Notizhefte
Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2011, Kategorie Sachbuch/Essayistik
Henning Ritters Notizhefte sind in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren entstanden, am Rande seiner Tätigkeit als Redakteur des Ressorts Geisteswissenschaften" (FAZ). Sie stehen in einer langen literarischen Tradition, von der französischen Moralistik bis zu Paul Valérys Cahiers/Hefte.
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Produktinformationen zu „Notizhefte “
Henning Ritters Notizhefte sind in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren entstanden, am Rande seiner Tätigkeit als Redakteur des Ressorts Geisteswissenschaften" (FAZ). Sie stehen in einer langen literarischen Tradition, von der französischen Moralistik bis zu Paul Valérys Cahiers/Hefte.
Klappentext zu „Notizhefte “
Die Lieblingsepoche des Autors ist fraglos das 18. Jahrhundert der Rousseau und Montesquieu, gerade wegen der Geständnisfreude, mit der es seine Leidenschaften bekennt. Vor allem aber interessiert ihn die geistige Konkurrenz zwischen den Epochen und Traditionen, das Unerledigte der Vergangenheit, ihre Lektionen; und die Gegenwart, als zuletzt kommende, wird um ihre scheinbare Überlegenheit gebracht, alle Perioden erhalten die gleiche Chance. Und so entsteht ein Gespräch zwischen den unabhängigsten Köpfen von der Aufklärung bis heute, von Montaigne bis Nietzsche und Darwin, von Büchner bis Canetti, Jünger und vielen anderen - ein Füllhorn voller immer wieder überraschender Lesefrüchte, Entwürfe, Maximen und Reflexionen; mit wiederkehrenden Motiven und Themen, wie etwa (unter dem Stichwort Deutsche Dinge") die beständigen Eigenarten der Deutschen, die Rolle von Mitleid und Erinnerung in der heutigen Gesellschaft oder die Konkurrenz von Politik und Kultur in der deutschen Geschichte.Die Notizen bewegen sich zwischen der lakonischen Knappheit des Aphorismus und dem Kurzessay; Spontaneität und Zufall sind ihr Signum, und sie sind ungeplant, notiert in ein Heft, das jederzeit zur Hand war. Es sind, um mit einer seiner schönen Trouvaillen zu sprechen, Denksteine, die um und um gewendet werden müssen" (Goethe), Gedanken im Wartestand, die darauf warten, dass Autor und Leser sich ihnen zuwenden, um Gebrauch von ihnen zu machen.
Henning Ritters Notizhefte sind ein sehr persönlicher Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Denken im Spiegel einer unvermutet aktuellen Vergangenheit.
Lese-Probe zu „Notizhefte “
Notizhefte von Henning RitterWas wiegt schwerer, moralisches oder intellektuelles Versagen? In »Doppelleben« berichtet Gottfried Benn über seinen Briefwechsel mit Klaus Mann, den er nach dem Krieg aus Anlaß seiner Rechenschaft wiederliest. Seine Darstellung zeigt, daß damals, 1950, die Kriterien des Versagens noch nicht festlagen. Und es ist noch nicht klar, welche Art von Versagen mehr Gewicht hat. Seit der Mitte der fünfziger Jahre herrscht dann Konsens darüber, daß das Versagen gegenüber dem Nationalsozialismus ein moralisches Versagen war. Auch der Begriff der Emigration hatte, wie Benn betont, erst allmählich eine moralische Färbung angenommen. 1933 habe es ihn in Deutschland nicht gegeben - »man kannte politische Flüchtlinge, aber den massiven, ethisch untermauerten Begriff der Emigration, wie er nach 1933 bei uns gang und gäbe wurde, kannte man nicht ... Wenn nun also Angehörige meiner Generation und meines Gedankenkreises Deutschland verließen, emigrierten sie noch nicht in dem späteren polemischen Sinne, sondern sie zogen es vor, persönlichen Fährnissen aus dem Wege zu gehen, die Dauer und die Intensität des Fortgehens sah wohl keiner von ihnen genau voraus. Es war mehr eine Demonstration als eine Offensive, mehr ein Ausweichen als eine Emigration.