrud versuchte ihrer Stimme einen heiteren Klang zu geben.
Sie waren mittlerweile am Ende der Brücke angekommen. Irgendwo kläffte ein Hund, es roch nach Mist und verbranntem Holz. Die Mutter nahm Barbara fest an die Hand, wich den Schweinen aus, die mit ihren Schnauzen den weichen Boden des Dorfplatzes nach Schnecken und Würmern durchwühlten, und machte vor einem niedrigen Bauernhaus halt. Die Sonne stand schon tief im Westen. Barbara kniff ihre Augen zusammen und blinzelte.
« So, Barbara. Jetzt sei schön brav und sprich nur, wenn du gefragt wirst, verstanden ? » Das Kind nickte, während Gertrud auf ihren Rockzipfel spuckte und ihm damit über das Gesicht wischte. « Wie siehst du nur wieder aus . . . So. » Sie hob die Hand und klopfte. Stimmen waren von innen zu hören, dann kräftige Schritte. Schließlich öffnete sich die Tür. Ein Mann stand ihnen gegenüber und musterte sie von oben bis unten.
« Gertrud ? » Er war vielleicht Mitte dreißig, mit wirrem Haar und einem stoppeligen Bart und Wangen, die von staubgrauen Furchen zerklüftet wurden. « Was machst du hier ? Wir haben dich nicht erwartet. » Er sprach nur mit den Lippen, ohne den Kiefer dabei zu bewegen. Aber die Augen wanderten unruhig hin und her und streiften immer wieder Barbaras Gesicht.
« Ich weiß. » Die Mutter nickte. « Ich habe erst vor ein paar Tagen beschlossen, wieder zurückzukommen. Das hier ist Barbara, meine Tochter. Sie ist neun. » Der Mann beugte
sich hinunter, legte Barbara die Hand unter das Kinn und hob es hoch. Sie spürte die kratzigen Schwielen an seinen Fingerkuppen, die abgebrochenen Fingernägel.
« Barbara also. Sieht aus wie du, als du klein warst. » Er richtete sich wieder zu seiner vollen Größe auf. « Zurückzukommen ? Wie meinst du das ? », fragte er dann. Der Griff um Barbaras Hand wurde fester.
« Balthes, ich - es war besser so. » Die Finger der Mutter waren nass geworden, sie pressten Barbaras kleine Hand so fest zusammen, dass es wehtat.
« Haben sie dich rausgeworfen ? Oder was ? », fragte der Mann. Barbara versuchte, an ihm vorbei ins Hausinnere zu spähen. Irgendwo hinten hörte sie jemanden mit Kesseln und Töpfen hantieren - vielleicht jemand, der diesen kantigen Mann einfach wegschicken und sie hereinbitten würde zu einer heißen Suppe und einem Stück Brot ? Sie war so schrecklich müde nach diesem langen Weg.
« Oder was ? » Die Augen des Mannes hatten sich verengt, seine Stimme war jetzt schneidend. Er schien noch viel fragen zu wollen, aber in diesem Augenblick wurde er zur Seite geschoben, und eine hagere Frau erschien an seiner Seite. Sie beugte sich zur Mutter hinüber und küsste sie auf die Wange.
« Willkommen, Gertrud. Wie schön, dich nach all der Zeit wiederzusehen ! Und ? Willst du deine Schwester nicht hereinlassen ? » Langsam und unwillig löste sich Balthes von den Türpfosten und gab den Eingang frei.
Barbara saß auf der schmalen Bank neben ihrer Mutter und löffelte dankbar die dünne Suppe, die Tante Mia aufgetischt hatte. Unter gesenkten Lidern betrachtete sie die Familienmitglieder. Balthes Spaich duckte sich über seinen Teller, als müsste er ihn verteidigen. Er war kräftig und braun gebrannt von der Arbeit im Freien, und doch ging von seinen trüben Augen, seinen gespannten Zügen etwas Ungesundes aus. Feine rote Äderchen liefen von seiner Nase über beide Wangen, und die Lippen waren so schmal, als würde er sie beständig nach innen ziehen. Er aß wie jemand, der noch nie im Leben wirklich satt geworden war : hastig, gierig, ohne ein Wort. Obwohl seine Augen seinen Teller keinen Moment losließen, hätte Barbara geschworen, dass er genau zählte, wie viele Löffel Brei jeder andere am Tisch zu sich nahm. Tante Mia mit den strähnigen Haaren und den wässrigen Augen, die jeden Moment überzulaufen schienen, wagte in seiner Gegenwart kaum hochzuschauen, und ihre Bewegungen waren fahrig und schuldbewusst. Jeden Augenblick schien sie kurz davor, etwas zu verschütten oder umzukippen, und murmelte eine Entschuldigung vor sich hin, während sie Liesbeth, der Jüngsten, den Brei mit dem Löffelchen in den Mund schob. Die Kleine brabbelte vor sich hin ; Brei hing an ihrem Mündchen, Brei klebte an ihren Händen und sogar in ihrem Haar, und die Fliegen hatten es darauf abgesehen. Das Mädchen mit den langen braunen Zöpfen, der kecken Nase und den Zahnlücken, das ihr gelegentlich einen Blick zuwarf und verhalten lächelte, hieß Gunda. Sie war wohl nur wenig älter als Barbara selbst, während Hans, der ihr gegenübersaß, vielleicht drei, vier Jahre jünger war. Er war ein gedrungener kleiner Kerl und schnaufte beim Essen, als müsste er schwere Arbeit verrichten. In zwei fetten grünen Bändern lief ihm der Rotz aus der Nase, obwohl er ihn sich immer wieder mit dem Ärmel abwischte.
