Nur die Katze kennt den Mörder
Tiersitterin Dixie glaubt in der netten Laura eine neue Freundin gefunden zu haben. Doch dann wird Laura ermordet. Dixie macht sich als Ex-Polizistin sofort an die Ermittlungen und erkennt: Laura war nicht das, was sie vorgab zu sein.
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Produktinformationen zu „Nur die Katze kennt den Mörder “
Tiersitterin Dixie glaubt in der netten Laura eine neue Freundin gefunden zu haben. Doch dann wird Laura ermordet. Dixie macht sich als Ex-Polizistin sofort an die Ermittlungen und erkennt: Laura war nicht das, was sie vorgab zu sein.
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Nur die Katze kennt den Mörder von Blaize Clement1
Es war Anfang April, gegen neun Uhr morgens, als mir Laura Halston zum ersten Mal begegnete. Wir waren alles andere als miteinander verabredet. Ich hätte sie beinahe überfahren. Ich steuerte meinen Bronco vorsichtig um eine Kurve der engen Straße durch die dicht bewaldete Fish Hawk Lagoon im Norden von Siesta Key. Man kommt sich dort vor, als würde man einen Tunnel durchfahren.
Das dichte Blätterdach hoher Eichen verdüstert den Himmel, und eine Seite der gewundenen Strecke ist von wild wuchernden Bougainvilleen, Meertrauben- und Kartoffelbäumen sowie praktisch allen bekannten Palmen- und Pinienarten gesäumt. Auf der anderen Seite schirmt eine Hibiskushecke einen Joggingpfad ab, damit niemand sieht, wie die reichen Läufer schwitzen.
In der nächsten Kurve rannte plötzlich eine Joggerin von der bewaldeten Seite her auf die Straße und auf die Hibiskushecke zu. Wäre ich nur eine Nanosekunde schneller gewesen, hätte ich sie überfahren. Ich bremste ruckartig ab, als sie den Kopf zur Seite drehte, und eine Sekunde lang sah ich in ihre erschrockenen Augen.
Am Bordstein beugte sie sich elegant nach unten und nahm eine dunkelbraune Katze mit langem, wild ausschlagendem Schwanz zu sich hoch. Mit der Katze fest im Arm zog sie sich die Stöpsel ihres iPods aus den Ohren und wandte sich wutentbrannt an mich.
»Sie verdammte Idiotin! Sie Schlampe! Sie hätten mich beinahe überfahren!«
Ich lasse mich ungern als Idiotin titulieren und schon gar nicht als Schlampe, noch dazu von Damen mit einem geschätzten IQ unterhalb ihrer Kleidergröße von, sagen wir mal, zweiunddreißig. Sie hatte ungefähr mein Alter, also dreiunddreißig, und für mich war sie entweder Model oder die Gespielin eines alten Geldsacks, ein erlesenes Geschöpf wie die Katze,
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jedoch haftete ihrer Schönheit etwas Zufälliges an, ein ungeplantes Zusammentreffen von Komponenten, die eigentlich nicht recht zueinandergepasst hätten, aber in ihrem Fall irgendwie doch passten.
Sie war fast albinoartig weiß, zierlichschlank, mit verstrubbelten weißblonden Haaren, die, im Nacken hochgeschnitten, auf zu dichte, zu dunkle, zu ungepflegte Augenbrauen herabfielen. Die Augen waren wie zu weit auseinanderstehende Jadesteine, die Nase eine Spur zu lang und zu dünn, das Kinn zu spitz. Im eigentlichen Sinn keine Schönheit, war sie dennoch schön.
Sie strahlte auch ebenjene Arroganz einer Frau aus, die alles bekam, was sie nur wollte, nur weil sie schön war. Mit, wie ich fand, beachtenswerter Beherrschung entgegnete ich: »Wenn ich Ihnen einen heißen Tipp geben darf: Wer nicht plötzlich und unvermittelt auf die Fahrbahn springt, wird auch nicht überfahren.«
Sie wirkte entrüstet, und ihre bleichen Wangen erröteten leicht. »Woher sollte ich wissen, dass Sie da rumkurven. Ich hab nichts gehört! Sie schleichen in einem ... Tarnkappen-Auto durch die Gegend! Was haben Sie hier überhaupt verloren? Das ist eine Privatstraße!«
Leise Musik erklang aus den herunterbaumelnden Ohrknöpfen ihres weißen iPods. Ich war mir ziemlich sicher, dass es Pink war, sodass die Lady in meiner Achtung gleich ein Stück höher stieg.
Ich sagte: »Vielleicht würden Sie ja ohne die Musik da besser hören. Das neueste Stück von Pink, oder?«
Sie blickte erstaunt drein. Ihr Mund rüstete sich für eine fiese Bemerkung, aber dann besann sie sich eines Besseren. Ich sagte: »Hören Sie, es tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe. Ich bin Dixie Hemingway, Tiersitterin von Beruf. Ich habe einen Kunden hier in der Gegend.«
Ihre Miene entspannte sich leicht, aber sie schien nicht der Typ zu sein, der sich wegen einer Unhöflichkeit entschuldigt.
»Eine hübsche Katze haben Sie da. Eine braune Havanna, nicht wahr?«, bemerkte ich. Damit war der Bann gebrochen. Bei Komplimenten über ihre Schützlinge schmelzen Tierbesitzer dahin wie Sahnepudding auf Hawaii.
Sie sagte: »Er heißt Leo. Ein ehemaliger Freund hat ihn mir geschenkt, aber er hatte ihn Cohiba genannt, nach der Zigarrenmarke. Blöd, oder? Welche Katze kommt schon angelaufen, wenn man >Hierher, Cohiba< ruft? Ich hab ihn sofort umgetauft. Er hasst es, im Haus eingesperrt zu sein. Aber mir geht's nicht anders, ehrlich gesagt. Wie auch immer, kaum hatte ich die Tür geöffnet, um joggen zu gehen, ist er auch schon mit rausgerannt. Ich hatte schon Angst, er könnte mir weglaufen, und von daher sollte ich Ihnen dankbar sein, dass er sich erschreckt und hingeduckt hat.«
Sie hatte so schnell von wütend auf freundlich umgeschaltet, dass man sich in einem Trickfilm glaubte. In entspanntem Zustand funkelten ihre Augen voller Energie, und sie plapperte atemlos dahin, als hätte sie so viel zu erzählen, dass sie fürchtete, sie könnte nicht zu Ende kommen.
»Freut mich jedenfalls, dass Sie ihn erwischt haben«, unterbrach ich ihren Redefluss und gab vorsichtig Gas.