« Zu diesen Feststellungen kommt Benn beim Wiederlesen des Briefes von Klaus Mann: »Diesen Brief hatte ich seit 15 Jahren nicht wieder gelesen und als ich ihn heute wieder vornahm, war ich vollkommen verblüfft. Dieser 27-jährige hatte die Situation richtiger beurteilt, die Entwicklung der Dinge genau vorausgesehen, er war klarer denkend als ich, meine Antwort ... war demgegenüber romantisch, überschwänglich, pathetisch, aber ich muß ihr zugutehalten, sie enthielt Probleme, Fragen, innere Schwierigkeiten, die auch heute noch für uns alle akut
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sind.« Die intellektuelle Überlegenheit ist es, nicht die moralische, die Benn beim Wiederlesen des Briefes Klaus Manns bewußt wird. Während die Sprachfiguren der französischen Moralistik, die Nietzsche so sehr bewunderte, dazu dienen sollten, das Gewicht der Welt zu verringern, nutzt Nietzsche sie für das Gegenteil. Überall will er die Unerträglichkeit des Daseins steigern, die Wunde der Existenz fühlbarer machen: Das ist sein Perspektivismus auf das Leiden hin. Das soll einen höheren Pakt der Sprache mit dem Leben ergeben, jenseits von Leiden und Mitleiden.
Will man das Verhältnis meiner Generation zu Walter Benjamin beurteilen, so muß man in die Rechnung aufnehmen, wie viele mit Arbeiten über ihn, dem die Habilitation verweigert wurde, zu akademischen Titeln gelangten, gar habilitierten mit einer Arbeit über das Trauerspielbuch, das Benjamins Auszug aus der akademischen Welt besiegelte. Darin liegt zweifellos ein Mangel an Takt gegenüber dem verehrten Autor, obwohl die Betreffenden sich wohl eher einbildeten, sie würden ihn an der akademischen Institution rächen. Dabei ist es die Generation aber schuldig geblieben, die Gedanken Benjamins aufzuschließen, da sie sich diese eher mimetisch aneignete. Rolf Tiedemann bildete es zu einer eigenen Disziplin aus, Benjamin mit Benjamin darzustellen, ein Verfahren, das um so verstörender wirken muß, als Benjamin eine manische Empfindlichkeit gegenüber Anleihen bei seinem Denken hatte. Von Blochs »Spuren« sagte er, es seien die Spuren, die sein Denken bei Bloch hinterlassen habe. Über Adorno - damals Theodor Wiesengrund - soll er, nach einer Überlieferung von Soma Morgenstern, gesagt haben: »Er folgt mir bis in meine Träume, und: Habe ich Ihnen schon einmal erzählt, daß Teddy Wiesengrund mit Hilfe eines Kapitels aus einem meiner Bücher sich bei einem Professor hier in Frankfurt habilitieren ließ, bei dem ich durchgefallen bin.«
Im Licht der Zeugnisse von Freundschaften und Enttäuschungen behauptet sich als integre Gestalt Gerhard Scholem, der Benjamin über alle Fährnisse hinweg die Treue bewahrte, auch gegen Benjamin selbst. Seine nüchterne Stimme fand bei meiner Generation der Benjamin- Verehrer das geringste Echo. Denn Scholem scheute sich nicht, Benjamins Irrtümer und Mißgriffe, etwa seine Annäherung an den Kommunismus oder seine unterwürfige Haltung gegenüber Brecht, beim Namen zu nennen, und verletzte damit den Konsens derer, die nur eines wollten: Benjamin in allem recht geben. Dafür zahlten sie den Preis der Unverständlichkeit. Die Rezeption Benjamins ist ein Beispiel dafür, wie die Rezeption in das Innere des Rezipierten eindringt, es umformt und letztlich die Quellen der Rezeption verschüttet. Während die Benjamin-Verehrung am Verfehlten des deutsch-jüdischen Verhältnisses etwas gutmachen möchte, wird sie doch gerade zur Bestätigung dafür, daß dieses Verhältnis - nicht etwa nur die sogenannte deutsch-jüdische Symbiose - längst schon gescheitert war, bevor die Nationalsozialisten zur Macht kamen.