« Los, raus mit euch. Wir haben zu reden, da können wir euch nicht gebrauchen. Und sperrt die Hühner in den Stall ! » Balthes Spaich war aufgestanden und gab seinem Sohn einen leichten Klaps. « Marsch jetzt. » Gunda warf einen fragenden Blick zu ihrer Mutter, die kaum merklich nickte, packte Liesbeth am Ärmel und lief zur Tür. Zögernd rutschte Barbara von der Bank herunter und folgte ihr.
Auf dem Dorfplatz war schon eine ganze Schar Kinder versammelt. Nur noch wenige Schritte, und alle würden sich zu ihr umdrehen, würden zu ihr herübersehen, neugierig, abschätzig, würden anfangen, zu tuscheln und zu kichern, und Gesten machen, deren Sinn sie nicht verstand. Ihr Herz schlug schneller. Sie stolperte und starrte auf den Boden.
« Hierher, los. Setz dich hin. » Staubige Füße traten zur Seite, verschlissener Stoff schabte über ihren Arm. Aber niemand schien auf sie zu achten, schien überhaupt zu bemerken, dass eine Fremde unter ihnen war. Die Aufmerksamkeit der Dorfkinder ruhte auf einem hoch aufgeschossenen blonden Jungen in ihrer Mitte.
« Lass ihn springen, Simon, noch einmal ! Bitte, lass ihn springen ! » Der blonde Junge lachte und warf seine wilden Haare zurück. Um die Stirn hatte er sich ein buntes Tuch gebunden, was ihm ein verwegenes Aussehen verlieh, und in der Hand hielt er eine lange Haselrute, mit der er einen scheckigen kleinen Hund hin und her dirigierte. Der Hund stand auf den Hinterpfoten und hüpfte, sobald der Junge die Stockspitze hob, als hinge er an einem unsichtbaren Faden.
« Brav, Fex, braver Hund. Bist ein ganz Braver. » Der Junge ließ den Stock sinken und fuhr dem Tier mit seinen langen Fingern durch das Fell. Dann zog er einen Happen aus der Tasche ; das Tier schnappte glücklich danach und ließ sich den Bauch kraulen.
« Weiter ! Was soll er weiter tun ? » Fragend blickte er in die Runde und richtete sich auf. « Springen ! Simon, er soll über den brennenden Stock springen, wie letztes Mal ! » Simon runzelte die Stirn und setzte eine bedenkliche Miene auf.
« Über den brennenden Stock . . . das ist schwierig. Sehr schwierig ! Was meinst du, Fex ? » Er schnippte mit den Fingern. Der Hund sprang auf, leckte kurz die ausgestreckte Hand des Jungen und schlug dann einen Purzelbaum. Die Kinder lachten, Barbara saß wie verzaubert. « Einer muss das Feuer holen. » Er streckte den Stock aus; gleich rannten zwei Kleine zu ihm hin und prügelten sich fast um die Ehre, die Haselrute am Kochfeuer eines Herdes anzünden zu dürfen. « Und jetzt . . . wer hält den Stock, während ich ihn anlocke ? », fragte er lächelnd.
« Ich, Simon, ich ! Nimm mich ! » Alle schrien gleichzeitig los, rissen die Hände in die Höhe, schubsten, knufften. Hohheitsvoll betrachtete der Blonde sein Publikum und ließ den Blick über die aufgeregten Köpfe schweifen.
« Nein, du nicht . . . und Georg, du bist so ein Schisser, du lässt nur den Stock fallen . . . Martin war's schon das letzte Mal . . . » Wie sie sich aufplusterten, während er an ihnen vorbeischritt, wie die Gesichter rot anliefen und die Hälse immer länger wurden ! Plötzlich blieb er vor Barbara stehen.