Sie hob ihre Hand zu einem halbherzigen Winken, und im Rückspiegel sah ich, wie sie mich beobachtete, als ich in die Zufahrt zu meinem Kunden einbog. Wie schon gesagt, ich bin Dixie Hemingway, in keiner Weise verwandt mit Sie-wissen-schon. Ich bin Tiersitterin auf Siesta Key, einer Insel, die zusammen mit Casey Key, Bird Key, Lido Key und Longboat Key eine schmale Barriere zwischen dem Golf von Mexiko und Sarasota, Florida, bildet.
Offiziell gehört Siesta Key zu Sarasota City, aber wenn man es genau nimmt, genügen wir uns selbst. Unsere Funktion besteht darin, die Gewalt der Stürme abzublocken, damit sie nicht mit voller Wucht auf das Festland treffen. Als Ausgleich dafür werden wir mit Meeresbrisen belohnt, freiem Blick auf spektakuläre Sonnenuntergänge sowie jährlichen Beitragserhöhungen der Sturmversicherung, die uns richtig auf Trab halten.
Bevor ich Tiersitterin wurde, hatte ich als Deputy im Sheriff's Departement des Sarasota County gearbeitet, aber vor etwas mehr als drei Jahren war ich mit dem Segen des Departements ausgeschieden. Ich spreche ungern darüber, also sage ich lediglich, meine Welt war damals auf eine Weise explodiert, die mir das Herz gebrochen und beinahe den Verstand geraubt hatte. Als ich wieder halbwegs funktionierte, wurde ich professionelle Tiersitterin.
Eine gute Entscheidung. Die Bezahlung ist gut, die Tiere, die ich versorge, sind meistens nett und liebenswert, und ich habe nicht länger als nötig mit destruktiven Menschen zu tun. Ich stehe jeden Morgen um vier Uhr auf, putze mir die Zähne, binde mir die Haare zu einem Pferdeschwanz, schlüpfe in meine Khakishorts und in ein ärmelloses T-Shirt, schnüre meine Keds zu und beginne meine Runde. Ich betreue überwiegend Katzen, aber ab und an sind auch ein paar Hunde dabei und zwischendurch ein Kaninchen, ein Frettchen oder ein Vogel. Aber keine Schlangen.
Zwar würde ich nie einer Schlange ihr Lebensrecht streitig machen, aber mir wird schwummrig beim Gedanken an Kreaturen, die ihre Nahrung piepsend und zappelnd verschlingen. Auf Siesta Key lebt man entweder auf der Golfseite oder an der Sarasota Bay. Fish Hawk Lagoon liegt an der Bay im Norden der Insel. Meine Kunden dort waren Hal und Gillis Richards sowie deren dreijähriger Sohn Jeffrey mit Jeffreys Epilepsiehund Mazie.
Jeffrey litt an einer schweren Form von Epilepsie, und Hal und Gillis wollten ihn an diesem Morgen nach St. Petersburg ins All Children's Hospital zu einer Gehirnoperation bringen. Mazie würde zu Hause bleiben müssen. Schon an den letzten paar Tagen war ich jeden Morgen gekommen, um Mazie auszuführen, damit sie sich an mich gewöhnte, und der achtzigjährige Pete Madeira, der gelegentlich Rund-um-die-Uhr-Betreuungen für mich übernahm, sollte ins Haus einziehen, um Mazie Gesellschaft zu leisten.
Keiner von uns Erwachsenen freute sich auf den Moment, da dem kleinen Jungen und dem Hund klar wurde, dass sie getrennt werden sollten. Ihr Haus sah aus wie die meisten Häuser auf Siesta Key irgendwie mediterran-mexikanisch mit verputzten Wänden, gewelltem Ziegeldach, vielen Kurven und Rundbögen. In diesem Fall war der Putz terrakottafarben und die Dachziegel dunkelblau.
Drumherum gab es dasselbe üppig grüne Laubwerk und die blühenden Sträucher wie in den anderen KeyGärten jene verschwenderische Schönheit der Natur, die den Ganzjahresbewohnern längst selbstverständlich erscheint.
Als ich klingelte, öffnete Hal Richards die Tür. Hal war sicher nicht viel älter als ich, aber Kummer und Sorgen hatten sein Gesicht zerfurcht; das schüttere Haar und der zur Fülle neigende, ehemals athletische Körper ließen ihn älter wirken, als er war. Er bedeutete mir, einzutreten.
»Kommen Sie in die Küche. Gillis gibt Jeffrey gerade sein Frühstück.«
Ich folgte ihm in einen großen, sonnigen Raum mit einer Glaswand, die den Blick zu einem Steg hinter dem Haus freigab, an dem ein kleines Freizeitboot im Wasser schaukelte. Siesta Key wird durchzogen von einem über fünfzig Meilen langen Wasserwegenetz, also sind Boote keine Seltenheit.
Hal Richards Blässe jedoch deutete darauf hin, dass er seines wohl eher selten benutzte. Gillis, eine sanfte, dunkelhaarige Schönheit in einem T-Shirt mit U-Boot-Ausschnitt und einem knöchellangen Leinenrock, stand am Spülbecken und rührte in einer Müslischale.
Wie Hal hatte auch Gil den fassungslosen Gesichtsausdruck jener Menschen, die nicht in der Lage sind, angemessen auf die Wechselfälle des Lebens zu reagieren, weil ihre Welt auf den kleinen Umkreis des Hier und Jetzt geschrumpft ist. Jeffrey saß in einem Kindersitz an einem runden Tisch.
Er hatte von einem Sturz einen blauen Fleck auf der Wange, der sich bereits verfärbte, und einen frischen am Oberarm. Dunkle Schatten lagen wie Ruß unter seinen von den Medikamenten getrübten Augen. Mazie, eine Golden-Retriever-Hündin, saß dicht neben dem Stuhl des Jungen.
Ihre klaren und gesunden Augen beobachteten ihn aufmerksam. Erwachsene mit Anfallsleiden haben oftmals anfallssensitive Hunde, die spüren, wenn sich ein Anfall ankündigt und den Betreffenden warnen; daraufhin trifft er oder sie Vorkehrungen, um während des Anfalls keine Verletzungen zu erleiden.
Kinder in einem so jungen Alter wie Jeffrey hingegen können auf derlei Warnungen nicht reagieren. Sie haben Anfalls-Hilfshunde, die einen drohenden Anfall wahrnehmen oder auch nicht, jedoch unablässig dicht an der Seite des Kindes bleiben. Gillis lächelte mir zu und stellte eine Schale mit weiß-klumpigem Inhalt vor Jeffrey hin.
»Jeffrey, sag Hallo zu Miss Hemingway«, meinte sie. Der Kleine nahm einen Löffel voll von dem Zeug und lächelte schüchtern.