Montesquieu hat vor Moralisierung der Politik gewarnt: »Es ist nutzlos, der Staatskunst etwa vorzuwerfen, daß sie in Widerspruch zur Moral, Vernunft und Gerechtigkeit steht. Solche Predigten rufen allenfalls allgemeines Kopfnicken hervor, ändern aber niemanden.« Was die Moral untauglich macht für die Politik ist ihre allgemeine Zustimmungsfähigkeit. Sie greift einer Einheit vor, welche die Politik nur anstreben kann.
Kein menschlicher Gedanke, so Carl Schmitt, sei vor Umdeutungen sicher. Das gilt auch für die eigenen Gedanken, die grenzenloser Anpassung fähig sind. Man muß sie also vor den eigenen Umdeutungen schützen. Ein Vorblick auf die Bundesrepublik: Da die Deutschen weder von einem Herrn regiert werden noch »demokratisch leben« wollen, sollen sie dem »Ideal einer wohlgeordneten, in genugsamer Freiheit vorwärts strebenden Bundesrepublik« nachkommen, erklärte Johannes von Müller im Jahre 1787.
Der Gedanke der versäumten Verwestlichung ist 1922 von Ernst Troeltsch ausgesprochen worden. Er plädierte für ein Nachholen der westlichen Aufklärung, ihrer Ideen des Naturrechts und der Menschheit. Gleichzeitig warb Hermann Hesse in einem Aufsatz über »Die Brüder Karamasow« und den Niedergang Europas für eine Rückwendung nach Asien, zum Ursprung und zu den faustischen Müttern - als Wiedergeburt.
Die Frage, die die Bundesrepublik seit ihren Anfängen wie keine zweite begleitete, war die nach ihrer Belastbarkeit. Solange sie ein Provisorium war, schien die Antwort einfach. Große Belastungen waren von ihr fernzuhalten oder betrafen ihre Entscheidungskompetenz nicht. Seit der Wiedervereinigung ist dieser Staat, dessen Wirtschaftskraft ansehnlich ist, von außerordentlichen Belastungen und politischen Entscheidungen nicht mehr auszunehmen. So wurde es als politisches Versagen der Bundesrepublik angesehen, daß sie sich im Golfkrieg einer politischen Entscheidung entzog, als sei sie noch das alte Provisorium, und Zuflucht nahm zu kompensatorischen Leistungen und einer Bekundung der Sehnsucht nach einem allgemeinen Weltfrieden. Die existentielle Dimension der Politik wurde verfehlt. Das zeigt an, daß eine tiefgehende Veränderung des deutschen Nationalcharakters eingetreten ist. Während früher das Schreckbild der Deutschen die »Händlergesellschaft« war, ist diese heute die Wurzel ihrer Identität. Nach den Katastrophen im Gefolge der Verteufelung der Händlergesellschaft will man heute deren schützendes Gehäuse nicht verlassen. Zur Ironie der Inversion gehört, daß die Israelis den Deutschen ihre Händlermentalität vorwerfen, die sie vor weitergehenden Verpflichtungen zurückschrecken lassen, mit dem Ergebnis, daß die Bellizisten von einst, wie manche Israelis meinen, einen nicht weniger bedrohlichen Pazifismus praktizieren. Während die Israelis allseits von Feinden umgeben sind und sie auch als solche identifizieren, wollen die Deutschen überall nur Freunde sehen.
Nietzsche entdeckt, daß der Gedanke der Dekadenz nicht nur auf Spätzeiten, sondern auch auf Frühzeiten angewandt werden kann. Schon der Sündenfall drängt sich als Beispiel auf. Die Dekadenz wartet gleich neben dem Ursprung. Jeder Ursprung läßt sich als Abfall deuten, als abgeleitet aus einem anderen Ursprung. Das Leben selbst ist gegen Aufstieg und Niedergang gleichgültig, es geht durch beide hindurch.
»Menschen handeln in Wirklichkeit nur, um darüber reden zu können oder zu hören, daß darüber geredet wird«, schreibt Alexandre Kojève an Leo Strauss (19. September 1950). Das mache in den Augen der Menschen die Überlegenheit ihrer Welt gegenüber der Natur aus. Heute ist es das Höchste, sich zu verständigen und darüber zu reden.