« Du. » Er nahm ihre Hand und zog sie auf die Füße. « Wie heißt du ? »
« Ich . . . Barbara. »
« Barbara, du machst es. » Wie eine Puppe ließ sie sich hinter ihm herziehen, die brennende Haselrute in die Hand drücken und in die richtige Position bringen. Die Dorfkinder sahen sie neidisch an. Die Rute zitterte in ihrer Hand.
« So. » Simon setzte den Hund ein paar Schritte von Barbara entfernt auf die Erde. « Da bleibst du sitzen, bis ich pfeife, verstanden ? » Der Hund sah ihn mit großen Augen an und wedelte mit dem Schwanz, und dann tänzelte Simon an ihm vorbei auf die andere Seite.
« Jetzt ! » Er hob die Hand, hielt ein kleines Stück Fleisch hoch und pfiff. Der Hund rannte und sprang, aber Barbara sah, dass er zu kurz springen würde. Er hatte Angst, das konnte sie spüren, die Angst lähmte ihm die Beine, er war hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu seinem Herrn und der Angst und würde sich das Fell verbrennen. Im letzten Augenblick ließ sie den Stock fallen.
Die Dorfkinder schrien auf vor Enttäuschung. Barbara hörte sie böse zischen, spürte die wütenden Blicke auf ihrem Gesicht und zog den Kopf ein. Jetzt, jetzt würden sie sich auf sie stürzen und sie in den Dreck werfen, würden sie verprügeln, weil sie ihr Spiel verdorben hatte . . . Schon fasste eine Hand nach ihrer Schulter, und sie zuckte zusammen.
« Du hast ihn gerettet », sagte Simon feierlich. Er zog sich das Tuch vom Kopf, verbeugte sich feierlich und überreichte es ihr. Das feindselige Gemurmel verstummte augenblicklich.
« Er war einfach schon zu müde. Wenn du nicht aufgepasst hättest, hätte er sich verbrannt. » Es war inzwischen fast schon dunkel geworden, und sie konnte nicht erkennen, ob es nur der Schalk war, der aus Simons Augen blitzte. Bevor sie noch etwas sagen konnte, hob er den kleinen Hund auf und hielt ihn hoch.
« Wollt ihr nicht klatschen für den besten Hund der Welt ? » Gehorsam klatschten die Dorfkinder, und Simon nickte zufrieden. In diesem Augenblick drängte sich ein Halbwüchsiger nach vorn und blieb knapp vor Simon stehen. Er war ein kräftiger Bursche, fast schon ein Mann, und der verbissene Ernst in seinem Gesicht stand in merkwürdigem Gegensatz zu den weichen, dunklen Locken, die ihm ungebändigt in die Stirn fielen.
« Schluss mit den Faxen, Simon », sagte er scharf. « Du kommst sofort nach Hause, verstanden ? Vater ist fuchsteufelswild, weil du das Holz nicht klein gemacht hast. » Verblüfft schaute Barbara von einem zum anderen : So unterschiedlich sie waren, es gab doch eine Ähnlichkeit. Und natürlich, wenn man es wusste, war es nicht zu übersehen, auch wenn Simon blond, der andere aber dunkelhaarig war : dieselbe kräftige Gestalt, bei Simon etwas mehr in die Länge gezogen, dieselben eindringlichen, weit auseinanderliegenden Augen, dieselben kantigen Gesichtszüge mit der vorspringenden Kinnpartie. Sie mussten Brüder sein. Simon schien ein bisschen geschrumpft zu sein, seit sein Bruder die Bildfläche betreten hatte. Er setzte den kleinen Hund vorsichtig wieder auf die Erde, zuckte mit den Schultern und murmelte eine Entschuldigung. Die Dorfkinder standen langsam auf und machten sich davon. Heute würde es nichts mehr zu sehen geben. Barbara beeilte sich, hinter Gunda herzulaufen, die mit der kleinen Liesbeth auf dem Arm schon ungeduldig auf sie wartete.
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Autoren-Porträt von Isabell Pfeiffer
Pfeiffer, IsabellIsabell Pfeiffer, Jahrgang 1961, arbeitete einige Jahre als Ärztin in der Neurologie und Psychiatrie, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Ihr besonderes Interesse für die Untiefen der menschlichen Seele zieht sich als roter Faden durch ihre Romane. Sie lebt mit Mann und drei Söhnen in Schwaben.
Bibliographische Angaben
- Autor: Isabell Pfeiffer
- 2011, 2. Aufl., 512 Seiten, Maße: 11,5 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499249618
- ISBN-13: 9783499249617
- Erscheinungsdatum: 01.08.2011
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