Ich sagte: »Fein, deine Haferflocken, nicht wahr?« »Eigentlich ist es Hafergrütze, mit etwas Banane darunter«, warf Gillis ein. Beinahe hätte ich angewidert den Mund verzogen, denn das Wort Grütze klang mir doch allzu grausig. Was ist denn überhaupt Grütze? Gillis lächelte.
Sie schien meine Gedanken zu erraten.
»Vollkornhafer, geschrotet. Das ist gesünder als Haferflocken. Jeffrey ist ganz verrückt danach, nicht wahr, Jeffrey?«
Der Kleine nickte eifrig, schien aber nicht sonderlich angetan. Tatsächlich wirkte er eher desinteressiert. Ich wusste nicht viel über Epilepsie, kannte aber den leeren Gesichtsausdruck von Menschen unter dem Einfluss starker Medikamente, und Jeffrey hatte ihn. Mir war klar, Mazie war ein Hilfshund im Einsatz, und so sprach ich sie nicht an und berührte sie auch nicht.
Ich nahm jedoch am Tisch Platz, damit sie mich riechen und meine Energie spüren konnte. Sie sah kurz zu mir her, aber ihr Job war es, Jeffrey zu überwachen und jede kleinste Veränderung an ihm wahrzunehmen, und sei es etwas so Geringfügiges wie ein veränderter Körpergeruch, der einen drohenden Anfall ankündigen würde.
Hal und Gillis schwiegen; sie verstanden die Situation und wollten sich nicht einmischen.
Nach wenigen Minuten stand ich auf.
»Hal, vielleicht sollten wir beide uns kurz im Wohnzimmer unterhalten.«
Hal nickte: »Gute Idee.« Ich nahm auf einem Sessel Platz, Hal auf dem Sofa. Ich zückte mein Kundenbuch und war bereit, einige letzte Anweisungen und Informationen entgegenzunehmen. Manche Menschen sind erstaunt, wenn sie hören, dass Tiersitting ein richtiger Beruf ist.
Ich nehme ihn ebenso ernst, wie ich meinen Beruf als Deputy ernst genommen habe. Mir war stets bewusst, dass von meiner Wachsamkeit, meiner Ausbildung und Professionalität Menschenleben abhängen konnten. Als Tiersitterin gehe ich nicht anders vor.
Meine Kunden vertrauen mir ihre Lieblinge an, und ich nehme dieses Vertrauen sehr ernst. Ich habe eine Lizenz, bin Verbandsmitglied und versichert, und ich nehme keinen Auftrag an, ohne das Tier und seinen Besitzer zuvor gesehen zu haben.
Ich komme ins Haus und notiere mir die Krankengeschichte des Tiers sowie Einzelheiten des Speiseplans und der täglichen Gewohnheiten. Das Tier kann mich beschnuppern und sich ein Bild von mir machen. Nach dem Erstgespräch bei einem neuen Klienten weiß ich alles, was ich über das Tier wissen muss, und das Tier ist mit mir vertraut. Ich lasse mir einen Schlüssel für das Haus geben, eine Nummer, unter der ich den Klienten erreichen kann, sowie Namen und Telefonnummer der Person, die in einem Notfall zu verständigen ist.
Wie schon damals als Deputy bin ich mir stets bewusst, dass die schlimmsten Sachen immer dann passieren können, wenn man sie am wenigsten erwartet.
Hal sagte: »Ich glaube, ich habe Ihnen das schon erzählt, aber wir gehen das Wagnis nur ein, weil Jeffrey Schläfenlappenanfälle hat zwei, drei in der Woche , und zwar schwere. Diese Anfallsart ist medikamentös nicht so gut zu behandeln, dafür sind die Erfolgsaussichten einer Operation umso größer. Wir haben verschiedene Medikamente ausprobiert, aber wirklich geholfen hat keins, und sie machen außerdem schwindlig, sodass er Probleme mit dem Gleichgewicht hat.«
Als fühle er sich dabei schuldig, fügte er noch hinzu: »Sie führen auch zu Verhaltensproblemen, Wutausbrüchen und dergleichen. Deshalb haben wir Mazie. Sie wirkt beruhigend auf ihn, und sie weicht ihm nicht von der Seite, sodass er sich anlehnen kann.«
Von den Medikamenten und warum sie eine Operation wagen wollten, hatte er mir schon berichtet, aber scheinbar hatte er das Bedürfnis, mir alles noch mal zu erzählen.
Er schloss die Augen und holte tief Luft.
»Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, leben Gillis und ich mit der Angst vor einem ganz schrecklichen Sturz in Feuer, Wasser, was auch immer oder dass er geistig ... na ja, Sie wissen schon. Haben Sie Kinder?«
Ich zögerte, denn welcher um die Gesundheit seines Sohnes besorgte Vater will schon hören, wie ein anderes Kind zu Tode kam. Andererseits wollte ich aber auch mein eigenes Kind nicht übergehen. Ich sagte: »Ich hatte ein kleines Mädchen. Sie kam im Alter von drei Jahren bei einem Unfall ums Leben. Von daher verstehe ich sehr gut, wie es Ihnen mit Jeffrey geht.« Hal wirkte tief betroffen. »Das tut mir leid.«
Um unser beider Fassung willen musste ich das Gesprächsthema möglichst schnell wieder auf den eigentlichen Grund meines Hierseins lenken: »Machen Sie sich während Ihrer Abwesenheit bloß keine Sorgen um Mazie. Pete Madeira wird an allen Tagen rund um die Uhr hier sein, und ich komme zweimal täglich, um sie auszuführen.«
Pete war früher Clown von Beruf, und ich kenne ihn über Bekannte vom Zirkus Sarasota hat eine lange Zirkusgeschichte. Er hat mir schon öfter ausgeholfen, wenn die ständige Anwesenheit eines Tiersitters gefordert war.
Hal beugte sich nach vorn und verkrampfte in seiner Not verzweifelt die Hände.
»Eine Operation ist hochriskant, aber nichts zu tun, ist vielleicht noch riskanter.« Die Türklingel unterbrach Hals ausführliche Erklärung.
Als er aufstand, kamen Gillis und Jeffrey ins Wohnzimmer; der Junge hatte einen Arm auf Mazies Rücken gelegt, um sich beim Gehen abzustützen. Vor der Tür stand Pete Madeira, einen Koffer in der Hand und eine Clownsnase im Gesicht.
Er hatte noch etwas dabei, das aussah wie ein Instrumentenkasten. Pete war schon einige Male zuvor dagewesen und daher mit der Familie ebenso vertraut wie ich. Hal und Gillis wirkten erleichtert, als sie ihn sahen, und Mazie wedelte mit dem Schwanz, als würde sie dadurch seine Anwesenheit absegnen. Jeffrey lächelte ihm müde zu, aber ich war mir nicht sicher, ob ihm klar war, dass nun die Trennung von seinem besten Freund bevorstand.