Das Neue ist längst nicht mehr, was es zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war - ein Schock, der einen Zuwachs an Erkenntnis versprach. Der Gedanke, daß das Neue per se authentisch sei, hat an Glanz verloren. Die einstmals produktive Provokation der Sehgewohnheiten hat das Wegsehen zur Gewohnheit werden lassen, wo immer Neues verheißen wird. Das Neue wurde in dem Augenblick zur Wiederholung, als es eine künstlerische Konvention geworden war.
Ein Prospekt der Weißen Flotte Potsdam preist eine Fahrt über den Schwielowsee damit an, dass Theodor Fontane Caputh als »Chicago des Schwielowsees« beschrieben habe. Was immer dieser Vergleich zu seinen Zeiten bedeutet haben mochte, heute ist er kaum mehr erhellend. Aber es gibt andere transatlantische Beziehungen, auch wenn im Prospekt die Mitteilung: »Albert Schweitzer lebte in Caputh bis zu seiner Emigration«, eine groteske Verwechslung mit dem anderen, berühmteren Albert ist, nämlich Einstein, dessen Haus hier noch besichtigt werden kann. Von Chicago nach Lambarene und wieder zurück nach Princeton, so verlaufen die Koordinaten von Caputh.
In der Zeitung »Rotes Schwert«, dem Organ der Tscheka, hieß es am 18. August 1919: »Uns ist alles erlaubt.« Das hatten auch Robespierre und Saint-Just gesagt, als sie gegen die verborgenen Volksfeinde vorgingen, die sich als Revolutionäre ausgaben. Robespierre erklärte: »Recht ist, was der Revolution nützt«, und Saint-Just sagte, daß »alles denen erlaubt sein muß, die im Sinne der Revolution handeln«. Die Formulierung »Alles ist uns erlaubt« geht auf Paulus zurück, 1. Korinther 6, 12: »Alles ist mir erlaubt - aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber es soll mich nichts gefangen nehmen.« Paulus spricht vom Verhalten zu Speisevorschriften, die auch am besten deutlich machen, daß die Freiheit, alles zu tun, eingeschränkt werden kann einmal durch das, was schädlich ist, und zum anderen durch das, was den Willen ungewollt bindet.
Während eines sechsmonatigen Aufenthalts in Polen 1917 hatte Alexandre Kojève in der Warschauer Bibliothek beim Betrachten einer Büste von Descartes eine Erleuchtung. Descartes und Buddha erschienen ihm in einer einzigen Verkörperung. Seither suchte er nach dem Gemeinsamen der beiden Philosophien und fand es in der »auto-compréhension de la pensée«, im Sich-selbst-Begreifen des Denkens. Die Möglichkeit, das Denken zu denken, beweise, daß es notwendig sei, das Denken als Nichtsein zu begreifen. Der Buddhismus wurde für Kojèves Bemühungen um das Sich-selbst Begreifen des Denkens auch deswegen bedeutsam, weil die Schwierigkeiten eines Europäers, das hinduistische Denken zu begreifen, den Schwierigkeiten glichen, die Begriffe zu finden, mit denen man das eigene Denken auszudrücken sucht. Das erklärt den Exotismus der philosophischen Sprache Kojèves, die sein »System« von allen bekannten Systemen unterscheiden sollte.
Carl Schmitts Überlegungen zum Ost-West-Gegensatz müssen nach dessen Ende noch einmal durchdacht werden. Eine der Fragen ist, ob mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion der globale Ost-West-Gegensatz verschwunden ist oder sich in eine neue dialektische Spannung von vergleichbarer Dimension übersetzen wird, ob der Westen überhaupt als Sieger anerkannt werden kann - oder ob er global an Bedeutung verlieren wird, wenn er nicht mehr der eine Pol eines globalen Gegensatzes ist. Gegensätze durchdringen ein homogenes Medium viel tiefer, als eine einseitige Kraft es vermöchte.