Pete hat silbergraue Haare, ist groß und schlank und auf jene Weise gut aussehend, wie sie sich Männer, die klug und neugierig sind, ihr ganzes Leben lang bewahren. Schon seit einigen Jahren im Ruhestand, tritt er noch ab und an in Kinderkliniken und Hospizeinrichtungen auf.
Er hat buschige Augenbrauen, die er raupenartig wackeln lassen kann, und das weichste Herz in der westlichen Hemisphäre. Drei Koffer standen schon im Flur bereit, der Größe nach aufgereiht wie die von Papa Bär, Mama Bär und Baby Bär. Pete stellte seinen abgewetzten Lederkoffer auf der gegenüberliegenden Seite ab.
Er sagte: »Ich hab mein Saxofon mitgebracht. Das ist doch okay, oder?«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie Saxofon spielen«, entgegnete Hal eher desinteressiert.
»Ja, doch. So bin ich zum Zirkus gekommen. Ich spielte in der Kapelle, aber als Clown verdient man mehr, und es macht mehr Spaß. Heute spiele ich nur noch zu meinem eigenen Vergnügen.«
»Pete, ich bin platt. Was Sie alles können!«
Pete grinste und zeigte das Spiel mit den Augenbrauen. Gillis kniete sich neben Jeffrey nieder.
»Weißt du noch, wer Pete ist, Liebling? Er bleibt hier und leistet Mazie Gesellschaft, bis wir wieder nach Hause kommen.«
Pete sagte: »Hi, kleiner Freund.«
Jeffrey lächelte, schaute aber verwirrt drein.
»Willst du auch so eine Nase haben wie ich?«, fragte Pete. Jeffrey schüttelte erschrocken den Kopf und legte eine Hand auf seine Nase.
»Wir müssen jetzt los«, drängte Hal. Gillis kniete weiterhin neben Jeffrey, während Hal sich um das Gepäck kümmerte.
Sehr zögerlich sagte sie: »Es ist Zeit für die Reise, von der ich dir erzählt habe. Erinnerst du dich noch?«
Jeffrey versteifte sich und griff nach Mazie, wehrte sich schon jetzt gegen das, was kommen sollte. »Mazie muss zu Hause bleiben«, setzte Gillis hinzu. »Weißt du das noch?«
Jeffrey bekam einen Schreikrampf und warf sich flach auf den Boden.
»Mazie muss mitkommen!« Gillis war bleich vor Anspannung. Als Jeffrey begann, um sich zu schlagen, stand Mazie auf und rieb ihre Schnauze an seinem Hals. Es dauerte einen Moment, ehe ich begriff, dass sie das absichtlich machte, um einen Wutanfall zu verhindern oder einen epileptischen Anfall. Jeffreys verkrampfter Körper gab nach, und seine Schreie verebbten zu einem leisen Wimmern. Wie von einer inneren Stimme geleitet, kniete Pete sich neben seinen Sachen nieder und hielt innerhalb weniger Sekunden ein blitzendes Saxofon an seine Lippen.
Sanft näselnde Klänge übertönten Jeffreys Weinen, und schon nach kaum zwei Minuten hatte er sich beruhigt und schaute zu Pete hinauf. Sogar Mazie ließ er einen Moment lang aus den Augen, um Pete anzusehen.
Ich erinnerte mich daran, dass Pete einmal erzählt hatte, die Zirkuskapellen hätten immer gespielt, um das Publikum abzulenken, wenn etwas passiert war, etwa wenn ein Luftakrobat oder Seiltänzer abgestürzt war. Gillis nahm Jeffrey in ihre Arme und stand auf. Gebannt von der Musik steckte Jeffrey einen Daumen in den Mund und richtete den Blick auf Pete.
Sein Blick war leer. Ich bezweifelte, ob ihm klar war, was nun geschehen würde möglicherweise die einzige gute Nebenwirkung seiner medikamentösen Therapie. Gillis sah aus, als könnte sie jeden Moment zusammenbrechen, sobald Mazie anfing, sie nervös zu umkreisen.
Hal murmelte: »Mazie wich ihm kaum je für mehr als ein paar Minuten von der Seite, seit sie bei uns ist.«
Ich holte Mazies lange Dressurleine und klinkte sie an ihrem Halsband ein.
»Komm Mazie, wir gehen spazieren!«
Als braver Hund, der gelernt hatte, auf Befehle zu hören, folgte sie mir und ließ sich, wenn auch zögerlich, zum Gehsteig hinausführen. Dort schlug ich mit ihr die entgegengesetzte Richtung ein, in der ihre Familie wegfahren würde. Sie sah sich mehrmals verwirrt um, aber wir waren schon um eine Ecke gebogen, als ich Hals Auto wegfahren hörte.
Hätte es eine Möglichkeit gegeben, diesen Ablauf zu wiederholen, hätte ich ihn gewiss anders organisiert, aber im Moment schien dies die beste Lösung zu sein. Als ich mich einigermaßen sicher wähnte, führte ich Mazie nach Hause zurück. An der Einfahrt kam jene Frau vorbeigetrottet, der ich an diesem Morgen begegnet war.
Ihr Top war vom Joggen fast völlig durchnässt. Als sie mich sah, hielt sie sofort inne und kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu.
»Mein Name ist Laura Halston«, sagte sie. »Hab mich gar nicht vorgestellt heute Morgen. Ich war 'ne richtige Kratzbürste, nicht wahr?«
Ihre Zähne waren von makellosem Perlweiß, mit einem kleinen umgekehrten V an der Unterkante der beiden oberen Schneidezähne ein subtiler Hinweis darauf, dass sie viel Geld für die Verschönerung ihrer Beißerchen hingeblättert hatte.
Ich stellte mich noch einmal vor und gab mir Mühe, sie nicht anzustarren, denn ich wollte nicht zu den Menschen gehören, die den Mund nicht mehr zubekommen, nur weil jemand das Glück hat, überdurchschnittlich gut auszusehen weit überdurchschnittlich sogar.
»Laufen Sie auch?«, fragte sie.
»Laufen?«
»Na ja, als Sport?«
»Nun, ich laufe zweimal täglich mit einem Windhund durch die Gegend. Das ist jede Menge Sport.« »Ich laufe an jedem Morgen. Das Einzige, worin ich diszipliniert bin.«
Sie sagte das voller Stolz und streckte mir dabei einen Fuß in einem teuren Joggingschuh entgegen, wie um zu betonen, wie ernst sie es mit dem Laufen meinte. Dann stützte sie sich mit den Händen auf ihre Knie und beugte sich zu Mazie hinunter.
»Hi, Mazie. Wie geht es dir denn, meine Süße?« Ich staunte abermals, wie widersprüchlich diese Frau sein konnte. Bei all ihrer Schönheit zeigte sie keinerlei Allüren. Außerdem hatte sie einen Draht zu Tieren, sprach scheinbar alles aus, was ihr gerade durch den Kopf ging, und sie war stolz wie ein kleines Mädchen auf ihr regelmäßiges Lauftraining.
Das gefiel mir. Mazie versuchte, freundlich zu sein, sah sich aber immer wieder zu ihrem Haus um. Leider war ich so angetan von Laura Halston, dass ich nicht richtig auf sie eingehen konnte. Etwas hatte sich bei ihr zu Hause verändert, das wusste sie, aber was genau, das wusste sie noch nicht. Laura und ich tauschten noch ein paar Beiläufigkeiten aus, nichts Weltbewegendes, bis sie schließlich weiterzockelte, während ich mit Mazie zurück ins Haus ging.
Das war's schon zwischen uns. Es war absolut nichts vorgefallen, woraus ich hätte schließen können, dass die Begegnung mit Laura Halston noch Folgen für mich haben würde, oder dass ich letztlich aufgrund dieser Bekanntschaft mich selbst auf eine Weise in Frage stellen würde wie niemals zuvor.
Übersetzung: Christian Kennerknecht
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2010 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Sie war fast albinoartig weiß, zierlichschlank, mit verstrubbelten weißblonden Haaren, die, im Nacken hochgeschnitten, auf zu dichte, zu dunkle, zu ungepflegte Augenbrauen herabfielen. Die Augen waren wie zu weit auseinanderstehende Jadesteine, die Nase eine Spur zu lang und zu dünn, das Kinn zu spitz. Im eigentlichen Sinn keine Schönheit, war sie dennoch schön.
Sie strahlte auch ebenjene Arroganz einer Frau aus, die alles bekam, was sie nur wollte, nur weil sie schön war. Mit, wie ich fand, beachtenswerter Beherrschung entgegnete ich: »Wenn ich Ihnen einen heißen Tipp geben darf: Wer nicht plötzlich und unvermittelt auf die Fahrbahn springt, wird auch nicht überfahren.«
Sie wirkte entrüstet, und ihre bleichen Wangen erröteten leicht. »Woher sollte ich wissen, dass Sie da rumkurven. Ich hab nichts gehört! Sie schleichen in einem ... Tarnkappen-Auto durch die Gegend! Was haben Sie hier überhaupt verloren? Das ist eine Privatstraße!«
Leise Musik erklang aus den herunterbaumelnden Ohrknöpfen ihres weißen iPods. Ich war mir ziemlich sicher, dass es Pink war, sodass die Lady in meiner Achtung gleich ein Stück höher stieg.
Ich sagte: »Vielleicht würden Sie ja ohne die Musik da besser hören. Das neueste Stück von Pink, oder?«
Sie blickte erstaunt drein. Ihr Mund rüstete sich für eine fiese Bemerkung, aber dann besann sie sich eines Besseren. Ich sagte: »Hören Sie, es tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe. Ich bin Dixie Hemingway, Tiersitterin von Beruf. Ich habe einen Kunden hier in der Gegend.«
Ihre Miene entspannte sich leicht, aber sie schien nicht der Typ zu sein, der sich wegen einer Unhöflichkeit entschuldigt.
»Eine hübsche Katze haben Sie da. Eine braune Havanna, nicht wahr?«, bemerkte ich. Damit war der Bann gebrochen. Bei Komplimenten über ihre Schützlinge schmelzen Tierbesitzer dahin wie Sahnepudding auf Hawaii.
Sie sagte: »Er heißt Leo. Ein ehemaliger Freund hat ihn mir geschenkt, aber er hatte ihn Cohiba genannt, nach der Zigarrenmarke. Blöd, oder? Welche Katze kommt schon angelaufen, wenn man >Hierher, Cohiba< ruft? Ich hab ihn sofort umgetauft. Er hasst es, im Haus eingesperrt zu sein. Aber mir geht's nicht anders, ehrlich gesagt. Wie auch immer, kaum hatte ich die Tür geöffnet, um joggen zu gehen, ist er auch schon mit rausgerannt. Ich hatte schon Angst, er könnte mir weglaufen, und von daher sollte ich Ihnen dankbar sein, dass er sich erschreckt und hingeduckt hat.«
Sie hatte so schnell von wütend auf freundlich umgeschaltet, dass man sich in einem Trickfilm glaubte. In entspanntem Zustand funkelten ihre Augen voller Energie, und sie plapperte atemlos dahin, als hätte sie so viel zu erzählen, dass sie fürchtete, sie könnte nicht zu Ende kommen.
»Freut mich jedenfalls, dass Sie ihn erwischt haben«, unterbrach ich ihren Redefluss und gab vorsichtig Gas.
Sie hob ihre Hand zu einem halbherzigen Winken, und im Rückspiegel sah ich, wie sie mich beobachtete, als ich in die Zufahrt zu meinem Kunden einbog. Wie schon gesagt, ich bin Dixie Hemingway, in keiner Weise verwandt mit Sie-wissen-schon. Ich bin Tiersitterin auf Siesta Key, einer Insel, die zusammen mit Casey Key, Bird Key, Lido Key und Longboat Key eine schmale Barriere zwischen dem Golf von Mexiko und Sarasota, Florida, bildet.
Offiziell gehört Siesta Key zu Sarasota City, aber wenn man es genau nimmt, genügen wir uns selbst. Unsere Funktion besteht darin, die Gewalt der Stürme abzublocken, damit sie nicht mit voller Wucht auf das Festland treffen. Als Ausgleich dafür werden wir mit Meeresbrisen belohnt, freiem Blick auf spektakuläre Sonnenuntergänge sowie jährlichen Beitragserhöhungen der Sturmversicherung, die uns richtig auf Trab halten.
Bevor ich Tiersitterin wurde, hatte ich als Deputy im Sheriff's Departement des Sarasota County gearbeitet, aber vor etwas mehr als drei Jahren war ich mit dem Segen des Departements ausgeschieden. Ich spreche ungern darüber, also sage ich lediglich, meine Welt war damals auf eine Weise explodiert, die mir das Herz gebrochen und beinahe den Verstand geraubt hatte. Als ich wieder halbwegs funktionierte, wurde ich professionelle Tiersitterin.