Georg Brandes, von dem Friedrich Sieburg gesagt hat: »Durch ihn hieß Dänemark damals Europa«, ist der Pionier der vergleichenden Literaturbetrachtung. In seinem Buch über die »Hauptströmungen der europäischen Literatur« hat er sie sehr glücklich charakterisiert durch die »doppelte Eigenschaft, uns das Fremde solchergestalt zu nähern, daß wir es uns aneignen können, und uns von dem Eigenen solchergestalt zu entfernen, daß wir es zu überschauen vermögen«. Die vergleichende Betrachtung ließ ganz neue Beobachtungen zu, etwa daß ein Land wie Dänemark von der europäischen Bewegung der Revolution erfaßt wurde, nicht aber von ihren Folgen, und dass es an der Reaktion teilnahm, ohne die Aktion erlebt zu haben. Durch diese Betrachtungsweise entstehen ganz neue literarische Realitätsbezüge. An Frankreich beobachtete Brandes, daß es alle äußeren Mächte umstürzte, ohne je die Autoritäten seiner Literatur anzutasten, dass es die Tradition mittels der Literatur auf den Kopf stellte, nicht aber die Traditionen der Literatur. Zu seinen bemerkenswerten Einsichten gehört auch, was er über die Rolle der Emigrantenliteratur zu sagen hatte. Als um 1800 die Völker erstmals in »ununterbrochenen geistigen Verkehr« miteinander zu treten begannen, entwickelte sich eine Emigrantenliteratur, die unter dem Einfluß Rousseaus stand. Die typischen Romane der Emigrantenliteratur - »Adolphe«, »René«, »Oberman« - bewegten sich in den Spuren Rousseaus und im schärfsten Gegensatz zum Regime in Paris. Während dort »die Zahl und der Säbel«, der klassische Odenstil in der Literatur und die exakte Wissenschaft herrschten, handelte es sich hier um »Gefühle, Träume, Schwärmereien und Reflexionen«. Durch Rousseau hielt diese Literatur Verbindung zum achtzehnten Jahrhundert. In der nachrevolutionären Literatur insgesamt wechselte der Einfluß Rousseaus mit dem Voltaires ab, einmal war der eine stärker, einmal der andere, bis beide schließlich wirkungsgeschichtlich miteinander verschmolzen.
Copyright © 2011 Berlin Verlag
ISBN-13: 9783827009586
Will man das Verhältnis meiner Generation zu Walter Benjamin beurteilen, so muß man in die Rechnung aufnehmen, wie viele mit Arbeiten über ihn, dem die Habilitation verweigert wurde, zu akademischen Titeln gelangten, gar habilitierten mit einer Arbeit über das Trauerspielbuch, das Benjamins Auszug aus der akademischen Welt besiegelte. Darin liegt zweifellos ein Mangel an Takt gegenüber dem verehrten Autor, obwohl die Betreffenden sich wohl eher einbildeten, sie würden ihn an der akademischen Institution rächen. Dabei ist es die Generation aber schuldig geblieben, die Gedanken Benjamins aufzuschließen, da sie sich diese eher mimetisch aneignete. Rolf Tiedemann bildete es zu einer eigenen Disziplin aus, Benjamin mit Benjamin darzustellen, ein Verfahren, das um so verstörender wirken muß, als Benjamin eine manische Empfindlichkeit gegenüber Anleihen bei seinem Denken hatte. Von Blochs »Spuren« sagte er, es seien die Spuren, die sein Denken bei Bloch hinterlassen habe. Über Adorno - damals Theodor Wiesengrund - soll er, nach einer Überlieferung von Soma Morgenstern, gesagt haben: »Er folgt mir bis in meine Träume, und: Habe ich Ihnen schon einmal erzählt, daß Teddy Wiesengrund mit Hilfe eines Kapitels aus einem meiner Bücher sich bei einem Professor hier in Frankfurt habilitieren ließ, bei dem ich durchgefallen bin.«
Im Licht der Zeugnisse von Freundschaften und Enttäuschungen behauptet sich als integre Gestalt Gerhard Scholem, der Benjamin über alle Fährnisse hinweg die Treue bewahrte, auch gegen Benjamin selbst. Seine nüchterne Stimme fand bei meiner Generation der Benjamin- Verehrer das geringste Echo. Denn Scholem scheute sich nicht, Benjamins Irrtümer und Mißgriffe, etwa seine Annäherung an den Kommunismus oder seine unterwürfige Haltung gegenüber Brecht, beim Namen zu nennen, und verletzte damit den Konsens derer, die nur eines wollten: Benjamin in allem recht geben. Dafür zahlten sie den Preis der Unverständlichkeit. Die Rezeption Benjamins ist ein Beispiel dafür, wie die Rezeption in das Innere des Rezipierten eindringt, es umformt und letztlich die Quellen der Rezeption verschüttet. Während die Benjamin-Verehrung am Verfehlten des deutsch-jüdischen Verhältnisses etwas gutmachen möchte, wird sie doch gerade zur Bestätigung dafür, daß dieses Verhältnis - nicht etwa nur die sogenannte deutsch-jüdische Symbiose - längst schon gescheitert war, bevor die Nationalsozialisten zur Macht kamen.