Eine gute Entscheidung. Die Bezahlung ist gut, die Tiere, die ich versorge, sind meistens nett und liebenswert, und ich habe nicht länger als nötig mit destruktiven Menschen zu tun. Ich stehe jeden Morgen um vier Uhr auf, putze mir die Zähne, binde mir die Haare zu einem Pferdeschwanz, schlüpfe in meine Khakishorts und in ein ärmelloses T-Shirt, schnüre meine Keds zu und beginne meine Runde. Ich betreue überwiegend Katzen, aber ab und an sind auch ein paar Hunde dabei und zwischendurch ein Kaninchen, ein Frettchen oder ein Vogel. Aber keine Schlangen.
Zwar würde ich nie einer Schlange ihr Lebensrecht streitig machen, aber mir wird schwummrig beim Gedanken an Kreaturen, die ihre Nahrung piepsend und zappelnd verschlingen. Auf Siesta Key lebt man entweder auf der Golfseite oder an der Sarasota Bay. Fish Hawk Lagoon liegt an der Bay im Norden der Insel. Meine Kunden dort waren Hal und Gillis Richards sowie deren dreijähriger Sohn Jeffrey mit Jeffreys Epilepsiehund Mazie.
Jeffrey litt an einer schweren Form von Epilepsie, und Hal und Gillis wollten ihn an diesem Morgen nach St. Petersburg ins All Children's Hospital zu einer Gehirnoperation bringen. Mazie würde zu Hause bleiben müssen. Schon an den letzten paar Tagen war ich jeden Morgen gekommen, um Mazie auszuführen, damit sie sich an mich gewöhnte, und der achtzigjährige Pete Madeira, der gelegentlich Rund-um-die-Uhr-Betreuungen für mich übernahm, sollte ins Haus einziehen, um Mazie Gesellschaft zu leisten.
Keiner von uns Erwachsenen freute sich auf den Moment, da dem kleinen Jungen und dem Hund klar wurde, dass sie getrennt werden sollten. Ihr Haus sah aus wie die meisten Häuser auf Siesta Key irgendwie mediterran-mexikanisch mit verputzten Wänden, gewelltem Ziegeldach, vielen Kurven und Rundbögen. In diesem Fall war der Putz terrakottafarben und die Dachziegel dunkelblau.
Drumherum gab es dasselbe üppig grüne Laubwerk und die blühenden Sträucher wie in den anderen KeyGärten jene verschwenderische Schönheit der Natur, die den Ganzjahresbewohnern längst selbstverständlich erscheint.
Als ich klingelte, öffnete Hal Richards die Tür. Hal war sicher nicht viel älter als ich, aber Kummer und Sorgen hatten sein Gesicht zerfurcht; das schüttere Haar und der zur Fülle neigende, ehemals athletische Körper ließen ihn älter wirken, als er war. Er bedeutete mir, einzutreten.
»Kommen Sie in die Küche. Gillis gibt Jeffrey gerade sein Frühstück.«
Ich folgte ihm in einen großen, sonnigen Raum mit einer Glaswand, die den Blick zu einem Steg hinter dem Haus freigab, an dem ein kleines Freizeitboot im Wasser schaukelte. Siesta Key wird durchzogen von einem über fünfzig Meilen langen Wasserwegenetz, also sind Boote keine Seltenheit.
Hal Richards Blässe jedoch deutete darauf hin, dass er seines wohl eher selten benutzte. Gillis, eine sanfte, dunkelhaarige Schönheit in einem T-Shirt mit U-Boot-Ausschnitt und einem knöchellangen Leinenrock, stand am Spülbecken und rührte in einer Müslischale.
Wie Hal hatte auch Gil den fassungslosen Gesichtsausdruck jener Menschen, die nicht in der Lage sind, angemessen auf die Wechselfälle des Lebens zu reagieren, weil ihre Welt auf den kleinen Umkreis des Hier und Jetzt geschrumpft ist. Jeffrey saß in einem Kindersitz an einem runden Tisch.
Er hatte von einem Sturz einen blauen Fleck auf der Wange, der sich bereits verfärbte, und einen frischen am Oberarm. Dunkle Schatten lagen wie Ruß unter seinen von den Medikamenten getrübten Augen. Mazie, eine Golden-Retriever-Hündin, saß dicht neben dem Stuhl des Jungen.
Ihre klaren und gesunden Augen beobachteten ihn aufmerksam. Erwachsene mit Anfallsleiden haben oftmals anfallssensitive Hunde, die spüren, wenn sich ein Anfall ankündigt und den Betreffenden warnen; daraufhin trifft er oder sie Vorkehrungen, um während des Anfalls keine Verletzungen zu erleiden.
Kinder in einem so jungen Alter wie Jeffrey hingegen können auf derlei Warnungen nicht reagieren. Sie haben Anfalls-Hilfshunde, die einen drohenden Anfall wahrnehmen oder auch nicht, jedoch unablässig dicht an der Seite des Kindes bleiben. Gillis lächelte mir zu und stellte eine Schale mit weiß-klumpigem Inhalt vor Jeffrey hin.
»Jeffrey, sag Hallo zu Miss Hemingway«, meinte sie. Der Kleine nahm einen Löffel voll von dem Zeug und lächelte schüchtern.
Ich sagte: »Fein, deine Haferflocken, nicht wahr?« »Eigentlich ist es Hafergrütze, mit etwas Banane darunter«, warf Gillis ein. Beinahe hätte ich angewidert den Mund verzogen, denn das Wort Grütze klang mir doch allzu grausig. Was ist denn überhaupt Grütze? Gillis lächelte.
Sie schien meine Gedanken zu erraten.
»Vollkornhafer, geschrotet. Das ist gesünder als Haferflocken. Jeffrey ist ganz verrückt danach, nicht wahr, Jeffrey?«
Der Kleine nickte eifrig, schien aber nicht sonderlich angetan. Tatsächlich wirkte er eher desinteressiert. Ich wusste nicht viel über Epilepsie, kannte aber den leeren Gesichtsausdruck von Menschen unter dem Einfluss starker Medikamente, und Jeffrey hatte ihn. Mir war klar, Mazie war ein Hilfshund im Einsatz, und so sprach ich sie nicht an und berührte sie auch nicht.
Ich nahm jedoch am Tisch Platz, damit sie mich riechen und meine Energie spüren konnte. Sie sah kurz zu mir her, aber ihr Job war es, Jeffrey zu überwachen und jede kleinste Veränderung an ihm wahrzunehmen, und sei es etwas so Geringfügiges wie ein veränderter Körpergeruch, der einen drohenden Anfall ankündigen würde.
Hal und Gillis schwiegen; sie verstanden die Situation und wollten sich nicht einmischen.
Nach wenigen Minuten stand ich auf.