Montesquieu hat vor Moralisierung der Politik gewarnt: »Es ist nutzlos, der Staatskunst etwa vorzuwerfen, daß sie in Widerspruch zur Moral, Vernunft und Gerechtigkeit steht. Solche Predigten rufen allenfalls allgemeines Kopfnicken hervor, ändern aber niemanden.« Was die Moral untauglich macht für die Politik ist ihre allgemeine Zustimmungsfähigkeit. Sie greift einer Einheit vor, welche die Politik nur anstreben kann.
Kein menschlicher Gedanke, so Carl Schmitt, sei vor Umdeutungen sicher. Das gilt auch für die eigenen Gedanken, die grenzenloser Anpassung fähig sind. Man muß sie also vor den eigenen Umdeutungen schützen. Ein Vorblick auf die Bundesrepublik: Da die Deutschen weder von einem Herrn regiert werden noch »demokratisch leben« wollen, sollen sie dem »Ideal einer wohlgeordneten, in genugsamer Freiheit vorwärts strebenden Bundesrepublik« nachkommen, erklärte Johannes von Müller im Jahre 1787.
Der Gedanke der versäumten Verwestlichung ist 1922 von Ernst Troeltsch ausgesprochen worden. Er plädierte für ein Nachholen der westlichen Aufklärung, ihrer Ideen des Naturrechts und der Menschheit. Gleichzeitig warb Hermann Hesse in einem Aufsatz über »Die Brüder Karamasow« und den Niedergang Europas für eine Rückwendung nach Asien, zum Ursprung und zu den faustischen Müttern - als Wiedergeburt.
Die Frage, die die Bundesrepublik seit ihren Anfängen wie keine zweite begleitete, war die nach ihrer Belastbarkeit. Solange sie ein Provisorium war, schien die Antwort einfach. Große Belastungen waren von ihr fernzuhalten oder betrafen ihre Entscheidungskompetenz nicht. Seit der Wiedervereinigung ist dieser Staat, dessen Wirtschaftskraft ansehnlich ist, von außerordentlichen Belastungen und politischen Entscheidungen nicht mehr auszunehmen. So wurde es als politisches Versagen der Bundesrepublik angesehen, daß sie sich im Golfkrieg einer politischen Entscheidung entzog, als sei sie noch das alte Provisorium, und Zuflucht nahm zu kompensatorischen Leistungen und einer Bekundung der Sehnsucht nach einem allgemeinen Weltfrieden. Die existentielle Dimension der Politik wurde verfehlt. Das zeigt an, daß eine tiefgehende Veränderung des deutschen Nationalcharakters eingetreten ist. Während früher das Schreckbild der Deutschen die »Händlergesellschaft« war, ist diese heute die Wurzel ihrer Identität. Nach den Katastrophen im Gefolge der Verteufelung der Händlergesellschaft will man heute deren schützendes Gehäuse nicht verlassen. Zur Ironie der Inversion gehört, daß die Israelis den Deutschen ihre Händlermentalität vorwerfen, die sie vor weitergehenden Verpflichtungen zurückschrecken lassen, mit dem Ergebnis, daß die Bellizisten von einst, wie manche Israelis meinen, einen nicht weniger bedrohlichen Pazifismus praktizieren. Während die Israelis allseits von Feinden umgeben sind und sie auch als solche identifizieren, wollen die Deutschen überall nur Freunde sehen.