»Hal, vielleicht sollten wir beide uns kurz im Wohnzimmer unterhalten.«
Hal nickte: »Gute Idee.« Ich nahm auf einem Sessel Platz, Hal auf dem Sofa. Ich zückte mein Kundenbuch und war bereit, einige letzte Anweisungen und Informationen entgegenzunehmen. Manche Menschen sind erstaunt, wenn sie hören, dass Tiersitting ein richtiger Beruf ist.
Ich nehme ihn ebenso ernst, wie ich meinen Beruf als Deputy ernst genommen habe. Mir war stets bewusst, dass von meiner Wachsamkeit, meiner Ausbildung und Professionalität Menschenleben abhängen konnten. Als Tiersitterin gehe ich nicht anders vor.
Meine Kunden vertrauen mir ihre Lieblinge an, und ich nehme dieses Vertrauen sehr ernst. Ich habe eine Lizenz, bin Verbandsmitglied und versichert, und ich nehme keinen Auftrag an, ohne das Tier und seinen Besitzer zuvor gesehen zu haben.
Ich komme ins Haus und notiere mir die Krankengeschichte des Tiers sowie Einzelheiten des Speiseplans und der täglichen Gewohnheiten. Das Tier kann mich beschnuppern und sich ein Bild von mir machen. Nach dem Erstgespräch bei einem neuen Klienten weiß ich alles, was ich über das Tier wissen muss, und das Tier ist mit mir vertraut. Ich lasse mir einen Schlüssel für das Haus geben, eine Nummer, unter der ich den Klienten erreichen kann, sowie Namen und Telefonnummer der Person, die in einem Notfall zu verständigen ist.
Wie schon damals als Deputy bin ich mir stets bewusst, dass die schlimmsten Sachen immer dann passieren können, wenn man sie am wenigsten erwartet.
Hal sagte: »Ich glaube, ich habe Ihnen das schon erzählt, aber wir gehen das Wagnis nur ein, weil Jeffrey Schläfenlappenanfälle hat zwei, drei in der Woche , und zwar schwere. Diese Anfallsart ist medikamentös nicht so gut zu behandeln, dafür sind die Erfolgsaussichten einer Operation umso größer. Wir haben verschiedene Medikamente ausprobiert, aber wirklich geholfen hat keins, und sie machen außerdem schwindlig, sodass er Probleme mit dem Gleichgewicht hat.«
Als fühle er sich dabei schuldig, fügte er noch hinzu: »Sie führen auch zu Verhaltensproblemen, Wutausbrüchen und dergleichen. Deshalb haben wir Mazie. Sie wirkt beruhigend auf ihn, und sie weicht ihm nicht von der Seite, sodass er sich anlehnen kann.«
Von den Medikamenten und warum sie eine Operation wagen wollten, hatte er mir schon berichtet, aber scheinbar hatte er das Bedürfnis, mir alles noch mal zu erzählen.
Er schloss die Augen und holte tief Luft.
»Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, leben Gillis und ich mit der Angst vor einem ganz schrecklichen Sturz in Feuer, Wasser, was auch immer oder dass er geistig ... na ja, Sie wissen schon. Haben Sie Kinder?«
Ich zögerte, denn welcher um die Gesundheit seines Sohnes besorgte Vater will schon hören, wie ein anderes Kind zu Tode kam. Andererseits wollte ich aber auch mein eigenes Kind nicht übergehen. Ich sagte: »Ich hatte ein kleines Mädchen. Sie kam im Alter von drei Jahren bei einem Unfall ums Leben. Von daher verstehe ich sehr gut, wie es Ihnen mit Jeffrey geht.« Hal wirkte tief betroffen. »Das tut mir leid.«
Um unser beider Fassung willen musste ich das Gesprächsthema möglichst schnell wieder auf den eigentlichen Grund meines Hierseins lenken: »Machen Sie sich während Ihrer Abwesenheit bloß keine Sorgen um Mazie. Pete Madeira wird an allen Tagen rund um die Uhr hier sein, und ich komme zweimal täglich, um sie auszuführen.«
Pete war früher Clown von Beruf, und ich kenne ihn über Bekannte vom Zirkus Sarasota hat eine lange Zirkusgeschichte. Er hat mir schon öfter ausgeholfen, wenn die ständige Anwesenheit eines Tiersitters gefordert war.
Hal beugte sich nach vorn und verkrampfte in seiner Not verzweifelt die Hände.
»Eine Operation ist hochriskant, aber nichts zu tun, ist vielleicht noch riskanter.« Die Türklingel unterbrach Hals ausführliche Erklärung.
Als er aufstand, kamen Gillis und Jeffrey ins Wohnzimmer; der Junge hatte einen Arm auf Mazies Rücken gelegt, um sich beim Gehen abzustützen. Vor der Tür stand Pete Madeira, einen Koffer in der Hand und eine Clownsnase im Gesicht.
Er hatte noch etwas dabei, das aussah wie ein Instrumentenkasten. Pete war schon einige Male zuvor dagewesen und daher mit der Familie ebenso vertraut wie ich. Hal und Gillis wirkten erleichtert, als sie ihn sahen, und Mazie wedelte mit dem Schwanz, als würde sie dadurch seine Anwesenheit absegnen. Jeffrey lächelte ihm müde zu, aber ich war mir nicht sicher, ob ihm klar war, dass nun die Trennung von seinem besten Freund bevorstand.
Pete hat silbergraue Haare, ist groß und schlank und auf jene Weise gut aussehend, wie sie sich Männer, die klug und neugierig sind, ihr ganzes Leben lang bewahren. Schon seit einigen Jahren im Ruhestand, tritt er noch ab und an in Kinderkliniken und Hospizeinrichtungen auf.
Er hat buschige Augenbrauen, die er raupenartig wackeln lassen kann, und das weichste Herz in der westlichen Hemisphäre. Drei Koffer standen schon im Flur bereit, der Größe nach aufgereiht wie die von Papa Bär, Mama Bär und Baby Bär. Pete stellte seinen abgewetzten Lederkoffer auf der gegenüberliegenden Seite ab.
Er sagte: »Ich hab mein Saxofon mitgebracht. Das ist doch okay, oder?«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie Saxofon spielen«, entgegnete Hal eher desinteressiert.
»Ja, doch. So bin ich zum Zirkus gekommen. Ich spielte in der Kapelle, aber als Clown verdient man mehr, und es macht mehr Spaß. Heute spiele ich nur noch zu meinem eigenen Vergnügen.«
»Pete, ich bin platt. Was Sie alles können!«
Pete grinste und zeigte das Spiel mit den Augenbrauen. Gillis kniete sich neben Jeffrey nieder.