Nietzsche entdeckt, daß der Gedanke der Dekadenz nicht nur auf Spätzeiten, sondern auch auf Frühzeiten angewandt werden kann. Schon der Sündenfall drängt sich als Beispiel auf. Die Dekadenz wartet gleich neben dem Ursprung. Jeder Ursprung läßt sich als Abfall deuten, als abgeleitet aus einem anderen Ursprung. Das Leben selbst ist gegen Aufstieg und Niedergang gleichgültig, es geht durch beide hindurch.
»Menschen handeln in Wirklichkeit nur, um darüber reden zu können oder zu hören, daß darüber geredet wird«, schreibt Alexandre Kojève an Leo Strauss (19. September 1950). Das mache in den Augen der Menschen die Überlegenheit ihrer Welt gegenüber der Natur aus. Heute ist es das Höchste, sich zu verständigen und darüber zu reden.
Das Neue ist längst nicht mehr, was es zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war - ein Schock, der einen Zuwachs an Erkenntnis versprach. Der Gedanke, daß das Neue per se authentisch sei, hat an Glanz verloren. Die einstmals produktive Provokation der Sehgewohnheiten hat das Wegsehen zur Gewohnheit werden lassen, wo immer Neues verheißen wird. Das Neue wurde in dem Augenblick zur Wiederholung, als es eine künstlerische Konvention geworden war.
Ein Prospekt der Weißen Flotte Potsdam preist eine Fahrt über den Schwielowsee damit an, dass Theodor Fontane Caputh als »Chicago des Schwielowsees« beschrieben habe. Was immer dieser Vergleich zu seinen Zeiten bedeutet haben mochte, heute ist er kaum mehr erhellend. Aber es gibt andere transatlantische Beziehungen, auch wenn im Prospekt die Mitteilung: »Albert Schweitzer lebte in Caputh bis zu seiner Emigration«, eine groteske Verwechslung mit dem anderen, berühmteren Albert ist, nämlich Einstein, dessen Haus hier noch besichtigt werden kann. Von Chicago nach Lambarene und wieder zurück nach Princeton, so verlaufen die Koordinaten von Caputh.
In der Zeitung »Rotes Schwert«, dem Organ der Tscheka, hieß es am 18. August 1919: »Uns ist alles erlaubt.« Das hatten auch Robespierre und Saint-Just gesagt, als sie gegen die verborgenen Volksfeinde vorgingen, die sich als Revolutionäre ausgaben. Robespierre erklärte: »Recht ist, was der Revolution nützt«, und Saint-Just sagte, daß »alles denen erlaubt sein muß, die im Sinne der Revolution handeln«. Die Formulierung »Alles ist uns erlaubt« geht auf Paulus zurück, 1. Korinther 6, 12: »Alles ist mir erlaubt - aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber es soll mich nichts gefangen nehmen.« Paulus spricht vom Verhalten zu Speisevorschriften, die auch am besten deutlich machen, daß die Freiheit, alles zu tun, eingeschränkt werden kann einmal durch das, was schädlich ist, und zum anderen durch das, was den Willen ungewollt bindet.
Während eines sechsmonatigen Aufenthalts in Polen 1917 hatte Alexandre Kojève in der Warschauer Bibliothek beim Betrachten einer Büste von Descartes eine Erleuchtung. Descartes und Buddha erschienen ihm in einer einzigen Verkörperung. Seither suchte er nach dem Gemeinsamen der beiden Philosophien und fand es in der »auto-compréhension de la pensée«, im Sich-selbst-Begreifen des Denkens. Die Möglichkeit, das Denken zu denken, beweise, daß es notwendig sei, das Denken als Nichtsein zu begreifen. Der Buddhismus wurde für Kojèves Bemühungen um das Sich-selbst Begreifen des Denkens auch deswegen bedeutsam, weil die Schwierigkeiten eines Europäers, das hinduistische Denken zu begreifen, den Schwierigkeiten glichen, die Begriffe zu finden, mit denen man das eigene Denken auszudrücken sucht. Das erklärt den Exotismus der philosophischen Sprache Kojèves, die sein »System« von allen bekannten Systemen unterscheiden sollte.