»Weißt du noch, wer Pete ist, Liebling? Er bleibt hier und leistet Mazie Gesellschaft, bis wir wieder nach Hause kommen.«
Pete sagte: »Hi, kleiner Freund.«
Jeffrey lächelte, schaute aber verwirrt drein.
»Willst du auch so eine Nase haben wie ich?«, fragte Pete. Jeffrey schüttelte erschrocken den Kopf und legte eine Hand auf seine Nase.
»Wir müssen jetzt los«, drängte Hal. Gillis kniete weiterhin neben Jeffrey, während Hal sich um das Gepäck kümmerte.
Sehr zögerlich sagte sie: »Es ist Zeit für die Reise, von der ich dir erzählt habe. Erinnerst du dich noch?«
Jeffrey versteifte sich und griff nach Mazie, wehrte sich schon jetzt gegen das, was kommen sollte. »Mazie muss zu Hause bleiben«, setzte Gillis hinzu. »Weißt du das noch?«
Jeffrey bekam einen Schreikrampf und warf sich flach auf den Boden.
»Mazie muss mitkommen!« Gillis war bleich vor Anspannung. Als Jeffrey begann, um sich zu schlagen, stand Mazie auf und rieb ihre Schnauze an seinem Hals. Es dauerte einen Moment, ehe ich begriff, dass sie das absichtlich machte, um einen Wutanfall zu verhindern oder einen epileptischen Anfall. Jeffreys verkrampfter Körper gab nach, und seine Schreie verebbten zu einem leisen Wimmern. Wie von einer inneren Stimme geleitet, kniete Pete sich neben seinen Sachen nieder und hielt innerhalb weniger Sekunden ein blitzendes Saxofon an seine Lippen.
Sanft näselnde Klänge übertönten Jeffreys Weinen, und schon nach kaum zwei Minuten hatte er sich beruhigt und schaute zu Pete hinauf. Sogar Mazie ließ er einen Moment lang aus den Augen, um Pete anzusehen.
Ich erinnerte mich daran, dass Pete einmal erzählt hatte, die Zirkuskapellen hätten immer gespielt, um das Publikum abzulenken, wenn etwas passiert war, etwa wenn ein Luftakrobat oder Seiltänzer abgestürzt war. Gillis nahm Jeffrey in ihre Arme und stand auf. Gebannt von der Musik steckte Jeffrey einen Daumen in den Mund und richtete den Blick auf Pete.
Sein Blick war leer. Ich bezweifelte, ob ihm klar war, was nun geschehen würde möglicherweise die einzige gute Nebenwirkung seiner medikamentösen Therapie. Gillis sah aus, als könnte sie jeden Moment zusammenbrechen, sobald Mazie anfing, sie nervös zu umkreisen.
Hal murmelte: »Mazie wich ihm kaum je für mehr als ein paar Minuten von der Seite, seit sie bei uns ist.«
Ich holte Mazies lange Dressurleine und klinkte sie an ihrem Halsband ein.
»Komm Mazie, wir gehen spazieren!«
Als braver Hund, der gelernt hatte, auf Befehle zu hören, folgte sie mir und ließ sich, wenn auch zögerlich, zum Gehsteig hinausführen. Dort schlug ich mit ihr die entgegengesetzte Richtung ein, in der ihre Familie wegfahren würde. Sie sah sich mehrmals verwirrt um, aber wir waren schon um eine Ecke gebogen, als ich Hals Auto wegfahren hörte.
Hätte es eine Möglichkeit gegeben, diesen Ablauf zu wiederholen, hätte ich ihn gewiss anders organisiert, aber im Moment schien dies die beste Lösung zu sein. Als ich mich einigermaßen sicher wähnte, führte ich Mazie nach Hause zurück. An der Einfahrt kam jene Frau vorbeigetrottet, der ich an diesem Morgen begegnet war.
Ihr Top war vom Joggen fast völlig durchnässt. Als sie mich sah, hielt sie sofort inne und kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu.
»Mein Name ist Laura Halston«, sagte sie. »Hab mich gar nicht vorgestellt heute Morgen. Ich war 'ne richtige Kratzbürste, nicht wahr?«
Ihre Zähne waren von makellosem Perlweiß, mit einem kleinen umgekehrten V an der Unterkante der beiden oberen Schneidezähne ein subtiler Hinweis darauf, dass sie viel Geld für die Verschönerung ihrer Beißerchen hingeblättert hatte.
Ich stellte mich noch einmal vor und gab mir Mühe, sie nicht anzustarren, denn ich wollte nicht zu den Menschen gehören, die den Mund nicht mehr zubekommen, nur weil jemand das Glück hat, überdurchschnittlich gut auszusehen weit überdurchschnittlich sogar.
»Laufen Sie auch?«, fragte sie.
»Laufen?«
»Na ja, als Sport?«
»Nun, ich laufe zweimal täglich mit einem Windhund durch die Gegend. Das ist jede Menge Sport.« »Ich laufe an jedem Morgen. Das Einzige, worin ich diszipliniert bin.«
Sie sagte das voller Stolz und streckte mir dabei einen Fuß in einem teuren Joggingschuh entgegen, wie um zu betonen, wie ernst sie es mit dem Laufen meinte. Dann stützte sie sich mit den Händen auf ihre Knie und beugte sich zu Mazie hinunter.
»Hi, Mazie. Wie geht es dir denn, meine Süße?« Ich staunte abermals, wie widersprüchlich diese Frau sein konnte. Bei all ihrer Schönheit zeigte sie keinerlei Allüren. Außerdem hatte sie einen Draht zu Tieren, sprach scheinbar alles aus, was ihr gerade durch den Kopf ging, und sie war stolz wie ein kleines Mädchen auf ihr regelmäßiges Lauftraining.
Das gefiel mir. Mazie versuchte, freundlich zu sein, sah sich aber immer wieder zu ihrem Haus um. Leider war ich so angetan von Laura Halston, dass ich nicht richtig auf sie eingehen konnte. Etwas hatte sich bei ihr zu Hause verändert, das wusste sie, aber was genau, das wusste sie noch nicht. Laura und ich tauschten noch ein paar Beiläufigkeiten aus, nichts Weltbewegendes, bis sie schließlich weiterzockelte, während ich mit Mazie zurück ins Haus ging.
Das war's schon zwischen uns. Es war absolut nichts vorgefallen, woraus ich hätte schließen können, dass die Begegnung mit Laura Halston noch Folgen für mich haben würde, oder dass ich letztlich aufgrund dieser Bekanntschaft mich selbst auf eine Weise in Frage stellen würde wie niemals zuvor.
Übersetzung: Christian Kennerknecht
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2010 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: BLAIZE CLEMENT
- 2010, 1, 336 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868003096
- ISBN-13: 9783868003093
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