Carl Schmitts Überlegungen zum Ost-West-Gegensatz müssen nach dessen Ende noch einmal durchdacht werden. Eine der Fragen ist, ob mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion der globale Ost-West-Gegensatz verschwunden ist oder sich in eine neue dialektische Spannung von vergleichbarer Dimension übersetzen wird, ob der Westen überhaupt als Sieger anerkannt werden kann - oder ob er global an Bedeutung verlieren wird, wenn er nicht mehr der eine Pol eines globalen Gegensatzes ist. Gegensätze durchdringen ein homogenes Medium viel tiefer, als eine einseitige Kraft es vermöchte.
Georg Brandes, von dem Friedrich Sieburg gesagt hat: »Durch ihn hieß Dänemark damals Europa«, ist der Pionier der vergleichenden Literaturbetrachtung. In seinem Buch über die »Hauptströmungen der europäischen Literatur« hat er sie sehr glücklich charakterisiert durch die »doppelte Eigenschaft, uns das Fremde solchergestalt zu nähern, daß wir es uns aneignen können, und uns von dem Eigenen solchergestalt zu entfernen, daß wir es zu überschauen vermögen«. Die vergleichende Betrachtung ließ ganz neue Beobachtungen zu, etwa daß ein Land wie Dänemark von der europäischen Bewegung der Revolution erfaßt wurde, nicht aber von ihren Folgen, und dass es an der Reaktion teilnahm, ohne die Aktion erlebt zu haben. Durch diese Betrachtungsweise entstehen ganz neue literarische Realitätsbezüge. An Frankreich beobachtete Brandes, daß es alle äußeren Mächte umstürzte, ohne je die Autoritäten seiner Literatur anzutasten, dass es die Tradition mittels der Literatur auf den Kopf stellte, nicht aber die Traditionen der Literatur. Zu seinen bemerkenswerten Einsichten gehört auch, was er über die Rolle der Emigrantenliteratur zu sagen hatte. Als um 1800 die Völker erstmals in »ununterbrochenen geistigen Verkehr« miteinander zu treten begannen, entwickelte sich eine Emigrantenliteratur, die unter dem Einfluß Rousseaus stand. Die typischen Romane der Emigrantenliteratur - »Adolphe«, »René«, »Oberman« - bewegten sich in den Spuren Rousseaus und im schärfsten Gegensatz zum Regime in Paris. Während dort »die Zahl und der Säbel«, der klassische Odenstil in der Literatur und die exakte Wissenschaft herrschten, handelte es sich hier um »Gefühle, Träume, Schwärmereien und Reflexionen«. Durch Rousseau hielt diese Literatur Verbindung zum achtzehnten Jahrhundert. In der nachrevolutionären Literatur insgesamt wechselte der Einfluß Rousseaus mit dem Voltaires ab, einmal war der eine stärker, einmal der andere, bis beide schließlich wirkungsgeschichtlich miteinander verschmolzen.
Copyright © 2011 Berlin Verlag
ISBN-13: 9783827009586
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Autoren-Porträt von Henning Ritter
Henning Ritter, 1943 geboren, war von 1985 bis 2008 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verantwortlich für das Ressort „Geisteswissenschaften". Zahlreiche Publikationen, u. a. als Herausgeber von Jean-Jacques Rousseaus Schriften und Montesquieus Meine Gedanken. Mes pensées - Aufzeichnungen; zuletzt veröffentlichte er Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid (2004) und Die Eroberer. Denker des 20. Jahrhunderts (2008). Im Jahr 2000 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Hamburg verliehen, er ist Träger des Friedlieb-Ferdinand-Runge-Preises und des Ludwig-Börne-Preises. Henning Ritter lebt bei Frankfurt am Main.Bibliographische Angaben
- Autor: Henning Ritter
- 2011, 5. Aufl., 448 Seiten, Maße: 14,5 x 22,1 cm, Leinen, Deutsch
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 3827009588
- ISBN-13: 9783827009586
- Erscheinungsdatum: 04.09.2010
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